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NIEDRIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! **Die knisternde Sommer-Dilogie von Tanja Voosen in einem Sammelband** Sternenmeer (Best Friend's Brother Romance) Laurie gibt alles, um nicht ihren Sommer als Aushilfe im Feriencamp ihres Onkels zu verbringen. Doch beim Versuch, ihren Sommer zu retten, küsst sie aus Versehen Derek – den unausstehlichen Zwillingsbruder ihrer besten Freundin. Plötzlich scheint die Flucht in das Sommercamp doch nicht mehr so schlimm. Aber ihre Freude hält nicht lange an... #BestFriendsBrother #ForcedProximity #EnemiesToLovers Mondfunken (Cozy Love Triangle Romance) Als Tate gegen den begnadeten Koch Sawyer im alljährlichen Backwettbewerb antritt und mal wieder haushoch verliert, scheint ihr Sommer gelaufen zu sein. Dass sie nun ausgerechnet mit ihm und seinem arroganten Freund Levi ins Sommercamp muss, kommt für sie einer Strafe gleich. Bis sie neue Seiten an den beiden entdeckt … #LoveTriangle #ForcedProximity #RivalsToLovers //Alle Bände der Cozy Camp Romance-Dilogie: -- Band 1: Sternenmeer -- Band 2: Mondfunken Diese E-Box enthält alle Bände der »Summer Camp Love«-Reihe. Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden und haben ein abgeschlossenes Ende.//
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Veröffentlichungsjahr: 2025
www.impressbooks.de Die Macht der Gefühle
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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH, Völckersstraße 14-20, 22765 Hamburg © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2025 Text © Tanja Voosen, 2017 Coverbild Einzelbände: shutterstock.com / © Denis Belitsky / © Oleg1969 / © Marina Poushkina / © Feaspb / © dwphotos / istockphoto.com / © Squaredpixels Covergestaltung Einzelbände: formlabor Coverbild: Adobe Stock / © Muhammad Muhdi, MdLothfor Covergestaltung: 100covers4you ISBN 978-3-646-61223-3www.impressbooks.de
© Stefanie Voosen
Tanja Voosen wurde 1989 in Köln geboren und lebt heute in der Nähe der Eifel. Während ihres Abiturs begann sie sich zum ersten mal mit dem Schreiben von Geschichten zu befassen und kurze Zeit später auch zu publizieren. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, den Weg nach Hogwarts zu suchen, weil die Realität so schlecht ohne echte Magie auskommt, steckt sie ihre Nase in gute Bücher und treibt sich in der Welt der Blogger herum.
Vita
Band 1: Sternenmeer
Band 2: Mondfunken
Tanja Voosen
Sternenmeer
**Für die perfekte Sommerliebe muss man nach den Sternen greifen** Wenn Laurie in ihrem Leben nicht weiterweiß, sucht sie nachts den Himmel nach Sternschnuppen ab, um sich all ihre Probleme wegzuwünschen. Doch davon bräuchte sie im Moment eine ganze Menge. Ihre Eltern streiten nur noch und wollen sie diesen Sommer ausgerechnet in das Feriencamp ihres Onkels abschieben. Um das zu verhindern, ist Laurie alles recht. Nur leider geht ihr Plan nach hinten los und endet damit, dass sie aus Versehen Derek, den unausstehlichen Bruder ihrer besten Freundin küsst. Aber es kommt noch viel schlimmer: Nicht nur muss sie trotzdem ins Camp fahren, sie läuft dort auch prompt wieder Derek über den Weg …
Buch lesen
Danksagung
Für alle, die gerne nach den Sternen greifen. Besonders meine Schwester Steffi, die mir beigebracht hat, dass nicht nur Sternschnuppen Wünsche erfüllen können.
Dieses Buch gehört uns.
»Wo siehst du dich in zehn Jahren?«
Das war die Frage, die vor mir schon hundert andere beantwortet hatten. Die ganze Woche über hatte man die Seniors dazu gebracht, eine Antwort in die Kamera zu sprechen, die alles für die Zeitkapsel aufnahm. Das war ein traditionelles Projekt an meiner Highschool, sobald der nächste Jahrgang vor seinem Abschluss stand. Letzten Monat hatten wir bereits im Literaturkurs von Mr Banner darüber gesprochen. Genau wie damals, wusste ich nicht recht, wie ich meine Gedanken ordnen sollte. Zehn Jahre waren eine lange Zeit und ehrlich gesagt hatte ich keinen Plan, wo genau ich dann stehen würde oder wollte. Ich meine, in zehn Jahren, wenn wir uns alle wieder trafen, um zu zeigen, was aus uns geworden war, würden wir diese Videos ansehen und darüber lachen. Zumindest rechnete ich mir die Wahrscheinlichkeit gleich null aus, dass auch nur ein Wort von dem, was ich heute sagte, in naher Zukunft wahr werden würde oder könnte. Bei vielen meiner Mitschüler war das sicher ebenfalls der Fall. Wir alle hatten verrückte Träume oder Vorstellungen. Wenn ich mir meine Eltern so ansah, dann konnte die Realität einen ganz schön runterziehen.
Leuten wie Marla Stevens, die schon als Baby gewusst haben mussten, dass sie eines Tages in Harvard studieren und später reich heiraten würden, machte diese Zeitkapsel-Sache vielleicht Spaß, aber mir?
Meine derzeit höchste Ambition war es, morgen in der fünften Stunde den Mathetest zu bestehen, ohne dass mich wieder die heiße Rückseite von Kai Mitchell ablenkte. Bisher hatte ich noch kein Gegenmittel entwickelt.
»Ich warte«, sagte Paisley ungeduldig.
»Kann ich vielleicht ein anderes Mal …?«
»So schwer ist das doch nicht«, beschwerte sie sich. »Du starrst in die Linse und erzählst irgendetwas.«
Ich rutschte von dem Hocker herunter, den man vor einer weißen Leinwand platziert hatte, damit der Fokus der Aufnahme auf der jeweils sprechenden Person lag.
»Ich kann das einfach nicht«, sagte ich.
»Na gut, aber Freitag ist der letzte Termin.« Paisley winkte mich vorbei und blickte dann auf ihr Klemmbrett, um einen der wartenden Schüler aufzurufen. Ich nickte dankbar, auch, wenn sie es nicht mehr mitbekam.
Grummelnd verließ ich den Raum der Video-AG und rannte prompt in meine beste Freundin Savannah hinein.
»Sorry, ich bin echt durch«, sagte sie aufgebracht.
»Ist alles in Ordnung?«, kam es reflexartig von mir, weil ich schließlich die Schuld an dem Zusammenstoß trug. Savannah verzog das Gesicht und seufzte. Im nächsten Moment fiel sie mir um den Hals.
»Ich bin in Geschichte durchgefallen.«
Oho. Ich wusste, was das bedeutete. Ihre Eltern würden ihr das Privileg namens Auto entziehen. Und das wiederum bedeutete, dass sie mit dem Bus oder Derek fahren musste. Eigentlich galt das für uns beide, da Savannah mich jeden Morgen wegen der Schule abholte und mitnahm. Ich konnte mich gerade nicht entscheiden, was schlimmer war: Ein Bus voller Unterstufenschüler oder ihr großer Bruder, der sie bei jeder Gelegenheit bloßstellte. Ich als beste Freundin stand schließlich solidarisch auf Savannahs Seite. Wenn sie ihn für einen Kotzbrocken hielt, tat ich das auch. Außerdem gab Derek einem wirklich genug Gründe, das auch so zu denken.
Ich war froh Einzelkind zu sein.
»Dann wiederholst du die Prüfung«, sagte ich und tätschelte ihr den Rücken. »Wir schaffen das schon.«
Savannah seufzte noch einmal theatralisch. »Das weiß ich doch!«, stieß sie aus. »Meine perfekte Freundin, die perfekte Schülerin, hilft mir immer.«
»Ich bin nicht perfekt«, erwiderte ich lachend.
»Ja, du hast recht. Was ist denn heute mit deinen Haaren los?«, fragte Savannah und lächelte schelmisch.
»Die sind wie eine Wetterantenne«, meinte ich todernst. »In den zwei Jahren, die wir uns kennen, hast du doch bereits von den Erfolgen meiner mystischen Gabe mitbekommen, nicht wahr? Heute wird es regnen.«
»Macht ihr in diesem Leben noch Platz?«, maulte uns Christina Everret an. Sie zog die Augenbrauen hoch und starrte Savannah und mich an, als wären wir Ungeziefer. Ich fasste meine Freundin am Arm und zog sie zur Seite. Wir hatten wirklich den Gang zur Tür blockiert.
»Als ob die etwas Interessantes zu sagen hätte.« Savannah schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust. »In zehn Jahren bin ich noch immer wunderschön und ein berühmtes Model und erfolgreiche Sängerin«, äffte sie den affektierten Tonfall nach, den Christina an den Tag legte, wann immer sie sprach.
»Das könnte wahr werden«, murmelte ich.
»In zehntausend Jahren vielleicht, wenn irgendwelche Dinosaurier ihre DNA aus Eisblöcken extrahieren und eine Mutation schaffen, die alle ins Verderben stürzt«, fantasierte Savannah und schüttelte sich bei der Vorstellung. »Fast so schlimm wie Godzilla.«
»Das alles macht keinen Sinn und du weißt es.«
Savannahs unzusammenhängender Buchstabensalat brachte mich zum Schmunzeln. Ich schüttelte erheitert den Kopf. Savannah hakte sich bei mir unter und wir kehrten der Video-AG endgültig den Rücken. Wegen des Zeitkapsel-Projekts hatten alle Seniors die letzten Stunden frei, daher hatten wir keine Verpflichtungen mehr.
»Ich brauche unbedingt neue Schuhe, bevor Mom und Dad mir das Auto wegnehmen. Dann habe ich wenigstens eine letzte Freude in meinem Leben«, sagte Savannah.
»Okay«, antwortete ich knapp.
»Laurie?« Sie sah mich eingehend an. »Ist alles in Ordnung? Haben deine Eltern sich wieder gestritten? Ist es schlimmer geworden? Gott, ich bin eine schreckliche Freundin und jammere wegen Geschichte, wenn bei euch zu Hause –«
»Nein«, unterbrach ich sie. »Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass sie sich wieder besser verstehen.«
»Das ist … toll.«
Ich konnte die Skepsis in Savannahs Stimme deutlich hören, auch, wenn sie sich bemühte enthusiastisch zu klingen. Sie kannte so ein Problem nicht. Eltern, die nicht mehr miteinander auskamen, sich bei jeder Kleinigkeit stritten und hin und wieder das S-Wort wie eine Bombe in den Raum warfen. Nur, dass die Bombe bei uns zu Hause schon mehrmals explodiert war. Aber was blieb mir, außer auf ein Wunder zu hoffen?
Savannah wurde für einen Moment ganz still. Vielleicht dachte sie wieder an die Zeit zurück, als ihre eigene Familie eine schwere Zeit durchmachen musste. Ich konnte mir gut vorstellen, wie meine Probleme es schafften, sie dorthin zurück zu katapultieren. Man stand jeden Tag in dem Wissen auf, dass etwas nicht stimmte. Sorgen, die einem schwer im Magen lagen und nicht mehr losließen. Eine kalte Hand, die sich ums Herz schloss. Und ein wenig Dunkelheit, die einem die Sonne stahl, sodass man glaubte, nie mehr einen positiven Gedanken fassen zu können.
»Ich brauche auch unbedingt ein neues Kleid!«, sagte ich schwungvoll, um das Thema wieder zu wechseln. »Sollten sie am Montag nicht die neue Kollektion bei Zara rein bekommen?«
Savannah begann sofort zu strahlen.
»Himmel, ja!«, sagte sie augenblicklich wieder gut gelaunt. »Wir müssen noch eine ganze Menge abhaken, ehe du ins Sommercamp fährst.«
Beim Stichwort Sommercamp krampfte sich mir das Herz zusammen. Mitte letzten Jahres hatte mein Onkel eine leitende Stelle in einem Sommercamp ganz in der Nähe übernommen und seitdem hieß es immer wieder, dass ich ihm einen Besuch dort schuldete. Ganz zu schweigen davon, wie toll es auf einer Collegebewerbung aussehen würde, wenn man mehr als nur Sommerjobs vorzuweisen hatte. Ehrenamtliche Hilfe bei der Betreuung von Kindern in einem Camp hatte in den Ohren meiner Eltern einfach wunderbar geklungen. Das war vor den vielen Streits gewesen. Ich bekam Bauchschmerzen bei dem Gedanken fröhlich munter ins Sommercamp abzuziehen und beide allein zu lassen.
Savannah liebte es, in der Stadt zu bleiben und Zeit mit ihren Eltern zu verbringen, daher würde sie keine Bestechung der Welt in ein Camp bringen. Obwohl das für die meisten in unserem Alter in der Ferienzeit ziemlich untypisch war. Aber Savannah stand seit einer Weile nicht mehr wirklich auf Partys und Menschenmassen. Damit ich nicht wieder an den Grund dafür dachte, lenkte ich meine Gedanken in eine andere Richtung. Außerdem war sie einfach nicht der Typ Mensch, der gerne in Holzhütten schlief, gegen Moskitos kämpfte und nur zum Spaß in einen See sprang, in dem wer weiß was lebte. Ich wusste nicht einmal, ob ich dieser abenteuerliche Typ Mensch war, aber meine Eltern hatten mir keine Wahl bei dieser Entscheidung gelassen.
»Ich glaube, ich werde hierbleiben«, sagte ich und hörte den Trotz aus meiner eigenen Stimme heraus.
»Meintest du gestern nicht noch, dass deine Mom dir einen Koffer ins Zimmer gestellt hat?«, fragte Savannah. »Die Ferien beginnen schon übernächste Woche.«
Das war mir ziemlich schnuppe, aber das warf ich Savannah nicht an den Kopf. Das ganze Thema mit meinen Eltern machte mich immer leicht reizbar und ich wollte diese Gefühle nicht an meiner besten Freundin auslassen. Eltern dachten zwar immer, sie wüssten, was das Beste für ihre Kinder war, aber sie konnten sich auch irren. Mir würde es damit nicht besser gehen, davon war ich überzeugt. Koffer hin oder her.
»Sie will sicher nicht, dass ich gehe.«
»Ich glaube, sie will auf jeden Fall, dass du gehst«, erwiderte Savannah. »Damit sie ein wenig Zeit für sich hat und in Ruhe nachdenken kann, um …« Sie stoppte mitten im Satz und presste die Lippen zusammen.
»Jaaaa«, sagte ich gedehnt. Savannah musste den Satz gar nicht mehr beenden. Das mulmige Gefühl in meinem Inneren baute sich auch ohne die offensichtliche Wahrheit immer weiter auf. »Genau deshalb muss ich bleiben. Ich muss dafür sorgen, dass alles gut wird!«
Savannah wollte etwas dazu sagen, aber ihr Handy klingelte bereits zum zweiten Mal und sie konnte es nicht länger ignorieren. Genervt ging sie ran.
»Was willst du?«, fauchte sie ungehalten. »Hol sie dir doch selber! Was bin ich? Dein persönlicher Butler?« Sie sah mich an und verdrehte die Augen. »Dafür schuldest du mir was, hast du verstanden? Ja, ja … bye.«
Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf.
»Lass mich raten, Derek?«
»Derek!«, sagte sie aufgebracht. »Er hat seine Schlüssel im Spind liegen lassen und ich soll sie holen.«
»Wieso holt er sie nicht selber?«, fragte ich und war fast genauso genervt von Derek wie Savannah.
»Er ist gerade beim Baseballtraining.«
»Wenn du ihm die Schlüssel bringst …«
»… dann steht er in meiner Schuld!« Schadenfroh rieb sie sich die Hände. »Wenn ich schon die nächsten Tage mit ihm fahren muss, dann zu meinen Bedingungen.«
Ich legte den Kopf schräg. Geschwisterliebe!
***
Wir hockten auf den unteren Stufen der Tribünen und machten Hausaufgaben. Die Baseballmannschaft war, ehe wir eingetroffen waren, aufs Feld marschiert und hatte mit dem Training angefangen. Weil wir nichts Besseres zu tun hatten und schönes Wetter war, beschlossen wir auf Savannahs Bruder zu warten. Dass viele der Spieler echte Sahneschnitten waren, half auch dabei, uns zum Bleiben zu motivieren. Besonders, weil Kai Mitchell mich mit seiner Anwesenheit beglückte. Genau genommen uns, weil er eine echte Ergänzung für die Mannschaft war. Schaffte es bereits seine Rückseite, mich in ihren Bann zu ziehen, dann war seine Vorderseite ein Anblick für die Götter.
An jeder Schule gab es wohl einen dieser Kerle, die besonders gut aussahen und von allen Seiten bewundert wurden, und bei uns fiel diese Rolle eben Kai zu. Das war vermutlich einer der Gründe, warum Savannah und ich nicht die einzigen weiblichen Zuschauer waren.
»Hey, Leute«, sagte Celeste und setzte sich eine Stufe über uns. Sie war die Tochter des Coachs. Savannah und sie kannten sich etwas besser, weil sie zusammen im zweiten Geschichtskurs und ebenfalls in Chemie waren. Ich hatte noch nicht so oft Worte mit Celeste gewechselt, aber bisher hatte sie noch nichts getan, um meine Sympathie zu verlieren. Außerdem war Celeste ebenfalls im Team Kai.
»Es ist eine solche Schande«, murmelte sie.
»Dass er keine feste Freundin will?« Savannah drehte sich das braune Haar um einen Finger und biss sich auf die Unterlippe. Die Hausaufgaben waren bereits vergessen. »Oder die Sache mit Maura Hastings?«
»Was ist mit Maura?«, fragte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wer Maura überhaupt war. Celeste lächelte und sah dabei wie eine Eisprinzessin aus. Hinter ihrem Rücken wurde sie öfter so genannt, was nicht nur an dem blassen Teint und den blonden Haaren lag. Eine kühle Aura umgab sie, die irgendwie einschüchterte. Kalt und unangenehm, wie Eis auf der Haut eben. Ich selbst erwischte mich ab und zu dabei, wie ich dasselbe dachte, obwohl Celeste mir nie etwas getan hatte.
»Kai hatte was mit Maura«, erklärte sie. »Freshman, ganz süß für ihr Alter, aber mal wieder eine von Kais flüchtigen Bekanntschaften. Dad hat die zwei dabei erwischt, wie sie total wild in seinem Büro rumgemacht haben. Er war außer sich vor Wut.«
»Ich habe gehört, er hat beiden einen Eintrag in der Schulakte verpasst und ihre Eltern angerufen«, sagte Savannah. »Etwas drastisch und hoch dramatisch. Nichts für ungut, aber der Coach kann ganz schön hart sein.«
»Wem sagst du das«, sagte Celeste. »Dad hasst es einfach, wenn sich Mitglieder des Teams vor seiner Nase auf solche Weise amüsieren. Gestern meinte er noch, er würde die nächsten, die er erwischt, sofort vor eine disziplinarische Anhörung stellen. Es gibt schließlich nichts Wichtigeres als Sport und wer das Wohl der Mannschaft gefährdet, ist der Feind in seinen Augen.«
Savannah kicherte und sah wieder zu Kai. »Dann solltest du dich in Acht nehmen, denn ich habe das Gefühl, wir werden gerade beobachtet.«
Sie hatte recht. Einige der Spieler, die am Rand standen und auf ihren Zug warteten, hatten die Köpfe zusammengesteckt und blickten zu uns hoch.
»Da kann ich mir mein Grab ja gleich selber schaufeln«, sagte Celeste. »Es gibt genug andere, die – was hat Keegan Scott da gerade mit seiner Zunge gemacht?«
»Wollen wir das überhaupt wissen?«, fragte ich. Ich klappte mein Heft zu und stopfte meine Sachen zurück in meine Schultasche. Hausaufgaben waren sowieso überbewertet. Ich hatte nicht ernsthaft annehmen können hier auch nur irgendeine Gehirnzelle zum Glühen zu bringen.
Savannah stieß mir mit dem Ellbogen in die Rippen.
»Ich glaube, er meint dich, Laurie.«
»Er könnte auch der Weihnachtsmann sein und würde mich nicht interessieren. Du hast Celeste doch gehört … ist das sein Ernst?«
Entsetzt riss ich die Augen auf, als Keegan einen obszönen Tanz begann, der stark danach aussah, als wolle er den nächstbesten Baum bespringen. Er hatte die Arme gehoben und deutete mit den Händen genau auf mich.
»Eww«, machte ich.
»Widerlich«, stimmte Savannah mir zu.
»Keegan bedeutet Ärger«, sagte Celeste ernst.
Ein paar Minuten später war das Training vorbei und die Versammlung auf dem Feld löste sich auf. Celeste stürmte die Stufen hinunter, um ihren Dad abzufangen. Mit etwas Abstand folgten wir ihr. Savannahs Bruder wartete bereits. Dass die beiden zweieiige Zwillinge waren, war schwer zu übersehen. Als ich Savannah und Derek das erste Mal nebeneinanderstehen gesehen hatte, waren mir die vielen Details, die sie verbanden, sofort aufgefallen. Zum einen das kastanienbraune Haar, das im Licht manchmal golden schimmerte, und die dunklen, unergründlichen Augen. Beide hatten außerdem eine sportliche Figur. Savannah war groß und schlank und Derek besaß dank des Baseballtrainings ganz schön beeindruckende Oberarme.
Die größte Gemeinsamkeit war aber dieser eine bestimmte Gesichtsausdruck, denn wenn die beiden aufeinandertrafen, runzelten sie immer die Stirn oder zogen die Nase kraus. Der Anblick brachte mich jedes Mal zum Lachen, zumal es ihnen selber gar nicht bewusst zu sein schien, dass sie ein Zwillingssignal hatten.
Anstatt einer Begrüßung ging direkt wieder das Gemecker los.
»Ihr habt uns total abgelenkt«, sagte Derek mürrisch.
»Wir können doch nichts dafür, dass deine Freunde sich wie Affen im Zoo benehmen«, erwiderte Savannah. »Ach, Moment, selbst die haben mehr Benehmen.«
»Hast du meine Schlüssel?«
Sie händigte ihm seinen Schlüsselbund aus. »Hast du nicht was vergessen?«
»Hallo, Laurie«, sagte Derek und seine Augen suchten meine. Amüsiert lächelte er mich an. »Alles –«
»Einen Dank!«, fuhr Savannah ihren Bruder an.
»Danke, Laurie, dass du mich mit deiner Anwesenheit beglückst«, sagte Derek und grinste breit.
Savannah boxte ihrem Bruder gegen die Schulter. »Arsch«, murmelte sie. »Lass uns gehen, Laurie.«
»Zu Befehl«, sagte ich und salutierte.
Dereks Anmache ließ mich ziemlich kalt, weil ich wusste, dass es sowieso nur als Scherz gemeint war, um Savannah mal wieder zu ärgern. Wenn es etwas gab, das Savannah noch weniger mochte, als Dereks dumme Sprüche, dann waren es dumme Sprüche über ihre Freundinnen. Ein Teil von mir war einfach immun gegen solche blöden Anmachen.
»Wartet mal«, mischte sich Keegan ein. Der Trottel hatte sich angeschlichen und ging jetzt einfach dazwischen. Er zog eine bekloppte Grimasse. Er glaubte wohl, uns würde das irgendwie überraschen. »Sollen wir nicht noch eine Runde abhängen? Bald ist das Jahr zu Ende, Freiheit, Baby! Uns liegt die Welt zu Füßen.«
»Das Einzige, was dir zu Füßen liegt, ist das Gras, auf dem du stehst«, erwiderte ich trocken.
»Laurie, Laurie«, säuselte Keegan. »Ich verspreche dir, wenn du irgendwann mal eine Runde abtauchen –«
»Verzieh dich«, sagte Derek und schob ihn grob weg. »Hör auf, meine Schwester zu belästigen.«
»Seit wann ist Laurie denn deine Schwester?« Keegan versetzte Derek einen spielerischen Schlag auf den Rücken. »Du willst sie doch nur für dich haben.«
»Gott, wir sind wirklich im Zoo«, sagte Savannah mit einem Augenrollen und langem Seufzer.
Allmählich zerrte dieses blöde Geplänkel echt an meinen Nerven. Hatten die beiden sich irgendwie abgesprochen und machten sich insgeheim über mich lustig? Vielleicht gab es einen Sprüche-Klopfen-Wettbewerb, von dem ich nichts wusste?
»Mein täglicher Bedarf an Dummheit ist für heute ausreichend gedeckt«, meinte ich frustriert. »Wenn ich hier noch weiter stehe, brauche ich eine Therapie.«
Wir wandten uns ab. Savannah klopfte mir tröstend auf die Schulter, als wir ein Stück gegangen waren.
»Du hast was vergessen, Laurie!« Keegan war mit einem (zugegeben beeindruckendem) Hechtsprung über der Abgrenzung zum Feld und baute sich feixend vor mir auf. Musste er uns zu allem Überfluss auch noch hinterherjagen? »Meine Nummer, Süße.«
»Du hast recht«, sagte ich zuckersüß und sein Lächeln wurde immer selbstgefälliger. »Ich habe etwas vergessen.« Ich zeigte ihm den Mittelfinger und ging unbeirrt weiter. Wäre er mir ein zweites Mal hinterhergelaufen, dann hätte ich für nichts garantieren können. Savannah packte meine Hand und wir beschleunigten unsere Schritte, um endlich wegzukommen.
»Wenn du es dir anders überlegst …«, rief Keegan mir noch voller Elan nach, aber der Satz ging halb unter.
»So ein Vollidiot«, maulte Savannah.
»Celeste hat recht, er bedeutet nur Ärger«, sagte ich, aber noch während ich die Worte aussprach, formte sich ein absurder Gedanke in meinem Oberstübchen.
Keegan mochte ein Trottel ohne Verstand sein, aber vielleicht war Ärger genau das, was ich brauchte.
In der Mall war es ziemlich voll. Ich hatte noch nie verstanden, wieso die Leute vor Ferien oder Feiertagen immer am Durchdrehen waren und ihr Geld aus dem Fenster warfen. Dabei war noch nicht einmal Schlussverkauf.
Savannah und ich waren eine Weile erfolglos durch die Geschäfte gelaufen, bis wir in unserer Lieblingsboutique Halt machten. Meine beste Freundin war sofort von den Schuhen angezogen worden und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Ich probierte unterdessen das dritte Kleid an, aber auch dieses gefiel mir einfach nicht. Vielleicht war ich auch bloß nicht in der Stimmung fürs Shoppen.
Wenige Minuten, nachdem ich aufgegeben hatte und mich in einen Sessel vor den Umkleidekabinen plumpsen ließ, kam Savannah zurück und grinste breit, ein paar Ballerinas in der Hand. »Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich vegetiere langsam vor mich hin.«
»Wo ist dein Durchhaltevermögen geblieben?«
»In der Schule«, antwortete ich. In Wahrheit hatte ich mehr als nur mein Durchhaltevermögen dort gelassen. Ich hatte bereits seit heute Morgen versucht meine Gedanken irgendwie abzuschalten, aber trotz der Blödeleien von Keegan und Derek, drehte sich wieder alles nur um die kommenden Ferien, das Camp und meine Abschiebung dorthin. Kurz gesagt also um meine Eltern. Die Lust am Shoppen war mir schon in der Sekunde vergangen, als wir durch den Eingang gekommen waren, wenn ich ganz ehrlich zu mir war.
»Du Langweiler«, beschwerte Savannah sich und hielt mir ihre Schuhe direkt vors Gesicht. »Was meinst du?«
»Die sind wirklich süß«, sagte ich zu den blauen Ballerinas mit Ankermotiv und Schleifchen, die aussahen wie Seeknoten. »Und sie liegen im Taschengeldbudget.«
Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen.
»Exakt«, meinte meine Freundin. »Und jetzt helfe ich dir dabei, ein Kleid zu finden. Du wolltest doch unbedingt eins haben. Lass uns die Mission abschließen!«
Savannahs Augen huschten durch den Laden. »Was ist mit dem da hinten?«, fragte sie.
Ich drehte den Kopf und betrachtete die Schaufensterpuppe, auf der Savannahs Blick lag. Das Kleid der Puppe war rot und rückenfrei und hatte einen ziemlich bauschigen Rock. Kleid, Kleid, Kleid! Selbst ein Mantra konnte meine miesepetrigen Gefühle nicht verbannen. Ferien. Camp. Meine Eltern.
»Nein, vergiss es. Das würde sich mit deinem Karottenkopf fürchterlich beißen.«
»Wie wahr«, stimmte ich Savannah wie eine gute Freundin zu. Meine Haare waren zwar viel heller als das Rot des Kleides, aber trotzdem war das einfach nicht meine Farbe. Wie gerne ich zu der Zeit zurückgegangen wäre, wo Klamotten mein einziges Problem waren.
»Ich bezahle eben die Schuhe und dann gehen wir weiter.«
Nickend schloss ich mich Savannah an, als sie zur Kasse ging, und wartete, bis die Verkäuferin die Ballerinas eingepackt hatte. Vor dem Laden blickte ich auf meine Uhr und seufzte. »Es ist schon fast vier.«
»Mist, schon so spät?« Savannah verzog das Gesicht. »Ich muss um fünf zu Hause sein, weil ich Mom versprochen habe beim Backen zu helfen. Du weißt doch, sie macht zusammen mit meiner Tante bei diesem Kinderbasar mit.«
»Ich hab's nicht vergessen«, sagte ich geknickt.
»Es tut mir so leid, Laurie.«
»Das macht doch nichts«, log ich rasch und setzte ein ziemlich mickriges Lächeln auf. Ich wollte nicht nach Hause gehen, wo alles in Trümmern lag. Ich wollte … eigentlich wusste ich nicht wirklich, was ich in diesem Moment wollte. Unentschlossenheit war wohl ein weiterer Nebeneffekt, wenn die Eltern ständig stritten.
»Ich schwöre, wir finden noch ein Kleid für dich. Wir müssen eines finden, bevor die Ferien anfangen.«
Savannah war mit den Gedanken ganz wo anders. Wahrscheinlich versuchte sie immer noch die Ablenkungs-Taktik und bemerkte nicht, dass sie kläglich fehlschlug. Ich konnte es ihr nicht vorhalten. Es gab diese Momente, da sackten meine Gefühle wie bei einem Sieb durch mich hindurch und dann wieder jene Situationen, in denen ich mich perfekt verstellen konnte. Ich holte tief Luft und versuchte meinem Tonfall eine amüsierte Note zu verpassen.
»Die Welt würde ohne auch nicht untergehen.«
Savannah seufzte. »Doch, würde sie. Aber was hältst du davon mit zu mir zu kommen? Du könntest dir ein Kleid von mir ausleihen, dann hast etwas von mir dabei, wenn du wegfährst. Das wäre noch viel besser!«
»Vielleicht bringt es Glück«, antwortete ich.
Außerdem war es eine gute Ausrede, um noch nicht nach Hause zu müssen. Ich schickte meiner Mom eine SMS, in der stand, dass ich zum Lernen bei Savannah war.
Eine halbe Stunde später stellten wir Savannahs Zimmer auf den Kopf, weil beim Durchwühlen des Kleiderschranks allerhand auf dem Boden gelandet war. Er war das größte Möbelstück im Raum und nahm eine ganze Wand ein. Savannah besaß ein paar wirklich tolle Sachen, nicht zuletzt, weil ihre Großmutter Einkäuferin für eine Modeboutique war. Sie bekam dort Sachen für den halben Preis und wenn sie auf Reisen war, um neue Stoffe zu finden, brachte sie Savannah immer etwas absolut Wunderschönes mit. Zudem hatte jeder irgendein Hobby und Savannahs war eben Mode. Da war es nicht verwunderlich, dass sie sich wünschte, irgendwann einmal als Stylistin arbeiten zu können. Sie hatte ziemliches Glück, weil ihre Eltern nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden hatten. Ganz im Gegensatz zu meinen Eltern, die wollten, dass man etwas Anständiges lernte, was einem später Sicherheit und Geld einbrachte. Vielleicht hatten sie deshalb beide Bürojobs gewählt.
Dass keiner von ihnen glücklich damit war, erschien ihnen wohl eher zweitrangig. Ich konnte mir jedenfalls Besseres vorstellen, als den ganzen Tag in einem beengten Raum zu sitzen und auf die Tasten eines Computers einzuprügeln. Ich wusste zwar nicht genau, was ich nach dem College einmal machen wollte, aber es sollte zu hundert Prozent etwas Abwechslungsreiches und Spannendes sein.
Astronautin, Zirkusartistin oder Rennfahrerin vielleicht. Etwas, bei dem das Leben immer wieder Kopf stand. Ein kleiner Teil von mir dachte, dass ich mir das wünschte, um aus irgendeinem Käfig auszubrechen.
Ich hatte wirklich kein schlechtes Leben, aber hin und wieder konnte es ganz schön trist werden, wenn man ständig dumme Regeln einhalten musste, weil andere das von einem erwarteten. So ging es insgeheim wohl jedem.
»Savannah!«
Ihre Mom hatte sie nun schon zum dritten Mal gerufen, aber Savannah hatte es ignoriert. Da war es nicht verwunderlich, dass Mrs Roscoe plötzlich ins Zimmer platzte und ihre Tochter genervt anschaute.
»Savannah, du hast versprochen, dass du uns beim Backen hilfst. Was treibst du denn die ganze Zeit? Komm runter.«
»Zwei Minuten, bitte«, erwidert sie.
Ihre Mom warf einen Blick auf mich und lächelte versöhnlich. »Zwei Minuten, nicht mehr.«
Savannah drehte sich um, nachdem ihre Mom die Tür wieder geschlossen hatte. »Meine Familie liebt dich.«
Ich zuckte bloß mit den Achseln.
»Im Ernst. Es ist magisch. Sobald sie in dein Gesicht gucken, legt sich da irgendein Schalter um, Laurie.«
»Ich kann mithelfen, wenn du möchtest«, bot ich an.
»Besser nicht«, sagte Savannah. »Du hast meine Mom in Kombination mit meiner Tante noch nicht erlebt. Gemeinsam erdrücken sie dich mit ihrer kitschigen Liebe.« Sie deutete auf das wilde Chaos, das wir fabriziert hatten. »Probier etwas an und entscheide dich.«
»Okay«, murmelte ich. »Und dann bin ich entlassen?«
»Nur, wenn du irgendetwas mitnimmst!«
Ich hielt ihr meinen kleinen Finger hin. »Versprochen.«
Savannah hakte ihren kleinen Finger ein und wir schüttelten unsere Hände dreimal, ehe wir das Zeichen unseres Versprechens wieder auflösten.
»Ich vermisse dich jetzt schon«, nuschelte sie, als sie schon halb aus der Tür war. Mit mulmigem Gefühl im Magen sah ich ihr nach. Ich dich auch, Savannah.
Ich begann die Klamotten zu sortieren. Einige mussten wieder gefaltet werden, andere nur zurückgehangen. Meine Finger glitten über den Stoff eines weißen Kleids mit Blumenmuster. Das coole an dem Teil war, dass der Stoff vorne kürzer war und mehr Bein zeigte und schließlich nach hinten länger wurde wie eine kleine Schleppe. An dem Ding hing sogar noch das Preisschild. Ich nahm es als Zeichen des Schicksals, dass Savannah es bisher noch nicht getragen hatte.
Innerhalb von Sekunden war ich aus meiner Bluse und den Jeans geschlüpft und hatte das Kleid über den Kopf gezogen. Ich trat vor den langen Standspiegel, der neben Savannahs Bett platziert war, und strich den Stoff glatt. Beim Betrachten meines Spiegelbilds fiel mein Blick sofort auf die offene Tür und Derek. Es fühlte sich an, als würde mein Herz stehen bleiben, als mein Gehirn registrierte, was meine Augen sahen. O Gott, o Gott, o Gott!
Mit glühenden Wangen drehte ich mich um. »Wie lange stehst du schon da?«, schrie ich.
»Du bist nicht meine Schwester.«
Ich griff einen herumliegenden Schuh vom Boden und warf ihn nach Derek, aber weil meine Hand zitterte, war der Wurf nicht besonders zielsicher. Derek duckte sich einfach weg und grinste noch breiter.
»Verdammt richtig. Wie. Lange. Derek?«, drückte ich die Worte energisch aus meinem Mund. Ich musste mich extrem zusammenreißen nicht völlig auszuticken.
»Lang genug für mein Entertainment.«
Meine Miene verfinsterte sich.
»Was machst du da eigentlich?«, fragte er.
»Wonach sieht es denn aus?«, fauchte ich.
Er besaß doch tatsächlich die Frechheit, sich die Zeit zu nehmen, um mich von oben bis unten abzuchecken!
»Hattest du schon immer so lange … Beine?«
»Nein, eigentlich bewege ich mich wie ein Oktopus auf meinen Armen fort. Ist dir das bisher nicht aufgefallen, Derek?«, fragte ich voll bitterem Zynismus.
»Das sollte ein Kompliment sein«, sagte er stirnrunzelnd, als würde meine Reaktion ihn verunsichern. Dann fing er sich wieder.
»Kannst du jetzt bei jemand anderem spannen gehen?«
»Hattest du denn vor dich noch mal auszuziehen?«
Ich griff mir ein Kissen vom Bett und warf es nach ihm, aber statt sich ein zweites Mal wegzuducken, fing er es auf.
Scheiß Baseballspieler-Reflexe!
Er kam ins Zimmer und legte das Kissen zurück. »Entschuldige bitte, aber demnächst könntest du auch einfach die Tür abschließen, wenn du vorhast eine Runde zu strippen«, sagte er belustigt. »Meine Schwester besitzt wenigstens den Anstand, das Bad zu blockieren.«
Ich fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht. »Savannah ist in der Küche«, sagte ich.
Derek grinste noch immer wie ein Honigkuchenpferd. Er trat zurück, lehnte sich gegen den Türrahmen und starrte mich an.
»Ist noch was?«, fragte ich mürrisch.
»Das Kleid steht dir gut«, sagte er und machte dann kehrt.
Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus. Ich kannte Derek nicht einmal annähernd so gut wie Savannah, aber jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, führte er sich wie ein Arsch auf! Ein blöder, unmöglicher Arsch. Und ich wollte absolut nicht, dass mich das nervige Anhängsel meiner besten Freundin in Unterwäsche sah. Der Tag wurde wirklich immer besser.
Dieses Mal schloss ich die Tür ab und schlüpfte wieder in meine eigenen Klamotten. Die ganze Zeit ärgerte ich mich darüber, dass Derek auch noch recht gehabt hatte. Ich hätte die Tür abschließen sollen!
Ich warf mir Savannahs Kleid über die Schulter und griff mir meine Tasche. Auf dem Weg nach unten kam Derek mir wieder entgegen, eine Flasche Cola in der Hand.
»Bis zum nächsten Mal, Laurie«, feixte er.
»Wird es nicht geben«, erwiderte ich super genervt.
Das Geschnatter von Savannah, ihrer Tante und Mrs Roscoe war nicht zu überhören. Ich blickte um die Ecke und hob eine Hand, um mich bemerkbar zu machen.
»Ich bin jetzt weg«, sagte ich.
Savannah hob den Kopf. In ihrem Haar und auf ihrer Nasenspitze war eine Menge Mehl und sie musste niesen, als ihr das Zeug weiter ins Gesicht rieselte. Ihre Mom füllte gerade Teig in Muffinformen und war zu konzentriert bei der Arbeit, um etwas sagen zu können. Savannahs Tante naschte die Dekostreusel und sah mich schuldbewusst an.
»Ich leih mir das aus«, verkündete ich zufrieden und hielt das Kleid hoch.
Savannah rieb sich die Nase und nieste wieder. »Ich hatte ganz vergessen, dass ich das habe!«, sagte sie und strahlte mich an. »Weißt du was? Behalte es!«
»Bist du sicher, Savannah?«
»Ich habe es eh noch nie getragen.«
»Danke schön«, erwiderte ich lächelnd. »Dann bis morgen.«
»Warte!«, rief Savannah. »Ich sag Derek, er soll dich fahren. Wir müssen uns eh an seine Karre gewöhnen.« Sie warf ihrer Mom einen bösen Blick zu.
»Wenn du Geschichte bestehst, bekommst du deine Schlüssel wieder«, sagte Mrs Roscoe, ohne den Blick von den Muffinförmchen zu nehmen. »Das weißt du.«
»Ich glaube, ich gehe lieber zu Fuß. Ein bisschen frische Luft schadet nicht«, wehrte ich ab.
»So ein Quatsch«, wandte Savannah ein. »Derek –«
»Nein, nein, nein«, ratterte ich herunter. »Das ist total nett, aber ich komme schon nach Hause, danke!«
Savannah zog eine Augenbraue hoch. »Okay …«, murmelte sie, sichtlich irritiert durch mein Verhalten.
»Bis morgen dann …«, verabschiedete ich mich.
***
Meine Hand schwebte über dem Knauf der Haustür. Inzwischen war es kalt geworden und ich begann in meiner dünnen Jacke zu frieren. Abends konnte es ganz schön ungemütlich werden.
Der Bewegungsmelder über der Haustür spielte verrückt, weil das Licht immer wieder anging und erlosch, sobald ich mich regte. Als unsere Nachbarin das Fenster öffnete, um zu fragen, ob etwas nicht stimmte, verneinte ich. Ich wollte ihr nicht erklären müssen, dass die Stimmen auf der anderen Seite der Tür so laut und deutlich gewesen waren, dass ich mitten in der Position erstarrt war. Ich wollte nicht erklären, dass, wenn meine Eltern sich so stritten, es sich anfühlte, als würde sich Düsternis wie ein Nebelschleier um mein Herz legen. Wahrscheinlich mussten Wände, die solch einen Sturm abfingen, erst noch gebaut werden. Und Wundermittel gegen Konflikte gab es auch nicht. Zumindest keine, die man für Notsituationen wie ein Pflaster in der Tasche mit sich herumtrug.
Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, zu sagen, dass ich wieder da war, sondern ging geradewegs in mein Zimmer, welches unterm Dachboden lag. Als wir das Haus letztes Jahr gekauft hatten, wusste ich einfach, dass ich genau dieses Zimmer haben musste. Vielleicht waren die Dachschrägen in den Augen anderer etwas unpraktisch, aber ich fand, dass sie dem Raum etwas Besonderes verliehen. Es war von Anfang an mein Refugium gewesen und sah auch immer mehr danach aus. Ich hatte keine Poster von Bands oder Filmen an den Wänden, sondern lauter Regale, auf denen alte und antike Sachen thronten, die ich auf Flohmärkten erworben hatte.
Früher war ich mit Grandpa jedes Wochenende losgezogen und hatte einen besucht. Es war eines unserer Hobbys gewesen. Ein Spiel. Jeder musste eine Sache finden und kaufen und sich dazu eine Geschichte ausdenken. Wer die bessere Geschichte erzählte, durfte beide erworbenen Dinge behalten. Es war wie das Weben von Erinnerungen. Meine schönsten stammten aus genau dieser Zeit. Deshalb sah ich in fast jedem Objekt, das ich besaß, einen Tag voller Abenteuer. Nachdem Grandpa noch einmal geheiratet hatte, war er über dreihundert Meilen weit weg gezogen und ich bekam ihn kaum noch zu Gesicht. Eine Zeit lang hatte ich mich von ihm im Stich gelassen gefühlt.
Jetzt wanderte ich alleine über Flohmärkte und obwohl ich immer die Gewinnerin war, fühlte es sich nicht so an. Sonntage waren zu seltsamen Tagen geworden, an denen ich nicht wusste, was ich eigentlich fühlen sollte.
Ein paarmal hatte ich Savannah mitgeschleppt, aber es war einfach nicht dasselbe gewesen. Grandpa schickte regelmäßig Päckchen mit Sachen, von denen er dachte, sie könnten mir gefallen, aber auch das war nicht dasselbe. Zuletzt hatte er mir eine Spieluhr geschenkt, die Jingle Bells abspielte, obwohl sie absolut nicht weihnachtlich aussah. Eine Geschichte dazu hatte es nicht gegeben, aber in diesem Moment stellte ich mir vor, wie sie vielleicht dem Leiter eines Sommercamps gehört hatte, der seiner Enkelin einen Fluch aufgehalst hatte, welcher sie zwang zu Hause zu bleiben. Wenig kreativ und natürlich noch viel unrealistischer als der Unsinn, den ich mir früher mit Grandpa ausgedacht hatte.
Ich zog die Spieluhr auf und warf mich aufs Bett. Es stand direkt neben dem Fenster, weshalb man wunderbar den Nachthimmel sehen konnte, wenn es dunkel wurde.
Wenn es etwas gab, das ich neben alten Dingen noch mochte, dann waren es Sterne. Sterne waren beständig und egal, wo man sich auf der Welt befand, sie verließen einen nicht. Oft lag ich nachts wach und sah zum Horizont, in der Hoffnung, eine Sternschnuppe würde mir einen Wunsch erfüllen.
Ich rollte mich auf den Rücken und starrte den selbst gemachten Baldachin über meinem Bett an. Im Stoff hingen ein Dutzend Papierstücke an Kordeln, die ich selber angebracht hatte. Kino- oder Eintrittskarten, Namensschilder oder Einladungen, ich hob all das Zeug auf, um nicht zu vergessen, dass es eine Welt voller Möglichkeiten gab.
Anderen erschienen solche Dinge vielleicht banal, aber für mich waren sie wichtig. Vielleicht war ich auch einfach sentimental oder ich befürchtete Dinge zu vergessen, wenn ich sie nicht mit etwas verknüpfte.
Wie man am Beispiel meiner Eltern sehen konnte, gab es einfach zu viel zu verlieren. Gefühle, die verschwanden, wenn man sie nicht irgendwie festhielt, und sei es nur auf einem Stück Papier. Bald gab es die Ehe von Mom und Dad vielleicht nicht mehr. Dann war das einst so wertvolle Stück Papier und all die Tinte, weniger wert als ein Lächeln.
Eine Weile hing ich meinem Selbstmitleid nach, dann beschloss ich, dass es an der Zeit war, einzugreifen. Ich lief ins Erdgeschoss und platzte in das Arbeitszimmer meines Dads. Er hob nicht einmal den Kopf.
»Ich kann für uns Abendessen machen.«
»Mh?« Er drehte sich beim Klang meiner Stimme um. »Laurie, wann bist du denn nach Hause gekommen?«
»Vor ein paar Minuten«, log ich. »Also?«
»Ach, weißt du, deine Mom und ich –«
»Wir könnten etwas bestellen«, unterbrach ich ihn. Ich setzte ein erwartungsvolles Lächeln auf, auch, wenn es schwer war, das lange durchzuhalten. In meinem Magen zog und zerrte bereits die Angst an mir.
»Ich bin nicht besonders hungrig«, wehrte Dad ab. »Und ich habe noch eine Menge zu tun, aber deine Mom würde sich sicher sehr freuen. Macht es euch doch zusammen gemütlich. Kommt heute nicht diese Serie mit den Walpiren, die ihr so mögt?«
»Es heißt Vampire«, verbesserte ich ihn. Dad hörte sich anscheinend nicht einmal mehr selbst zu. »Seit Dracula weiß das doch jeder. Du hast gerade eine neue Spezies kreiert. Außerdem kann ich diesen Mist auf den Tod nicht ausstehen.«
»Wirklich?«, antwortete er, den Blick schon wieder auf seinen Laptop gerichtet. »Viel Spaß.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Danke.«
Mit wummerndem Herzen schloss ich die Tür hinter mir. Dummerweise stiegen mir jetzt schon Tränen in die Augen. Ich sollte wirklich lernen mich zusammenzureißen. Er hatte eine Menge Arbeit zu erledigen und es lag nicht an mir. Gar nichts war meine Schuld. Ich war es nicht, die Probleme hatte und auf Streit aus war.
Die Beklommenheit wurde durch Wut ersetzt.
Ich riss meine Jacke vom Haken im Flur und zog meine Stiefel an. Gerade als ich aufbruchbereit war, kam Mom aus dem Wohnzimmer. »Wo willst du hin, Laurie?«
»Ich hab was bei Savannah vergessen«, log ich.
»Soll ich dich schnell rüberfahren?«
»Sie kommt mir entgegen, keine Sorge.«
»Hast du keinen Hunger?«, fragte sie.
»Ich hab bei Savannah gegessen«, setzte ich die Lüge fort. »Ich brauche nur unbedingt mein Geschichtsbuch.«
»Bleib nicht so lange weg, okay?«
»Sicher«, sagte ich und setzte meine Flucht fort.
***
Nachdem ich ein paar Straßen gelaufen war, kam ich mir ziemlich blöd vor. Ich wusste selbst nicht, was ich mir dabei gedacht hatte, das Haus noch einmal zu verlassen. Es war nicht so, als würde ich irgendein Ziel ansteuern. Kurz überlegte ich, ob ich Savannah anrufen sollte, aber ich wollte sie nicht schon wieder mit meinen Problemen belästigen. Genauso kam es mir manchmal vor. Savannah war meine beste Freundin und ich konnte ihr alles anvertrauen, dennoch wollte ich mich nicht so oft mit dem Thema auseinandersetzen. Irgendetwas in mir war besessen von dem ganzen Mist. Ein Teil von mir wusste natürlich, dass das lächerlich war – dass ich mich lächerlich benahm –, aber es war, als würde das Gefühlschaos meiner Eltern auf mich abfärben und mich unberechenbar machen.
Warum hatte ich so kopflos das Haus verlassen?
Ich seufzte im Sekundentakt, bis ich das Gefühl hatte, mir würde die Puste ausgehen. In der Nachbarschaft war es unheimlich ruhig. Nur hin und wieder fuhr ein Auto an mir vorbei. Irgendwann kam ich beim Spielplatz an und ließ mich auf eine Schaukel sinken.
Plötzlich fühlte ich mich schrecklich leer. Nicht von Leere umgeben, wie zuvor in meinem Zimmer, sondern von einer richtigen Leere erfüllt, als sei meine Seele verschwunden oder mein Herz. Irgendwo in meiner Brust war nun ein Loch. Ein riesengroßes Loch. Ich sollte mir einen Poe-Gedichtband zulegen und anfangen Schwarz zu tragen.
Was für eine rosige Zukunft!
Ich begann zu schwingen. Immer höher und höher, bis der Wind mir mein Haar ins Gesicht peitschte und es so aussah, als könnten meine Füße den Mond berühren. Erst als ich den Elan verlor und meine Beine wieder baumeln ließ, wurde ich langsamer und blieb wieder stehen. Seufzend betrachtete ich die Schatten im Sand unter mir. Im nächsten Moment leuchtete mir ein heller Lichtstrahl ins Gesicht.
»Betreten des Spielplatzes nach zehn Uhr verboten«, brummte jemand. Erschrocken sprang ich auf und suchte rasch nach einer Ausrede. Dann senkte sich der Strahl der Taschenlampe, und ich erkannte, dass mich nur jemand auf die Schippe hatte nehmen wollen. Und dieser Jemand war ausgerechnet Derek Roscoe. Here we go again!
»Du hast mich total erschreckt!«, sagte ich perplex. »Was zur Hölle machst du hier?«
»Was machst du hier? Das Betreten des Spielplatzes ist ab zehn Uhr nämlich wirklich verboten. Da hinten steht ein Schild«, sagte Derek und starrte mich dabei fast in Grund und Boden. »Ich war noch mit ein paar Leuten vom Team unterwegs und dann habe ich dich im Vorbeifahren gesehen und so einen merkwürdigen Kerl, der dir nachgegangen ist. Da ist meine Fantasie mit mir durchgegangen. Ich meine, ich hab mir Sorgen gemacht.«
Ich ließ mich zurück auf die Schaukel sacken.
»Wie du siehst, wurde ich nicht überfallen.«
»Das ist wirklich nicht lustig, Laurie.«
»Entschuldige«, sagte ich und meinte es ernst. »Das war sicher Mr Brunder, der geht um diese Zeit immer joggen. Manchmal benutzt er das auch nur als Ausrede, um sich einen hinter die Binde kippen zu können. Einmal lag er im Hortensienbusch vor seinem Haus und hat Eye of the tiger gesungen. Ziemlich durchgeknallt.«
»Komm, ich bring dich nach Hause.«
»Nein, danke«, erwiderte ich.
»Wenn es wegen heute Nachmittag ist –«
»Ist es nicht«, ging ich kopfschüttelnd dazwischen. »Kennst du dieses Gefühl, wenn du lieber überall auf der Welt wärst als zu Hause?«, fragte ich, nur, um die Frage dann selbst zu beantworten. Derek hatte schon den Mund geöffnet, aber ich sprach einfach weiter. »Natürlich nicht. Du und Savannah und eure Familie, ihr liebt euer Zuhause. Man könnte eure Gesichter auf eine Cornflakespackung drucken.«
»Was haben Cornflakes damit zu tun?« Er setzte sich auf die Schaukel neben mich.
»Wegen dem Abbild einer glücklichen und perfekten Familie«, murmelte ich. »Ich weiß, ziemlich bescheuert. Okay, mehr als bescheuert, richtig melodramatisch, aber ich beneide euch darum, dass schlimme Ereignisse euch nur näher zusammenbringen, nicht auseinander. Nicht, dass ich will, dass euch etwas zustößt, ich meine damit eigentlich – O Gott, warum rede ich eigentlich so verdammt viel? Ich höre sofort damit auf. Also jetzt.«
Ich holte tief Luft und blickte zur Seite. Derek saß still da und sah mich eingehend an. Im Schein der Straßenlaternen waren seine Augen noch dunkler als sonst. Nicht, dass ich viel Zeit damit verbracht hatte, in seine Augen zu sehen oder das in Zukunft vorhatte.
»Hast du schon mal einen Ball gepitcht?«
»Du meinst, wie beim Baseball?«, fragte ich neugierig.
Derek nickte. »Als ich zehn Jahre alt war, hat mein Dad mich das erste Mal zu einem Spiel mitgenommen und ich fand es mega-langweilig. Ein paar Monate später haben ein paar ältere Schüler im Park gespielt und der Baseball ist vor meine Füße gerollt. Das war mein erster Pitch. Ich hab mir einfach den Ball gegriffen und ihn zurückgeworfen. Davor habe ich natürlich schon mal einen Ball in der Hand gehabt, aber an diesem Tag war es nicht dasselbe. Die anderen haben erwartet, dass ich es nicht schaffe, aber stattdessen ist der Baseball dutzende Meter weit geflogen und prompt hatte ich ein paar neue Freunde. Einer der Jungs war Juniortrainer einer Mannschaft und ein paar Tage später stand ich das erste Mal auf einem Feld. Seitdem spiele ich.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Das Gefühl, wenn du einen Ball wirfst, ist unbeschreiblich. Du hast die Kontrolle darüber, ob und wann du ihn loslässt«, fuhr er fort. »Es ist befreiend.« Derek stand auf und die Ketten der Schaukel klirrten aneinander. »Du solltest es unbedingt mal ausprobieren.«
»Du meinst … jetzt?«, fragte ich unsicher.
Derek setzte seinen Rucksack ab und zog einen Baseball aus einem Seitenfach.
»Du hast einen Ball dabei?«
»Immer«, sagte er nur. Dann fasste er nach meiner Hand und drehte sie um, damit er den Ball in der Handfläche platzieren konnte. Ein paar Sekunden lang ruhten seine kalten Finger auf meinem Handgelenk. Ich fragte mich, ob er spüren konnte, wie mein Puls schneller wurde. »Der Baum da hinten sieht so aus, als ob er einen Schlag vertragen könnte. Was meinst du?«
Ich folgte seinem Blick und spähte zum anderen Ende des Spielplatzes hinüber. Dort standen eine Menge Bäume, aber ich wusste sofort, welchen er meinte. Wegen des krummen Stamms und dem kahlen Geäst wurde er von den Kindern in der Gegend immer nur Krähenbaum genannt, weil so viele Krähen sich auf den freien Stellen niederließen. Das war teilweise echt unheimlich.
Meine Hand krampfte sich fester um den Ball. Ich holte kräftig aus und pfefferte den Baseball mit voller Wucht nach vorne. Das Teil flog ein paar Meter und knallte dann gegen eine Stange des Klettergerüsts. Sobald er auf den Widerstand traf, prallte der Ball davon ab und fiel in den Sand.
Schwache Leistung, verfluchte ich mich sofort.
»Na los, worauf wartest du? Hol ihn«, forderte Derek mich auf. Meine Füße bewegten sich wie von selbst. Als ich wieder neben ihm stand, legte er mir eine Hand auf die Schulter. »Senk den Arm noch etwas mehr und lehn dich weiter nach hinten. Der Körper geht mit.«
Beim zweiten Versuch traf der Baseball den Baum. Alle Luft entwich meinen Lungen, als ich mich wieder aufrichtete, und ich konnte ein Grinsen nicht verhindern.
»Ich hab wirklich getroffen!«
»Ohne Zweifel«, stimmte Derek mir zu. »Ein echtes Naturtalent. Du solltest in der Profiliga mitspielen.«
»Exakt. Mein Gesicht sollte auf Sammelkarten gedruckt werden«, meinte ich. »Wieso ist mir das nicht früher eingefallen? Kaffeebecher wären auch nicht schlecht.«
Derek begann laut zu lachen. Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um sich selber davon abzuhalten.
»Danke«, sagte ich lächelnd. »Ich denke, mit meinen neu erworbenen Wurfkünsten bin ich bereit nach Hause zurückzukehren. Ich wollte sowieso nur …«
»Jaaa«, sagte er gedehnt. »Es ist spät.«
Wir schwiegen beide und die Merkwürdigkeit der Situation schien plötzlich alles zu ersticken. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, geschweige denn tun. Immerhin war er Savannahs Bruder und alles andere als mein Freund. Und die meiste Zeit war er ein Arsch. Was er einen Moment später auch wieder bewies.
»Als Dankeschön könntest du mir jeden Schritt Rückweg einen Kuss geben«, schlug er vor, als ich langsam auf das Tor zuging, um zurück zur Straße zu kommen.
»Wie wäre es stattdessen mit einem blauen Fleck?«
»Ich steh auf etwas härtere Sachen.«
Wir liefen nebeneinander die Straße hinunter.
»Dann kannst du dich ja demnächst neben Mr Brunder in den Hortensienbusch legen und deinen Rausch auskurieren«, meinte ich gespielt ernst und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und anschließend geht ihr beide zu American Idol.«
»Wenn du mein Groupie sein willst, gibt es da auch andere Mittel und Wege«, sagte Derek amüsiert.
»Wieso wusste ich nur, dass du das sagst?«
»Und wieso wusste ich nur, dass du sofort das Thema in diese Richtung lenkst? Du Plappermaul.«
»Mhh«, machte ich distanziert.
Am Ende der Straße bogen wir nach links. Mir kam der Rückweg nach Hause viel kürzer vor, aber so war das wohl manchmal. Wenn man sich unterhielt verging die Zeit im Flug und die Unterhaltung mit Derek machte mir insgeheim richtig viel Spaß und lenkte super ab.
»Dafür denkst du einfach zu viel und über-analysierst einfach alles. Genau wie diesen Moment. Ich wette, du denkst gerade darüber nach, was passiert, wenn wir vor deiner Haustür stehen, und ob ich nur nett zu dir bin, weil ich mich an dich ranmachen will, oder …«
»Oder was?«, fragte ich erwartungsvoll, als wir jetzt wirklich kurz vor der Haustür im Vorgarten standen.
»Vielleicht –«
Derek konnte seinen Satz nicht beenden, denn in dem Augenblick öffnete sich unsere Haustür und meine Mom kam die Stufen herunter. Sie hatte diese entrüstete Du-steckst-in-Mörderschwierigkeiten-meine-liebste-Tochter-Miene aufgesetzt und erdolchte mich damit förmlich.
»Du warst so lange weg, dass ich bei Savannah angerufen habe, um mich zu erkundigen, ob du auch heil angekommen bist, was nicht der Fall war, und ich habe mir schon das Schlimmste ausgemalt!«, schrie Mom mich an, sobald ich den Garten betreten hatte. »Hier in der Gegend rennt seit ein paar Tagen dieser komische Kerl herum und ich wollte mir schon den Award für ›Rabenmutter des Jahres‹ verleihen, weil ich dich allein habe losgehen lassen.«
Derek nickte zustimmend, als wolle er mir telepathisch mitteilen: »Siehst du, ich hatte so was von recht und bin absolut nicht paranoid, Laurie.«
»Dein Geschichtsbuch holen, mh?«, sagte Mom skeptisch. Sie zog beide Augenbrauen hoch. »Das ist ein ausgewachsener Junge, kein Geschichtsbuch.«
Warum musste sie sich so aufspielen? Es war nicht so, als wäre Derek ihr fremd. Sie hatte ihn schon ziemlich oft gesehen. Ich hatte nichts Verbotenes getan!
»Reg dich ab, Mom«, erwiderte ich frustriert.
»Nein, das werde ich nicht«, entgegnete sie.
»Das ist Savannahs Bruder«, sagte ich, als würde das alles erklären. »Er hat mich nur begleitet.«
»Das ist sehr nett von dir«, sagte Mom zu Derek und dann wieder im barscheren Ton zu mir: »Was ist denn los, Laurie? Du machst so etwas doch sonst nicht.«
»Was? Rausgehen? Atmen? Leben?«, zischte ich.
»Ich will nicht streiten, Schatz.«
»Sicher«, meinte ich. »Das tust du ja mit Dad schon zur Genüge, deshalb soll ich mich als Einzige normal benehmen. Weißt du was? Du kannst mich mal!«
Nach diesem kleinen Wutausbruch ließ ich Mom einfach stehen. Ich hatte es so satt, mich wie ein nettes, kleines Mädchen zu benehmen. Erst später wurde mir bewusst, dass ich Derek in der Hitze des Gefechts total vergessen hatte. Mein schlechtes Gewissen quälte mich den Rest des Abends damit. Trotzdem war mein letzter Gedanke, bevor ich an diesem Abend einschlief:
Es wurde wirklich Zeit für eine Menge Ärger.
Ärger, der Mom in den Wahnsinn treiben würde.
Beim Frühstück herrschte eine Stimmung wie in der Arktis. Frostig und totenstill. Mom bestand darauf, dass wir zusammen in den Tag starteten, aber ich hasste diese Szenen, in denen wir alle am Tisch saßen und so taten, als wären wir noch eine Familie. Dad las Zeitung, Mom starrte mit abwesendem Blick auf ihre Waffeln und ich hatte nach dem Aufstehen bereits keinen Appetit mehr gehabt. Dass ich das Rührei nicht anrührte, war natürlich nur ein weiteres Zeichen meiner blöden Teenager-Rebellion, wie Mom es gestern genannt hatte.
Gegen kurz vor eins hatte sie in mein Zimmer gespäht und so etwas vor sich her gemurmelt. Ich war noch wach gewesen und hatte die Sterne angestarrt. Die Hoffnung, dass dort oben die Lösung für all meine Probleme lag, hatte ich noch nicht aufgegeben. Doch selbst jetzt beließ es meine Mom nicht beim gestrigen Streit. Sie knüpfte stattdessen mit einem Übergangsthema daran an, als sei erst gar keine Pause entstanden. Jetzt ging es natürlich sofort weiter.
»Wieso verweigerst du das Essen, Laurie?«, fragte sie, als wäre ich ernsthaft krank und würde das jeden Morgen tun. Was ich natürlich nicht tat, sonst würde sie nicht so dämlich nachfragen. »Gehört das auch zu dieser seltsamen Teenager-Rebellion, die du gestern Abend gestartet hast?«
»Ja, genau.« Ich schnaufte. »Mein großer, böser Masterplan soll dich so schnell wie möglich ins Grab bringen. Morgen könnte ich sogar nackt aus dem Haus gehen, wenn man nicht auf mich rebellischen Teenager achtet.«
Den Sarkasmus in meiner Stimme ignorierend, fuhr Mom unbeirrt fort, während Dad den Artikel über das Kohlewerk scheinbar interessanter fand als unser lautes Gespräch.
»Vielleicht würde es dir helfen, mit jemandem zu reden. Eine fremde Person in das einzubeziehen, was dich belastet, damit du eine andere Perspektive hast.«
Diese Aussage stimmte mich ziemlich wütend. Als ob sie nicht genau wüsste, was mich belastete. Ich war es gar nicht gewohnt, dass so viel dieser bitteren Wut in mir steckte und immer wieder die Oberhand gewann. So musste sich der Hulk fühlen, wenn er kurz vor einer Verwandlung stand, nur dass das Monster in meinem Inneren nicht grün war. In mir wirbelte ein Spektrum an Gefühlen herum. Hilflosigkeit. Frust. Angst. Sorge. Wut. Am schlimmsten war das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Als würden meine Worte gegen eine Wand prallen.
»Über die Lage reden? Welche Lage, Mom? Du und Dad wisst ja nicht einmal selbst, was vor sich geht, oder ihr wollt es mir aus irgendeinem Grund einfach nicht sagen. Und was bedeutet eine andere Perspektive sehen, bitte? Ich bin in den letzten Monaten tausend Ansätze durchgegangen und zu keiner Lösung gekommen«, erwiderte ich, wobei die Wörter, die aus meinem Mund kamen, bebten wie eine grollende Lawine. Mom sah auch tatsächlich ein klein wenig so aus, als stünde sie davor darunter begraben zu werden. »Ich ertrage es nicht mehr, okay?«
»Im Sommercamp bei Onkel Tristan wird es dir sicher gefallen«, wechselte sie prompt das Thema. »Er hat sich gestern nach dir erkundigt, aber da warst du gerade aus. Müssen wir eigentlich das besondere Gespräch führen, Laurie?«
»Wie zur Hölle kommen wir von euren Eheproblemen denn jetzt auf mein Sexleben, Mom?«, stieß ich aus. Mürrisch schob ich den Teller von mir weg und Rührei spritzte dabei über den glatt polierten Holztisch.
»Das heißt, es gibt bereits ein Sexleben?«
Ganz die besorgte Mutter machte sie große Augen. Dad steckte die Nase noch tiefer in die Zeitung, als besäße Druckerschwärze die magische Kraft, ihn plötzlich taub werden zu lassen. Ich setzte ein spöttisches Lächeln auf, weil ich Mom so richtig eins reinwürgen wollte.
»Natürlich, Mom. Was meinst du, was Derek und ich gestern draußen getrieben haben?«, fragte ich todernst.
»Es scheint mir, ich muss ein ernstes Gespräch mit Mrs Roscoe führen. So kann das nicht weitergehen. Selbst, wenn du und Derek nie viel miteinander zu tun gehabt habt, irgendetwas ist doch im Busch.«
»Gespräche führen kannst du ja besonders gut«, antwortete ich richtig giftig.
»Achte auf deinen Ton, Laurie!«
Endlich zeigte Mom eine Reaktion, denn ihre Stimme hob sich, während sie die Stirn in Falten legte. Vielleicht dachte sie darüber nach, ob meine Worte ein Stück Wahrheit beinhalteten und begann sich zu sorgen, dass ihre Tochter unzüchtige Dinge tat. Doch ich wartete vergebens auf weitere Sätze. Sie schwieg.
»Ich muss zur Schule«, verkündete ich. Ehe Mom etwas sagen konnte, stand ich auf und verließ das Haus. Meine Laune war nicht nur im Keller, sondern durch irgendein Loch bis zum Erdkern gefallen.
Die düstere Wolke, die über mir hing, wurde sofort von Savannah und Derek bemerkt, als ich die Wagentür öffnete. Die beiden hatten schon im Auto auf mich gewartet. Ich kletterte auf den Rücksitz, aber Derek machte keine Anstalten loszufahren, stattdessen starrte er mich im Innenspiegel an. Savannah hatte sich umgedreht und beugte sich über die Lehne. Sie hatte das Haar zu einem langen Fischgrätenzopf geflochten, der ihr nun über die Schulter fiel, und kurz gab ich mich der Vorstellung hin, mich damit zu erwürgen. Henkersbäume gab es in unserem Garten genug.
»Können wir bitte einfach fahren?«, fragte ich. Savannah stupste ihren Bruder an und dieser nickte nur. Ich lehnte mich zurück und plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht in einer Müllhalde saß. Denn genau so hatte es, die wenigen Male, die ich bereits hier drinnen gesessen hatte ausgesehen. Dereks Wagen wirkte fast so, als habe er ihn extra aufgeräumt.
»Mom hat ihn gezwungen«, erklärte Savannah, die meinen erstaunten Blick bemerkt hatte. »Toll, oder?«
»Es könnte sein, dass meine Mom heute bei eurer anruft, um mit ihr darüber zu reden, warum Derek und ich unsere unsterbliche Liebe geheim halten.«
Derek trat so abrupt auf die Bremse, dass der Wagen förmlich zur roten Ampel hin schlitterte, bevor er hielt.
Savannah gab ein schrilles Kreischen von sich und ich stieß mir den Ellbogen an der Seitentür, als wir durch die Gegend geschleudert wurden. Hinter uns hupte jemand.
»Ich glaube, ich habe mich verhört«, sagte Derek und wandte mir mechanisch den Kopf zu. »Wir sind was?«
»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«, fragte Savannah und sah zwischen uns hin und her. Das schelmische Grinsen auf ihren Lippen verriet jedoch, dass sie wusste, dass die Dramatik der Aussage nichts mit der Realität gemein hatte.
Ich lächelte. »Hat Derek dir noch nicht erzählt, dass wir demnächst auf dem Luftschloss der Liebe heiraten werden?«
»Ohh, dann werde ich endlich Tante«, stieß Savannah übertrieben euphorisch aus. Derek schien das sichtlich nicht lustig zu finden, was mich wirklich verwunderte. Bei all den dämlichen Sprüchen, die er immer von sich gab, hatte ich eher erwartet, dass er sich in den Spaß einklinkte.
»Entschuldige bitte, aber meine Mom verliert nun endgültig den Verstand«, erklärte ich. »Ich weiß auch nicht, was sie sich in ihrem Kopf zusammenreimt.«
»Okay«, murmelte Derek nur.
»Okay?«, horchte Savannah nach. »Was ist denn gestern passiert, außer, dass er dich nach Hause gebracht hat?«
»Das Übliche«, antwortete ich. »Sorry.«
Das Sorry galt Derek, aber inzwischen mied er meinen Blick und fixierte die Straße, als gäbe es nichts Schöneres, als dem fließenden Verkehr zur Schule zu folgen.
Auf dem Parkplatz ließ er uns aussteigen und fuhr weiter, um eine freie Lücke zu suchen. Kopfschüttelnd sah ich dem Wagen nach. »Er ist echt seltsam.«
»Ach, findest du?«, fragte meine beste Freundin. »Lass dir von jemandem, der sein Leben mit ihm verbracht hat, sagen, das war noch einer der Tage, an denen er sich seltsam normal benommen hat. Aber zurück zu gestern. Du und Derek seid nicht gerade ein Herz und eine Seele und jetzt ist da irgendwas zwischen euch gelaufen? Du bist als beste Freundin dazu verpflichtet mir so etwas auf der Stelle mitzuteilen! Los, Details!«
»Um ehrlich zu sein …«, setzte ich an und ließ die Worte schleifen, um mir Zeit zu verschaffen. »… weiß ich es nicht. Er war nett zu mir und irgendwie hat es geholfen, aber das war auch schon alles.«
»Also keine Hochzeit im Luftschloss der Liebe?«
»Keine Hochzeit«, bestätigte ich. Trotzdem schlich sich ein Kribbeln in meinen Magen, als ich an die Berührung seiner Hand auf meiner dachte. Sofort verfluchte ich mich dafür. Derek war Savannahs Bruder und ich kannte ihn schon eine ganze Weile. Wenn es irgendeinen Teil von mir gab, der ihn mochte, hatte der sich reichlich Zeit gelassen, es zu zeigen. Vielleicht war das gestern aber auch etwas Anderes gewesen. Einfach der Moment, in dem eine Person für eine andere da gewesen war. Ich hatte das gebraucht und rein theoretisch betrachtet hätte jeder x-beliebige Mensch mir gestern Nacht ein Stück Zuversicht schenken können. Genau so war es.
Kaum hatte ich einen Fuß auf das Schulgelände gesetzt, kam Paisley wie ein Blitz auf mich zugeschossen. »Dich habe ich gesucht!«
»Ich weiß, ich weiß«, murmelte ich. »Freitag –«
»Nein, jetzt«, unterbrach sie mich. »Der Zeitplan wurde etwas gestrafft und ich brauche die letzten Videoaufnahmen jetzt. Du musst sofort mitkommen.«
Savannah sah mich mitleidig an. »Viel Glück«, wünschte sie mir, ehe Paisley mich packte und mit sich schleifte, bis wir in der Menge verschwanden wie winzige Fische im großen Meer.
Minuten später saß ich wieder auf dem unbequemen Stuhl vor der weißen Leinwand im Raum der Video-AG. Es fühlte sich an, als wäre ich Teil einer Show, die sich mit Zeitreisen beschäftigte und mich zurück an den gestrigen Tag verfrachtet hätte. Kaum zu glauben, dass zwischen diesen ähnlichen Momenten nicht einmal vierundzwanzig Stunden lagen. Zeit war das reinste Mysterium.
»Heute bitte ohne Drama-Queen-Szene, Laurie.«
»Okay«, antwortete ich und wartete auf ihr Zeichen. Dann leuchtete das Lämpchen an der Kamera rot und Paisley nickte, während die Sekunden auf Band verstrichen.
»Ich bin Laurie Emerson, Senior an der Mount Alvache Highschool und stehe kurz vor meinem Abschluss.«
»Wo siehst du dich in zehn Jahren?«
Bis zur dieser Stelle hatte ich es schon einmal geschafft. Paisley starrte über den Rand der Kamera direkt in meine Augen und hielt einen Daumen hoch.
»In zehn Jahren«, wiederholte ich. »Ich wette, viele meiner Mitschüler hatten die perfekte Antwort dafür. Sie möchten einen tollen Job, eine Familie, sich ein eigenes Leben aufbauen, aber die Wahrheit ist, wenn ich zehn Jahre in die Zukunft blicken könnte, würde ich keine Veränderung sehen. Warum? Weil ich ein verdammt feiger Mensch bin. Ich erfülle Erwartungen und nicke höflich zu allem. Ich halte den Mund und ich lasse Dinge geschehen. Ich glaube, Menschen wie ich werden von der großen weiten Welt einfach verschluckt und landen dort, wo niemand sie vermisst. Wenn in zehn Jahren eine ältere Laurie Emerson dieses Video sieht, dann will ich einfach, dass sie von sich sagen kann, dass sich das geändert hat. Dass sie mutiger geworden ist, Risiken eingegangen ist, und dass sie zumindest einmal in diesen zehn Jahren etwas absolut Rücksichtsloses und Verrücktes getan hat. Veränderungen geschehen nicht, wenn man auf eine Chance wartet, sondern nur, wenn man eine Entscheidung trifft. Und genau das werde ich jetzt tun.«
Stille. Paisley schien darauf zu warten, dass ich noch etwas hinzufügte, aber ich erwiderte eisern den Blick der glasigen Linse und hielt den Atem an.
»Cut«, sagte Paisley. »Bist du sicher –«
»Danke für deine Zeit«, schnitt ich ihr das Wort ab und genau wie beim ersten Mal, setzte ich zur Flucht an. Dieses Mal stieß ich mit niemandem zusammen und dieses Mal hielt mich niemand auf. Ich lief den Gang hinunter, schloss meinen Spind auf und steckte den Kopf hinein, wie ein Strauß es bei Sand tun würde. Abgeschottet von der Außenwelt holte ich tief Luft. Langsam formte mein Verstand einen Plan.
Der Schultag zog sich erbarmungslos in die Länge, ehe ich beim Lunch den ersten Part meines neu entwickelten Plans umsetzen konnte. Die Idee mit dem Ärger machen hatte ich noch immer auf dem Schirm, nur in einer anderen Variante, als zunächst gedacht. Mittlerweile hatte mich die Erkenntnis eingeholt, dass ich meine Eltern nicht wieder zusammenbringen konnte, was auch immer ich anstellte, aber ich konnte sie verletzen und war wie Zorro auf Rache aus. Mit der Ausnahme, dass Zorro mit guten Absichten der Rächer der Armen war.
Ich wollte sie spüren lassen, was ich fühlte. Die verfluchte Box meiner Gefühle öffnen und all die dunklen Gedanken endlich rauslassen.
Und wie ginge das besser als mit einem Jungen?
Wenn Derek Mom schon so dermaßen auf die Palme gebracht hatte, dann würde es jemand wie Keegan, der olle Möchtegern-Macho, noch viel mehr tun. Deshalb nahm das Unglück seinen Lauf, als ich während der Mittagspause an den Tisch der Baseballspieler trat.
»Hi, Keegan«, begann ich voller Elan. Alle Augen richteten sich auf mich. Die Leute am Tisch verstummten und hielten bei dem, was sie taten, plötzlich inne. Ich schluckte schwer. So viel Aufmerksamkeit mochte ich eigentlich gar nicht.
Los, zieh es durch, Laurie!
»Steht dein Angebot von neulich eigentlich noch?«
Es war kein richtiges Angebot gewesen, aber diese Wortwahl klang in meinen Ohren irgendwie verruchter. Ich hatte extra Lipgloss aufgelegt und mein Top auf eine ziemlich einsichtige Tiefe runtergezogen. Die kleinen Details verfehlten ihren Effekt jedenfalls nicht.
»Laurie«, sagte er und rollte dabei das L, als wolle er aus meinem Namen das Wort Lolita machen. »Ob mein Angebot noch steht? Aber hallo, Süße. Immer doch.«
»Super«, sagte ich schwungvoll.
»Also … was geht ab, Laurie?«
Eine Dusche nach dem Sport bei dir anscheinend nicht, dachte ich, weil er vollkommen verschwitzt aussah und ich aufgrund der Nähe zu ihm diesen Umstand auch noch riechen konnte. Ich rümpfte die Nase.
»Hoffentlich deine Nummer«, flötete ich und spitzte meine Lippen auf eine Weise, die hoffentlich sexy aussah und nicht irgendwie total dämlich. »Ich hätte sie wirklich gerne.«
»Ohhh«, machte Keegans Kumpel neckisch und ich dachte wieder an eine Bande Affen aus dem Zoo. Die anderen benahmen sich auch nicht besser. Irgendjemand pfiff anerkennend durch die Zähne, es wurde mit der Zunge geschnalzt und der Kerl am Ende des Tisches klatschte sogar in die Hände, als hätte Keegan die Olympiade gewonnen. Möchtegern-Machos, allesamt. Vermutlich hatte noch nie irgendein weibliches Wesen ernsthaft Kontakt zu ihnen aufgenommen. Oder sollte einen so etwas Herzrasen und Vorfreude bescheren?
Derek war der Einzige, der weiter aß und mich ignorierte. Er war scheinbar noch immer sauer wegen heute Morgen, was ich nicht verstand.
Keegan griff nach meiner Hand. »Ich hab dir ja gesagt, du kannst mehr als das haben«, säuselte er. Wenn ich im Flirten schon eine Katastrophe war, dann war Keegan noch weit unter mir auf der Rangliste der flirtfähigsten Schüler. Er hatte eindeutig zu viele Gangster Filme geschaut und war wohl überzeugt davon, so eine Masche würde auch außerhalb des Fernsehers funktionieren. Newsflash: Tat sie nicht.
Krampfhaft behielt ich das Lächeln bei und reichte Keegan einen Stift. Ohne meine Zustimmung, packte er meinen Unterarm, und schrieb mir seine Nummer auf die Stelle über meinem Handgelenk.
»Ruf mich an«, sagte er erwartungsvoll.
»Schneller als du denkst«, erwiderte ich.
Kaum hatte ich dem Tisch den Rücken zugedreht, hörte ich, wie Keegan zu seinem Auftritt beglückwünscht wurde. Einige der Adjektive, die fielen, blendete ich sofort wieder aus. Savannah, die mir bereits einen Platz in der Ecke neben der Fensterfront freigehalten hatte, musterte mich eingehend, als ich mich zu ihr setzte.
»Werde ich in den Plan eingeweiht?«, fragte sie und bedeutete mir mit einer Geste, dass ich mein Top wieder hochziehen sollte. Ich zupfte am Ausschnitt und fühlte mich gleich weniger wie ein freizügiges Flittchen.
»Was hast du dir dabei gedacht?«
Ich stahl eine der kleinen Tomaten aus ihrem Salat und kaute lustlos darauf herum. »Eine ganze Menge.«
***
Celeste war natürlich die beste Anlaufstelle gewesen, um ein paar Informationen über die Routine des Coachs zu erhalten. Er trainierte die Baseballmannschaft und unterrichte in verschiedenen Stufen Sport. Sein Büro war logischerweise immer in seinen freien Stunden besetzt oder jeweils vor und nach dem Training. Ich musste einen perfekten Moment abpassen, damit man mich auf frischer Tat ertappen konnte. Celeste hatte nur den Kopf geschüttelt, als ich ihr von meinem Plan erzählt hatte. »Du bist verrückt«, hatte sie gesagt und mich dann ziemlich mitleidig angesehen. Es war mir egal.