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Im Mittelpunkt dieser Untersuchung zur Agamemnon-Tragödie des Aischylos steht die Frage, welche Strategien vom Dichter eingesetzt werden, um Sympathie oder Antipathie gegenüber einer Dramenfigur zu erzeugen, und wie sich die Sympathielenkung nach möglichst objektivierbaren Kriterien analysieren lässt. Dafür werden im Methodenkapitel die Theorie der Sympathielenkung im Drama und die Sprechakttheorie nach Austin und Searle verknüpft und für die attische Tragödie fruchtbar gemacht. Das anschließende Close Reading der ersten Orestie-Tragödie zeigt, dass der pragmatische Interpretationsansatz nicht nur zu neuen Erkenntnissen in Bezug auf die Sprachgestaltung, die Redestrategien und die Handlungsmotivation der Hauptfiguren Agamemnon und Klytaimestra führt, sondern auch als sinnvolle Ergänzung für die Analyse der performativen Sprache des antiken Dramas insgesamt genutzt werden kann.
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Seitenzahl: 689
Veröffentlichungsjahr: 2023
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[4]Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395669
© 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
Satz: typoscript GmbH, WalddorfhäslachCPI books GmbH, Leck
ISSN 1862-7005ISBN 978-3-8233-8566-0 (Print)ISBN 978-3-8233-9566-9 (ePDF)ISBN 978-3-8233-0484-5 (ePub)
Vorwort
I
Einleitung
1
Fragestellung und Ergebnis der Arbeit
2
Forschungsstand
3
Methodische Vorüberlegungen
3.1
Kommunikation im Drama
3.1.1
Innerdramatische Kommunikation
3.1.2
Außerdramatische Kommunikation
3.2
Sympathielenkung
3.2.1
Techniken der Sympathielenkung auf der Inhaltsebene
3.2.2
Techniken der Sympathielenkung auf der Darstellungsebene
3.3
Sprechakttheorie
3.3.1
Die Aktlehre nach Austin und Searle
3.3.2
Der illokutionäre Akt
3.3.3
Der perlokutionäre Akt
3.4
Schlussbemerkungen und methodisches Vorgehen
II
Sympathielenkung bei Klytaimestra und Agamemnon
1
Die Lage in Argos
1.1
Der Prolog des Wächters
1.2
Die Parodos des Chores
1.2.1
Das Selbstverständnis des Chores
1.2.2
Die Schilderung der Iphigenie-Opferung
1.3
Klytaimestra und das Fackelzeichen
1.4
Die Sorgen des Chores und Auftritt des Herolds
1.4.1
Ressentiments im Volk
1.4.2
Der Auftritt des Herolds
1.4.3
Die erste Trugrede Klytaimestras
2
Agamemnons Ankunft
2.1
Die Begrüßungsrede des Chores
2.2
Die erste Rede Agamemnons
2.3
Die zweite Trugrede Klytaimestras
2.4
Die Gewänderszene
2.4.1
Zusammenfassung
3
Zwischenergebnis zur Sympathielenkung
3.1
Klytaimestra
3.2
Agamemnon
4
Die Kassandra-Szene
4.1
Der lyrische Teil
4.2
Der gesprochene Teil
4.3
Zusammenfassung
5
Agamemnons Tod und Klytaimestras Mordgeständnis
6
Klytaimestras Streit mit dem Chor
6.1
Zusammenfassung
7
Der Auftritt des Aigisthos
III
Ergebnisse und Ausblick
1
Ergebnisse der Sympathielenkung
1.1
Agamemnon
1.2
Klytaimestra
1.3
Vergleich und Visualisierung
1.3.1
Vergleich der Sympathielenkung
1.3.2
Visualisierung der ‚Sympathielenkungskurven‘
2
Fazit
3
Ausblick
3.1
Choephoren
3.2
Eumeniden
Literaturverzeichnis
Textausgaben, Kommentare, Übersetzungen
Wörterbuch
Sekundärliteratur
Personenregister
Sachregister
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 2021 unter dem Titel „Sympathielenkung in der Tragödie – Performativität und Sprachgestaltung in Aischylos’ Agamemnon“ am Fachbereich 10 für Fremdsprachliche Philologien der Philipps-Universität Marburg eingereicht habe. Das Manuskript wurde im Mai 2021 fertiggestellt; anschließend erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden.
Mein besonderer Dank gilt an erster Stelle meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Sabine Föllinger (Marburg), die mich während meines Studiums durch ihre Begeisterung für Aischylos und die griechische Tragödie zur wissenschaftlichen Arbeit ermuntert und meine Promotion fachlich wie menschlich auf eine ganz wohltuende Art und Weise gefördert und begleitet hat. Herrn Prof. Dr. Dr.h.c. Gregor Vogt-Spira (Marburg) danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und für wertvolle Anregungen, die in die Arbeit eingeflossen sind. Sehr herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Dr.h.c. Bernhard Zimmermann (Freiburg) für die Erstellung des Drittgutachtens und das Angebot, die Dissertation in dieser Reihe veröffentlichen zu dürfen. Herrn Tilmann Bub vom Narr-Verlag danke ich für die angenehme Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.
Der Stiftung der deutschen Wirtschaft (sdw) gebührt mein Dank für die Gewährung eines Promotionsstipendiums von Dezember 2017 bis Mai 2021 und die ideelle Förderung bei vielen Seminaren und Promovierenden-Schreibwochen. In diesem Zusammenhang lernte ich auch Dr. Agnes von der Decken kennen, der ich wertvolle Anregungen zur Anwendung der Sprechakttheorie auf die antike Dichtung verdanke. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften gilt mein Dank für die Gewährung eines namhaften Druckkostenzuschusses.
Das gräzistische Forschungskolloquium in Marburg hat die Entwicklung der Arbeit durch zahlreiche fruchtbare Anregungen und Diskussionen bereichert. Mein besonderer Dank gilt hier Thomas Busch, JProf. Dr. Diego de Brasi, Dr. Christoph Hammann und nicht zuletzt Dr. Brigitte Kappl, bei der ich Altgriechisch gelernt habe.
Für ihre hilfreichen Hinweise und Korrekturen am Manuskript bedanke ich mich bei Stephanie Bode, Dominique und Joel Hüsemann, Franziska Lange, Mareen Lüke, Dr. Lauritz Noack und Jan Eric Schnellbacher.
[10]Meinen Eltern danke ich von Herzen für ihre vielfältige Unterstützung während meines Studiums und der Promotion. Abschließend gilt mein größter Dank meiner Frau Lena, die mich in allen Phasen der Dissertation durch ihre Ermutigung und ihre Geduld auf jede denkbare Weise unterstützt hat.
Frankfurt a.M., im September 2023Henrik Vollbracht
Der griechische Feldherr und König Agamemnon und seine Gattin Klytaimestra sind die beiden zentralen Figuren in der Agamemnon-Tragödie des Aischylos, die im Jahre 458 v. Chr. als erster Teil der Orestie-Trilogie bei den Großen Dionysien in Athen zur Aufführung kam und seit jeher als ein herausragendes Werk der europäischen Theatergeschichte gilt. Das Interesse an den beiden Hauptfiguren ist entsprechend groß; es zeigt sich jedoch, dass die Forschung dabei immer wieder zu völlig unterschiedlichen Urteilen über die beiden Hauptfiguren kommt. Dies liegt vornehmlich daran, dass die Beurteilung oft (zu) stark unter dem Eindruck der jeweiligen Interpretation des Stücks steht und dazu neigt, bestimmte Aspekte der Figuren zu vereinseitigen oder zu verabsolutieren.1 Vermeintliche Widersprüche oder Inkonsistenzen werden dann zugunsten eines einheitlichen Bildes geglättet, ohne den jeweiligen Kontext oder die Chronologie des Handlungsverlaufs ausreichend zu berücksichtigen.
Die vorliegende Arbeit will dieser Beobachtung Rechnung tragen und mit einer Untersuchung der sprachlichen Gestaltung im Agamemnon2 zeigen, dass unterschiedliche Urteile nicht nur möglich, sondern sogar bewusst in der Sprache der Tragödie angelegt sind, um die Einstellung der Rezipient:innen3[13]gegenüber den Figuren und damit die Textrezeption insgesamt zu steuern und zu lenken. Die Tragödie wird daher ganzheitlich und gemäß dem Handlungsverlauf bzw. der Reihenfolge an ‚Informationen‘ auf die Wirksamkeit ihrer Sprache hin untersucht. Ein besonderes Interesse liegt dabei auf den Unterschieden zwischen der Darstellung Agamemnons und Klytaimestras, aber auch auf den vermeintlich widersprüchlichen und inkonsistenten sowie handlungsärmeren und schwer verständlichen Abschnitten und ihrer Bedeutung für die Rezeptionslenkung. Mit den pragmatischen Ansätzen der Sympathielenkungs- und der Sprechakttheorie, die in dieser Form bisher nicht systematisch auf die attische Tragödie angewendet wurden, wird eine Methodik vorgestellt, die sowohl die besondere Kommunikationssituation – die Performativität – des Dramas bei der Analyse berücksichtigt als auch zu einer höheren Objektivierbarkeit der dabei erzielten Ergebnisse beitragen kann.
Die Untersuchung wird zeigen, dass der Dichter sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Darstellungsebene der Tragödie verschiedene Strategien der Sympathielenkung einsetzt, um seine Figuren in unterschiedlichen Kontexten und Handlungszusammenhängen facettenreich zu zeichnen. Die Sympathien und Antipathien sind dabei nicht immer gleich stark oder gleichbleibend ausgeprägt, sondern unterliegen einem situativen Wandel, erfahren Höhen und Tiefen und werden im Vergleich miteinander problematisiert. Somit lässt sich ein differenziertes Urteil über die Konzeption und die Sprache der Figuren gewinnen, das bis zu einem gewissen Grad vom Inhalt und von der grundlegenden Deutung des Stücks abstrahiert und die Figuren somit nicht nur zu Sinnträger:innen einer spezifischen Botschaft des Dichters an sein Publikum macht, sondern auch zu Sympathie- und Antipathieträger:innen. In der kunstvollen, aber ganz bewusst nicht immer widerspruchsfreien Verbindung dieser beiden Aspekte mag einer der Gründe für die herausragende Reputation des Aischylos als Altmeister der griechischen Tragödie liegen.
Vgl. Thiel (1993) 217.
Obwohl eine ausführliche Untersuchung der sprachlichen bzw. sprechakttheoretischen Gestaltung und der Sympathielenkung in der gesamten Orestie sicherlich sinn- und auch reizvoll wäre, beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf den ersten Teil der Trilogie. Dies hat sowohl inhaltliche als auch methodische Gründe: Der Agamemnon ist die erste und bei weitem umfangreichste der drei Tragödien und entwickelt die grundlegenden Handlungs- und Sympathielenkungsstrukturen, die in den Choephoren und Eumeniden aufgegriffen und fortgeführt werden. Da zudem ein Methodenansatz vorgestellt wird, der in dieser Form bisher nicht für die attische Tragödie fruchtbar gemacht wurde, soll der Mehrwert dieses Ansatzes an einer eingehenden und ganzheitlichen Textanalyse im Sinne eines ‚close reading‘ verdeutlicht werden (zur weiteren Begründung s. u. S. 59). Die vorliegende Arbeit versteht sich demnach auch als möglicher Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen dieser Art, kann in diesem Rahmen jedoch nur einen überblicksartigen und zusammenfassenden Ausblick auf die weiteren Entwicklungen der Sympathielenkung im zweiten und dritten Teil der Orestie bieten, s. u. Kapitel III.3.
Bei dieser ersten Gelegenheit eine kurze Bemerkung zur gendersensiblen Sprache in der vorliegenden Arbeit: Die sprachliche Gleichbehandlung der verschiedenen Geschlechter bzw. Geschlechtsidentitäten ist in der universitären und wissenschaftlichen Sprache von großer und zunehmender Bedeutung, um Diskriminierung zu vermeiden und Gleichberechtigung nicht nur zu denken, sondern auch typographisch sichtbar zu machen. Bei der praktischen Umsetzung der gendersensiblen Sprache ist in dieser Arbeit jedoch zu berücksichtigen, dass es in vielen Fällen wissenschaftlich falsch wäre, andere Formen als das Maskulinum zu verwenden. Dies ist auf die männerdominierte Sphäre der antiken griechischen Öffentlichkeit zurückzuführen, in der es z.B. nur männliche Schauspieler gab etc. Daher sind maskuline Formen, wo sie verwendet werden, bewusst gewählt. In allen anderen Fällen – wie an der vorliegenden Stelle – wird mit dem Gender-Doppelpunkt und den entsprechenden sprachlichen Konventionen der gendersensiblen Sprache gearbeitet.
In der Aischylos-Forschung nimmt die Orestie seit jeher eine herausragende Stellung ein. Der Grund dafür liegt vornehmlich darin, dass sie die einzige uns noch erhaltene Tragödientrilogie des 5. Jahrhunderts v. Chr. darstellt und darüber hinaus das letzte große Werk des nur wenige Jahre nach der Aufführung verstorbenen Dichters ist. Die Sprache des Aischylos – gerade im Vergleich zu den jüngeren Tragikern Sophokles und Euripides – wurde bereits in der Antike selbst zum Gegenstand der Reflexion: Als besonderes Zeugnis dafür ist die Komödie Die Frösche4 des attischen Dichters Aristophanes zu nennen, wenngleich die komödiantische Verzerrung der Darstellung sicherlich mit Vorsicht zu genießen ist.5 Es wird jedoch deutlich, dass es schon früh ein Bewusstsein über die Eigenheiten der aischyleischen Dichtersprache gab und dass dabei – auch aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen – insbesondere der Vergleich mit der Sprache des Sophokles und Euripides im Vordergrund stand.
Im Kern hält sich diese vergleichende Herangehensweise bei der Untersuchung der Tragödiensprache bis in die moderne Forschung. Dabei standen zunächst allerdings semantische, stilistische und syntaktische Analysen im Vordergrund.6 Bei Aischylos, dessen Tragödien sich in besonderer Weise durch ihr dichtes Geflecht aus Motiven, Metaphern und Leitbildern auszeichnen, wurde die sprachliche Gestaltung zudem vermehrt unter dem Aspekt der Funktion dieser Ausdrucksmittel und ihrer Rolle im Gesamtzusammenhang des jeweiligen Stücks beleuchtet.7
In jüngerer Zeit kann man in der Erforschung der aischyleischen Sprache im Wesentlichen drei Bereiche eingrenzen, die sich zum Teil gegenseitig bedingen und für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind: Im ersten Bereich wird die [15]Sprache vermehrt hinsichtlich ihrer Funktion für die Charakterisierung der Dramenfiguren untersucht. Dabei steht in der Orestie insbesondere die Klytaimestra-Figur im Vordergrund.8 Der zweite Bereich beschäftigt sich mit der rhetorischen Gestaltung der Tragödie. Zwar stehen in diesem Zusammenhang die Werke des Euripides bedeutend mehr im Fokus, da sie von der aufkommenden Theoretisierung der Rhetorik durch die Sophisten geprägt sind; mittlerweile wird die Untersuchung rhetorischer Mittel und Strukturen aber auch auf die Tragödien des Aischylos ausgeweitet.9 Zum dritten Bereich können im Wesentlichen die pragmalinguistischen Zugänge zur Tragödie gezählt werden, die vor allem in den letzten Jahren stark zugenommen haben und sich der praktischen Bedeutung performativer Sprache in ihrem jeweiligen Äußerungskontext widmen.10 In diesen Bereich fällt auch die Untersuchung der Sprechakte und der Sympathielenkung.
Die Anwendung der in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufkommenden Sprechakttheorie auf die Literatur der griechischen Antike schlägt sich bereits seit längerer Zeit, aber nur in vereinzelten Arbeiten nieder.11 Im Bereich des [16]attischen Dramas bzw. der aischyleischen Tragödie im Besonderen findet sich dementsprechend nur wenig einschlägige Literatur.12 Eine systematische und vollständige Untersuchung des sprachlichen Verhaltens von Dramenfiguren mit Hilfe der Sprechakttheorie ist – soweit ich es überblicken kann – noch gar nicht erfolgt. Die vorliegende Untersuchung betritt mit ihrem ganzheitlichen Ansatz also Neuland und kann dahingehend als Ergänzung zu anderen pragmatischen Zugängen zum antiken Drama dienen.
Für die Theorie der Sympathielenkung, die bisher vorwiegend in der anglistischen und germanistischen Sprachwissenschaft für das Drama stark gemacht wurde,13 fällt der Überblick über die Forschung ähnlich aus: Zwar finden sich Sympathie und Antipathie als Beurteilungskategorien in nahezu allen Arbeiten, die sich mit dem Charakter, der Motivation und dem Handeln von Dramenfiguren beschäftigen; allerdings sind auch in diesem Bereich nahezu keine Arbeiten zu verzeichnen, die sich dezidiert mit der Sympathielenkung als solcher auseinandersetzen.14 Das Hinzuziehen eines Theorie- und Methodenansatzes zur Analyse der Sympathielenkung im Text scheint bisher nicht genutzt zu werden.15 Welche heuristischen Möglichkeiten die Verknüpfung der Sympathielenkungstheorie und der Sprechakttheorie für die Untersuchung [17]der Sprache und ihrer Wirksamkeit im Drama – auch unter Einbezug der Eigenheiten dramatischer Kommunikation – bieten kann, wird in den folgenden methodischen Vorüberlegungen herausgearbeitet.
Zur Aischylos-Rezeption in den aristophanischen Fröschen vgl. ausführlich Zimmermann (2009).
Zimmermann (ebd.) 83 macht darauf aufmerksam, dass sich eine ganze Forschungstradition auf die aristophanischen Frösche und ihr Urteil über die Dichtersprache des Aischylos zurückführen lässt.
Vgl. Zimmermann (2011) 512.
Für den Agamemnon sind insbesondere die Arbeiten von Zeitlin (1965) und Pucci (1992) zu nennen, die sich mit dem Leitmotiv des Opfers auseinandersetzen. Petrounias (1976) geht darauf ebenfalls ein und stellt darüber hinaus weitere Motive und Leitbilder vor. Lee (2004) beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit dem Motiv der ‚deadly πέπλοι‘, die im Kontext der Iphigenie-Opferung und dem Mord an Agamemnon eine zentrale Rolle spielen. Für weitere Literatur vgl. Zimmermann (2011) 512 mit Anm. 127 und 128.
Einen guten Überblick über die Charakterisierung Klytaimestras und Agamemnons in der Orestie bietet Seidensticker (2009) 230–7. Auch die Arbeiten von Hypsilanti (2003) 355–364 und Chesi (2014) 10–81 gehen ausführlich auf die Charakterzüge Klytaimestras im Agamemnon ein. Gierke (2017) 53–79 untersucht die Bedeutung der Ehe und der Konzeption von Männlichkeit und Weiblichkeit für die Handlung und die Charakterzeichnung Agamemnons und Klytaimestras. Einen ganzheitlicheren Blick auf die Klytaimestra-Figur und ihre unterschiedlichen Gestaltungen in den Texten von Homer bis Aischylos bietet die Arbeit von Vogel-Ehrensperger (2012). Noch grundlegender zur Mythen-Innovation bei Aischylos, v. a. mit Bezug auf die zentralen Figuren der Orestie, sind die Arbeiten von Föllinger (2003) 49–132 und (2009b).
In diesem Zusammenhang ist vor allem die Arbeit von Zetzmann (2021) v. a. 81–99 zu nennen, die sich mit der Darstellungsweise und der dramatischen Funktion scheiternder Reden in der Tragödie beschäftigt und für die Orestie das zentrale dritte Epeisodion des Agamemnon mit dem Gespräch zwischen Agamemnon und Klytaimestra (Ag. 810–974) untersucht. Einen allgemeinen Überblick über Rhetorik im Drama bietet Zimmermann (2019). Sansone (2012) geht in seiner Arbeit ausführlich auf den Zusammenhang zwischen Drama und der aufkommenden Rhetorik-Theorie im 5. Jhd. v. Chr. ein.
In diesem Bereich finden sich einige Arbeiten, die neuartige Ansätze für die Drameninterpretation bieten. So plädiert z.B. van Emde Boas (2017) dafür, die Methoden der Konversationsanalyse für den dramatischen Dialog fruchtbar zu machen und verdeutlicht dies am Beispiel der Stichomythie in Aes. Ag. 931–44. Für die Tragödie des Aischylos finden sich aber insgesamt nur wenige einschlägige Untersuchungen. In zwei rezenten Sammelbänden von Martin et al. (2020) und Mancuso/Zetzmann (2023, im Erscheinen) werden allerdings vielfältige Interpretationsansätze der Pragmatik vorgestellt, die für das antike Drama fruchtbar gemacht und ausgebaut werden können.
Die Aufsätze von Roochnik (1990), Beck (2008); (2009) und Christensen (2015) beschäftigen sich mit Sprechakten in den homerischen Epen. Zum sprachlichen Handeln in der archaischen Lyrik vgl. die Arbeit von Decken (2022).
Prins (1991) geht in ihrem Aufsatz zum Chor der Erinyen auf Sprechhandlungen in den Eumeniden ein, allerdings auf einer sehr allgemeinen Ebene. Für Sophokles ist der Aufsatz von Heuner (2006) als Ansatzpunkt aufschlussreich. Mit sprechakttheoretischen Untersuchungen einzelner Abschnitte des euripideischen Orestes beschäftigt sich der Aufsatz von Scardino (2020). In der Arbeit von Bierl (2001) zum Chor in der alten Komödie wird die Sprechakttheorie mit der Performativität des chorischen Rituals in Verbindung gebracht. Ingesamt zeigt sich jedoch, dass die Sprechakttheorie bisher nicht für systematische und ganzheitliche Dramenanalysen herangezogen wurde.
Vgl.u.a. die Arbeiten von Pfister (1978); Clemen (1978); Winko (2003); Ranke (2009); Prinz/Winko (2014); Hillebrandt/Kampmann (2014), die auch für die methodischen Vorüberlegungen (s.u. Kapitel I.3.2) aufschlussreich sind.
Vgl. Föllinger (2008). Von Möllendorff (2001) geht in seinem Aufsatz zum sophokleischen Aias auf die Rezeptionslenkung durch Intertextualität ein, die auch für die Sympathielenkung eine bedeutende Rolle spielt. Im Unterschied zur Rezeptionslenkung fokussiert die Sympathielenkung aber mehr auf die tatsächlichen Sympathie- und Antipathieträger:innen im Stück (s.u. S. 33). Diese wurden in den Untersuchungen zum attischen Drama bisher weniger in den Mittelpunkt gestellt.
Die Frage der Rezeptionslenkung bzw. der Figurencharakterisierung, die letztlich auch mit der Frage der Sympathielenkung aufs Engste verknüpft ist, wird in erzählenden Gattungen durch die Narratologie untersucht, vgl. dazu bereits die vorbereitenden Ausführungen bei Jauss (1977). Inzwischen werden die in der Narratologie entwickelten Methoden auch vermehrt auf das Drama angewandt, vgl. dazu u.a. die Arbeiten von Dunn (2009), Hopman (2009), Schein (2009), Lamari (2009) und Scodel (2009) im Sammelband von Grethlein/Rengakos (2009). Eine Verschränkung derartiger Ansätze mit dem methodischen Instrumentarium der Sprechakttheorie wäre m.E. hierbei weiterführend.
Wie in den Ausführungen zum Forschungsstand angedeutet, kann man sich der Wirksamkeit von Sprache in der griechischen Tragödie aus verschiedenen Blickwinkeln nähern. Dabei stehen – gerade in der jüngeren Literatur – insbesondere rhetorische und pragmalinguistische Methodenansätze im Fokus. Um bei der Nutzung solcher Ansätze anachronistische Verzerrungen bei der Analyse und Interpretation der Tragödie zu vermeiden, lohnt zunächst ein einführender Blick auf politische bzw. polisbezogene Aspekte des Sprachdenkens der vorrhetorischen Zeit, deren vorausweisende und vorbereitende Rolle für die späteren Theorien heute weithin akzeptiert ist16 und für die Thematik dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden kann. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Rolle und die Funktion des Theaters und der attischen Tragödie eingegangen.
Geht man also von den homerischen Epen als Beginn der griechischen, ja der europäisch-abendländischen Literaturgeschichte insgesamt aus, so wird man feststellen, dass Sprache bereits hier – vor allem in den Reden der Helden – einen hohen sozialen Stellenwert einnimmt: Dies wird sowohl an den vielen oft appellativen Beratungsreden ersichtlich, in denen das Für und Wider von Sachverhalten diskutiert wird, als auch an dem hohen Ansehen, das besonders begabte Redner in der Gemeinschaft genießen.17 Besonders sinnfällig wird die Bedeutung der Sprache und des Redens im neunten Gesang der Ilias, in dem Achills Lehrer Phoinix seinen Schüler zur Wiederaufnahme des Kampfes bewegen will und dabei auch auf dessen Vater Peleus zu sprechen kommt, der Phoinix angehalten habe, Achill zu lehren, ‚ein Redner von Reden und ein Täter von Taten‘ zu sein (Hom. Il. 9,443: μύθων τε ῥητῆρ᾽ ἔμεναι πρηκτῆρά τε ἔργων). Dass dieser Vers bereits in der Antike als Beleg für eine Art ‚Rhetorik‘-Bewusstsein bei Homer angeführt wurde,18 liegt nach Knudsen zum einen an dem Terminus ῥητῆρ, zum anderen an dem Kontext, der darauf hindeute, dass „Homeric characters viewed speaking as a matter for didaxis, and therefore as a [19]technê.“19 Da es an dieser Stelle aber nicht um mögliche Vorläufer der Rhetorik, sondern um das Verständnis des politischen bzw. polisbezogenen Sprachdenkens gehen soll, kommen wir auf die allgemeinere Ebene des homerischen Bildungsideals zu sprechen, welches sich offenbar in der unauflöslichen Einheit von Sprechen und Handeln verdichtet:20 Die größte Tugend besitzt derjenige, der neben seinen heldenhaften Taten im Kampf auch im Rat der Männer gut zu reden weiß.21 Hannah Arendt bemerkt dazu:
[…] Sprechen und Handeln galten als gleich ursprünglich und einander ebenbürtig, sie waren gleicher Art und gleichen Ranges. Und dies nicht nur, weil ja offenbar alles politische Handeln, sofern es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch Sprechen vollzieht, sondern auch in dem noch elementareren Sinne, daß nämlich das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick, ganz unabhängig von seinem Informations- oder Kommunikationsgehalt an andere Menschen, bereits Handeln ist.22
Schon bei Homer ist Sprechen also als eine Art des Handelns greifbar, das in seiner Wirkweise eine soziale, oft auch politische Dimension hat. Durch Sprechen und Handeln – an anderen Stellen in der Formel ἔργον τε ἔπος τε ausgedrückt23 – ist man tätig, treibt etwas voran und bewirkt etwas.24
Dieses Verständnis von Sprache als Form des Handelns findet sich in ähnlicher Weise auch bei anderen Autoren der archaischen oder frühen klassischen Literatur, weshalb darauf nicht in aller Ausführlichkeit eingegangen werden soll.25 Stattdessen wenden wir uns der Wirksamkeit des sprachlichen Handelns zu: Was soll durch Sprache bewirkt werden? Was kann Sprache bewirken? Dabei greifen wir zunächst noch einmal auf das Zitat von Arendt zurück, die das Sprechen als eine gewaltlose Art des politischen Handelns beschreibt, d.h. als soziale Wirkkraft zur Gestaltung und Regelung eines Gemeinwesens. Beteiligte Akteure müssen dabei konsens- oder zumindest überzeugungsfähig sein, damit die Gemeinschaft als ganze funktioniert und handlungsfähig bleibt. In diesem Zusammenhang erweist sich das Prinzip des πείθειν, das im Deutschen nicht adäquat mit einer Vokabel wiedergegeben werden kann, gemeinhin aber mit ‚überreden‘ oder ‚überzeugen‘ übersetzt wird, als eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe des (politischen) Redens.26 Dies wird [20]sowohl an den rund 200 Belegstellen bei Homer27 und der Personifizierung des Prinzips zur Göttin Πειθώ bei Hesiod (Th. 349), als auch an dem späteren Eingang des Prinzips in die sophistische Rhetorik-Theorie ersichtlich.28 Anders als die deutsche Übersetzung ‚überreden‘ suggeriert, hat das Verb im Griechischen aber zunächst keinerlei moralisch wertende Konnotation:29 Es ist einerseits als „Einwirken auf den Verstand durch Erkenntnis“ und andererseits als „Einwirken auf den Willen oder das Gemüt durch Auslösen eines Willensentschlusses oder einer Gemütsstimmung“30 zu verstehen.31 Gondos schlägt in Anlehnung an Buxtons Studie zur Peithó daher als grundlegende Bedeutung „(jemanden) dazu bringen, etwas zu tun bzw. zu glauben“32 vor. Bereits in der vorrhetorischen Zeit ist dieses Verständnis des πείθειν als „ursprüngliches Bewirken und Hervorbringen“33 durch Sprache ein zentrales Prinzip des griechischen Sprachdenkens.34
Wenn man bis hierhin also festhalten kann, dass Sprechen und Reden schon seit frühester Zeit als eine Art soziales Handeln verstanden wurden, und dieses Handeln stets das Ziel hat, jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu glauben, dann wird nicht nur ersichtlich, warum sich dieses Sprachdenken gerade in der zunehmend demokratischen und somit immer mehr auf Reden beruhenden Polis-Struktur Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. forttrug und weiterentwickelte,35 sondern auch – und damit sei der Bogen zu den beiden „demokratischen Literaturformen par excellence“36 gespannt –, warum gerade die Tragödie und die Komödie, deren Handlung ja ausschließlich über das Sprechen der Dramenfiguren – über ihre Sprechakte – vorangetrieben wird und seine Wirkung entfaltet, als die literarischen Ausformungen des skizzierten und [21]politischen bzw. polisbezogenen Sprachdenkens betrachtet werden können. Bezeichnend dafür ist die Beobachtung, dass man die Reden vor Gericht oder in den Volksversammlungen und die Reden im Drama durch gemeinsame Prinzipien verbunden sah.37 Dies hebt bereits Gorgias in seinem Enkomion auf Helena hervor (Gorg. Hel. 9):
τὴν ποίησιν ἅπασαν καὶ νομίζω καὶ ὀνομάζω λόγον ἔχοντα μέτρον· ἧς τοὺς ἀκούοντας εἰσῆλθε καὶ φρίκη περίφοβος καὶ ἔλεος πολύδακρυς καὶ πόθος φιλοπενθής […].
Die gesamte Dichtung sehe ich und benenne ich als Rede, die durch ein Metrum gebunden ist; die Leute, die sie hören, überkommt furchtbares Schaudern, tränenreicher Jammer und ein Drang, der den Schmerz liebt […].38
Die Dichtung unterscheidet sich nach Gorgias also nur durch ihre metrische Gebundenheit von anderen Reden.39 Ansonsten entfalte das gesprochene Wort (λόγος) sowohl in der Prosa als auch in der Dichtung die gleichen Wirkungen auf das jeweilige Publikum (Gorg. Hel. 8):
λόγος δυνάστης μέγας ἐστίν, ὃς σμικροτάτῳ σώματι καὶ ἀφανεστάτῳ θειότατα ἔργα ἀποτελεῖ· δύναται γὰρ καὶ φόβον παῦσαι καὶ λύπην ἀφελεῖν καὶ χαρὰν ἐνεργάσασθαι καὶ ἔλεον ἐπαυξῆσαι.
Die Rede ist eine große Macht, die in kleinster und unscheinbarster Form die göttlichsten Werke vollbringt. Denn sie vermag Furcht zu beenden und Trauer zu nehmen und Freude zu bewirken und Mitleid aufkommen zu lassen.
Wie an beiden Textstellen erkennbar wird, schreibt Gorgias der Rede bzw. dem λόγος ein geradezu ‚göttliches‘ Wirkpotenzial zu: Sie könne Affekte wie Furcht, Trauer, Freude oder Mitleid erregen, sie nach Belieben steigern oder wieder beenden und sogar körperliche Reaktionen wie Schauder oder Tränen hervorrufen. Diese Art der Affekterregung spielt in der attischen Gerichts- und Versammlungspraxis, aber auch im Theater eine oft entscheidende Rolle.40
Neben dieser ästhetischen Dimension sind die Reden im Theater aber auch noch auf eine andere, grundlegendere Weise mit den Reden vor Gericht oder in der Volksversammlung verbunden. Dazu muss man sich zunächst darüber [22]bewusstwerden, dass auch die Tragödieninszenierungen bzw. die ‚gespielten‘ Reden im Theater zur Sphäre des öffentlichen Lebens gehörten:
All Athenian citizens engaged in the contest of words either as actors or as spectators not only in the Assembly and the courts but also in the dramatic and poetic competitions of the City Dionysia. […] In this way, the theater of Dionysus taught the orator’s audience how to listen to speeches in the courts and in the Assembly.41
Das Sprechen und Reden der Dramenfiguren hat für das Publikum also auch eine reflexive Dimension, und zwar insofern, als es die Wirkungen von Sprache auf das Leben der Menschen und auf die Gesellschaft aufzeigen kann, ohne dabei selbst in das öffentliche, ‚reale‘ Leben einzugreifen.42 Damit kann Zustimmung oder Ablehnung, Identifikation oder Distanz und – mit Blick auf die sprechenden und handelnden Dramenfiguren selbst – Sympathie und Antipathie erzeugt werden.
Der kurze Überblick über das griechische Sprachdenken und seine zentralen Ideen von Homer bis zur Tragödie des Aischylos schließt sich hier zu einem Kreis, wenn man in dem doppelten Wirkpotenzial der Theatersprache das oben erläuterte Prinzip des πείθειν als „the power in logos“43 wiedererkennt: Die ästhetische Dimension der Sprache wirkt vornehmlich auf das Gemüt, die reflexive Dimension auf den Verstand des Publikums.
Um die Sprache und ihre Wirkung in der Tragödie nun genauer zu untersuchen, muss man den Blick zunächst auf die Mechanismen lenken, die dramatischen Texten im Allgemeinen und der attischen Tragödie im Besonderen zugrunde liegen. Dabei ist vor allem das Zusammenspiel der innerdramatischen Kommunikation zwischen den Figuren des Dramas und der außerdramatischen Kommunikation zwischen Dichter und Rezipient:innen von besonderer Relevanz. Durch die ständige Überlagerung dieser beiden Kommunikationssysteme können die sprachlichen Äußerungen der Dramenfiguren und des Chores nämlich sowohl auf der Handlungsebene des Stücks als auch auf der Rezeptionsebene Wirkungen entfalten. Um diese Wirkungen möglichst systematisch und umfassend untersuchen zu können, wird in einem ersten Schritt auf die Dynamik der dramatischen Kommunikation eingegangen (Kapitel I.3.1). Anschließend werden mit der Theorie der Sympathielenkung (I.3.2) und mit der Sprechakttheorie nach Austin und Searle (I.3.3) zwei pragmatische Interpretationsansätze vorgestellt, die dieser Dynamik und ihren Besonderheiten Rechnung tragen, ohne dabei anachronistische Zerrbilder zu provozieren. Dieses methodische Vorgehen kann als Ergänzung bzw. Erweite[23]rung zu anderen Analyse- und Interpretationsansätzen für das antike Drama dienen.
Auf die grundlegenden Unterschiede zwischen dramatischer und episch-narrativer Dichtung geht bereits Aristoteles in den einleitenden Kapiteln seiner Poetik ein (Poet. 3,1448a20–24):
καὶ γὰρ ἐν τοῖς αὐτοῖς καὶ τὰ αὐτὰ μιμεῖσθαι ἔστιν ὁτὲ μὲν ἀπαγγέλλοντα, ἢ ἕτερόν τι γιγνόμενον ὥσπερ Ὅμηρος ποιεῖ ἢ ὡς τὸν αὐτὸν καὶ μὴ μεταβάλλοντα, ἢ πάντας ὡς πράττοντας καὶ ἐνεργοῦντας †τοὺς μιμουμένους†.
Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. (Übers. Fuhrmann)
Während in der episch-narrativen Dichtung ein:e (fiktive:r) Erzähler:in eingesetzt wird, der:die über handelnde Figuren ‚berichtet‘ (ἀπαγγέλλοντα), sind es in der dramatischen Dichtung die Figuren selbst, die ‚handeln und tätig sind‘ (πράττοντας καὶ ἐνεργοῦντας). Die Kommunikation im Drama ist also im Wesentlichen dadurch bestimmt, dass sie sich durch direkte Rede vollzieht und somit durchgehend im Modus der Darstellung steht;44 sie ist performativ:
Denn die Sätze sagen nicht nur etwas, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen. Sie sind selbstreferenziell, das heißt beziehen sich auf sich selbst, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen. Es sind diese beiden Merkmale, die performative Äußerungen charakterisieren.45
Dieser Performativitätsbegriff, dem Fischer-Lichte in Anschluss an die Sprechakttheorie Austins eine wirklichkeitskonstituierende, weltverändernde und transformative Kraft zuschreibt,46 ist für das Verständnis dramatischer Texte und somit auch für die vorliegende Arbeit grundlegend: Im Gegensatz zu narrativen Texten, in denen ein vermittelndes Kommunikationssystem durch den:die fiktive:n Erzähler:in besetzt ist, ist das Drama nämlich darauf angewiesen, den Ausfall vermittelnder Kommunikationsstrukturen durch verschie[24]dene sprachliche und außersprachliche Mechanismen zu kompensieren.47 Die außerdramatische Kommunikation zwischen Dichter und Rezipient:innen findet also allein im performativen Vollzug der innerdramatischen Kommunikation, d.h. im und durch den dramatischen Dialog, statt. Dadurch entstehen zwei Ebenen der Kommunikation, die sich gegenseitig überlagern: die innerdramatische Kommunikation zwischen den Dramenfiguren und die außerdramatische Kommunikation zwischen Dichter und Rezipient:innen. Diese beiden Kommunikationsebenen werden in den beiden folgenden Unterkapiteln ausführlich vorgestellt.
Unter der innerdramatischen Kommunikation wird die Gesamtheit der Kommunikationshandlungen der Dramenfiguren und des Chores auf der Handlungsebene des Dramas verstanden.48 Wie sich an Aristoteles’ Darstellung der strukturellen Entwicklung der griechischen Tragödie zeigt, wurde das Dialogische, das die innerdramatische Kommunikation im Wesentlichen prägt und bestimmt, kontinuierlich ausgebaut (Poet. 4,1449a15–17):
καὶ τό τε τῶν ὑποκριτῶν πλῆθος ἐξ ἑνὸς εἰς δύο πρῶτος Αἰσχύλος ἤγαγε καὶ τὰ τοῦ χοροῦ ἠλάττωσε καὶ τὸν λόγον πρωταγωνιστεῖν παρεσκεύασεν.
Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht. (Übers. Fuhrmann)
Im Rahmen seiner Ausführungen zur Genese und Entwicklung der Tragödie weist Aristoteles Aischylos durch dessen Einführung eines zweiten Schauspielers, die damit einhergehende Verringerung der Choranteile und die [25]Fokussierung auf den dramatischen Dialog eine zentrale Rolle zu.49 Dramentheoretisch kann man in diesem Zusammenhang von einer Erweiterung der innerdramatischen Kommunikation sprechen, die ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten für die kommunikative Interaktion der Schauspieler und des Chores bot und somit wesentlich zu einer Horizonterweiterung der Tragödie und einer Vertiefung der Tragik beitrug.50
Die Erweiterung der innerdramatischen Kommunikation durch die Fokussierung auf den dramatischen Dialog bedeutet nämlich auch und in erster Linie einen Ausbau des dramatischen Handelns; denn im Unterschied zu episch-narrativen Texten, in denen ein:e fiktive:r Erzähler:in eingesetzt werden kann, um die fiktive Sprechsituation herzustellen, wird die jeweilige Sprechsituation im Drama erst durch das dramatische Sprechen selbst, d.h. im und durch den Akt des Sprechens, konstituiert.51 Friedrich Dürrenmatt schreibt dazu: „Muss der Dialog aus einer Situation entstehen, so muss er in eine Situation führen, in eine andere freilich. Der dramatische Dialog bewirkt: ein Handeln, ein Erleiden, eine neue Situation, aus der ein neuer Dialog entsteht usw.“52 Der zentrale Aspekt der innerdramatischen Kommunikation ist also ihre Situationsgebundenheit und ihr Handlungscharakter. Der dramatische Dialog als Grundform der Tragödie enthält oder verbalisiert die Handlung und stellt daher in besonderem Maße eine Form des Handelns dar.53
Die Besonderheit des innerdramatischen Kommunikationssystems besteht nun darin, dass es eine Unabhängigkeit und Absolutheit suggeriert, die faktisch nicht besteht: Alles, was auf der Bühne geschieht und gesprochen wird, richtet sich nämlich nicht nur an die anderen Figuren des Stücks, sondern auch an ein tatsächliches oder intendiertes Publikum.54 Dadurch kommt es zu einer stän[26]digen Überlagerung zwischen dem innerdramatischen und dem außerdramatischen Kommunikationssystem.55
Unter der außerdramatischen Kommunikation wird die Kommunikation zwischen Dichter und Rezipient:innen verstanden. Wie bereits angedeutet, handelt es sich dabei allerdings ausschließlich um eine mittelbare Kommunikation, da sie zeitgleich mit dem und durch den performativen Vollzug des dramatischen Dialogs, d.h. der innerdramatischen Kommunikation, stattfindet. Neben der Performativität der Kommunikation und der damit einhergehenden Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem sind zwei weitere Aspekte für die außerdramatische Kommunikation zentral, nämlich die multimediale Aufbereitung und Inszenierung des Dramentextes sowie die Kollektivität der Rezeption, die im Folgenden anhand der attischen Tragödie näher erläutert werden.56 Anschließend wenden wir uns der Frage zu, wie die außerdramatische Kommunikation bei der Lektüre eines Dramas funktioniert.
Die griechischen Tragödien des fünften Jahrhunderts v. Chr. wurden ursprünglich nicht zum Lesen, sondern für eine einmalige Aufführung im Rahmen religiöser Kultfeste in Athen konzipiert.57 Dabei übernahmen die Dichter üblicherweise selbst Regie, d.h. sie konnten mit den akustischen und visuellen Elementen des Theaters58 arbeiten, um die Stücke entsprechend ihrer Gesamtkonzeption zu inszenieren. Das Fehlen dieser medialen Dimensionen einer Theaterinszenierung führt zwangsläufig zu einer Verkürzung der Gesamtkonzeption.59 In den Texten finden sich zwar hin und wieder implizite ‚Regie-Anweisungen‘, aber inszenatorische Rekonstruktionsversuche lassen nur wenig von den ursprünglichen Aufführungsbedingungen erahnen und bleiben in der Regel Spekulation.60
[27]Ein wichtiger Aspekt der Multimedialität in der Tragödie,61 der heute noch gut nachvollziehbar ist, ist die metrische und damit musikalische Gestaltung des Textes. Durch die unterschiedlichen gesprochenen und gesungenen Versmaße konnte der Dichter viele Hinweise für das Verständnis und die Wirkung bestimmter Passagen und Abschnitte bereitstellen. In diesem Zusammenhang betont Latacz vor allem die möglichen Assoziationseffekte auf das Publikum durch die Gestaltung des Chorgesangs:
Da der Chorgesang in Griechenland eine uralte Tradition hatte […], mußten die unterschiedlichen Rhythmen und Melodien des Chores innerhalb der Tragödie für die athenischen Theaterbesucher des 5. Jh. bereits je verschiedene Ausdruckswerte repräsentieren (an Rhythmus, Bauart, Melodieführung, aber auch an der gewählten ‚Tonart’ konnten z.B. Gebetslieder, Trauergesänge, Hymnen, Hochzeitslieder usw. erkannt werden). Dadurch waren besonders eindringliche Assoziationseffekte zu erzielen.62
Im Bereich des Chorgesangs, der gewissermaßen als eine ‚Urform‘ des performativen Sprechens und Singens zu verstehen ist,63 sind die lyrischen und metrischen Möglichkeiten also besonders reichhaltig und vielfältig. Aber auch im gesprochenen Dramendialog lassen sich anhand der verwendeten Metren viele Indizien für die Betonung von Worten und Sätzen oder die sprachliche Atmosphäre der Schauspielerreden finden: So wird z.B. das Sprechversmaß des iambischen Trimeters in Passagen besonderer Spannung bisweilen durch andere Versmaße ersetzt.64 Darüber hinaus finden sich gerade in der Kassandra-Szene des Agamemnon mehrere Wechsel des Metrums, um die innere Agitiertheit der Seherin oder des zunehmend verängstigten Chores anzuzeigen.65 Mit der metrischen Gestaltung der Tragödiensprache liegen also noch einige gut nachvollziehbare ‚Reste‘ der ursprünglichen Musikalität und damit der Multimedialität der Theaterinszenierung vor.
Die Kommunikation im Theater ist aber noch mehr als die multimediale Aufbereitung des Textsubstrats: Bei dem kommunikativen Handeln der Tra[28]gödie im Rahmen eines religiös-kultischen Stadtfestes handelt es sich nämlich implizit auch um einen Austausch über gesellschaftliche, politische und religiöse Themen, Interessen und Einstellungen.66 Das Drama, dessen Entwicklung auch durch die zunehmende Demokratisierung Athens im fünften Jahrhundert v. Chr. beeinflusst wurde, wird daher auch oft als ‚demokratische‘ Literaturform angesehen.67 In diesem Zusammenhang ist besonders die Einmaligkeit der Inszenierung hervorzuheben:
Der Autor muß darauf hinarbeiten, daß der Zuschauer bei auch nur einmaliger Werkrezeption sämtliche Informationen, Eindrücke, Empfindungen, Vorstellungen usw. vermittelt bekommt, die notwendig sind, um ihm das Gefühl zu geben, er habe das Stück verstanden.68
Hinzu kommt die Tatsache, dass Theaterinszenierungen Kollektiverfahrungen für das Publikum sind. Im Unterschied zum Lesen, bei dem der:die Leser:in die Tragödie als Einzelne:r und mit seinem:ihrem ganz persönlichen sozialen und intellektuellen Hintergrund rezipiert, bildet das Theaterpublikum ein Kollektiv, dem die Tragödie nicht nur auf einer geistig-imaginativen, sondern auch auf einer sinnlich erfahrbaren Ebene dargeboten wird.69 Das hat einerseits zur Folge, dass sich das Verhalten des Publikums je nach Grad der (Gleich)Gesinnung in Bezug auf die Tragödienhandlung und die damit verbundenen Themen ändern kann,70 und andererseits, dass die Aufführung durch die Gleichzeitigkeit von Spielen und Zuschauen auch direkt durch das Publikumsverhalten beeinflusst wird – man denke etwa an Applaus, Gelächter, Raunen, Zwischenrufe, Pausen etc.71 Die Kommunikationssituation im Theater folgt demnach einem ‚Rückkopplungsprinzip‘.72
Die aufgeführten Aspekte der Kommunikationssituation im Theater lassen sich in der Praxis natürlich nur schwer voneinander abgrenzen, da sie synchron verlaufen und sich teilweise gegenseitig bedingen. Dass bei der bloßen Tragödienlektüre tatsächlich eine gewisse Verkürzung der kommunikativen [29]Möglichkeiten vorliegt, dürfte allerdings nachvollziehbar sein. Um nun herauszuarbeiten, wie sich die Kommunikation zwischen Dichter, Tragödie und Rezipient:in jenseits des Theaterrepertoires, d.h. auf rein sprachlicher Ebene, manifestiert, erscheint es lohnenswert, noch einmal von der Dichtungstheorie in der Poetik des Aristoteles auszugehen; zum einen, weil es sich dabei um eine der frühesten systematischen Abhandlungen über die Dichtkunst überhaupt handelt und Aristoteles durch Wiederaufführungen im vierten Jahrhundert noch einige Tragödien aus dem fünften Jahrhundert kannte, und zum anderen, weil er ausführlich auf den Unterschied zwischen der Inszenierung und dem bloßen Lesen einer Tragödie eingeht.73
Zunächst sei festgehalten, dass Aristoteles um die Bedeutung der Inszenierung (ὄψις) einer Tragödie weiß und sie im berühmten sechsten Kapitel der Poetik als ersten von sechs qualitativen Teilen der Tragödie anführt.74 Allerdings wird schnell deutlich, dass er bei dieser erstmaligen Aufzählung der Teile zunächst katalogartig vom äußersten Teil immer weiter zum Kern der Tragödie vorgeht.75 Bei seinem zweiten Durchgang, bei dem er die Teile nach ihrer Relevanz sortiert,76 räumt er der Inszenierung den letzten Rang ein und begründet dies folgendermaßen (Poet. 6,1450b16–19):
ἡ δὲ ὄψις ψυχαγωγικὸν μέν, ἀτεχνότατον δὲ καὶ ἥκιστα οἰκεῖον τῆς ποιητικῆς· ἡ γὰρ τῆς τραγῳδίας δύναμις καὶ ἄνευ ἀγῶνος καὶ ὑποκριτῶν ἔστιν.
Die Aufführung hat zwar eine sehr große Wirkung auf die Gefühle, sie ist aber überhaupt keine literarische Technik, d.h., sie gehört am wenigsten zu dem, was für die Dichtung als Kunst eigentümlich ist. Denn die Tragödie erzielt ihre Wirkung auch ohne Wettbewerb und Schauspieler. (Übers. Schmitt)
Für Aristoteles ist die Inszenierung demnach ein hilfreiches Mittel, um die intendierte Wirkung (δύναμις)77 der Tragödie bei der Theateraufführung zu erzielen, aber kein notwendiges, weil es sich bei der Inszenierung keineswegs [30]um eine literarische Technik (ἀτεχνότατον) handele.78 Daher dürfe man sich als Dichter nicht ausschließlich auf die Inszenierung der Tragödie konzentrieren: Vielmehr sei es Zeichen eines guten Dichters, die Wirkung gerade nicht erst mit aufwändigen Theateraufführungen, sondern schon auf der literarischen Ebene durch eine gelungene ‚Zusammenfügung der Geschehnisse‘ (σύστασις τῶν πραγμάτων)79 herbeizuführen.80 Was damit gemeint ist, wird wiederum aus den o.g. Ausführungen zu den qualitativen Teilen der Tragödie deutlich (Poet. 6,1450a3–5):
ἔστιν δὲ τῆς μὲν πράξεως ὁ μῦθος ἡ μίμησις, λέγω γὰρ μῦθον τοῦτον τὴν σύνθεσιν τῶν πραγμάτων.
Nachahmung einer Handlung aber ist der Mythos, denn Mythos nenne ich die Zusammenfügung der Geschehnisse.
Die Zusammenfügung der Geschehnisse wird hier also gleichgesetzt mit der Nachahmung einer Handlung. Geschehnisse (πράγματα) sind dabei offenbar als Geflecht aus Einzelhandlungen zu verstehen.81 Ihre Zusammenfügung und Anordnung fasst Aristoteles unter dem Begriff ‚Mythos‘ zusammen, den er daher auch ‚Prinzip und gleichsam Seele der Tragödie‘ (ἀρχὴ μὲν οὖν καὶ οἷον ψυχή) nennt.82 Damit ist ein zentraler Punkt der aristotelischen Tragödientheorie erfasst: Eine gute Tragödie muss ihre Wirkung allein durch ihre Handlungskomposition entfalten können und bedarf nicht unbedingt einer Inszenierung.83 Für unsere Belange ist dabei nicht entscheidend – und damit verlassen wir Aristoteles vorerst –, welche Wirkung beim Lesen erzielt wird, sondern dass es überhaupt zu einer irgendwie gearteten Wirkung kommen kann, da die notwendige Voraussetzung für die Kommunikationssituation des Dramas, nämlich das Vorhandensein von Rezipient:innen, auch bei der Lektüre gegeben ist.84 Aristoteles hatte diese Prämisse stillschweigend vorausgesetzt; sie ist aber eine ganz entscheidende. Wie funktioniert also die Kommunikation zwischen Dichter, Werk und Rezipient:innen bei der Lektüre?
Die Tragödie ist im Medium der Sprache verfasst und stellt somit, semiotisch gesehen, ein symbolisches Zeichensystem dar, mit dem Bedeutung erzeugt [31]wird.85 Rezipient:innen sind als Gegenüber deshalb unabdingbar, weil sie diese Zeichen dekodieren und interpretieren müssen, um einen Sinn zu konstruieren; ohne Rezipient:innen wäre es z.B. nicht möglich, tragische Ironie und ähnliche Mittel einzusetzen, die ein Vorwissen oder einen Wissensvorsprung der Rezipient:innen voraussetzen.86 Das Zeichensystem funktioniert als zwischenmenschliche Verständigung also vor allem dann, wenn Dichter und Rezipient:innen eine gemeinsame Auffassung über die Bedeutung der Zeichen und Zeichencodes haben. Anders formuliert: Der Dichter muss die Tragödie so verfassen, dass die bestmögliche Entschlüsselung der sprachlichen Zeichen zum Aufführungszeitpunkt gewährleistet ist und ein verständliches Sinngefüge entsteht.87 Daher ist seine Textproduktion, obgleich sie zunächst getrennt von der Textrezeption erfolgt, indirekt durch Zeichenkonventionen mitbestimmt und beeinflusst.88 Man kann den Dichter einer Tragödie dann als ‚abstrakten Autor‘ bzw. ‚extradiegetischen Präsentator‘ bezeichnen, der die konkrete Handlungskomposition durch seine „Auswahl, Anordnung, Segmentierung, Perspektivführung, Wertungen, Sprachformung etc.“89 gestaltet und realisiert.
Um eine kohärente und verständliche Handlungskomposition zu gewährleisten und die intendierte Wirkung bei den Rezipient:innen erzielen zu können, knüpfen die attischen Dichter bei der Verfassung der Tragödien neben ihrer Adaption und Innovation90 allgemein bekannter mythischer Stoffe vor allem auf sprachlicher Ebene an die Alltagsrealität oder den Intellekt der Rezipient:innen an.91 So arbeitet Goldhill vier wesentliche Einflüsse auf die Sprache der Tragödie heraus, die einen Wiedererkennungswert gewährleisten konnten, nämlich erstens die literarischen Vorläufer wie etwa Homer oder andere Dichter und Lyriker, zweitens den Bereich der Religion und des Kultes, der viele Aspekte des religiösen Alltags in Athen aufgreift, drittens die politische Praxis der Gerichte und Volksversammlungen, an denen jeder Bürger Athens teilhaben konnte, und schließlich, viertens, auch die Kunst der Rhetorik.92 Durch das gezielte Ver[32]wenden entsprechender Vokabeln und Themen entsteht so ein dichtes Geflecht an Metaphern, Leitbildern oder Leitmotiven, die sich durch ganze Tragödien hindurchziehen können.93
Auch durch solche Adaptionen und Innovationen inhaltlicher wie sprachlicher Art war es möglich, dass ein und derselbe mythische Stoff immer wieder neu behandelt und auf die Bühne gebracht werden konnte:94 „Das Ergebnis jener gattungsimmanenten Diskussion schlug sich in einer jeweils neuen Sicht der alten Problematik nieder und in neuen künstlerischen Lösungen.“95 Die Behandlung religiöser, gesellschaftlicher und menschlich-existenzieller Themen ist im Übrigen auch ein Grund, warum die attischen Tragödien auch heutigen Rezipient:innen ‚etwas sagen‘ können, obwohl sie weder zum unmittelbaren Adressatenkreis noch zum vom Autor intendierten Publikum gehören. Gleichzeitig rührt daher die Gefahr, heutige Wert- und Normvorstellungen an den antiken Text anzulegen und etwas in den Dramentext ‚hineinzulesen‘, was vom Autor nicht intendiert war. Die Analyse muss sich demnach entweder im Bereich allgemeingültiger bzw. verallgemeinerbarer Parameter bewegen oder auf gesicherter historischer Evidenz beruhen.
Wie im Folgenden gezeigt werden soll, bietet sich dafür eine Synthese aus zwei pragmatischen Methodenansätzen an, die für die griechische Tragödie bisher kaum berücksichtigt oder zumindest nicht systematisch zur Interpretation der aischyleischen Tragödie herangezogen wurden. Es handelt sich einmal um die Sprechakttheorie nach Austin und Searle, die vor allem zur Analyse der innerdramatischen Kommunikation bzw. sprachlicher Handlungen genutzt werden kann, und einmal um die Theorie der Sympathielenkung, die maßgeblich auf den Überlegungen Pfisters beruht und eher die außerdramatische Kommunikation in den Blick nimmt. Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass in der gemeinsamen Anwendung beider Ansätze die Möglichkeit liegt, der ständigen Überlagerung der beiden dramatischen Kommunikationssysteme gerecht zu werden und die Sprache der Tragödie somit ganzheitlicher zu analysieren.
Die Theorie der Sympathielenkung setzt am Überlagerungsbereich zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem an. Ihr Untersuchungsgegenstand sind alle potenziell sympathielenkenden Faktoren im Text, d.h. alle sprachlichen und konzeptionellen Mittel, die vom Dichter eingesetzt werden, um Sympathie oder Antipathie für eine Figur bzw. Identifikation oder Distanz in Bezug auf ihre Handlungen oder Motive zu erzeugen.96 Damit gehört die Sympathielenkung zur übergeordneten Strategie der Rezeptionslenkung im Allgemeinen, bezieht sich aber in einem engeren Sinn auf die tatsächlichen Sympathie- und Antipathieträger:innen des Stücks und fokussiert weniger auf „die durch Strategien der Rezeptionslenkung dem intendierten Rezipienten nahegelegte Urteilsperspektive über das Verhalten von dramatis personae.“97 Mit anderen Worten: Der Dichter kann Strategien der Sympathielenkung nutzen, um eine Figur sympathisch zu zeichnen, und gleichzeitig ein grundsätzliches Wertesystem vertreten oder propagieren, das dem Verhalten dieser Figur moralisch entgegensteht. Dadurch bieten sich vielfältige Gestaltungs- und Problematisierungsmöglichkeiten im Drama.98
Die Frage nach geeigneten Strategien der Sympathielenkung stellt sich daher bereits bei der inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung der Tragödie: Der Dichter muss seine intendierten Wirkungen möglichst unmissverständlich anlegen, um seine Dramenfiguren zu authentischen ‚Performer:innen‘ einer dem Leben nachempfundenen Handlung und damit zu Repräsentant:innen und Sinnbildern, zu schlechten Beispielen und guten Vorbildern und damit letztlich zu Sympathie- und Antipathieträger:innen zu machen.99 Die Bandbreite der dabei zur Verfügung stehenden Mittel ist groß, unterliegt allerdings der Maxime, einen Verstehensprozess, eine Positionierung oder Emotion bei den Rezipient:innen in Gang zu setzen,100 und ist aufgrund der Performativität des Dramas immer an die Sprache bzw. die Äußerungen der Dramenfiguren geknüpft.101[34]Umgekehrt gehört es zur Rolle und – teilweise unterbewussten – Tätigkeit der Rezipient:innen, die interne Kommunikation, d.h. im Prinzip jede Äußerung jeder Dramenfigur, auf ihr Aussagepotenzial in Hinblick auf solche übergeordneten vermittelnden Strukturen zu prüfen und in Beziehung – auch zu ihrem Vorwissen – zu setzen.102 Im Idealfall werden die Sympathien und Antipathien gegenüber einer Figur während des Rezeptionsvorgangs ständig hinterfragt und aktualisiert, und zwar so, wie der Dichter es intendiert und durch den Gebrauch sympathielenkender Mittel angelegt hat.
Für eine Untersuchung der Sympathielenkung in der griechischen Tragödie bedeutet das: Der Fokus muss ganzheitlich sein, und zwar einerseits in dem Sinn, dass alle sprachlichen und strukturellen Relationen potenziell sympathielenkend sein können, und andererseits in dem Sinn, dass eine dramatische Figur nicht für sich isoliert betrachtet werden kann, da sie immer „durch Kontrast- und Korrespondenzbezüge zu anderen Figuren“103 bestimmt ist. Des Weiteren können durch die Untersuchung natürlich keinerlei Rückschlüsse auf das tatsächliche Ergebnis der Sympathielenkung, die Rezeption des Stücks und sonstige Reaktionen des Primärpublikums gezogen werden.104 Vielmehr müssen die innertextuell greifbaren Rezeptionsvoraussetzungen in den Blick genommen werden:
Dem Text selbst ist nämlich implizit, welche Kenntnisse und Kompetenzen er zu seiner adäquaten Rezeption voraussetzt: er impliziert in seinen Gattungsstrukturen den Horizont literarischer Erwartungen und in seinen thematischen Strukturen den Horizont allgemeiner ideologischer Erwartungen, die er beim intendierten Rezipienten voraussetzt und die von späteren Rezipienten historisch rekonstruiert werden müssen. Seine persuasiven Strategien, darunter auch und vor allem seine Strategien zur Sympathielenkung, berücksichtigen die von ihm veranschlagten Prädispositionen des Rezipienten.105
Pfister stellt hiermit das Konzept eines:einer vom Text implizierten ‚idealen Rezipienten:Rezipientin‘ vor, der:die die vom Dichter gesendeten Zeichen und Codes bestmöglich dekodieren und die intendierten Strategien und Strukturen klar erfassen kann.106 Die historischen oder heutigen ‚realen‘ Rezipient:innen [35]kommen dessen:deren Verständnis- oder Erwartungshorizont im Idealfall möglichst nahe.107 In Pfisters Theorie der Kommunikationssysteme,108 die er weitestgehend von Fieguth übernimmt, entspricht der:die ideale Rezipient:in bzw. der:die implizite Empfänger:in des Werkganzen (E3) auf der Sender:in-Seite dem Subjekt des Werkganzen, d.h. dem:der im Text implizierte:n ‚ideale:n‘ Autor:in (S3).109 Dieses semiotische Niveau (N3) als idealisierte Form des Sendens und Empfangens bildet gemeinsam mit dem Niveau (N1), auf dem die Dramenfiguren dialogisch miteinander kommunizieren, die gesamte textinterne Kommunikation in dramatischen Texten und deren idealisierte Rezeption. Die textexterne ‚reale‘ Rezeption durch Leser:innen oder Theaterzuschauer:innen auf dem Niveau (N4) ist dadurch zwar maßgeblich beeinflusst, aber für die attische Tragödie nicht mehr nachweisbar. Es wird aber deutlich, welcher Ansatzpunkt für eine Untersuchung der Sympathielenkung gewählt werden muss und warum die Theorie – wie zu Beginn des Kapitels angesprochen – am Überlagerungsbereich zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem ansetzt: Die Sympathien der (im äußeren Kommunikationssystem verorteten) Rezipient:innen und deren Lenkung durch die (im inneren Kommunikationssystem veorteten) Mittel des dramatischen Spiels sind systematisch zwar auf verschiedenen Ebenen angesiedelt; die Wirkung der Tragödie beruht jedoch auf der Überlagerung der beiden Ebenen, die jeweils für sich, aber auch in ihrer Verflechtung untersucht werden müssen.
Damit sind bereits einige zentrale Bedingungen und Züge der Theorie bestimmt: Die Sympathielenkung ist ein Teil der Rezeptionslenkung und konzentriert sich auf alle potenziell sympathielenkenden Faktoren im Text, die Sympathie oder Antipathie bzw. Identifikation oder Distanz erzeugen und Figuren damit zu Sympathie- oder Antipathieträger:innen machen können. Dabei liegt die Besonderheit dramatischer Texte im Ausfall eines vermittelnden [36]Kommunikationssystems, der vom Dichter durch die Verlagerung der Sympathielenkung auf die Äußerungen der Dramenfiguren und die grundsätzliche Anlage des Stücks kompensiert wird. Rezipient:innen können die sympathielenkenden Mittel – bewusst oder unterbewusst – mit ihrem Vorwissen, ihren ‚Vor-Urteilen‘ und Erwartungshaltungen vernetzen und ihre Sympathien oder Antipathien für eine Dramenfigur im Idealfall im Verlauf der Rezeption entsprechend der Intention des Dichters aktualisieren und vertiefen. Die folgenden Abschnitte beschäftigen sich nun mit dem eigentlichen Begriff der Sympathielenkung und sollen verschiedene Techniken der Sympathielenkung aufzeigen.
Bei dem Begriff der Sympathielenkung unterscheidet Pfister mit der Darstellungs- (1.) und der Inhaltsebene (2.) zwei Ebenen der Rezeption:
die ästhetische Einstellung des Publikums den fiktiven Figuren und Geschehensabläufen gegenüber, die zwischen den Polen der Identifikation und des Engagements und einer neutralen oder kritischen Distanz variiert, und
die ganzheitliche, gefühlsmäßige, moralisch wertende und intellektuelle Momente integrierende Reaktion des Publikums auf die Dramenfiguren, die sich in ein Spektrum von uneingeschränkter Sympathie bis zu uneingeschränkter Antipathie abstufen lässt.110
Wichtig ist dabei, dass sich die beiden Ebenen gegenseitig bedingen;111 denn je mehr man sich mit einer Figur oder deren Handlungen und Motive identifiziert, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, größere Sympathie für diese Figur zu empfinden. Aber auch umgekehrt gilt: Wenn man Sympathie für jemanden hegt, ist man z.B. eher geneigt, sich für diese Figur zu engagieren und ihr Fehlverhalten zu entschuldigen oder sich von ihrem Leiden berühren zu lassen.112 Das Gleiche gilt natürlich auch für das Verhältnis von Distanz und Antipathie. Auf beiden Rezeptionsebenen gibt es nun verschiedene Techniken zur Gestaltung der Sympathielenkung, die in den beiden folgenden Unterkapiteln vorgestellt werden.
Auf der Ebene des Inhalts, d.h. der dramatisch verarbeiteten Geschichte, kann der Dichter durch seine Strukturierung des Handlungsverlaufs, die Figurenkonzeption und die Figurenkonstellation die ganzheitliche Reaktion der Rezi[37]pient:innen auf die Dramenfiguren und damit auch die Sympathien und Antipathien ihnen gegenüber beeinflussen.113
Zunächst zum Handlungsverlauf: Wie wir bereits gesehen haben, misst schon Aristoteles der ‚Zusammenfügung der Geschehnisse‘ (σύστασις τῶν πραγμάτων),114 d.h. der Handlungskomposition, den höchsten Stellenwert zu, wenn es um das Herbeiführen einer bestimmten Wirkung der Tragödie geht. Für die Sympathielenkung trifft das insofern zu, als das Engagement der Rezipient:innen für oder gegen eine Figur natürlich wesentlich davon abhängt, welche Stationen der Tragödienhandlung eine Figur im Verlauf des Stücks durchläuft – oder durchlaufen muss.115 Wenn Pfister in seiner Definition von einer „gefühlsmäßige[n], moralisch wertende[n] und intellektuelle Momente integrierende[n] Reaktion des Publikums auf die Dramenfiguren“116 spricht, wird die ganze Bandbreite der möglichen Gestaltungen des Handlungsverlaufs deutlich, um eine Figur sympathisch oder antipathisch zu zeichnen. Hierzu ein paar Beispiele: Der Dichter kann eine Figur leiden lassen und damit auf eine gefühlsmäßige Reaktion pochen; er kann sie moralisch verwerfliche Entscheidungen treffen lassen und damit das Moralbewusstsein der Rezipient:innen ansprechen; oder er kann sie mit scharfen Argumenten auftreten lassen, um den Intellekt der Rezipient:innen zu bedienen. Die Möglichkeiten, den Handlungsverlauf und dadurch auch die Sympathielenkung in der Tragödie zu gestalten, sind in jedem Fall reichhaltig. Darüber hinaus lassen sie sich natürlich auch mit den verschiedenen anderen Techniken der Sympathielenkung kombinieren, um noch mehr Schattierungen und Abstufungen in Bezug auf eine oder mehrere Figuren zu schaffen.
Eine weitere dieser Techniken ist die Figurenkonzeption, mit der Pfister „das anthropologische Modell, das der dramatischen Figur zugrunde liegt, und die Konventionen seiner Fiktionalisierung“117 bezeichnet. Er fasst darunter im Wesentlichen drei Dimensionen: erstens die statische vs. dynamische, zweitens die ein- vs. mehrdimensionale und drittens die geschlossene vs. offene Figurenkonzeption.118 So entwickelt sich eine statisch konzipierte Figur im Verlauf der Handlung weniger, und vor allem weniger sprunghaft, als eine dynamisch konzipierte Figur – ihr kohärentes Bild wird gewissermaßen nur vervollständigt.119 Damit kann der Dichter einen Teil der Tragik an seine Konzeption [38]der Protagonist:innen knüpfen, indem er eine Figur z.B. aufgrund ihrer allzu starren und unflexiblen Haltung oder gerade aufgrund ihrer sprunghaften und inkonsequenten Haltung scheitern lässt. Diese Konzeption kann darüber hinaus dadurch ergänzt werden, dass die Figuren durch einen kleinen und homogenen oder aber durch einen komplexen und facettenreichen Satz an Eigenschaften und Merkmalen definiert werden, d.h. ob sie ein- oder mehrdimensional konzipiert sind.120 Schließlich kann der Dichter seine Figurenkonzeption noch geschlossen oder offen gestalten, indem er das Informationsbild über eine Figur mehr oder weniger vollständig gestaltet.121 Eine offene Figurenkonzeption zeichnet sich demnach dadurch aus, dass die Figur insgesamt enigmatisch oder hinsichtlich ihrer Haltungen und Motive schwer verständlich bleibt, weil die Informationen über sie unvollständig oder scheinbar widersprüchlich sind. Bei einer geschlossenen Figurenkonzeption ist die Figur durch einen explizit (oder implizit) vermittelten Satz an relevanten Informationen vollständig definiert und in der Regel frei von Widersprüchen.122
Eng mit diesen Abstufungsmöglichkeiten bei der Figurenkonzeption hängt die Figurencharakterisierung zusammen. Dabei gibt es verschiedene explizite und implizite Techniken, die im Hinblick auf die attische Tragödie nicht in Gänze vorgestellt werden müssen.123 Zentral sind die Eigen- und Fremdkommentare der Dramenfiguren: „Im Eigenkommentar […] formuliert eine Figur explizit ihr Selbstverständnis, und im Fremdkommentar wird eine Figur explizit durch eine andere charakterisiert.“124 In den meisten Fällen decken sich die Eigen- und Fremdkommentare nur teilweise oder gar nicht, da sie an die subjektive Perspektive der jeweiligen Figur gebunden sind.125 Die Charakterisierung kann dann von sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, psychischen und emotionalen Verfassungen oder persönlichen Beziehungen der charakterisier[39]ten bzw. charakterisierenden Figur geprägt sein; und in diesem möglichen Spannungsfeld positioniert sich der:die Rezipient:in. Für den Dichter ergeben sich somit viele Möglichkeiten der Gestaltung und Konturierung und somit auch vielfältige Ansatzpunkte für die Sympathielenkung.
Letztlich hängt das Engagement der Rezipient:innen für oder gegen eine Figur auf einer ganz basalen Ebene davon ab, ob eine Figur überhaupt konturiert genug ist, um sich in einer nicht neutral-gleichgültigen Weise zu ihr positionieren zu können. Abgesehen von dieser elementaren Prämisse für eine Entwicklung von Sympathie oder Antipathie „wirkt eine Figurenkonzeption identifikations- und sympathiefördernd, die nicht zu weit über das Maß des allgemein Menschlichen hinausschießt und sich nicht in einem Gigantismus absoluter Positivität oder absoluter Negativität versteigt.“126 Was Pfister hier anspricht, ist im Prinzip nichts anderes, als die Idee, dass Figuren, mit denen man sich aufgrund ähnlicher oder zumindest nachvollziehbarer Gefühle, Haltungen, Wünsche o.ä. identifizieren kann, für die Rezipient:innen ‚nahbarer‘ sind und damit sympathisch werden können. Es gehört nämlich zu einer gängigen Konvention in Bezug auf den Rezeptionsvorgang, dass sich die Rezipient:innen in die Figuren des Stücks – vor allem natürlich in die Protagonist:innen – hineinversetzen bzw. hineinversetzen wollen, um sie und die Tragödie im Ganzen verstehen zu können.127
Es ist an dieser Stelle auch methodisch bedeutsam, Pfisters Verweis auf Kapitel 13 der aristotelischen Poetik128 noch einmal aufzugreifen: Aristoteles beschreibt hier, dass die Komposition der Tragödienhandlung (σύστασις τῶν πραγμάτων) dann am besten gelingt und ihre Wirkung entfalten kann, wenn Charaktere eingebunden werden, die dem ‚normalen‘ Theaterbesucher charakterlich ähnlich (ὅμοιος) sind. Handlungskompositionen, in denen vollkommen integre oder aber vollkommen schlechte Menschen in einen unglücklichen oder einen glücklichen Zustand kommen, sind für Aristoteles dagegen entweder nicht menschenfreundlich (οὔτε γὰρ φιλάνθρωπον) oder untragisch (ἀτραγῳδότατον) oder würden nicht die gewünschte Wirkung (ἔλεος und φόβος) bei [40]den Rezipient:innen hervorrufen.129 Dass Aristoteles an dieser Stelle also eine dramentheoretische Verknüpfung zwischen der Figurencharakterisierung und ihrer außerdramatischen Wirkung auf die Rezipient:innen darstellt, zeigt, dass die Kategorie der Sympathielenkung bereits in Konzepten der antiken Dramenanalyse angelegt und somit auch epistemologisch anschlussfähig ist.
Die dritte Möglichkeit, sympathielenkende Mittel auf der Inhaltsebene einzusetzen, ist die Gestaltung der Figurenkonstellation: Dabei hängt die Bewertung einer Figur weniger von ihr allein, als vielmehr von ihrer Stellung innerhalb des Beziehungsgeflechts im Drama und dem Vergleich mit anderen Figuren ab. Der Fokus liegt also eher auf den „Charaktereigenschaften, Wertvorstellungen und Handlungsmotivationen […], die mit denen anderer Figuren korrespondieren oder kontrastieren.“130 Hinsichtlich der Bewertung einer Figur macht es nämlich einen bedeutenden Unterschied, ob eine Figur nur für sich oder vor dem Hintergrund der anderen dargestellten Figuren betrachtet wird; die Kontrastierung trägt zu einer Schärfung des Urteils bei. Erleichtert wird diese Kontrastierung bisweilen auch noch dadurch, dass die Dramenfiguren schon selbst sympathetisch oder antipathetisch aufeinander reagieren.131
Etwas schwieriger ist dagegen eine Beurteilung der Wertvorstellungen einer Figur: Zunächst einmal muss man sich davor verwahren, Kriterien anzulegen, die dem zugrundeliegenden Wertesystem in der ‚Textwelt‘ nicht entsprechen.132 Es lassen sich aber die „im Text implizierten historischen Wert- und Verhaltensnormen“133 herausarbeiten und mit jenen der Dramenfiguren vergleichen, um Kontraste und Abstufungen zu erkennen und Sympathien entsprechend zu aktualisieren. Wichtige Grundzüge dieser Wert- und Verhaltensnormen, die sich nach Hose in der Tragödie wie in der Epitaphientopik in ganz ähnlicher Weise zeigen und damit eine gewisse Gültigkeit in Bezug auf das attische Selbstverständnis beanspruchen können, sind die Tyrannenfeindlichkeit, die Ehrfurcht vor der Götterwelt und heiligen Rechten sowie das Eintreten für [41]Gerechtigkeit und die Hilfeleistung für ungerecht Behandelte.134 Diese Werte bilden für die vorliegende Untersuchung einen zentralen Referenzpunkt.
Zur Gestaltung der Figurenkonstellation gehört aber insbesondere auch die Adaption früherer Fassungen des Mythos bzw. der behandelten Themen. Der Dichter kann seine Sympathielenkung dabei durch mehr oder weniger subtile Anspielungen, Innovationen oder Umgestaltungen der Geschichte oder Dramenfiguren gestalten.135 Eindrucksvolle Beispiele im Bereich des Atridenmythos finden sich vor allem bei den Frauenfiguren Klytaimestra und Elektra. So ist z.B. Klytaimestras Rolle bei der Ermordung Agamemnons in der homerischenOdyssee aufgrund widersprüchlicher Aussagen, v. a. durch Agamemnons aufgebrachte Totenseele, noch nicht eindeutig zu fassen.136 Spätestens137 bei Aischylos wird sie jedoch als alleinige Mörderin ihres Mannes präsentiert.138 Die Figur der Elektra ist bei Homer noch gar nicht belegt und in der Literatur vor Aischylos überhaupt nur vereinzelt greifbar.139 Im zweiten Stück der Orestie, den Choephoren, hat sie dann aber neben Orestes eine zentrale Rolle inne und diente damit offensichtlich als Anregung für die spätere Konzeption der Elektra-Figuren bei Sophokles und Euripides.140
Die Gestaltungsmöglichkeiten der Sympathielenkung auf der Inhaltsebene sind also überaus vielfältig: Von der Wahl des Mythos über den Handlungsverlauf und die Zeichnung der Charaktere bis hin zur Figurenkonstellation im Stück, auch vor dem Hintergrund früherer Fassungen, bietet sich dem Dichter ein reicher Fundus an sympathielenkenden Mitteln, die dazu auch noch untereinander oder mit den nun folgenden Techniken auf der Darstellungsebene kombiniert werden können.
Auf der Ebene der Darstellung der Geschichte bieten sich mit der Aufmerksamkeitssteuerung, der Informationsvergabe und der Perspektivierung eher kompositorische Aspekte an, über die der Dichter die ästhetische Einstellung der Rezipient:innen und ihr Engagement gegenüber Figuren und Handlungen lenken kann.141 Durch die Aufmerksamkeitssteuerung kann der Dichter eine Figur stärker in den Vordergrund rücken oder in den Hintergrund treten lassen und den Fokus der Rezeption damit gezielt auf sie oder von ihr weg lenken. So wird eine Figur, die mit überdurchschnittlich viel Bühnenpräsenz vor dem Publikum oder dem geistigen Auge der Leser:innen ausgestattet ist, tendenziell mehr Rezeptionsvorgänge in Gang setzen können als eine Figur, die tatsächlich oder gedanklich weniger präsent ist. Damit allein ist natürlich nicht gewährleistet, dass die Figur positiv wahrgenommen wird; das Urteil über sie wird aber in der Regel ‚empirischer‘ begründbar sein.
Neben der quantitativen Bühnenpräsenz spielt aber auch die Qualität der Sprache, der Redeanteile oder der Überzeugungskraft einer Figur eine wichtige Rolle.142 An dieser Stelle zeigt sich erneut der enge Zusammenhang zwischen den verschiedenen Techniken der Sympathielenkung: Die Gestaltung und Qualität der einzelnen Äußerungen kann sich nämlich, wie auf der Inhaltsebene zu sehen war, auch auf die Figurenkonzeption oder die Figurenkonstellation gründen. Es ist also das Zusammenspiel der verschiedenen Strategien der Sympathielenkung, das idealerweise einen kohärenten Gesamteindruck über die jeweilige Figur leistet; und dort, wo dieser Gesamteindruck weniger schlüssig wirkt, erscheint es sinnvoll, nach den – vom Dichter wahrscheinlich ganz bewusst eingesetzten – Ursachen zu fragen.
Einen wichtigen Beitrag zu diesem Gesamteindruck über eine Figur leisten auch die sympathielenkenden Aspekte der Informationsvergabe, „durch die das Wissen der Zuschauer über die Figuren und der Informationsstand der Figuren selbst festgelegt wird.“143 Wenden wir uns zunächst Ersterem zu – der Informierung und dem Wissen der Rezipient:innen über die Figuren. Der Dichter kann dabei ganz bewusst entscheiden, in welcher Reihenfolge er den Rezipient:innen positive oder negative Informationen über eine Figur vermittelt,144 um das Engagement gegenüber dieser Figur zu steigern oder abzumildern. So können überraschende Wendungen oder Umschläge bei der [43]Informationsvergabe zu einer ungleich stärkeren Emotion in Bezug auf das Verhalten oder den Charakter der Figur führen.
In diesem Zusammenhang bietet es sich an, kurz auf die Perspektivierung als dritte Technik der Sympathielenkung auf der Darstellungsebene einzugehen; denn im Rahmen der Informationsvergabe spielen natürlich auch die durch andere Figuren vermittelten Informationen und Charakterisierungen in Bezug auf eine Figur eine zentrale Rolle. Die Tendenz bei dieser sog. Außenschau