"Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935) - Lyonel Feininger - E-Book

"Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935) E-Book

Lyonel Feininger

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Beschreibung

Lyonel und Julia: Von der Kunst, zu lieben. Eine schicksalshafte Liebesgeschichte, erzählt in größtenteils nie veröffentlichten Briefen. Zugleich ein Zeugnis vom Arbeiten und Leben des großen Malers, pünktlich zu seinem 150. Geburtstag. Im Juli 1905 treffen Lyonel Feininger und Julia Berg im Zug Richtung Ostsee jeweils die Liebe ihres Lebens. Beide sind verheiratet, doch schnell ist ihnen klar, dass sie einen gemeinsamen Neuanfang wagen wollen. Bestärkt durch Julia, will Feininger zu einer neuen Malkunst finden. Davon schreibt er ihr in zahlreichen Briefen. Neben einem feinsinnigen Menschen, fortschrittlichen Vater, liebenden Ehemann und zweifelnden Künstler scheint darin auch die Frau und Künstlerin Julia Berg, seit 1907 Feininger, auf, die ihre Briefe für die Nachwelt sperren ließ. Die seinen nehmen uns mit auf eine Zeitreise durch Krieg, Weimarer Republik, Inflation und die Entstehung des Bauhauses. Sie erzählen vom Aufstieg der Nationalsozialisten, der wachsenden Gefahr für Julia und ihre jüdische Familie, von Diffamierung und Abschied.

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Ines BurdowAndreas Hüneke (Hgg.)

Sweetheart,es ist alle Tage Sturm

Lyonel Feininger — Briefe an Julia1905—1935

Der Abdruck der Briefe Lyonel Feiningers erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Conrad Feininger und derHoughton Library, Harvard University.

ISBN 978-3-98568-009-2

eISBN 978-3-98568-010-8

1. Auflage 2021

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2021

Printing of Lyonel Feininger Papers (MS Ger 146) licenced by Houghton Library, Harvard University, & Conrad Feininger Gestaltung: Anke Fesel / bobsairport

Unter Verwendung einer Fotografie von Andreas Feininger /Getty Images sowie des Bildes »Ausfahrende Schiffe«

von Lyonel Feininger / akg-images

Lektorat: Sabine Franke, Leipzig

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Inhalt

Ines Burdow

Lyonel und Julia Feininger – eine Spurensuche

Andreas Hüneke

Leo und Julia

Die Vorgeschichte bis 1905

1905–1908 »Findetage«

1909–1919 »Unsere Welt-Wende«

1920–1925 »Die Kabale spitzt sich zu …«

1926–1929 »Wir gehen jetzt dessauern …«

1930–1935 »Es ist schlimm in Deutschland«

In die Neue Welt

Chronologie

Personenverzeichnis

Zu dieser Ausgabe

Ines Burdow

Lyonel und Julia Feininger – eine Spurensuche

Mitte 2018 bekam ich die Transkripte von ungefähr 850 Briefen Lyonel Feiningers an seine zweite Frau Julia in die Hände. Der damalige Leiter der Quedlinburger Lyonel-Feininger-Galerie, Michael Freitag, beauftragte mich, eine Lesung zu konzipieren, die 2019 im Rahmen des Veranstaltungsprogramms zur Ausstellung »Die Feiningers – ein Familienbild am Bauhaus« stattfinden sollte. Zusammen mit dem Künstler Frank Diersch entwickelte ich ein Live-Hörspiel zum Thema. Michael Freitags enormes Wissen und Rückfragen bei Dr. Roland März, ebenfalls ein Feininger-Experte, halfen uns dabei.

Die Briefe ließen mich allerdings nicht los. Briefe, die 1905 beginnen und 1935 enden. Dreißig Jahre Leben, dreißig Jahre Zeitgeschichte aus der Perspektive Lyonel Feiningers, das meiste davon unveröffentlicht oder lediglich verstreut auffindbar in Ausstellungskatalogen und wissenschaftlichen Fachpublikationen, oft auf einzelne Zitate reduziert, in denen Feininger sich zu seinem Kunstverständnis äußert, zu wichtigen Figuren des Kunstmarkts seiner Zeit oder zu Verhandlungen bei Verkäufen.

Die Ausgabe, die Sie nun in Händen halten, bietet erstmals eine gebündelte und umfangreiche Auswahl der Briefe, die viele Aspekte, welche in den dreißig Jahren Thema der sehr persönlichen Korrespondenz waren, auffächert. Sie bietet also ein komplexes Bild, vor allem mit Blick auf die gemeinsame Geschichte der beiden Schreibenden. Es sind Briefe, die eine außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählen und uns durch die Zeiten führen. Die Zeiten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, die Zeiten während der Weimarer Republik, der Deutschen Inflation, der Entstehung, Blüte und Schließung des Bauhauses, die Zeiten der Weltwirtschaftskrise, des aufkommenden Nationalsozialismus bis hin zur Machtergreifung Hitlers, die dazu führt, dass Lyonel und Julia Deutschland Richtung Amerika verlassen müssen. Julias jüdische Abstammung und Lyonels als »entartet« stigmatisierte Kunst brachten die Familie, trotz amerikanischer Staatsbürgerschaft, zunehmend in Gefahr. In New York fanden sich deren Mitglieder nach und nach wieder zusammen.

Bei der intensiven Beschäftigung mit den Lebensumständen Julia und Lyonel Feiningers haben mich ihr beeindruckender Lebensweg, der Zusammenhalt, die Weltoffenheit und der Mut der beiden, immer wieder Neues zu wagen, tief berührt. Wie sehr sie gekämpft haben, Zustände für sich herzustellen, die sie nicht zuletzt auch zum inneren Überleben brauchten und um ihre Liebe und Partnerschaft zu schützen. Alles war in Bewegung, nichts blieb, wie es war – und immer wieder wagen sie sich auf neues Terrain, in der Hoffnung auf eine bessere Welt. Es ist anrührend zu lesen, wie liebevoll Freundschaften gepflegt werden. Und Lyonel, dem Öffentlichkeit nicht geheuer war und der davon ausging, dass Kunst nicht wirklich lehrbar sei, ging fast fünfzigjährig mit Gropius das große und für seine Zeit revolutionäre Experiment des Bauhauses ein.

Das Bauhaus in Weimar war zunächst einmal eine Idee, als Antwort auf drängende kulturelle Probleme, auch im Bereich der Erziehung und Bildung, letztlich aber die gesamte Lebensführung betreffend. Hier sollte mit neuen Formen experimentiert werden. Und so bezog in wechselhaften Zeiten das Bauhaus 1919 im beschaulichen Weimar die vom belgischen Architekten Henry van de Velde für die dortige Großherzogliche Kunstschule und die Kunstgewerbeschule errichteten Gebäude. Die »neuen« Lehrenden teilen sich vorerst ihre Ateliers mit Professoren wie auch mit Studenten und Studentinnen der alten Schulen, deren Lehrtätigkeit oder Studium vom Krieg unterbrochen worden waren und die an der neuen Institution bleiben wollten. Lyonel und Julia sehen sich und ihre Familie mit der »sozialen und wirtschaftlichen Situation einer Nation konfrontiert, […] die durch Krieg und Revolution ausgeweidet worden war, mit Aufständen und Gewalt auf der Straße, dem drohenden Gespenst der Inflation und Engpässen«, schreibt der jüngste Sohn, T. Lux Feininger, in seinen Lebenserinnerungen »Zwei Welten«. Und er erinnert sich, »dass der Künstler mit dieser Aufgabe über sich hinauswuchs; mehr noch: dass er ungeahnte Kräfte in sich entdeckte und dass seine Kunst blühte und Früchte trieb wie nie zuvor.« Die Lektüre der Briefe zeigt, dass Julia und Lyonel die Entscheidung, nach Weimar zu ziehen, zusammen trafen und trugen. Weimar, das war auch das zärtlich erinnerte Städtchen, das ihnen schon zu Beginn ihrer Liebe, als Julia noch dort studierte, Zuflucht gewesen war – und jetzt eben als Speerspitze der Avantgarde den Aufbruch in eine neue Zeit markieren soll.

Dass Lyonel Feininger, der Amerikaner mit deutschen Wurzeln, heute zu den bedeutendsten Künstlern der Klassischen Moderne zählt, war klar – doch Julia Feininger? In den Briefen konnte ich neben einem feinsinnigen, wortgewandten, humorvollen Menschen, fortschrittlichen Vater, liebenden Ehemann und dem zweifelnden Künstler und Beobachter der politischen Vorgänge der Zeit auch die Künstlerin Julia Berg, ehemals Lilienfeld und bald darauf Julia Feininger entdecken. Es braucht nicht viel, um der Korrespondenz zu entnehmen, dass beide nicht nur intensiv auf derselben Wellenlänge schwangen und sich immer wieder empathisch und sensibel aufeinander einstimmen konnten, sondern auch bei allem anderen auf Augenhöhe agierten. Allerdings muss diese Julia in Lyonels Worten entdeckt werden, denn nur dessen Briefe wurden von ihr nach seinem Tod gesichtet, in Auszügen von ihr zu einem Manuskript zusammengestellt und in dieser Form zur Veröffentlichung freigegeben – wobei das offenbar von ihr geplante Publikationsprojekt nicht zustandekam. Und doch ist es ein wichtiges Anliegen dieser Ausgabe, Julia, so gut es geht, aus dem Schatten ihres Mannes zu holen und sie ihm wieder an die Seite zu stellen, was Lyonel Feininger sicher gefreut hätte. Gleichzeitig respektiere ich ihren Wunsch, ihre eigenen Briefe nicht dazuzustellen.

In der Quedlinburger Ausstellung »Die Feiningers – ein Familienbild am Bauhaus« haben mich damals auch die Fotos von Julia neugierig gemacht. An ihr war über die Jahre eine deutliche Wandlung auszumachen: Ein frühes Foto, das wohl Lyonel gemacht hat, zeigte die junge Julia auf einem Ast sitzend im weißen Kleid der wilhelminischen Zeit, mit üppig hochgestecktem Haar, mit verliebtem Lächeln den Betrachter durch die Kamera anschauend. Auf einem anderen frühen Foto wirkt sie, ebenfalls in für die Kaiserzeit typischer Mode, mit ausgestelltem Rock, geschnürter Taille, großem Hut und komplizierter Hochsteckfrisur etwas matronenhaft. Auf dem nächsten Foto jedoch sah ich eine entspannte, selbstsicher wirkende moderne Frau, lässig auf einen Schreibtisch gestützt, mit kurzem Haar und geradem, direktem Blick. Sehr harmonisch wirkt ein Atelierfoto: Julia im Sessel sitzend und Lyonel aus einem Buch vorlesend, während er an der Staffelei steht und malt. Im Netz finde ich jedoch auch Fotos, auf denen Julia, noch als recht junge Frau, erschreckend müde und gealtert wirkt.

Das Plakatmotiv für die Quedlinburger Ausstellung zeigte damals einen Anblick, wie ihn wohl auch Julia vor Augen gehabt haben mag: Lyonel mit Hut, Mantel, Brille und Pfeife mit den drei Söhnen, vorn im Bild Andreas, auf Feiningers Arm der kleine Laurence und T. Lux im Kinderwagen. Was für ein untypisches Foto für diese Zeit! Wir sehen einen Vater auf ganz alltägliche Weise mit seinen Kindern, als wären die vier beim Spaziergang vom Fotografen oder der Fotografin überrascht worden, als wäre eine Fotografie solch eines Familienvaters mit Kinderwagen zu dieser Zeit das Normalste auf der Welt.

Welch eine Familie, die aus der Verbindung von Julia und Lyonel hervorgegangen ist: Aus Andreas wird ein wegweisender Fotograf, aus Laurence ein in seinem Spezialbereich bahnbrechender Musikwissenschaftler und aus Lux ein eigenwilliger Maler und Pädagoge von ganz eigenem Rang. Und doch: Das Buch »Die Familie Feininger« wäre ein anderes, ein ganz eigenes Projekt.

Der 150. Geburtstag von Lyonel Feininger am 17. Juli 2021 bietet nun den ersehnten Anlass, seine Briefe an Julia endlich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn auch erst einmal in einer Auswahl aus dem enorm umfangreichen Typoskript, das Julia nach seinem Tod 1956 in den sechziger Jahren erstellt hat. Bei der Briefauswahl habe ich mich vor allem auf das Paar konzentriert, auf die gemeinsame Entwicklung während der intensivsten Schaffensperiode des Künstlers Feininger in äußerst bewegten Zeiten. Lyonels wichtigste Ansprechpartnerin und Kritikerin war Julia – sie war lebenswichtig, so scheint es, für den empfindsamen Künstler, der sich immer wieder durch tiefe innere Täler kämpfen musste. Julia war es, die ihn von Anfang an auf seinem Weg unterstützte, ihm den Rücken freihielt und ihren eigenen künstlerischen Werdegang für Lyonels Schaffen zurückstellte.

In der Quedlinburger Ausstellung hatte Michael Freitag Skizzen und Bilder der beiden aus den ersten gemeinsamen Jahren des Paares ausgestellt, an denen sehr gut zu erkennen war, dass Lyonel und Julia sich auf einem ähnlichen künstlerischen Level begegneten – wie auch Äußerungen in den Briefen beweisen. Lyonel war zum damaligen Zeitpunkt ein vor allem in Berlin hochgeschätzter Zeichner und Karikaturist, der jedoch neue Ausdrucksformen für sich suchte, weg wollte von Auftragsarbeiten für verschiedene Zeitschriften, mit denen er bis dahin seinen Lebensunterhalt verdiente. Julia ermutigte ihn, seine Bildsprache in neuen Techniken wie der Druckgrafik zu entfalten und schließlich, 1907, zur Malerei überzugehen. Mit dem wachsenden Erfolg ihres Mannes wurde Julia dann zu Lyonels Managerin und im Grunde auch seine Kunsthändlerin. Sie übernahm Absprachen für geplante Ausstellungen sowie die Abwicklung vieler Werkverkäufe samt der Briefkorrespondenz, und auch notwendig werdende Reisen zu Verhandlungen vor Ort.

Während der gemeinsamen Jahre in Paris 1906–1908 hatten Lyonel und Julia hingegen noch beide Karikaturen und Illustrationen für das Magazin »Le Témoin« angefertigt und wohl auch in anderen Zeitschriften zusammen publiziert. Julia hatte schon früh ihre eigene künstlerische Ausbildung betrieben, im Jahr 1900 war sie im »Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin« aufgenommen worden, wo sich vor ihr schon Käthe Kollwitz ausbilden ließ. 1905 schrieb sie sich in Weimar in der damals angesehenen Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule ein. Im selben Jahr, in den Sommerferien, traf sie im Zug an die Ostsee auf Lyonel – eine schicksalhafte Begegnung, die beider Leben erst mal ordentlich auf den Kopf stellte.

Später dann, als Mutter von drei Söhnen, widmete sich Julia der Aufgabe, die Kinder aufzuziehen und für Lyonel bestmögliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, sie managte die Familie, organisierte in den meisten Fällen die Umzüge und die damit verbundene Einrichtung der neuen Wohnungen, sie reiste zu den wechselnden Ausbildungsorten der Kinder – und scheint nur in den Pausen, wenn Lyonel etwa die Sommerwochen als Vater allein mit den Söhnen verbringt, mitunter erkennen zu lassen, wie sehr sie dies anstrengt. Denn auch das zieht sich durch die Briefe hindurch: Dass beide besondere Antennen füreinander hatten, wenn sie jeweils am Zweifeln oder in schlechter Verfassung waren – und wie sie sich darum bemühen, ihre Beziehung lebendig zu halten, beide in der Gewissheit, wie elementar sie füreinander ist. Es gehört mit zum Schönen und Besonderen dieser Briefe, zu lesen, dass sich das auch nach langen Ehejahren nicht zu ändern scheint.

Jeder einzelne von Julia Feininger für die Nachwelt transkribierte Brief regt dazu an, ihn zu zeigen. Trotzdem wollte und musste ich für dieses Buch eine Auswahl treffen. So erscheinen in der vorliegenden Ausgabe die Söhne eher am Rande – nicht, weil in den Briefen nicht häufiger von ihnen gesprochen würde, sondern weil ich mich bei all den vielfältigen Facetten der Korrespondenz entschieden habe, neben der künstlerischen Entwicklung Lyonels einen weiteren Fokus auf die besondere Paarbeziehung von Julia und Lyonel zu legen. Auch die Töchter aus erster Ehe, Marianne und Lore, sind in Kontakt mit der Familie, selbst wenn ihre Namen nur sehr selten in den von Julia transkribierten Brieftexten, die mit dem Jahr 1935 enden, erscheinen. Von Lore wissen wir, dass sie eine anerkannte Fotografin wurde und zudem spät auch mit dem Komponieren von Musik begann. Über Mariannes beruflichen Werdegang ist dagegen nichts bekannt.

Viele Ereignisse und Gespräche werden in den Briefen nur angerissen und manches, von dem man weiß, dass es sich in dieser Zeit ebenfalls ereignet hat, kommt gar nicht vor. Denn das Paar hat sich natürlich nur in Zeiten der räumlichen Trennungen, etwa bei Reisen, brieflich verständigt, später auch telefonisch. So gibt es aus manchen Jahren sehr reichhaltiges und aus anderen nur wenig bis gar kein Briefmaterial. Und es entstehen immer wieder Momente, in denen wir mit Spannung erfahren wollen, wie es weiterging, aber die Briefe an ebendieser Stelle enden. Vieles wartet noch darauf, durch die Feininger-Forschung ans Licht geholt zu werden, und es wird hoffentlich all dies einmal in einer Gesamtausgabe der Briefe beleuchtet werden können.

Natürlich brauchen die Briefe Erläuterungen, die auf die künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Strömungen, Entwicklungen und Hintergründe eingehen, wie auch – im Anhang – ein Verzeichnis der genannten Personen. Die Briefe sind in der authentischen chronologischen Reihenfolge belassen, wodurch es sinnvoll erschien, die wichtigsten Ereignisse Jahr für Jahr eingangs knapp für die Leserinnen und Leser zu rekapitulieren und so das jeweilige Jahr mit den wichtigsten Wegmarken im Leben der Feiningers zu umreißen. Dies geschieht bewusst in einer nüchternen Sprache, um anschließend dem Briefeschreiber den erforderlichen Raum zu lassen, seinen ganz eigenen Klang zu entfalten.

Hierbei fasziniert unter anderem Feiningers lebendiger Schreibstil und sein Humor, den er sich trotz aller Widrigkeiten, Zweifel und Selbstzweifel bewahrt, sowie seine Offenheit in seelischen Dingen, selbst wenn er hadert, es ihm nicht gutgeht, seine Arbeit stagniert. Uns tritt ein beeindruckender, feinfühliger Mann entgegen, der sich gerade auch mithilfe seiner familiären Schutzhülle immer wieder zu stärken scheint.

In besonders emotionalen Momenten, später zudem in politisch brisanten, verfällt Lyonel Feininger in seine amerikanische Muttersprache, meist mit deutschen Einsprengseln durchsetzt. Aus T. Lux Feiningers Erinnerungen wissen wir außerdem, dass Julia und Lyonel vor den Kindern oft englisch sprachen, wenn es um etwas ging, das diese nicht hören sollten. Ohnehin lässt die Brieflektüre zweifelsfrei darauf schließen, dass Julia des Englischen mehr als rudimentär mächtig war. Lyonel sprach außerdem ein sehr gutes Französisch, dessen er sich aber nur sehr viel seltener bedient. Mit Ausnahme des ersten Briefes, der im Original auf Englisch geschrieben ist und hier zum Auftakt ausnahmsweise im Haupttext in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird, sind die englischen Briefe immer in der Originalsprache abgebildet, um das den Feiningers eigene Sprachpotpourri unverfälscht abzubilden. Aus demselben Grund wurden auch möglichst viele andere sprachliche Besonderheiten Lyonel Feiningers beibehalten.

Wichtig und unverzichtbar war für mich bei der Vorbereitung dieses Bandes die Bereitschaft von Michael Freitag, sich ständig von mir mit Fragen löchern zu lassen, obwohl er anderes zu tun hatte. Unschätzbar wertvoll war zudem, dass sich Andreas Hüneke, der sich als hochangesehener Kenner seit Jahrzehnten intensiv mit Lyonel Feininger und seinem Umfeld beschäftigt, gewinnen ließ, das Ganze zum Schluss mit viel Geduld und großer Genauigkeit wissenschaftlich zu überprüfen, die Rahmentexte zu überarbeiten und zu ergänzen, Erläuterungen beizusteuern sowie den Band mit einem ausführlichen Vorwort zu bedenken. Nicht zuletzt war freundlicherweise ein Enkel von Julia und Lyonel, Conrad Feininger, uns bei Fragen und der Einholung der Abdruckrechte behilflich.

Diese Buchausgabe möchte Menschen ermutigen, sich mit Feiningers Welt und Werk zu beschäftigen, und denen, die dies schon lange tun, neue Facetten dieses Universums nahebringen.

»Was man braucht, ist Zukunft, nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.«

(Heiner Müller)

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre durch die Zeiten mit Julia und Lyonel Feininger.

Ines Burdow

Berlin, im April 2021

Andreas Hüneke

Leo und Julia

Es ist ein häufiges Schicksal von Künstlerinnen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade an einigen Stellen die Möglichkeit errungen hatten, sich ausbilden zu lassen, dass wir heute kaum in der Lage sind einzuschätzen, was sie hätten leisten können, wenn sie mit der gleichen Intensität bei der Sache geblieben wären oder hätten bleiben können wie ihre Männer. Gustav Mahler hat Alma Schindler geradezu verboten, weiterhin zu komponieren, wenn sie ihn heiraten würde. So extrem ist es meist nicht verlaufen. Aber ähnliche Fälle wie bei Julia Berg und Lyonel Feininger gab es oft. In den ersten Jahren hat sie, auch nach der Heirat und der Geburt der Söhne, mitunter noch gemalt und gezeichnet und wurde darin von ihm sogar in gewissem Maße unterstützt. Doch nach und nach trat ihre eigene künstlerische Tätigkeit immer weiter in den Hintergrund und sie bemühte sich weitgehend darum, alle möglichen Hindernisse, die Lyonels schöpferisches Tun behindern könnten, aus dem Weg zu räumen. Noch gegen Ende der zwanziger Jahre, die für das Selbstbewusstsein der Frauen so viel gebracht haben, wurde ein solches Verhalten ganz als positive Leistung und der Frau angemessen verstanden. Hans Hildebrandt schreibt in seinem 1928 erschienenen Buch »Die Frau als Künstlerin«: »Das schöpferische Wirken des Weibes im Bereiche der bildenden Kunst wäre allzu gering bemessen, wollte man es ausschließlich in den gestalteten Werken suchen. Es kann sich, ohne eine einzige persönliche ›Leistung‹, zu höchster Bedeutung steigern, wenn die Frau all ihr schöpferisches Vermögen an die Kunst eines Mannes hingibt, den sie liebt. […] Die liebende Frau hat den schärfsten Blick für Vorzüge und Mängel des Einen. Beglückt, im Schatten des Größeren sich mit der zweiten Rolle zu bescheiden, versteht sie es, seinem Gestaltungsdrange herbeizuschaffen, was er ersehnt, zahllose Hemmnisse wegzuräumen. Sie lernt mit seinen Augen sehen, weckt in sich Vorstellungen seiner Einbildungskraft.«1 Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung dessen, was sich aus der Korrespondenz von Lyonel und Julia ablesen lässt.

Als sich die beiden 1905 begegneten, war Lyonel – der sich selbst oft Leo nannte und der später von seinen Kindern und auch von Freunden Papileo genannt wurde – bereits ein anerkannter und gefragter Karikaturist. In einer wenige Jahre vorher erschienenen Geschichte der deutschen Karikatur heißt es: »Der erste von den Berliner Zeichnern ist Lionell Feininger […]. Feininger ist jeder Aufgabe gewachsen, er schafft politische Blätter von monumentaler Wirkung in kräftigen Gegensätzen […]. In ihm steckt ein außerordentliches zeichnerisches Können, ein außerordentliches Formenverständnis.«2 Aber damit gab sich Leo nicht zufrieden – und Julia auch nicht. Er wollte sich die Inhalte, und oft auch die Gestaltung, nicht von Redaktionen vorschreiben lassen und wollte ungebunden seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen nachstreben. Julia unterstützte und ermutigte ihn von Anfang an auf seinem Weg zum freien Künstler. Sie kannte sich in der Ölmalerei bereits aus, wollte beim Studium in Weimar ihre Maltechnik vervollkommnen – er griff 1907 erstmals zu Pinsel und Ölfarbe. Sie besuchte einen Lithografie-Kurs und wurde an der Kunstschule wahrscheinlich auch in anderen Drucktechniken unterwiesen – er ließ sich von ihr die spezifischen technischen Anforderungen erklären.

In den ersten Jahren ihres Zusammenseins scheint Julia noch relativ häufig selbst künstlerisch tätig gewesen zu sein. In den Briefen wird gelegentlich darauf eingegangen, und manchmal konnte Julia Zeichnungen in denselben Zeitschriften veröffentlichen wie Leo. Ein paar von ihren Arbeiten haben sich im Familienbesitz erhalten. Die Gemälde sind traditionell realistisch, die Papierarbeiten zeigen Einflüsse des Jugendstils und wohl auch von den Karikaturen Lyonels. All das ist am Anfang einer künstlerischen Laufbahn nicht ungewöhnlich. 1912 nahm sie an einer Silhouetten-Ausstellung teil. Es ging dabei um die neue Entwicklung der alten Kunst des Scherenschnitts. Und Max Osborn beschreibt in dem Katalog dessen modernste Form als »farbiges Scherenbild«: »Die farbigen, geschnittenen, übereinandergeklebten Papiere beschränken sich bald nicht mehr auf den Hintergrund und den Rahmen, sie bemächtigen sich der Gestalten selbst. […] Alle Geheimnisse der dekorativen Vereinfachung, ja alle letzten Geheimnisse der Malerei, das Wesen der Kunst überhaupt scheint sich hier zu verstecken: wir blicken den Gesetzen der Auswahl, der Reduktion gegenüber der verwirrenden Vielfalt der Natur unmittelbar ins Auge.«3 In diesen Zusammenhang gehörte auch Julia, und die beschriebenen Werke sind eigentlich Collagen, wofür damals allerdings noch nicht dieses Wort verwendet wurde. In diesen Collagen war sie Leos späten, flächenbetonten Karikaturen sehr nahe. Gleichzeitig schuf Leo Gemälde, die meist mit Figuren bevölkert sind, die aus seinen Karikaturen entnommen zu sein scheinen. Gerade im Jahr 1912 entstanden daneben die ersten reinen Architekturkompositionen. Aber ganz verschwunden sind die komischen Figuren und ist das Groteske nie aus seiner Kunst. Für ihn blieb charakteristisch, dass er immer wieder auf Älteres zurückgriff und versuchte, aus ihm heraus ins Zukünftige vorzustoßen. Das liegt schon in dem Prinzip der Arbeit nach den »Naturnotizen« begründet, die er unermüdlich überall sammelte, wo er unterwegs war. Auf sie konnte er Jahre und Jahrzehnte später noch zurückgreifen.

Die fast pausenlose Beschäftigung mit seinen Gemälden, Zeichnungen und Aquarellen, und dann plötzlich ab 1918 ein paar Jahre lang auch mit Holzschnitten, brachte Julia dazu, immer mehr der organisatorischen Arbeit, die Leos wachsende Bekanntheit mit sich brachte, auf sich zu nehmen, um ihm unliebsame Ablenkungen von ihm fernzuhalten.

Ablenkung suchte er allerdings in Seitenwegen der künstlerischen Tätigkeit, die sein ganzes Leben durchziehen. Wesentliche Triebkraft war dabei die schon in seiner Kindheit angelegte Faszination für die verschiedenen Verkehrsmittel. Begeistert beobachtete er die Schiffe auf dem Hudson. Mit seinem Freund Francis Kortheuer baute er Schiffsmodelle, die sie auf dem See im Central Park segeln ließen. Dieses Hobby hat er mit seinen Söhnen weiter betrieben, und die Modelle mussten an der pommerschen Ostseeküste in der Regamündung ihre Seetüchtigkeit erweisen. Noch in den späten Jahren war er zusammen mit den Söhnen und den Schiffsmodellen wieder im New Yorker Central Park. Die gleiche Begeisterung brachte Leo für Lokomotiven auf, und auch dafür baute er schon als Kind mit Kortheuer Modelle. In seinen Karikaturen wandeln sich die Lokomotiven oft zu lebendigen Wesen. Für die Söhne baute er Spielzeug-Eisenbahnen aus Holz, die er mit Hingabe für eine geplante industrielle Produktion weiterentwickelte. Durch den Ersten Weltkrieg ist es aber nie zur Fabrikation gekommen. Auch für Autos und Flugzeuge entwickelte Leo gesteigertes Interesse, wovon die Briefe so manches Zeugnis ablegen. In seinem Schaffen haben sie jedoch weniger Spuren hinterlassen. Das Fahrrad taucht ebenfalls fast nur in den Karikaturen auf. Bereits in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts war er leidenschaftlicher Radfahrer, und er leistete sich während seiner gesamten Zeit in Deutschland immer wieder neue Modelle dieses für seine finanziellen Verhältnisse luxuriösen Verkehrsmittels. Das Fahrrad ermöglichte ihm die Erkundung der Dörfer um Weimar oder auf Usedom.

Leos technisches Interesse galt außerdem der Fotografie. Er hat frühzeitig mit Plattenkameras begonnen. Auch Julia fotografierte, und oft ist nicht klar, von wem die Aufnahmen stammen. Aber gegen Ende der zwanziger Jahre begann Leo, sich intensiver fotografisch zu betätigen. Dafür kamen verschiedene Anregungen zusammen. Am Bauhaus in Dessau machte fast jeder fotografische Experimente. Leos Söhne Andreas und Lux gehörten zu diesen Pionieren, bei Andreas wurde das Fotografieren in der Folgezeit der Hauptberuf. Auch Leos Tochter Lore aus erster Ehe war Fotografin. Vor allem aber wurde seit Mitte der zwanziger Jahre die Kleinbildkamera Leica mit Rollfilm produziert, die das Fotografieren ungemein erleichterte. Entgegen dem Trend der Zeit zu einer dinglichen Neusachlichkeit setzte Leo auf bewusste Unschärfen, auf verschwimmende Dämmerung, Spiegelungen und überstrahlendes Licht, um – wie in seinen Gemälden – den Bildraum zu vereinheitlichen, die Grenzen der Gegenstände zu relativieren und Transzendenz aufscheinen zu lassen. In dieser Zeit hat er auch nach Fotografien gemalt, ist damit aber nicht ganz glücklich geworden. In den späten amerikanischen Jahren kam dann die Farbfotografie neu hinzu.

Für seine Söhne hatte Leo nicht nur Spielzeug-Eisenbahnen gebaut, sondern eine ganze Stadt aus Holz geschnitzt und bunt bemalt. »Die Stadt am Ende der Welt« besteht aus krummen Fachwerkhäusern und mehreren Kirchen. Motive aus Leos malerischem und grafischem Werk tauchen auf – die Kirche von Gelmeroda und das Tor von Ribnitz. Sie ist mit Eisenbahnen und Schiffen ausgestattet und mit einer Fülle skurriler Figuren bevölkert. Auch ein paar Tiere sind dabei – ein Elefant, ein paar aufgeplusterte Raben mit schwarzen Hüten. Die Stadt wurde ständig erweitert, auch als die Söhne längst über das Spielalter hinaus waren. Der Sohn Lux hat darüber 1965 ein Buch veröffentlicht und mit Fotos seines Bruders Andreas ausgestattet.4

Neben all diesen vom Auge und vom Bildnerischen bestimmten Vorlieben und Tätigkeiten war die Musik ein unverzichtbarer Bezugspunkt für den Maler. Die Liebe zu ihr war ihm von den Musiker-Eltern sozusagen in die Wiege gelegt worden. Vom Vater wurde er auf der Violine unterrichtet, und er brachte sich selbst das Klavierspiel, später auch das Orgelspiel bei. Die Familie besaß einen Flügel, und Leo schaffte sich ein Harmonium an, um wenigstens einen Abglanz des Orgelklangs erzeugen zu können. Johann Sebastian Bach war sein Favorit unter den Komponisten, und er hatte eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie dessen Musik und vor allem seine Fugen zu interpretieren seien – eine Vorstellung, die der heutigen Auffassung davon anscheinend näher steht als der damaligen. So war er selten zufrieden mit den Aufführungen auch seiner eigenen Fugen-Kompositionen, die er in den zwanziger Jahren schuf. In der Weimarer Bauhaus-Zeit war er mit dem Komponisten Hans Brönner befreundet und musizierte viel mit ihm zusammen, auch Bachsche Fugen. Dabei stellten sie fest, dass das Wesen Bachs doch auch in Leos Malerei zum Ausdruck komme. Laurence Feininger, der 1971 die Kompositionen seines Vaters herausgab,5 sah die Verwandtschaft zwischen dessen Malerei und Bachs Fugen in der Art, wie unscheinbare Motive – bescheidene Dorfkirchen und schlichte Fugenthemen – eine monumentale Entfaltung erfahren. Darüber hinaus kann man in den Bildern Parallelerscheinungen zu den musikalischen Ausdrucksmitteln beobachten: Echowirkungen, Variationen und Umkehrungen formaler Motive, melodieartige Stufenfolgen, Begleitmotive am Bildrande, rhythmische Gliederung, das Gegeneinandersetzen großer Klangfarbenkomplexe und anderes erzeugen ein quasi musikalisches Erlebnis. Der Verlust des Flügels beim Umzug aus dem Dessauer Meisterhaus in die kleinen Räume der Neubauten in Berlin Siemensstadt hat Leo sehr geschmerzt. Aber die Violine hat ihn nach Amerika begleitet und wurde bis ins hohe Alter gespielt.

Ans Bauhaus kam Leo 1919 wegen seiner kristallinen Architekturbilder. Noch hatte auch Julia zu dieser Zeit gestalterische Ambitionen. Jedenfalls erstritt sie sich zunächst den Status einer Hospitantin und wurde bald darauf auch als reguläre Studentin eingetragen. Aber die Ausbildung abgeschlossen hat sie nie. Laut Programm des Bauhauses erfolgte die Aufnahme »ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht«, wenn die »Vorbildung vom Meisterrat des Bauhauses als ausreichen erachtet wird«.6 Anfangs waren die Studentinnen weit in der Überzahl. Im Februar 1920 empfahl Walter Gropius, um die begrenzten Werkstattplätze den »Befähigtsten« vorzubehalten, »vor allem auch zu beachten, daß das weibliche Element nach und nach nicht mehr als 1/3 der Plätze einnimmt.«7 Im März 1921 machte Gropius den Vorschlag, »weibliche Schüler« vor allem in die »Frauen-Abteilung«, d. h. die Weberei aufzunehmen, wo keine Lehrbriefe der Handwerkskammer ausgestellt wurden. Nur in Einzelfällen sollten Frauen in die Buchbinderei oder die Töpferei gelangen, wo auch für sie ein Lehrbrief obligatorisch sei. Die Begründung für diesen Vorschlag lautete: »Nach unseren Erfahrungen werden sich Frauen in den seltensten Fällen für die schweren Handwerke wie Steinbildhauerei, Schmiede, Tischlerei, Wandmalerei, Holzbildhauerei, Kunstdruckerei eignen. Es wäre also darauf hinzuwirken, daß nach dieser Richtung keine unnötigen Experimente mehr gemacht werden.« Auch der »Formunterricht«, also die künstlerische Ausbildung, sollte nach Geschlechtern getrennt erfolgen.8 Der Meisterrat nahm diesen Vorschlag an.9 Die proklamierte Gleichberechtigung war demnach noch weit von unseren heutigen Vorstellungen entfernt. Von Julia sind aus der Bauhaus-Zeit ganz diesen Auffassungen entsprechend auch nur Marionetten für ein Puppenspiel, Spielzeugtiere aus Stoff und Karnevalsmasken durch Leos Fotografien überliefert. Lediglich die Puppen sind erhalten.

Noch kurz bevor Leo 1919 seine Tätigkeit am Bauhaus begann, lernte er den Kunsthistoriker Alois Schardt, bald Allo genannt, kennen. Von ihm fühlte er sich in seinem künstlerischen Streben ebenso verstanden wie von Julia. Allo seinerseits ließ sich von Leos fotografischer Obsession mitreißen, begann ebenfalls zu fotografieren, und als Leo während der Arbeit an den Halle-Bildern bei ihm wohnte, entwickelten beide ihre Filme in der Badewanne.

Als Schardt 1933 zum kommissarischen Direktor der Nationalgalerie in Berlin berufen wurde, haben Leo und Julia das enthusiastisch begrüßt und Hoffnungen auf eine positive Entwicklung daran geknüpft. Viele meinten zu dieser Zeit noch, nach einer »revolutionären« Phase würden die »Vernünftigen« unter den Nationalsozialisten die Oberhand gewinnen und alles werde einen erträglichen Ausgang nehmen. Doch Schardt konnte sich mit seiner Präsentation der Moderne, als deren Spitzen er Franz Marc und Lyonel Feininger sah, im Kronprinzenpalais, in dem damals die Neue Abteilung der Nationalgalerie untergebracht war, nicht durchsetzen. Damit schwand seine Hoffnung, die nationalsozialistische Kunstpolitik in seinem Sinne mitgestalten zu können. In dieser Zeit des Umbruchs, in der das Meisterhaus in Dessau aufgegeben werden musste, in der es eine neue Wohnmöglichkeit zu finden, Gemälde und Grafiken sicher unterzubringen und mit der Stadt Dessau über finanzielle Regelungen zu verhandeln galt, setzte Julia ihre ganze Kraft ein, um Leo diese Fragen nicht zusätzlich zu seinen Schaffensproblemen aufzuladen.

Überblickt man Feiningers Werk, so herrscht der Eindruck von Klarheit und Abgeklärtheit vor und man ist zu der Meinung geneigt, es sei aus einem kühl wägenden Intellekt heraus in einem abgeklärten Prozess entstanden. Die Briefe an Julia legen jedoch beredtes Zeugnis davon ab, mit welchen Zweifeln und Stimmungsschwankungen Leo zu kämpfen hatte. Wie oft sind sie aus höchster Begeisterung über das Erreichte geschrieben und kurze Zeit darauf aus tiefer Depression angesichts desselben Bildes. Manche Gemälde wurden mehrfach abgewaschen und neu aufgebaut, immer wieder umgestoßen, und manchmal gelang es ihm erst nach Jahren, sie zum »Übernatürlichen« zu zwingen. Denn darum ging es ihm: um das Erreichen einer Transzendenz. Darin war er der Romantik eines Caspar David Friedrich verwandt, und das war es vor allem, was Julia und auch der Freund Allo verstanden hatten und was Letzterer in seinen besten Bildinterpretationen zum Ausdruck brachte: Er beschrieb den Kampf des in die Höhe, ins Jenseitige strebenden Geistes mit den Kräften der Erdverhaftung anhand der Wasserflächen und der aufragenden Segel ebenso wie anhand der über den Häusern aufsteigenden Kirchtürme.

Gleichzeitig focht Leo aber stets einen Kampf zwischen klarer Formsetzung und Formauflösung aus, der sich durch sein gesamtes Schaffen zieht und in seinen letzten Lebensjahren in beide Richtungen weiter ausschlug. Denn die Einheit des Bildraums ist desto vollkommener, je weniger sie von Einzelformen gestört wird. Das hat Leo nicht zuletzt bei dem von ihm verehrten William Turner lernen können. Aber er fürchtete sich vor dieser letzten Auflösung, die auch ein Ende bedeutet, hinter dem es kein Streben und damit auch kein Leben mehr gibt. Eines seiner letzten Bilder mit dem Titel »Shadow of dissolution« – ins Deutsche übersetzt als »Dunkelgeahnte Auflösung« – ist daher auch als Todesahnung interpretiert worden.

Im Januar 1956 starb Leo. Julia hat sich fortan ganz der Erhaltung und Platzierung seines Nachlasses gewidmet. Einen großen Teil der schriftlichen Dokumente sowie zahlreiche Naturnotizen und Fotografien übergab sie der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, wo sie bis heute verwahrt werden und aus dem Nachlass T. Lux Feiningers ergänzt wurden. Ein Verzeichnis von Leos Gemälden hatte Julia schon lange in Arbeit. So konnte der ersten ausführlichen Feininger-Monografie, die 1959 erschien, ein vollständiges Werkverzeichnis nach den damals gängigen Kriterien angehängt werden.10 Hans Hess, der Sohn des mit Leo und Julia befreundeten Erfurter Sammlers Alfred Hess, konnte sich bei der Erarbeitung dieses Buches auf die uneingeschränkte Unterstützung Julias verlassen. Sie bereitete bald auch eine Publikation von Auszügen aus den Briefen Leos an sie vor, die sie jedoch nicht mehr realisieren konnte. Es entspricht ganz der anfangs beschriebenen, selbstgewählten Rolle Julias, dass sie ihren eigenen Anteil an der Korrespondenz in die Auswahl nicht mit einbezog, sondern nur Leos Briefe. Die Erschließung der anderen, nicht minder interessanten und aufschlussreichen Hälfte des Briefwechsels zwischen Leo und Julia wird noch erfolgen müssen.

1Hans Hildebrandt: »Die Frau als Künstlerin«, Berlin 1928, S. 35.

2Georg Hermann: »Die deutsche Karikatur im 19. Jahrhundert«, Bielefeld und Leipzig 1901, S. 127.

3Max Osborn: »Die Kunst der Schere«, in: Katalog der Ausstellung moderner geschnittener Silhouetten, Hohenzollern-Kunstgewerbehaus, Berlin 1912, S. 16–18.

4T. Lux Feininger, Lyonel Feininger: »Die Stadt am Ende der Welt«, München 1965.

5Laurence Feininger: »Das musikalische Werk Lyonel Feiningers«, Tutzing 1971.

6Walter Gropius: »Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar«, 1919; zitiert nach Hans M. Wingler: »Das Bauhaus«, Bramsche 1975, S. 41.

7Sitzung des Meisterrates am 2. Februar 1920, in: Volker Wahl (Hg.), »Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919 bis 1925«, Weimar 2001, S. 71.

8Walter Gropius, Paul Klee und Gerhard Marcks an den Meisterrat, 15.3.1921, in: Wahl 2001, S. 123.

9Meisterratssitzung am Donnerstag, dem 17. März 1921, in: Wahl 2001, S. 126.

10Hans Hess: »Lyonel Feininger«, Stuttgart 1959.

Die Vorgeschichte bis 1905

Es klingt wie im Märchen: Eine Frau und ein Mann begegnen sich im Zug auf dem Weg in die Ferien. Amor verschießt seine Pfeile gut gezielt. Es kommt zu der berühmten »Liebe auf den ersten Blick«. Sie verbringen die Ferien gemeinsam und bleiben ein halbes Jahrhundert lang – bis zum Tod des Mannes – ein Paar. Allerdings sind beide, als sie sich begegnen, anderweitig verheiratet. Er hat zwei Töchter, knapp drei und vier Jahre alt. Aber ohne zu zögern lösen sie sich aus ihren bisherigen Bindungen, um sich auf das Neue einzulassen.

Es ist kein Märchen, sondern so geschehen mit Lyonel Feininger und Julia Berg, geborene Lilienfeld. Aber natürlich lief nicht alles reibungslos. Jedoch erfahren wir von den Problemen, die bei der Trennung von ihren bisherigen Lebenspartnern entstanden, aus ihren Briefen nur wenig. Julia ist anscheinend zunächst von ihrer Familie verstoßen worden. Und Lyonels Frau Clara hat den Scheidungsprozess wohl lange erschwert. Die beiden Töchter waren noch jung, aber doch alt genug, um das Ausbleiben ihres Papas bewusst zu erleben. Allerdings hielten sie auch in späteren Jahren den Kontakt aufrecht. Die Tochter Lore, eine geachtete Fotografin, brachte nach dem Tod Lyonels ein Buch mit Grafiken und Aquarellen ihres Vaters heraus, die sie im Laufe der Jahre von ihm geschenkt bekommen hatte und deren Reproduktionen sie in den 500 gedruckten Exemplaren mit der Hand kolorierte. Die Biografie ihres Vaters, die sie dem Buch voranstellte, schloss sie mit den Sätzen: »Wir alle sind in treuem Gedenken Vater Lyonel in herzlicher Liebe verbunden geblieben. Sein stiller, feiner Humor, sein liebevolles Verständnis für die Freuden und Bedrängnisse seines Familienkreises, seine bezaubernde, kluge und freundliche Art in der Unterhaltung mit uns und seinen Freunden, die zugleich so demütig und überaus taktvoll war, machten ihn überall beliebt. Sein Leben lang war er der ›Papileo‹, nicht nur für seine Kinder, auch für alle, die ihn kannten.«11

Leider wissen wir nicht allzu viel über Julia, selbst eine junge Künstlerin, als sie 1905 in Lyonels Leben tritt. Julia Lilienfeld wird am 23. November 1880 als Tochter Jeannette (Jenny) Lilienfelds und des Großkaufmanns und Handelsrichters Bernhard Lilienfeld in Berlin in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Ihre Eltern, eigentlich jüdischer Abstammung, sind zum Christentum übergetreten. Jenny gehört zur Familie Zuntz, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in Bonn eine angesehene Kaffeerösterei mit Zweigstellen in mehreren Städten betreibt. Bernhard leitet die Berliner Niederlassung. Julia zeigt früh künstlerische Begabung und besucht mit sechzehn Jahren ein »Damenatelier«, wo jungen Frauen die Grundlagen der bildenden Kunst vermittelt werden. 1900 nimmt sie für ein Jahr am Unterricht von Martin Brandenburg, einem Künstler der Berliner Secession, im »Verein der Berliner Künstlerinnen« teil, wo sich fünf Jahre vorher schon Käthe Kollwitz ausbilden ließ. 1903 heiratet Julia den Arzt Walter Berg. Als dessen Frau ist sie nicht auf einen eigenen Beruf angewiesen. Aber ein solches Leben genügt ihr anscheinend nicht, und so entschließt sie sich 1905, an der renommierten Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar zu studieren, die 1895 auch für Frauen geöffnet worden war. Sie gibt Lyonel in dieser Zeit wichtige künstlerische Impulse, stellt jedoch, als sie eine Familie gründen, ihr eigenes künstlerisches Schaffen mehr und mehr zurück, auch um sich mit Lyonels zunehmendem Erfolg um die Organisation von dessen geschäftlichen Angelegenheiten zu kümmern.

Lyonel Feininger kommt am 17. Juli 1871 in New York auf die Welt. Seine Eltern sind angesehene deutsch-amerikanische Musiker, die Pianistin und Sängerin Elizabeth Feininger und der Konzertgeiger und Komponist Karl (später Charles). 1873 und 1876 werden Lyonels Schwestern Helen und Elsa geboren. Als Kind genießt er die Musik, die von den Proben der Eltern zu ihm herüberdringt. Vom Vater wird er im Violinspiel angeleitet und als Halbwüchsiger tritt er bereits in Kammerkonzerten auf. Aber als er sich 1880 mit Francis Kortheuer aus der Nachbarschaft befreundet, erhält er von dessen Tante, einer Malerin, auch Zeichenunterricht. Mit Francis zusammen baut er Modell-Lokomotiven und -Schiffe. Letztere erproben die Jungen auf dem See im Central Park.

Der Vater unternimmt 1886 eine Konzertreise nach Deutschland, die Mutter begleitet ihn. 1887, sechzehnjährig, reist Lyonel den Eltern nach, die zu der Zeit in Berlin in der »Pension Müller«, Unter den Linden 16, wohnen. Ursprünglich sollte er nach dem Willen des Vaters wie dieser einst in Leipzig ein Violinstudium aufnehmen, doch mit Erlaubnis der Eltern besucht er stattdessen den Zeichenunterricht an der Allgemeinen Gewerbeschule in Hamburg.

1888 zieht er nach Berlin und wohnt zur Untermiete am Lützowplatz 6, um sich auf die Aufnahmeprüfung der Königlichen Akademie Berlin vorzubereiten, die er Anfang Oktober besteht. Die Eltern trennen sich 1889 und der Vater kehrt allein nach New York zurück. Lyonel zieht in die »Pension Müller« und teilt sich dort ein Zimmer mit dem Organisten Fred Werner, der ihm die Fugen Johann Sebastian Bachs nahebringt. Auch Lyonels Schwestern Helen und Elsa kommen nach Berlin. Um einem Freund, der finanziell in der Klemme steckt, zu helfen, verkauft der junge Lyonel eine Uhr. Als Strafe dafür schickt ihn der Vater im September nach Lüttich in das Collège Saint-Servais der Jesuiten.

Lyonel kehrt 1891 nach Berlin zurück, studiert ab Oktober weiter an der Berliner Kunstakademie und wohnt mit Fred Werner nun in der Köthener Straße 2. Erstmals verbringt er den Sommer auf Rügen, was in den nächsten Jahren sein bevorzugter Ferienaufenthalt wird. 1892 verlässt er die Akademie, da er mit den dortigen Lehrmethoden unzufrieden ist, und reist nach Paris, wo er die Académie Colarossi besucht, die zeitgemäßen Unterricht bietet und daher auch viele deutsche Künstler anzieht. Nach seiner Rückkehr nach Berlin im Mai 1893 wohnt er bei der Mutter, die inzwischen in die Schillstraße 16 gezogen ist. Anschließend wohnt Lyonel in der Courbierestraße 12. Seit mehreren Jahren veröffentlicht er bereits Karikaturen in Zeitschriften, und er versucht sich nun als freier Karikaturist.

1895 werden die Eltern geschieden. Lyonel zieht im folgenden Jahr zu seiner Schwester Helen und ihrem Mann Arthur Berson, einem Meteorologen und kühnen Ballonfahrer, in die Albastraße 16 in Friedenau. Nachdem beide Schwestern im November 1898 und im Januar 1899 an Tuberkulose gestorben sind, zieht Lyonel wieder zu seiner Mutter, nun in die Fasanenstraße 48.

Lyonel Feininger wird schnell einer der gefragtesten Karikaturisten Deutschlands. Von 1896 bis 1914 arbeitet er unter anderem für die bekannte Zeitschrift »Lustige Blätter« und für ein Jahr hat er eine feste Anstellung bei der ebenso prominenten Zeitschrift »Ulk«. In seinem künstlerischen Umfeld lernt er den jungen Maler und Illustrator Edmund Fürst kennen, dessen Schwester Clara, eine Pianistin, er 1901 heiratet. Sie ziehen nach Wilmersdorf, in die Ringbahnstraße 16. Im selben Jahr wird die Tochter Lore und 1902 Marianne geboren.

Lyonel ist mit seiner Tätigkeit als Karikaturist unzufrieden, weil die Redaktionen weitgehend vorschreiben, was er zu zeichnen hat. Er sehnt sich danach, frei seinen eigenen künstlerischen Intentionen folgen zu können. Und mit Julia Berg lernt er einen Menschen kennen, der ihn auf diesem Weg kritisch unterstützt und an seine Begabung dazu glaubt.

11Lore Feininger: »Aus der Werkstatt Vater Lyonels«, Berlin 1957.

1905–1908

»Findetage«

1905

Im Juli 1905 treffen Lyonel Feininger und Julia Berg, geborene Lilienfeld, im Zug Richtung Ostsee jeweils die Liebe ihres Lebens. Kurzentschlossen verbringen sie den Urlaub miteinander im mecklenburgischen Graal. Julia wird im November fünfundzwanzig, Lyonel ist im Juli vierunddreißig Jahre alt geworden. Beide sind zum Zeitpunkt der Begegnung erst wenige Jahre anderweitig verheiratet, doch ihnen wird schnell klar, dass sie einen gemeinsamen Neuanfang wagen wollen. Nach ihrer Rückkehr trennt sich Julia von Walter Berg und Lyonel verlässt seine Frau Clara und die kleinen Töchter Leonore und Marianne. In der Folge lassen sich beide scheiden.

Lyonel zieht in Berlin zu seiner Mutter Elisabeth in die Bamberger Straße 44 ins Bayerische Viertel und arbeitet weiterhin für die Satirezeitschriften »Ulk« und »Lustige Blätter« als freier Illustrator und Karikaturist. Julia studiert ab Oktober an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar. Die Weimarer Malerschule war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem für die Landschaftsmalerei von Bedeutung. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ist sie mit impressionistisch beeinflusster Freiluftmalerei noch auf der Höhe der Zeit. Julia belegt eine Lithografie-Klasse und vermittelt Lyonel in den folgenden Monaten Kenntnisse der Drucktechniken. Was sie außerdem für Kurse belegt, ist nicht bekannt.

4. Oktober 190512 [Berlin]

[…] Ich bin voller, voller Mut und voller Vertrauen in den guten Stern, der über uns steht. Es kann aber vorkommen, und es kommt vor, dass ich manchmal auf eine Weise leide, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich muss dir das sagen, denn es ist süß und gut, wieder zu leiden, nach all den Jahren inneren Totseins von Herz und Hirn, durch die ich gegangen bin. Es wird dir viel bedeuten zu wissen, dass ich leiden kann, dass mein Mut nicht bloss deshalb vorhanden ist, weil ich fühllos bin […]13

d. 13. Oct. 05 [Berlin]

[…] Oh darling, warum hasse ich briefliche Tüfteleien so und vermeide sie? weil 10 Jahre lang meine Eltern sich durch ihre Briefe langsam zu Tode marterten. Ist ein Brief einmal geschrieben und losgelassen in einer besonderen Stimmung, dann in Gottes Namen soll der Empfänger bedenken: diese Stimmung, die Nüance kehrt vielleicht niemals wieder und wie alle Stimmungen, ist wahrscheinlich längst verflogen oder ins Gegenteil umgewandelt. Nimm sie hin, sie wurde Dir in grenzenlosem Vertrauen eines liebenden Herzens geschenkt. … und zerpflücke sie nicht, wenn Dir das Vertrauen lieb ist, das Dir geschenkt wurde. Antwortest Du in einer kühleren Stellungnahme, so ist bereits ein zwiefaches Missverständnis fast Voraussetzung, und jedes hin und her der Briefe bringt neue Missverständnisse. Die treffendste Antwort einer Stimmung, wenn sie nicht augenblicklich, zur Zeit selbst, erfolgt, kommt wie ein Schlag auf den Empfänger. …

d. 14. Oct. 05, abends [Berlin]14

… ich sandte Dir heute, oder war es gestern, einen ganz schlechten Druck der nächsten »Lustigen« Seite.15 Vieles ist ganz anders geworden, als ich wollte – es ist immer eine Entmutigung und vor allem eine künstlerische Ungeheuerlichkeit, dass die wichtigsten Faktoren einer Wirkung so ganz willkürlich von halbgebildeten Handwerkern gehandhabt werden, bei diesen Blättern. Ich bitte Dich nicht einen Moment zu glauben, dass ich jemals einen solchen Zentner schweren, schwärzlichen Himmel beabsichtigt habe und ein Gesicht an König Eduard von England als wäre er eine in Verwesung übergegangene Pfirsichleiche! Doch bei allem hat das Blatt etwas ausser dem Gewöhnlichen, selbst bei aller Verkehrtheit – ich möchte ein Bild so komponiert sehen, in Lebensgrösse. Es sind ja, leider, alles Axthiebe, die ich von mir gebe – wie soll etwas ausgereiftes, differenziertes entstehen? Aber ich könnte wohl, wenn! Und einmal wollen wir schon sehen. Nicht aus Ehrgeiz – nicht, bei allen Göttern, sondern aus dem innersten Gefühl der Überzeugung sage ich das. Pouf! Boum! wie der Franzose sagt, wenn einer grosse Worte macht. Liebe, mir ist jetzt wieder wohl, ich habe meine Citrone und meine Zwiebel gegen die Wand geschmissen, es hat aufgehört zu regnen draussen, meine unfertige 20 Mark-Dreck-Zeichnung (pardon) an der ich sündhafter Mensch seit zwei Tagen arbeite ohne etwas Gescheidtes draus zu drehen, habe ich verschmerzt – und in 20 Minuten kommt ein Brief von Dir.

[…] Ich schrieb ebenfalls neulich viel über unsere Findetage, aber mir ist die Zeit der ersten Tage so wunderbar und ach, so kuddelmuddel geraten – ich lebte doch in gerade den Tagen in einer so unglaublichen Zwiespalt – … wenn alles nur lustig endet. Was macht denn das Vorhergehende, der Durcharbeitungsprocess, die Gärung und das Klarwerden aus, wenn’s auch schmerzlich war? Es ist nichts umsonst. …

Sonntag, d. 15. Oct. [Berlin]

Von nun ab gelobe ich Dir ganz einfach und dumm Englisch zu schreiben, wenn es wieder so schlimm mit mir wird wie heute, vorhin. Du musst dich damit dann begnügen; denn ich will nicht solche Briefe auf meine alten Tage schreiben wie die zerrissenen heutigen. Erstens weil sie nicht überhaupt zu verstehen waren, ich selbst wurde nicht aus ihnen klug als ich sie überflog. Und dann weil ich in ihnen so verdammt waschlappig erscheine und das bin ich nicht. Ich bin seit einigen Tagen etwas überreizt von zu wenig Schlaf und dann, das weisst Du ja, bin ich überhaupt ein empfindsamer, eindrucksfähiger Mensch; komme mitunter in eine melancholische Stimmung hinein. Das alles war früher nicht, ich bin einfach nicht so viele starke Eindrücke gewohnt. Bedenke wie ich gelebt habe! abgestumpft und gleichgültig, taub für äussere Eindrücke – und jetzt ist alles gleich so wunderbar lebendig und schön. … If I could but write just as I feel, without this dreadful searching for expression, I could be happy.16 … Die »Julia«, meine Lieblingsyacht, hängt über meinem Schreibtisch.17 …

16. Oct. 05 abends [Berlin]

… Der frische sonnige Herbst-Sturm, der heut den ganzen Tag fegte, hat auch in mir den letzten Rest von Wolken und Spinnweben fortgeweht – es ist jetzt lauter Sonnenschein und blauer Himmel. Wenn ich jetzt nicht eine gute »Ulk« Seite diese Woche mache, heiss ich Matz. (Die letzte war nämlich so schlecht, dass ich sie Dir garnicht erst schicken wollte. Die habe ich aber auch an dem Dienstag d. 3. gezeichnet) … Es folgt nicht immer daraus, dass ich schlechte Sachen mache, wenn ich unglücklich bin, denn Du wirst erstaunt sein, ich habe die »Lustige« Seite, die Du gut findest, an dem grauenhaften Montag gezeichnet … trotzdem ich halb verrückt war, wollte ich doch ein »Kerl« sein … ich bin froh, dass das Blatt Dir gefällt … Heute habe ich Dir die Lustigen geschickt … alles Fro[h]narbeiten … unvollkommen in der Auffassung, weil sie nach Skizzen anderer gemacht worden sind. Aber damit muss ich Geld verdienen. Wenn es keine andre Arbeit gibt, muss ich eben die nehmen, die ich bekommen kann und noch dazu froh sein. Du wirst Dir sagen, dass wir mit dem, was uns materiell unserm Ziel näher bringt, nicht uns streiten sollen, mit dem Broterwerb. Es ist traurig genug, ich muss ja davon leben, und Gott danken dafür als eine Extra-Gabe, wenn ich wirklich alle 4–5 Bilder eines nach meinen Begriffen schaffen darf. »Darf« – ich darf immer – blos können! Ich bin eben ungleichwertig, und für vieles, was andere spielend bewältigen (wenn auch oberflächlich) bin ich schwerfällig und muss mich schrecklich quälen. Heute machte ich zwei Bilder fertig, das eine recht gut, (Du wirst es im nächsten »Ulk« sehen) habe ich in zwei Stunden spielend gemacht, fix und druckfertig, das andere Bild ist heute Abend endlich fertig geworden, und ich habe seit Donnerstag daran gewurschtelt und mich halb krank angestrengt. Mir tut die Brust ganz weh vom vielen Gebeugt-Sitzen – und es ist ein Dreck, sage ich Dir … und bringt mir ganze 20 Mark ein. Dafür 3 ½ Tage sich quälen, nicht allein physisch, sondern seelisch … Du wirst ganz traurig sein, dass sowas möglich ist … Du sagtest neulich … über meine Ton-Bilder … in den Mitteln18 … zuerst trifft so etwas wie ein Peitschenhieb … aber dann dankt man für die Erleuchtung, befreit von einer Zwangsvorstellung, und ich schöpfe daraus Bestätigung für die Art zu arbeiten, die wirklich die meine ist: Fläche und Linie. … Alles kann doch künstlerisch gestaltet werden, man muss eben können – – und das andere, was nicht die Seele, als selbstverständlich – als Mittel zum höchsten Ausdruck dem unterstellen. Es hat noch kein Mensch ausser Dir an »Korea Strasse«19 je die Seele gefunden. Gott – es ist ja eine verstümmelte Seele, hundert Unvollkommenheiten in eben so vielen Kleinigkeiten, durch Verdrucken, verätzen, auf dem langen Weg vom Kopf bis durch das Clichieren, das Drucken – und zum ersten Mal bin ich nicht zur Verantwortung gezogen worden, wieso, warum das Wasser – violett und nicht blau!

Über meine Träume habe ich keine Gewalt, ich habe schreckliche Dinge geträumt, schrecklich. Aber wenn’s dabei bleibt, ich will keine Taggespenster haben. …

Abends, Montag, d. 30. Oct. 05 [Berlin]

… today, all the afternoon I have been thinking of our work, our studies together later on, soon; … I feel again the strength to work better … dear, I am growing young again, and my fantasy is coming back. I begin to feel more simply and naively again, and wish to work at my art once more, I have such a longing for next summer … I expect to do so much then. Everything is awake now and struggling for expression, I see with new and thirsty eyes. I remember a few months ago saying to Fürst how I envied artists who could be so eager to work, I could not understand it, because I couldn’t feel so, but now I do feel it.20 …

D. 1. Nov. Vormittags (1905) [Berlin]

… staune und – lache. Es ist 11.20 Vormittag und ich habe eine der besten Seiten soeben fertig gemacht die ich seit langer Zeit gezeichnet – und alles seit ¾ 8 heut früh und dazu noch in Abständen an Dich geschrieben. … Dein Brief gestern Abend hat mich so erschüttert, und hier hast Du das Resultat, eine gute Arbeit, mit Feuer geschaffen. Liebe verlangt nach Freud ohne Namen, oder Schmerzen unsagbare, nur der Gleichmut ist ihr Tod. Und in Leid wie in Freud, wenn sie nur gross genug waren, habe ich von jeher Gutes geschaffen. […] Wann fängt die Klasse für Lithographie an? Auch erst am 8ten? Du gehst dann hin, nicht? Du kannst in kurzer Zeit ganz wertvolle Sachen lernen in Bezug auf technische Methoden und Hilfsmittel, die teilst Du mir dann später alle mit, nicht wahr? Ich habe so grosse Lust zur Lithographie … lerne auch radieren. Ich möchte vor allem alte Städte … eine Reihe von Blättern solcher Motive machen und dann einen Lokomotiv Cyclus. […]

d. 2. Nov. (1905) früh 8.20 [Berlin]

[…] ich sitze im Erdgeschoss hinter gelbdurchsichtigen Halbgardinchen, und darüber hinweg sehe ich die Häuser vor mir, und rechts und links, soweit der Ausblick gestattet, unten noch kühl im Schattenton, nach oben schon wärmer werdend, Fensterspiegeln, unten gähnend und dunkel, oben silbern und ganz oben, in den Höhen, wo sie den blauen Himmel wiederstrahlen, sind sie tiefblau. Und diese lange Klippe von Fassaden ist im obersten Stockwerk so tiefglühend gold beleuchtet von der Sonne, die wird dann warm zurückreflektiert, auf meinen Tisch, auf diesen Briefbogen, der in gold und violetten Tönen wie ein Opal schillert – und über dem Goldstreifen des obersten Stockes der Häuserwand ein türkis-blauer Himmel, zum weinen schön. Alle Tage, alle Tage jetzt. … Spiegelnde Fenster […] das ist mein und ich schenke es Dir … spiegelnde Fenster. Als kleiner Junge schon, auf dem Land, wie habe ich sie geliebt. Das wird auch einen Cyclus geben! Sonnenuntergang, alles in goldenem und violettem Halbton, und an einer Stelle, ganz ganz weit hinten, halb durch Bäume versteckt, 2–3 Reihen von westlich gewendeten Fenstern, die das Gold des Himmels wie Speere zurückschleudern, das ganze Bild in unbeschreiblich schönen Ton versetzten. In dem schon sterbenden Ost-Himmel, dem »Gute Nacht« Himmel sind plötzlich Stücke, wie Edelsteine vom sonnendurchglühten Westhimmel, ganz frank und keck hingesetzt – mir ist dies gewaltsame Aneinandersetzen von zweierlei Himmel immer etwas unheimlich schönes gewesen. … Lust zu allem, zu allem … zu solchen Zeiten bin ich mir bewusst, kein Dutzend Mensch zu sein … Alles durch Dich, alles. Über den Trennungsschmerz brachte ich kaum einen Ton heraus, wie konnte ich das, wo ich schon allem anderen voraus, dem Lichte zustrebte – … gefährlich ist’s, den »Leo« zu wecken … so viel habe ich seit einem Jahrzehnt nicht mehr gefühlt in mir von Lust und Hunger … nach Schaffen. So – Pause, meine Gier muss sich an einem Regenwurm21 satt tun, habe zu arbeiten, sonst komme ich in Teufelsküche. …

d. 5. Nov. 1905 [Berlin]

… I shall surely send you the Regenwurm when it is printed … and think dear, that even so humble a work as that … may advance us in the Attainment of our high aim – that money goes to the savings bank to morrow22 – Gott vergib mir das schlechte Bild … es steckt so viel in mir. Sei nur traurig mit mir, dass ich auf diesem Wege mein Geld verdienen muss, anstatt mit Holz hacken oder sonst einem ehrlichen Gewerbe, das nicht die Begabung in einem schändet. […]

früh morgens, d. 10. Nov. 05 [Berlin]

[…] Ich brauche ebenso sehr wie Du Paris, und in absehbarer Zeit pilgern wir dahin. Man kann ganz klein und billig dort leben, als Kunststudent, ich kenne das so genau … So wenig wissen wir immer noch von einander … Wer bist Du denn? Hast Du mich jüngst gefragt. Ich bin wirklich in New York geboren, aber schon im zartesten Kindesalter im Sommer stets monatelang auf dem Lande, in Connecticut gewesen. Mit 4 Jahren liessen mich meine Eltern ganz mit lieben Farmersleuten auf dem Lande,23