System WfbM - Thomas Stracke - E-Book

System WfbM E-Book

Thomas Stracke

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Beschreibung

Inmitten eines reichen Landes wie Deutschland existiert ein System, das viele kaum kennen: Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Diese Einrichtungen sollen Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen, doch oft werden Menschen mit Behinderung dort isoliert, schlecht bezahlt und rechtlich kaum geschützt. Sie erhalten 1,40 € pro Stunde, ohne Mindestlohn, ohne Arbeitnehmerrechte. Dieses Buch wirft einen kritischen Blick auf die Realität in den WfbMs. Es erzählt vom Alltag, von den Problemen im System und vor allem von Petra, einer qualifizierten Erzieherin, die nach einem Trauma psychisch erkrankte und in einer WfbM landete. Ihre Geschichte zeigt auf, wie schnell man in Strukturen gerät, die wenig mit echter Inklusion zu tun haben. Der Autor Thomas Stracke ein Erzieher, Künstler und Kritiker, stellt unbequeme Fragen: Warum duldet der Staat diese Zustände? Warum gelten hier keine normalen Arbeitsrechte? Und wie können wir das ändern? Mit persönlicher Erfahrung, Fachwissen und Mut zur Wahrheit beleuchtet er Themen wie Aufhebungsverträge, Erwerbsminderungsrente, das Arbeitsrecht in WfbMs und die Rolle kirchlicher Träger. In einfacher Sprache geschrieben, richtet sich das Buch an Betroffene, Angehörige, Fachkräfte, Politiker:innen und alle, die für mehr Gerechtigkeit eintreten. „System Werkstatt – Ausgegliedert, ausgebeutet und ausgegrenzt“ ist ein aufrüttelndes Buch, das Missstände sichtbar macht und zur Veränderung aufruft.

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EPUB

Seitenzahl: 228

Veröffentlichungsjahr: 2025

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THOMASSTRACKE
SYSTEMWFBM
WIEBEHINDERTISTDIE
BEHINDERTENHILFE?
THOMASSTRACKE
SYSTEMWFBM
WIE BEHINDERT IST DIE
BEHINDERTENHILFE?
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich ge-schützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwer-tung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Verviel-fältigung, die Übersetzung, die Verbreitung und die öffentliche Zugänglichmachung des Werkes.
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-384-78115-4 Softcover
ISBN 978-3-384-78116-1 Hardcover
ISBN 978-3-384-78117-8 E-Book
Auflage Dezember 2025
© 2025 Stracke
Website: www.thomasstreh.com
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Thomas Stracke, Berliner Platz 1, 78048 Villin-gen-Schwenningen, Germany .
Autor: Thomas Stracke Illustration: Thomas Stracke
Umschlaggestaltung: Thomas Stracke
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg,
Deutschland
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Stelldirvor:
Du gehst an einem Wintermorgen durch die Fußgängerzone. Glatteis. Du rutschst aus, schlägstmitdemHinterkopfaufdasPflas-ter. Im Krankenhaus lautet die Diagnose: in-trakranielleBlutungen,Schädelfraktur.
Ab diesem Moment bist du nicht mehr der-selbe Mensch:
Nicht mehr sportlich, nicht mehr leistungsfä-hig, nicht mehr „funktionierend“. Deine kog-nitiven Fähigkeiten sind stark eingeschränkt. DuverlierstdeinenJob.DeineFreundezie-hen sich zurück. Fremde starren dich an,wenn du draußen unterwegs bist. Und statt Mitgefühl hörst du nur noch abfällige Sprü-che.
Wiewürdestdudichfühlen?
Ja,ichfühlemichwohl.
Nein,ichfühlemichnichtwohl.
Ist mir egal. Mir passiert so etwas nicht.SolcheUnfällegibtesnicht.
Stelldirvor:
Du sitzt in einem Vorstellungsgespräch, als CNC-Fräser.DerChefschautdichanund sagt: „Du bekommst 1,40 Euro pro Stunde.“
WürdestdufürdiesenLohnarbeiten?
Wahrscheinlich nicht. Denn wer würde das schon tun?
Unddoch:InDeutschlandarbeitenMen-schen genau für diesen Stundenlohn,jeden Tag. Menschen mit Behinderung, in Werkstät-ten für behinderte Menschen (WfbM). Weil der Staat es zulässt. Für sie gilt kein Min-destlohn. Kein Kündigungsschutz. Keine ta-riflicheAbsicherung.KeineGleichstellung.
Für manche Unternehmen ist das ein Ge-schäftsmodell.FürdieBetroffenen:einLe-ben in Abhängigkeit.
INHALT
Vorwort​11
Ich lebe immer noch in einer Demokratie - Ich lasse mich nicht einschüchtern              14
Über den Autor​17
Was heißt Behinderung?​19
Ursachen von Behinderungen
Von Unfall bis Krankheit​30
Vom Alltag mit Behinderung​40
Was sind WfbM?
Geschichte und Zweck​48
Wie WfbM organisiert sind Struktur & Finanzierung​63
Wer arbeitet in WfbM
Zielgruppe & Realität​72
Arbeitsalltag in der WfbM
Werkstattund Förderbereiche​80
Werkstattentgelt–
Was heißt das überhaupt?​90
Die Auswirkungen des geringen Entgelts –
Armut trotz Arbeit​101
Alternativen zur WfbM–
Neue Wege für Arbeit und Teilhabe109
Warum viele WfbM isolierend wirken​118
Die Rolle der Fachkräfte​128
Rechtliche Grundlagen – Sozialgesetzgebung einfach erklärt              137
Arbeits- und Vertragsrecht in der WfbM – Werkvertrag oder Arbeitsvertrag?              145
Aufhebungsverträge in der WfbM – Gefahren für Betroffene              153
Gefahr der Altersarmut –
Wenn Werkstattentgelt nicht reicht​161
Alternative Wege –
Inklusive Arbeit und Teilhabe​169
Wie Angehörige und Gesellschaft unterstützen können​177
Petras Hölle in einer WfbM
im Schwarzwald-Baar-Kreis184
Möglichkeiten zur Reform –
Was sollte sich ändern?​204
Selbsthilfe, Rechte, Netzwerke​211
Zukunft der Behindertenhilfe
und WfbM in Deutschland​217
Meine Facharbeit​224
Verzeichnis Geistiger Behinderungen​334
Verzeichnis Psychische Erkrankungen​340
Verzeichnis Körperbehinderungen​344
Schlusswort​347
„Inhumanität beginnt im Den-ken. Und sie setzt sich fort, bevor und auch während
sie zur mörderischen Aktion wird, in einer verschleiernden, diskriminierenden oder verlogenen Sprache.“
(Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Gedenkrede)
VORWORT
Dieses Buch entstand aus jahrelanger praktischer Er-fahrung in der Behindertenhilfe und aus der tiefen Überzeugung, dass Menschen mit Behinderung mehr verdienen, mehr Anerkennung, mehr Mitbestimmung, mehr Teilhabe und mehr Rechte. Wer mit Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) zu tun hat, weiß: Die Realität in diesen Einrichtungen ist komplex. Sie bieten Sicherheit und Tagesstruktur, aber sie schaffen auch Abhängigkeiten und grenzen aus. Dieses Spannungs-feld näher zu beleuchten war der Ausgangspunkt für dieses Buch.
Es richtet sich an alle, die in diesem Bereich tätig sind oder sich aus persönlichem Interesse mit dem Thema beschäftigen: an Betroffene, Angehörige, Fachkräfte, Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung sowie an die interessierte Öffentlichkeit. Das Buch verfolgt einen doppelten Anspruch: Es will informieren und zugleich wachrütteln.
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Es will bestehende Strukturen verständlich erklären und gleichzeitig zeigen, wo diese Strukturen reform-bedürftig sind.
Die Texte sind in einfacher Sprache gehalten, um mög-lichst vielen Menschen den Zugang zu erleichtern.
Fachbegriffe werden erklärt, rechtliche Rahmenbe-dingungen übersetzt und komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar dargestellt. Diese Form ist bewusst ge-wählt, denn Inklusion beginnt bei der Sprache.
Ein zentrales Anliegen war mir, den betroffenen Men-schen selbst eine Stimme zu geben. In der exemplari-schen Geschichte von Petra, einer psychisch beeinträch-tigten Frau mit beeindruckender beruflicher Laufbahn und großer inneren Widerstandskraft, wird deutlich, wie schnell aus Unterstützung eine Sackgasse werden kann. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall, sie steht für viele stille Biografien, die kaum gehört werden.
Darüber hinaus fließt in dieses Buch auch eine Fach-arbeit ein, die ich in meiner Ausbildung geschrieben habe. Sie analysiert auf Grundlage realer Erfahrungen das System WfbM aus fachlicher Sicht und verbindet Praxiswissen mit kritischer Reflexion. Was soll sich än-dern? Diese Frage zieht sich durch alle Kapitel. Undes wird klar: Es braucht mutige Reformen.Es braucht eine inklusive Arbeitswelt, die Menschen mit
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Behinderung nicht als „Sonderfall“ betrachtet, son-dern als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft. Es braucht Strukturen, die nicht einsperren, sondern Pers-pektiven eröffnen. Es braucht ein Umdenken in Werk-stätten, in der Politik und in den Köpfen.
Dieses Buch will ein Beitrag sein. Es will Hintergründe liefern, Orientierung geben und zum Dialog anregen. Es will die Türen öffnen für Gespräche, für gemeinsa-me Lösungen, für neue Wege.
Ich danke allen Menschen mit Behinderung, die mich mit ihrer Offenheit, ihrem Vertrauen und ihrer Stärke geprägt haben. Ohne sie wäre dieses Buch nicht mög-lich gewesen.
Thomas Stracke
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ICH LEBE IMMER NOCH IN EINER DEMOKRATIE
ICH LASSE MICH NICHT EIN-SCHÜCHTERN
Ichbineinmoderner,staatlichanerkannterArbeits-erzieher.MeineAusbildungabsolvierteichzwischen 2019 und 2022, motiviert, Menschen mit Behinderung bei ihrer beruflichen Teilhabe zu begleiten und zu för-dern. Doch was ich nach meiner Ausbildung in den ers-ten Jahren im Beruf erlebt habe, hat mich erschüttert. DieRealitätvielerWerkstättenfürbehinderteMen-schen(WfbM)entsprichtinkeinerWeisedemIdeal-bild, das in Leitbildern oder Hochglanzbroschüren ge-zeichnet wird. Besonders tief traf mich die Erfahrung bei einer Besichtigung einer WfbM am Bodensee.
Dort musste ich mitansehen, wie Beschäftigte unter massivem Zeitdruck Materialien für ein bekanntes Unternehmen verpackten. Die Szene wirkte nicht wie ein geschützter Raum zur Teilhabe, sondern wie eine ausgegliederte Produktionshalle mit Zwangsstruktur. Diese Menschen wurden von Angestellten regelrecht
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angetrieben. Ich war fassungslos. Ich hatte in meinem Leben viele einfache Tätigkeiten übernommen, doch ich wurde dafür fair entlohnt. Diese Menschen jedoch er-hielten dafür lediglich 1,40 Euro pro Stunde, ein Betrag, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch menschlich eine Herabwürdigung darstellt.
Diese Erlebnisse haben mich geprägt. Ich bin ein Kriti-ker dieses Systems geworden, nicht weil ich pauschal verurteile, sondern weil ich hinschaue und nicht mehr schweigen kann. Natürlich ist mir bewusst, dass ich mit meiner Haltung an vielen Stellen, vor allem christ-liche, anecke. Dass ich als Nestbeschmutzer gelte. Be-sonders in Einrichtungen christlicher Trägerschaften wird Kritik oft als Angriff verstanden, nicht als Anstoß zur Reflexion.
Doch ich nehme das in Kauf. Ich schreibe dieses Buch, weil ich nicht mehr wegschauen will. Weil ich nicht bereit bin, Teil eines Systems zu sein, das Ausbeutung mit Fürsorge etikettiert. Mir ist bewusst, dass ich mich damit angreifbar mache, aber noch größer ist meine Verantwortung gegenüber denjenigen, die selbst keine Stimme haben oder sich nicht trauen, sie zu erheben.
In Deutschland mussten Kritiker des Werkstattsystems bereits ins Ausland gehen, weil sie bedroht,
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ausgegrenzt oder systematisch fertig gemacht wurden. Ich hoffe, dass wir einen anderen Weg gehen können: einen Weg der offenen Diskussion, der Menschlichkeit und der echten Teilhabe.
Deshalb schreibe ich! Für GerechtiGkeit! Für VeränderunG!
FürdieMenschenindenWerkstätten!
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ÜBER DEN AUTOR
Thomas Stracke ist ein Mann mit vielen Gesichtern und allen gemeinsam ist das tiefe Engagement für Men-schen, Kreativität und gesellschaftliche Entwicklung. Als Erzieher formt er die nächste Generation mit Herz und Verstand, als Kabarettist hält er seiner Umwelt den Spiegel vor, pointiert, charmant und stets mit einer Pri-se feinem Humor. Als Musiker und DJ bringt er Men-schen zum Tanzen, zum Fühlen und zum Innehalten. Und als Autor gibt er all dem eine Stimme, eine, die nachhallt.
Im Herzen des Schwarzwalds beheimatet, lebt und ar-beitet der 55-Jährige mit einer Energie, die ansteckt. Er ist Pädagoge, Künstler, Beobachter und Macher. Sein Alltag ist ein Eintopf der Absurditäten, gespickt mit Begegnungen, Herausforderungen und Momenten der tiefen Menschlichkeit. Tagsüber pädagogischer Anker für junge Menschen, abends kreativer Geist, der mit Beats, Worten und Gedankenwelten inspiriert.
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Dabei ist sein Lebensweg alles andere als geradlinig. Nach zwei Schlaganfällen im Januar 2024, ohne ad-äquate Erste Hilfe durch Arbeitskolleginnen, kämpfte sich Thomas mit unerschütterlichem Willen zurück ins Leben. Sein Comeback war kein leiser Schritt, sondern ein entschlossener Tanz ins Licht. Mit der Standfestig-keit eines alten Schwarzwaldbaumes steht er wieder auf der Bühne, am DJ-Pult, im Klassenraum, und mit-ten im Leben.
„Kreativität stößt oft auf Kritik, bevor sie auf Anerkennung trifft. Doch wahre Innovation erkennt man daran, dass sie zuerst belächelt, dann bekämpft und schließlich bewundert wird.“
Dieser Leitsatz durchzieht sein Wirken. In seinen Tex-ten geht es immer um das große Ganze: Leben, Lachen, Lieben, Lernen und vielleicht auch ein kleines Stück Weltverbesserung.
Thomas Stracke schafft Momente, die bleiben. Ob in der Schule, auf der Bühne, in Büchern oder in der Mu-sik, seine Mission ist klar: berühren, bewegen, befreien.
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WASHEISST
BEHINDERUNG?
Was bedeutet es eigentlich, behindert zu sein? Diese Frage klingt einfach, ist aber bei genauerem Hinsehen sehr komplex. Denn es gibt nicht „die“ eine Behinde-rung, es gibt viele verschiedene Formen, Ursachen und Auswirkungen. Und vor allem: Es gibt viele Missver-ständnisse in der Gesellschaft darüber, was Behinde-rung überhaupt ist.
In der gesetzlichen Definition spricht man von einer Behinderung, wenn jemand körperlich, geistig, seelisch oder mehrfach beeinträchtigt ist und dadurch über ei-nen längeren Zeitraum an der gleichberechtigten Teil-habe an der Gesellschaft gehindert wird. Doch hinter dieser nüchternen Definition stehen echte Menschen mit Biografien, Träumen, Fähigkeiten und Bedürfnis-sen.
Nicht jede Beeinträchtigung ist sofort sichtbar. Manche Menschen haben eine sichtbare körperliche Nicht jede Beeinträchtigung ist sofort sichtbar. Manche Menschen
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haben eine sichtbare körperliche Einschränkung, zum Beispiel durch einen Unfall, eine angeborene Krankheit oder durch Alterserscheinungen.
AnderelebenmitunsichtbarenBehinderungen,wie psychischenErkrankungen,chronischenSchmerzen oderkognitivenEinschränkungen.Siewerdenim Alltag oft übersehen, was es für die Betroffenen noch schwerer macht, anerkannt und verstanden zu werden. Ein Beispiel: Eine Person mit einer schweren Depres-siongiltimrechtlichenSinnalspsychischbehindert, wenn sie langfristig nicht mehr in der Lage ist, einer re-gulären Arbeit nachzugehen oder am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilzunehmen. Ebenso kann ein RollstuhlfahrereinekörperlicheBehinderunghaben, die ihn daran hindert, ohne Barrieren seinen Arbeits-platzzuerreichenoderöffentlicheVerkehrsmittelzu nutzen. Beide Fälle zeigen: Die Umwelt und die gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen entscheiden oft mit, ob eine Beeinträchtigung auch zur Behinderung wird. HierkommtderBegriffder„sozialenBehinderung“ ins Spiel. Er besagt, dass es weniger die Einschränkung selbstist,diebehindert,sonderndieArtundWeise, wieGesellschaft,Architektur,ArbeitsweltundMit-menschenaufdieseEinschränkungreagieren.Eine Stufe vor einem Gebäude, das keinen Aufzug hat,
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kann zur Barriere werden. Genauso kann Unwissen-heit oder Ablehnung im sozialen Umfeld dazu führen, dass jemand ausgeschlossen wird.
Menschen mit Behinderungen erleben häufig genau diese strukturellen Barrieren. Und genau deshalb brau-chen sie nicht nur medizinische Hilfe oder Therapie, sondern vor allem gesellschaftliche Unterstützung: barrierefreie Zugänge, inklusive Bildung, faire Arbeits-bedingungen und rechtliche Absicherung. Denn Behin-derung ist kein individuelles Problem, sie ist ein gesell-schaftliches Thema.
Das Verständnis von Behinderung hat sich in den letz-ten Jahrzehnten stark gewandelt. Früher galt eine Be-hinderung oft als individuelles Schicksal, etwas, das man „hat“ und mit dem man allein zurechtkommen muss. Heute, vor allem durch die UN-Behinderten-rechtskonvention, steht der Gedanke im Vordergrund, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Teilha-be, Selbstbestimmung und Würde haben. Die Gesell-schaft ist verpflichtet, Barrieren abzubauen, nicht der Einzelne, sie zu „überwinden“. Das ist ein grundlegen-der Perspektivwechsel.
Dieser Wechsel betrifft nicht nur die Sichtweise auf Be-hinderung, sondern auch ganz praktische Dinge:
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Zum Beispiel den Zugang zu Arbeit, Bildung, Gesund-heitsversorgung, Wohnen oder Freizeit. Es geht umdie Frage: Können alle Menschen diese Lebensbereiche gleichermaßen nutzen, oder gibt es Hürden, die sie da-von abhalten?
In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt rund 8 Millionen Menschen mit anerkannter Schwer-behinderung. Hinzu kommen viele weitere, deren Einschränkungen nicht offiziell anerkannt sind, etwa wegen psychischer Erkrankungen, nicht sichtbarer chronischer Leiden oder sozialer Stigmatisierung. Die Dunkelziffer ist hoch. Und genau deshalb ist es so wichtig, über dieses Thema zu sprechen, offen, ehrlich und sachlich.
Behinderung bedeutet, dass ein Mensch durch körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigungen im Alltag auf Bar-rieren stößt, nicht weil er weniger kann, sondern weil die Umwelt oft nicht passend gestaltet ist.
Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Es gibt kör-perliche, geistige, seelische und sogenannte „komple-xe“ Beeinträchtigungen. Eine Person mit Autismus
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hat ganz andere Bedürfnisse als jemand mit Multipler Sklerose. Eine blinde Person erlebt andere Herausfor-derungen als eine Person mit bipolarer Störung. Diese Vielfalt zeigt: Man kann nicht von „den Behinderten“ sprechen, so wie man auch nicht von „den Frauen“ oder „den Migranten“ sprechen sollte. Jeder Mensch ist individuell. Das System jedoch, ob Politik, Sozial-system oder Öffentlichkeit, behandelt Menschen oft als Gruppe, nicht als Individuen. Das führt zu vielen Miss-verständnissen und Fehlentscheidungen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Ursachen von Behinderung sind sehr unterschiedlich. Einige Menschen kommen mit ei-ner Behinderung auf die Welt, zum Beispiel mit Down-Syndrom oder Spina bifida. Andere erleiden durch einen Unfall oder eine schwere Erkrankung eine dauer-hafte Beeinträchtigung. Wieder andere entwickeln im Laufe ihres Lebens, manchmal erst im Erwachsenen-alter, eine psychische Erkrankung, die sie einschränkt. Jeder Weg ist anders. Aber alle Betroffenen haben das gleiche Recht auf Unterstützung, Teilhabe und Respekt. Viele Menschen wissen nicht, dass eine psychische Er-krankung wie eine Depression oder Angststörung auch als Behinderung gelten kann, wenn sie langfristig an-hält und die Lebensführung stark beeinträchtigt.
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Genau deshalb ist es wichtig, auch über diese „unsicht-baren“ Behinderungen zu sprechen. Denn nur dann kann Verständnis entstehen und echte Inklusion be-ginnen. Im Alltag zeigen sich Barrieren oft dort, wo sie niemand erwartet: Ein Aufzug, der nur mit Schlüssel nutzbar ist. Eine Schule, die keine Sonderpädagog:in-nen einsetzt. Ein Arbeitgeber, der sich unsicher fühlt, ob eine Person mit Behinderung „ins Team passt“. Ge-nau hier setzt inklusive Arbeit an und genau hier be-ginnt gesellschaftlicher Wandel.
Die Haltung der Gesellschaft entscheidet maßgeblich darüber, wie Behinderung wahrgenommen wird. In-klusion bedeutet nicht nur, Menschen mit Behinderung
„mitzunehmen“, sondern Räume so zu gestalten, dass alle von Anfang an dazugehören. Nicht als Ausnahme, nicht als Geste der Toleranz, sondern als selbstver-ständlich.
Doch oft ist das Gegenteil der Fall. Menschen mit Be-hinderung erleben Ausgrenzung. Nicht immer offen, aber häufig subtil: durch Mitleid, durch Ignoranz oder durch Überforderung ihres Umfelds. Viele Betroffene erzählen von Blicken, Kommentaren oder Entschei-dungen über ihre Köpfe hinweg. Die Diagnose wird oft zur Etikettierung, nicht zur Hilfestellung.
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Dabei gibt es heute viele rechtliche Grundlagen, die Teilhabe sichern sollen: Das Bundesteilhabegesetz (BTHG), die UN-Behindertenrechtskonvention, das Sozialgesetzbuch IX. Diese Regelungen schreiben fest: Menschen mit Behinderung haben das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe, auf Mitbestim-mung. Doch Papier ist geduldig und die Umsetzung in der Praxis hinkt hier in Deutschland häufig hinterher. Das betrifft vor allem jene, deren Behinderung nicht sichtbar ist. Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer Angststörung oder bipolaren Erkrankung stoßen oft auf Unverständnis, selbst bei Fachkräften. Ihre Lebensrealität ist schwer zu erfassen, ihre Einschränkungen werden unterschätzt. Das kann zur erneuten Traumatisierung führen und verhindert oft die nötige Unterstützung.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Behinderung als Wechselwirkung zwischen gesund-heitlichen Problemen einer Person und den Barrieren, die in ihrer Umwelt bestehen. Damit wird klar: Die Ver-antwortung liegt nicht nur bei der betroffenen Person, sondern auch bei ihrer Umgebung. Diese Perspektive verändert alles.
Ein zentraler Gedanke ist: Behinderung entsteht auch
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durch gesellschaftliches Versagen. Wenn Gebäude nicht barrierefrei sind, wenn Bildungssysteme nicht fle-xibel auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen, wenn Arbeitgeber Menschen mit Einschränkungen meiden, dann wird eine Beeinträchtigung zur Behinderung ge-macht.
Das betrifft nicht nur bauliche oder technische Aspekte. Es betrifft vor allem die Haltung: Wie sehen wir Men-schen mit Behinderung? Als Problem? Als Last? Oder als Teil unserer Gemeinschaft, mit eigenen Talenten, Perspektiven und einem Recht auf volle Teilhabe?
Hier ist besonders der Blick auf das Bildungssystem entscheidend. Inklusion beginnt in der Kita, in der Grundschule, in der Berufsausbildung. Wenn Kinder mit und ohne Behinderung von Anfang an gemeinsam lernen, entsteht Verständnis, Normalität und gegen-seitiger Respekt. Wo dies nicht geschieht, bleiben Vor-urteile bestehen, oft ein Leben lang.
Auch die Medien haben eine Verantwortung: Wie oft werden Menschen mit Behinderung in Filmen, Serien oder Nachrichten als aktive, starke, selbstbestimmte Persönlichkeiten gezeigt? Und wie oft erscheinen sie als Opfer, Helden oder Mahnmale? Die Darstellung
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beeinflusst unsere Wahrnehmung und prägt gesell-schaftliche Bilder.
Die Sprache spielt ebenfalls eine große Rolle. Begriffe wie „leidend“, „an den Rollstuhl gefesselt“ oder „geis-tig zurückgeblieben“ reproduzieren ein negatives Bild. Sie setzen Menschen herab, oft unbewusst. Dabei ist es möglich, respektvoll und wertschätzend zu sprechen: Von „Menschen mit Behinderung“ statt „Behinderte“, von „barrierefrei“ statt „behindertengerecht“.
Sprache formt Denken und Denken beeinflusst Han-deln.
Diese Reflexion ist kein theoretischer Luxus, sondern praktischer Bestandteil eines inklusiven Miteinanders. Wenn wir unsere Worte, unser Verhalten und unsere Strukturen hinterfragen, entsteht Raum für Verände-rung und für Begegnung auf Augenhöhe.
Abschließend lässt sich sagen: Behinderung ist ein viel-schichtiges Thema, das weit über medizinische Diagno-sen hinausgeht. Es betrifft unser Menschenbild, unsere gesellschaftlichen Strukturen und unsere Bereitschaft zur Veränderung.
Ein inklusives Verständnis von Behinderung bedeutet, die Person in den Mittelpunkt zu stellen, nicht die Dia-gnose. Es bedeutet, Potenziale zu sehen, statt nur
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Defizite. Und es bedeutet, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es allen Menschen ermöglichen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Dazu gehört auch, kritische Fragen zu stellen: Wie sieht echte Teilhabe aus? Wie können Systeme wie die WfbM wirklich unterstützen und wo verhindern sie Entwick-lung? Wie verhindern wir, dass Menschen mit Behin-derung in gut gemeinten Strukturen gefangen bleiben? Diese Fragen werden im weiteren Verlauf dieses Bu-ches behandelt. Ich werde die Ursachen von Behinde-rungen beleuchten, die Strukturen der WfbM kritisch hinterfragen, gesetzliche Grundlagen verständlich er-klären und konkrete Fallbeispiele wie das von Petra einordnen.
Denn eines ist klar: Behinderung ist kein individuelles Problem, sondern eine gesellschaftliche Herausforde-rung. Und wie jede Herausforderung birgt sie auch eine Chance: Die Chance auf mehr Menschlichkeit, Ge-rechtigkeit und echte Inklusion.
Mit diesem Verständnis beginnt der Weg und dieser Weg beginnt mit Wissen.
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„Ziel dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreihei-ten durch alle Menschen mit Behinde-rungen zu fördern, zu schützen
und zu gewährleisten.“
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
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URSACHEN VON BEHINDERUNGEN
Behinderungen entstehen auf sehr unterschiedliche Weise, sie können angeboren sein, durch Krankheiten ausgelöst werden oder durch Unfälle entstehen. Auch psychische Belastungen, chronische Erkrankungen und altersbedingte Einschränkungen können zu einer Behinderung führen. So vielfältig wie die Ursachen sind auch die Erfahrungen der Betroffenen und genau deshalb ist es wichtig, hier genau hinzuschauen.
InDeutschlandwerdenvieleBehinderungennicht
„von Geburt an“ festgestellt. Laut Statistiken entsteht der Großteil der Behinderungen erst im Laufe des Le-bens, häufig durch gesundheitliche Entwicklungen oder äußere Einflüsse. Das bedeutet: Jeder Mensch kann im Laufe seines Lebens von einer Behinderung betroffen sein. Diese Erkenntnis verändert den Blick-winkel: Behinderung ist kein Randphänomen, sondern Teil des menschlichen Lebens.
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Eine der häufigsten Ursachen sind chronische Krank-heiten. Dazu zählen etwa Diabetes, Multiple Sklerose, rheumatische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Probleme oder Krebserkrankungen. Diese Erkrankungen schrän-ken Betroffene langfristig ein, im Alltag, bei der Arbeit oder in der Mobilität. Viele dieser Menschen gelten offiziell als „schwerbehindert“, obwohl man es ihnen nicht immer ansieht. Ein weiterer großer Bereich sind psychische Erkrankungen: Depressionen, Angststö-rungen, Persönlichkeitsstörungen oder Traumafolge-störungen können das Leben tiefgreifend beeinflussen. Sie gelten oft als „unsichtbare“ Behinderungen, doch sie sind nicht weniger belastend. Gerade in der Arbeits-welt führen sie häufig zu langen Ausfällen, Erwerbs-minderungsrenten oder eben auch zur Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
Unfälle gehören ebenfalls zu den Hauptursachen für körperliche Behinderungen: Verkehrsunfälle, Arbeits-unfälle oder Sportunfälle können innerhalb von Se-kunden das Leben verändern. Plötzlich sind Bewe-gungsabläufe eingeschränkt, die Selbstständigkeit geht verloren, die Psyche leidet. Viele Betroffene müssenihr Leben komplett neugestalten, nicht nur körperlich, sondern auch emotional und sozial.
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Doch nicht alle Ursachen sind äußerlich erkennbar. Manche Behinderungen entstehen durch Hirnschädi-gungen, Stoffwechselerkrankungen oder genetische Besonderheiten, die sich erst mit der Zeit bemerkbar machen. Auch neurologische Störungen wie Epilepsie oder Autismus-Spektrum-Störungen gehören zu dieser Gruppe.
Gerade psychische Erkrankungen nehmen in den letzten Jahren stark zu, nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Gründe dafür sind viel-fältig: steigender Leistungsdruck, soziale Isolation, familiäre Belastungen, traumatische Erfahrungen oder Überforderung in der Schule oder im Beruf. Diese psychischen Belastungen können chronisch werden und sich im Alltag fest verankern, sie entwickeln sich dann zu langfristigen, einschränkenden Zuständen.
Ein besonders schwieriger Punkt: Psychische Behinderun-gen werden oft nicht ernst genommen. Viele Menschen, auch Fachkräfte unterschätzen die Auswirkungen oder glauben, Betroffene könnten sich „zusammenreißen“. Doch genau diese Haltung führt dazu, dass viele Erkrankte keine Hilfe bekommen oder sich schämen, Hilfe zu suchen. Wenn der Alltag dauerhaft nicht mehr bewältigbar ist, kann das bis zur
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Arbeitsunfähigkeit führen und schließlich zur Zuweisung in eine WfbM.
Ein weiteres Feld sind altersbedingte Behinderungen. Mit zunehmendem Alter steigen Erkrankungen wie Demenz, Schlaganfallfolgen, Parkinson oder schwere Arthrose. Auch wenn viele ältere Menschen nicht offi-ziell als „behindert“ gelten, sind sie oft in ihrer Teilhabe massiv eingeschränkt. Die Übergänge zwischen Krank-heit, Pflegebedarf und Behinderung sind fließend, doch die Versorgungssysteme sind oft strikt getrennt.
Auch soziale Ursachen spielen eine Rolle. Menschen in prekären Lebenslagen haben schlechtere Gesundheits-chancen: Armut, Bildungsbenachteiligung, schlechte Wohnverhältnisse, fehlende medizinische Versorgung oder Diskriminierung führen häufiger zu chronischen Erkrankungen und in der Folge zu Behinderungen. Be-hinderung ist also auch ein soziales Thema, nicht nur ein medizinisches.
Zusätzlich gibt es Fälle, in denen eine Behinderung nicht „klassisch“ diagnostiziert wird, aber dennoch eine massive Einschränkung vorliegt. Dazu gehören zum Beispiel langanhaltende Erschöpfung (z. B. Long-COVID), seltene genetische Syndrome oder
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Mischformen verschiedener Erkrankungen. Diese Fälle werden oft übersehen oder nicht ernst genommen, weil sie nicht ins bekannte Raster passen.
Besonders heikel sind Fälle, in denen eine Behinderung durch äußere Umstände entsteht, etwa durch Gewalt, Vernachlässigung oder institutionelles Versagen. Kin-der, die über Jahre emotional misshandelt wurden, Jugendliche in instabilen Pflegeverhältnissen oder Er-wachsene, die im Berufsleben massiven Mobbing-Er-fahrungen ausgesetzt waren, entwickeln häufig schwe-re psychische Folgen. Auch hier sprechen wir von Behinderungen, verursacht durch das soziale Umfeld, nicht durch die betroffene Person selbst.
Hinzu kommt die Wechselwirkung zwischen körper-licher und psychischer Gesundheit. Ein Mensch mit einer schweren körperlichen Erkrankung kann zusätz-lich eine Depression entwickeln oder umgekehrt. Kör-perliche und seelische Zustände beeinflussen sich ge-genseitig. Diese Komplexität macht die Diagnostik und Einordnung oft schwierig, besonders in einem System, das klare Kategorien verlangt. Ein weiterer Aspekt: Die Bedeutung von Diagnosen. In vielen Fällen hängt die Frage, ob jemand als „behindert“ gilt, von einer forma-len Diagnose ab. Doch Diagnosen sind nicht neutral,
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sie entstehen im sozialen Kontext, sie hängen vom Zu-gang zu Ärzt:innen, von der Sprache der Betroffenen und vom Verhalten der Behandelnden ab. Zwei Men-schen mit ähnlichen Beschwerden können unterschied-lich eingeordnet werden je nachdem, wo sie leben, wel-che Unterstützung sie bekommen und wie gut sie sich ausdrücken können.
Daraus ergibt sich ein Dilemma: Wer keine Diagnose hat, bekommt oft keine Unterstützung. Wer eine Dia-gnose hat, wird schnell „etikettiert“ und stigmatisiert. Dieses Spannungsfeld durchzieht die gesamte Behin-dertenhilfe und prägt auch die Wege, die Menschen in Einrichtungen wie die WfbM führen.
Diese Entwicklungen zeigen: Behinderung ist kein klar abgrenzbares Phänomen. Sie entsteht in einem kom-plexen Zusammenspiel aus biologischen, psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren. Jeder Mensch bringt dabei seine eigene Geschichte mit und keine die-ser Geschichten ist gleich.
Im Umgang mit Behinderung ist daher Sensibilität ge-fragt und ein ganzheitliches Verständnis. Es reicht nicht aus, Symptome zu katalogisieren oder funktionale Ein-schränkungen zu benennen. Vielmehr müssen auch die
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UrsachenverstandenunddieLebensbedingungender
Betroffenen einbezogen werden.
Die medizinische Perspektive betrachtet Behinderung oft aus Sicht von „Defiziten“, also als Abweichung von einer Norm. Die sozialwissenschaftliche Perspektive hingegen fragt: Welche Rahmenbedingungen verhin-dern, dass Menschen mit bestimmten Einschränkun-gen gleichberechtigt leben können? Diese zweite Per-spektive ist entscheidend, wenn es um Inklusion geht. Auch die WHO unterscheidet in ihrem Modell zwi-schender„körperlichenEbene“(Impairment),der
„Aktivitätsebene“ (Activity Limitation) und der „Teil-habeebene“ (Participation Restriction). Das zeigt: Nicht nur die Einschränkung selbst ist relevant, sondern auch, wie sehr sie das Leben in einem konkreten sozia-len Umfeld beeinträchtigt.
Beispiel: Eine Person mit Gehbehinderung ist in einer barrierefreien Wohnung und einem verständnisvollen sozialen Umfeld möglicherweise kaum eingeschränkt. Dieselbe Person wäre in einem Altbau ohne Aufzug und einem diskriminierenden Umfeld stark beein-trächtigt. Die Umgebung entscheidet mit darüber, ob eine Einschränkung zur Behinderung wird.
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Für die Praxis heißt das: Hilfe und Unterstützung dür-fen nicht nur auf medizinische Maßnahmen beschränkt bleiben. Es braucht auch soziale, psychologische und strukturelle Begleitung, individuell angepasst und an den Lebensrealitäten orientiert.
Am Ende dieses Kapitels steht die Erkenntnis: Behin-derung ist kein starres Konzept. Sie ist ein dynamischer Zustand, der sich aus vielen Einflussfaktoren ergibt und der sich im Laufe eines Lebens verändern kann.
Ein Kind mit Entwicklungsverzögerung kann durch gezielte Förderung große Fortschritte machen oder durch fehlende Unterstützung dauerhaft ausgegrenzt werden. Ein Erwachsener mit Depression kann mit der richtigen Therapie wieder aktiv am Leben teilnehmen oder durch Unverständnis in die Isolation gedrängt werden. Ein Unfallopfer kann durch technische Hilfs-mittel und gesellschaftliche Offenheit selbstständig leben oder durch Barrieren und Ablehnung behindert werden.
Es kommt darauf an, wie wir als Gesellschaft reagieren. Ob wir Menschen mit Einschränkungen als Teil unserer Gemeinschaft sehen oder als Sonderfall. Ob wir Struk-turen schaffen, die Teilhabe ermöglichen oder Systeme, die ausgrenzen.
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In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, wie die-se Fragen ganz konkret im Alltag von Werkstätten für behinderte Menschen eine Rolle spielen. Wir werden verstehen, warum manche Menschen den Weg in eine WfbM gehen, welche Erwartungen sie haben und wel-che Realitäten sie dort vorfinden.
Denn nur wenn wir die Ursachen von Behinderung verstehen, können wir auch die richtigen Wege zu Teil-habe und Inklusion finden.
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VOM ALLTAG MIT BEHINDERUNG
Wie sieht das tägliche Leben für Menschen mit Behin-derung tatsächlich aus? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, denn jeder Mensch ist anders und jede Behinderung wirkt sich unterschiedlich auf den Alltag aus. Dennoch gibt es gemeinsame Erfahrun-gen, Herausforderungen und Muster, die viele Betrof-fene teilen. Dieses Kapitel beleuchtet die Lebensreali-täten von Menschen mit Behinderung in Deutschland, mit Fokus auf Selbstbestimmung, Barrieren und gesell-schaftliche Teilhabe.
Ein zentrales Thema im Alltag ist Mobilität. Wer auf Hilfsmittel wie Rollstuhl, Gehhilfe oder Blindenstock angewiesen ist, stößt oft an ganz praktische Grenzen: nicht abgesenkte Bordsteine, fehlende Aufzüge, kaput-te Fahrstühle an Bahnhöfen oder Busse ohne Rampe. Auch Menschen mit kognitiven oder psychischen Ein-schränkungen erleben Mobilitätshindernisse, etwa
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durch überfordernde Fahrpläne, Unsicherheiten im Straßenverkehr oder fehlende Assistenz.
Wenn ich mit jungen Klienten mit schwersten geistigen und mehrfachen körperlichen Behinderungen im Rollstuhl spa-zieren gehe, werde ich immer wieder von Autofahrern an-gehupt oder sogar beschimpft.
Der Zugang zu Wohnraum ist eine weitere große Hür-de. Barrierefreies oder behindertengerechtes Wohnen ist in vielen Städten Mangelware. Die Mieten sind hoch, die Wartelisten lang. Menschen mit Behinderung müssen oft in Einrichtungen leben, obwohl sie sich ein eigenständiges Leben wünschen. Das Wunsch- und Wahlrecht, gesetzlich verankert, stößt hier schnell an seine Grenzen, wenn die realen Angebote fehlen.