Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Trauma-Überlebende haben in ihrem Umfeld oft zwischenmenschliche Traumatisierungen erlebt. Das heißt, wer Missbrauch und Vernachlässigung durch andere erfahren hat, war oft weiteren Systemen ausgeliefert. Sie umfassen Schädiger, Opfer-Täter-Dyaden, Kernfamilien und erweiterte Familien oder noch größere soziale Strukturen. Bedeutenderweise tendieren auch diese anderen Systeme dazu, zwischen anscheinender Normalität und hoher Emotionalität zu alternieren. In diesen wiederkehrenden Wechseln zeigt das Trauma sein Janus-Gesicht. Schädiger verhalten sich oft so, als sei nichts falsch an ihrem Tun, und Familien beteiligen sich häufig an dieser Farce scheinbarer Normalität. Viele psychiatrische Einrichtungen und ganze Gesellschaften haben dieses Spiel mitgespielt oder spielen es noch, indem sie die große Anzahl von Kindheitstraumatisierungen unter psychiatrischen Patienten und in der Gesamtbevölkerung übersehen oder verleugnen. Wie immer auch das, was geschieht oder geschah, mitgeteilt wird, es herrscht in der Regel eine hohe Emotionalität vor. Daher ist ein Trauma eine Störung der Systeme, die nur durch Heilung und Integration auf der miteinander gekoppelten intra- und interpersonellen Systemebene gelöst werden kann. Um eine solche Umsetzung geht es in diesem schon lange über- fälligen und bemerkenswerten Buch. Ich wünsche ihm und seinen beiden Autoren eine große Leserschar – und dieser eine leidenschaftliche Inspiration für die Arbeit mit traumatisierten Systemen." Ellert Nijenhuis, Ph. D. "Ich kenne die beiden Autoren seit vielen Jahren und hatte persönlich öfters die Gelegenheit, ihre Arbeit und ihr Denken kennen und wertschätzen zu lernen. Deshalb weiß ich, dass sie das hier beschriebene Thema mit sehr fundierter und vielfältiger Erfahrung in allen Belangen mehr als gut kennen. Dass es ihnen aber gelungen ist, dieses komplexe Gebiet so wunderbar differenziert, klar und dabei äußerst umfassend bearbeiten zu können, ruft in mir Bewunderung und Dankbarkeit hervor. Ich halte dieses Buch für einen wichtigen Meilen- stein auf dem Gebiet der systemischen Therapie und bin sicher, dass es die systemische Traumatherapie entscheidend vorwärts bringen wird. Ich wünsche dem Buch den großen Erfolg, den es verdient." Gunther Schmidt Wieder ins Leben finden Traumatisierende Ereignisse kommen weitaus häufiger vor, als es auf den ersten Blick scheint. Unfälle, Gewalterfahrungen, Missbrauch oder Vernachlässigung lösen in rund einem Viertel der Fälle Traumafolgestörungen aus, die sich oft erst nach Monaten zeigen. Dieses Buch verbindet erstmals das Know-how der klassischen Traumatherapie mit den erfolgreichen Methoden der systemischen Therapie zu einem umfassenden Konzept. Familientherapeuten vermittelt es einen Überblick über den aktuellen Stand der Traumatherapie und Traumaforschung. Traumatherapeuten und Medizinern ermöglicht die Einbeziehung des Systems, dessen Unterstützung zu nutzen, die Traumabehandlung deutlich zu verkürzen und Rückfälle zu vermeiden. Mitarbeitern im sozialen Dienst, die oft den ersten Kontakt zu Betroffenen haben, hilft es, Traumatisierungen zu erkennen und ihre Behandlung in die richtigen Wege zu leiten. So entlastet eine systemische Traumatherapie – neben den Traumatisierten selbst – letztendlich alle Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Ein bedeutender Teil des Buches beschäftigt sich mit der Therapie von traumatisierten Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Familien. Auf der Basis von kindlichen Entwicklungs- und traumaspezifischen Aspekten entwickeln die Autoren hier ein systemisches Konzept für die therapeutische Praxis. Darin werden Diagnoseinstrumente vorgestellt, Therapiestrategien entworfen und Interventionen für traumatisierte Systeme beschrieben. Die Autor:innen: Reinert B. Hanswille, Diplom-Pädagoge, ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Traumatherapeut, Paar- und Familientherapeut, Supervisor, Lehrtherapeut und Lehrsupervisor u. a.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 554
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Reinert Hanswille/ Annette Kissenbeck
Konzepte und Methoden für die Praxis
Mit einem Geleitwort von Ellert Nijenhuisund einem Vorwort von Gunther Schmidt
Fünfte Auflage, 2025
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Dr. h. c. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Dresden)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Karsten Trebesch (Dallgow-Döberitz)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Tom Levold (Köln)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Burkhard Peter (München)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel
Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Fünfte Auflage, 2025
ISBN 978-3-89670-753-6 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8365-5 (ePUB)
© 2008, 2025 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/
Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.
Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 . 69115 Heidelberg
Tel. +4962216438-0 . Fax +4962216438-22
Geleitwort
Vorwort
Einleitung: Systemische Traumatherapie – Traumatherapie systemisch
Teil I: Systemische Traumatherapie – Theoretische Grundlagen und Methoden
1. Traumatherapie und Systemtherapie
1.1 Zueinander von Traumatherapie und Systemtherapie
1.2 Anmerkungen zu unserem Verständnis von systemischer Therapie6
1.3 Individuumzentrierte und systemorientierte Traumakategorien
1.3.1 Wie werden Traumata unterschieden?
1.3.2 Unterscheidungsmerkmale aus systemischer Sicht
2. Grundlagen der Traumatherapie
2.1 Schlaglichter aus der Geschichte der Traumatherapie
2.2 Krankheitsbilder und Verbreitung
2.2.1 Definitionen und Kennzeichen von Traumatisierungen
2.2.2 Was geschieht in der traumatischen Situation und ersten Verarbeitung?
2.2.3 Wann sind Traumafolgen zu erwarten?
2.2.4 Die sogenannten Traumafolgestörungen
2.2.5 Comorbide Traumafolgestörungen
2.2.6 Dissoziation
2.3 Vom Erstkontakt zur Stabilisierung
2.3.1 Beziehungsaufbau und Anamnese12
2.3.2 Diagnostik13
2.3.3 Psychoedukation14
2.3.4 Stabilisierung15
2.3.5 Der Ego-State-Ansatz17
2.3.6 Der innere Beobachter
2.3.7 Arbeit mit dem inneren Kind19
2.4 Von der Traumabegegnung zur Traumasynthese
2.4.1 Verfahren zur Traumabegegnung
2.4.2 EMDR
2.4.3 Die Beobachtertechnik
2.4.4 Die Bildschirmtechnik
2.5 Von der Trauma- zur Trauerintegration
2.6 Die strukturelle Dissoziation als Metatheorie der Traumatherapie28
2.6.1 Der Ansatz der strukturellen Dissoziation
2.6.2 Psychobiologische Erklärungsmuster
2.6.3 Die Handlungssysteme
2.6.4 Die Unterteilung der strukturellen Dissoziation
2.6.5 EPs – Emotionale Persönlichkeitsanteile
2.6.6 ANPs – anscheinend normale Persönlichkeitsanteile
2.6.7 Die integrative Kapazität
2.6.8 Implikationen für die Therapie
3. Konzeptionelle Überlegungen für eine systemische Traumatherapie
3.1 Systembezogenheit
3.2 Das innere System
3.3 Kybernetik 2. Ordnung, Beobachterposition und Wirklichkeitskonstruktion
3.4 Kontextbezogenheit
3.5 Die therapeutische Beziehung
3.6 Ressourcenorientierung, Salutogenese, Resilienz und Posttraumatic Growth
3.6.1 Ressourcenorientierung
3.6.2 Salutogenese
3.6.3 Resilienz
3.6.4 Posttraumatic Growth
3.7 Körper und Bewegung im therapeutischen Prozess
3.8 Lösungs-, Zukunfts- und Alltagsorientierung
3.9 Auftragsklärung und Zielorientierung
3.10 Musterorientierung
3.11 Respektlosigkeit und Humor
4. Methodische Ideen für eine systemische Traumatherapie
4.1 Skulpturarbeit
4.2 Familienbrett und Systembrett
4.3 Äußeres und inneres Reflektierendes Team (RT)
4.4 Genogrammarbeit
4.5 Beziehungslandkarte
4.6 Ressourcenorientierte Techniken
4.7 Körperarbeit
4.8 Fragetechniken
4.9 Wunderfrage mit dem BASK-Modell
4.10 Skalierungen
4.11 Aufgaben zwischen den Sitzungen
4.12 Memory Lane, Zeitlinienarbeit
4.13 Externalisierung
4.14 Unsere Wohnung – unser Haus
Teil II: Systemische Traumatherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien
5. Trauma und Entwicklung im Kindes- und Jugendalter
5.1 Entwicklung aus Sicht der Bindungstheorie
5.2 Entwicklung aus Sicht der Neurobiologie
5.3 Entwicklung aus Sicht der Psychotraumatologie
5.4 Traumasymptome kindlicher Entwicklungsstufen
5.5 Entwicklung in traumatisierten Systemen
5.6 Co-Evolution in traumatisierten Systemen
6. Diagnostik mit traumatisierten Systemen
6.1 Grundlagen diagnostisch-therapeutischer Arbeitshypothesen
6.1.1 Anamnese
6.1.2 Implikationen einer Traumaperspektive
6.1.3 Diagnostische Hypothesen und Konstrukte
6.1.4 Traumaassoziierte Diagnosen
6.2 Individuelle Diagnostik mit Kindern und Jugendlichen
6.2.1 Basisorientierte individuelle Diagnostik
6.2.2 Ressourcenorientierte individuelle Diagnostik
6.2.3 Traumaorientierte individuelle Diagnostik
6.3 Systemdiagnostik mit der Familie
6.3.1 Basisorientierte Systemdiagnostik
6.3.2 Ressourcenorientierte Systemdiagnostik
6.3.3 Traumaorientierte Systemdiagnostik: Das 5-Achsen-Modell
6.4 EMIL: Ein Evaluationsmodell für Interventionen und Lösungen
6.4.1 Traumaauslöser – Das adaptierte Genogramm
6.4.2 Traumakontext – Die sozialen Kontextkoordinaten:
6.4.3 Traumadosis – Das Ressourcen- und Traumadiagramm
6.4.4 Traumafokus – Die Systemische Traumalandkarte
6.4.5 Traumabeziehungen – Das familiäre Beziehungsnetz
6.4.6 Interventionen mit TRIAS
6.4.7 Krisenintervention mit BREAK
6.4.8 Traumarealisierung im System – Das 4-Stufen-Modell
6.4.9 Soziale Bezugsarbeit – Die außerfamiliären Bezugskreise
6.4.10 Professionelle Netzwerkarbeit – Die Netzwerkkarte
7. Therapie mit traumatisierten Systemen
7.1 Grundgedanken
7.1.1 Therapeutisches Ziel der Affektregulation
7.1.2 Zielklärung, Zeitplanung und Zugänge zum System
7.2 Systemtherapeutische Zugänge über die 5 Traumaachsen
7.2.1 Systemtherapeutischer Zugang über Traumaauslöser (Achse I)
7.2.2 Systemtherapeutischer Zugang über Traumakontext (Achse II)
7.2.3 Systemtherapeutischer Zugang über Traumadosis (Achse III)
7.2.4 Systemtherapeutischer Zugang über Traumafokus (Achse IV)
7.2.5 Systemtherapeutischer Zugang über Traumabeziehungen (Achse V)
7.3 Therapiephasen
7.3.1 Orientierung im System
7.3.2 Stabilisierung im System
7.3.3 Traumabegegnung im System
7.3.4 Traumaintegration im System
8. Interventionen mit traumatisierten Systemen
8.1 Interventionen innerhalb von Therapie
8.1.1 Psychoedukative Elemente
8.1.2 Kindzentrierte Techniken
8.1.3 Familienzentrierte Techniken
8.1.4 Gruppentherapie zur Entwicklungs- und Kompetenzförderung
8.1.5 Elternarbeit mit Trauma- und Ressourcenfokus
8.1.6 Systeminterventionen bei Krisen
8.1.7 Systeminterventionen bei Verlusttrauma
8.1.8 Systeminterventionen bei Akuttrauma
8.1.9 Pharmakotherapie
8.2 Interventionen außerhalb von Therapie
8.2.1 Entwicklungsförderung
8.2.2 Netzwerkarbeit
8.2.3 Kinder- und Jugendhilfegesetz
8.2.4 Jugendhilfemaßnahmen
Verzeichnis der Abkürzungen
Anhang 1: Systemisches 5-Achsen-Modells
Anhang 2: Posttraumatische Belastungssymptome (PTBS)
Anhang 3: Child Dissociative Checklist (CDC)
Anhang 4: SDQ-20 Somatoform Dissociation Questionnaire
Anhang 5: Zeitreise
Literatur
Index
Über die Autoren
Trauma: eine Störung und Verstörung verschiedener Systeme
Was ist ein System? Eine bestimmte Menge von interagierenden und voneinander abhängigen Einheiten, die zusammen ein Ganzes bilden. Wir Menschen sind ganzheitliche Systeme, die zwar auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden können – biologisch, psychologisch, sozial –, aber im tieferen Sinne nur zu verstehen sind, wenn man diese Ebenen in ihrer engen Beziehung zueinander betrachtet. Wie mittlerweile etliche Phänomenologen, Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler betonen, lassen sich unser Gehirn, unser Körper, unser Geist und unsere Umwelt nur künstlich voneinander trennen, weil sie eng miteinander gekoppelt sind. Demnach sind wir verkörperte Systeme, die alle möglichen wiederum mit ihnen verbundenen Systeme auf niedrigeren Entwicklungsstufen einschließen (z. B. Zellen, Zellansammlungen, das Gehirn, das Nervensystem, den Körper) und die in eine Vielfalt von miteinander verbundenen sozialen Systemen eintauchen (z. B. Dyaden, Familien, Institutionen, Subkulturen, Kulturen und Nationen).
Trauma-Überlebende, insbesondere solche, die als Kinder chronisch missbraucht oder vernachlässigt wurden, können eine Vielzahl an körperlichen und psychischen Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Es hat manchmal den Anschein, als seien sie als Gesamtsystem in eine Art permanentes Chaos gedriftet. Aber dieses Chaos ist nur zu verständlich. Denn besser, als in Stücke gerissen zu werden, reorganisiert sich die Persönlichkeit in zwei oder mehr unterschiedliche und unzureichend integrierte Subsysteme bzw. dissoziiert in verschiedene Persönlichkeitsanteile. Es erfolgt eine basale Aufteilung in einen »anscheinend normalen Anteil«, der versucht den Alltag so zu regeln, als sei alles in Ordnung, und in einen »emotionalen Anteil«, der in traumatischen Erinnerungen fixiert ist.
Trauma-Überlebende haben in ihrem Umfeld oft zwischenmenschliche Traumatisierungen erlebt. Das heißt, wer Missbrauch und Vernachlässigung durch andere erfahren hat, war oft weiteren Systemen ausgeliefert. Sie umfassen Schädiger, Opfer-Täter-Dyaden, Kernfamilien und erweiterte Familien oder noch größere soziale Strukturen. Bedeutenderweise tendieren auch diese anderen Systeme dazu, zwischen anscheinender Normalität und hoher Emotionalität zu alternieren. In diesen wiederkehrenden Wechseln zeigt das Trauma sein Janus-Gesicht. Schädiger verhalten sich oft so, als sei nichts falsch an ihrem Tun, und Familien beteiligen sich häufig an dieser Farce scheinbarer Normalität. Viele psychiatrische Einrichtungen und ganze Gesellschaften haben dieses Spiel mitgespielt oder spielen es noch, indem sie die große Anzahl von Kindheitstraumatisierungen unter psychiatrischen Patienten und in der Gesamtbevölkerung übersehen oder verleugnen. Wie immer auch das, was geschieht oder geschah, mitgeteilt wird, es herrscht in der Regel eine hohe Emotionalität vor. Daher ist ein Trauma eine Störung der Systeme, die nur durch Heilung und Integration auf der miteinander gekoppelten intra- und interpersonellen Systemebene gelöst werden kann.
Um eine solche Umsetzung geht es in diesem schon lange überfälligen und bemerkenswerten Buch. Ich wünsche ihm und seinen beiden Autoren eine große Leserschar – und dieser eine leidenschaftliche Inspiration für die Arbeit mit traumatisierten Systemen.
Ellert Nijenhuis, Ph. D.Assen, Niederlande, im August 2008
Der Bereich der Therapie von KlientInnen, deren Beschwerden als Ausdruck schwerer Traumatisierungen erklärt und beschrieben werden, hat in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung genommen, die man sinnbildlich fast als Flutwelle bezeichnen könnte. Zuvor war dies ein vergleichsweise eher unterbelichtetes Feld – was erstaunlich ist, denn die Zahl von Interaktionen und Erfahrungen, die als traumatisierend wirken können, war sicher nicht geringer als heute. Aus meiner Sicht lässt sich die Tatsache, dass etwa das schmerzliche Thema des »sexuellen Missbrauchs« an Kindern endlich wieder als real erlittenes Phänomen ernst genommen wurde, auch schon zu einem beträchtlichen Teil auf die systemische, familientherapeutische Arbeit zurückführen. (Den Begriff »sexueller Missbrauch« halte ich für sehr unglücklich, weil er implizieren könnte, dass es einen sexuell passenden »Gebrauch« geben könnte, und das halte ich an sich schon für nicht akzeptabel.) In der Geschichte der Psychotherapie waren solche Themen ja über viele Jahrzehnte eher als Ausdruck neurotischer Fantasien von KlientInnen bewertet worden, nachdem Freud sich entschlossen hatte, dieses brisante Thema doch lieber als Ausdruck individueller Störung zu behandeln – wohl auch deshalb, um im Wien der Jahrhundertwende nicht noch mehr anzuecken.
Die systemische Arbeit sieht individuelles Erleben als ernst zu nehmenden Ausdruck von kontextbezogenen Prozessen und berücksichtigt damit immer auch die Perspektive, dass es sich als adäquat verstehen lässt, wenn man nur den relevanten Kontext dafür auffinden kann. Sie hat dadurch ganz sicher entscheidend dazu beigetragen, dass Menschen, die durch solches Leid gegangen sind, entsprechend gewürdigt werden und dass man ihre Wahrnehmungsprozesse als Ausdruck von Kompetenz betrachtet, anstatt sie als neurotisch eingebildet abzuwerten.
Als Konsequenz aus der Traumadiskussion gibt es für Menschen, die als Opfer sexueller oder sonstiger Gewalt durch andere Menschen gelten, inzwischen sehr viele Angebote an diversen Formen der Psychotherapie. Für viele Problembereiche, auch gerade für solche, die als besonders »schwierig« gelten, haben sich systemische Konzepte als sehr wirksame Hilfen bewährt (siehe auch v. Sydow et. al. 2007, Simon 2008, Schmidt 2004). Erstaunlicherweise fehlte es aber bisher an fundierter Literatur zur systemischen Therapie von Traumata, obwohl in diesem Bereich in der Praxis längst mit systemischen Konzepten gearbeitet wird.
Um so erfreulicher und verdienstvoller finde ich, dass dieses Buch nun endlich vorliegt. Es schließt die skizzierte Lücke in der Literatur auf eine Weise, die ich als äußerst nützlich und hilfreich für die Betroffenen selbst, ebenso aber auch für die Angehörigen und für die potenziellen »Helfer« halte. Bedingt durch die Tradition vieler bis heute vorherrschender Therapieansätze, die auf der Basis von Pathologie- und Defizit-Konzepten arbeiten, herrscht im Bereich der Trauma-Arbeit noch immer die Sichtweise vor, dass Menschen, die unter Traumatisierungen leiden, sehr fragil, kaum belastungsfähig und häufig sowohl psychisch als auch somatisch äußerst labil seien. Auch wenn dies oft tatsächlich zu beobachten ist, drückt es nur einen Aspekt der Dynamik aus.
Leider geht mit dieser Sichtweise sehr oft (sicher gut gemeint) einher, dass man solche Menschen als stark gestörte »Patienten« behandelt und kaum die Möglichkeit in Betracht zieht, dass sie über vielfältige autonome und sehr hilfreiche Kompetenzen verfügen. Das traumatische Geschehen und seine leidvollen Folgen werden dabei sehr häufig als so zentraler Aspekt des Lebens der Betroffenen angesehen, dass wie mit einem »Röhrenblick« viele andere wesentliche Bereiche ihrer Fähigkeiten nahezu vollständig ausgeblendet werden.
In den letzten Jahren hat aber nun die Forschung in den Bereichen der Salutogenese (Gesundheitsentwicklung) und der Resilienz (die sich mit der Widerstandsfähigkeit und Lösungsfähigkeit von Menschen auch in Extremsituationen beschäftigt) deutlich zeigen können, dass selbst extreme Traumata und sehr leidvolle Reaktionen von Menschen auf sie keineswegs bedeuten, dass diese Menschen einen grundsätzlichen Mangel an Fähigkeiten aufweisen oder als grundsätzlich »gestörter« als andere Menschen angesehen werden müssten. Diese Erkenntnisse fließen zwar zunehmend auch in traumatherapeutische Konzepte ein, an der Beschreibung und Behandlung von als traumatisiert angesehenen Menschen als sehr schwierig und oft nur sehr langwierig zu therapierend hat dies bis heute allerdings wenig geändert.
Viele Definitionen und Erklärungskonzepte zur Trauma-Dynamik – auch manche, die aus den Ergebnissen der modernen Hirnforschung abgeleitet werden – wirken wie Wirklichkeitskonstruktionen, die allein die traumatischen Ereignisse selbst als die wirklichkeitsgestaltende Kraft (das gestaltende Agens) erscheinen lassen. Sie laden dadurch aber zu Perspektiven ein, die die Erlebenden eher als ausgelieferte Opfer ohne jede Gestaltungschancen erscheinen lassen. Das trägt zu Fokussierungen mit Ohnmachtserleben bei und kann leidvolles Erleben eher noch verstärken. Aus lösungsorientierter, hypnosystemischer Perspektive muss man dagegen unbedingt beachten, dass es auch nach den traumatischen Ereignissen viele Episoden im Erleben eines Menschen gibt, in denen es ihm/ihr relativ gut geht. Auch wenn dies nicht anhält, beweist es doch, dass im unbewussten Erlebnisrepertoire die Kompetenzen für eine andere Art des Umgangs mit dem leidvoll Erlebten vorhanden sind. Eine therapeutisch hilfreiche Arbeit muss – neben der Empathie für das Leid – genau dies in den Fokus rücken. So kann der Zugang zu den Selbstgestaltungsfähigkeiten der KlientInnen wieder schneller hergestellt werden. Auch hier muss beachtet werden (in Orientierung an den Autopoiese-Konzepten), dass nicht das Ereignis selbst etwas zum nachhaltig schlimmen Trauma macht, sondern die Art, wie es verarbeitet wird, und auf welche Beziehungsnetzwerke sich die Betroffenen nach dem Trauma stützen können. Hierin liegen viele Chancen für erfolgreiche Therapie. Ich halte es für ein großes Verdienst der Autoren, diesen Beziehungsaspekt und diese Ressourcenorientierung immer wieder herauszuheben.
Seit vielen Jahren zeigt unsere Arbeit ambulant (z. B. am Milton-Erickson-Institut Heidelberg) wie auch stationär (an der Fachklinik am Hardberg und an der SysTelios-Klinik für Gesundheits- und Kompetenzentwicklung, beide in Siedelsbrunn) mit großem Erfolg, dass Menschen mit Traumatisierungen über enorme Kompetenzen verfügen und deshalb auch keineswegs wie »Patienten« »behandelt« werden sollten, sondern als völlig gleichrangige, autonome Kooperationspartner mit vielen Stärken, trotz großen Leids, dem sie ausgesetzt waren. Ich werbe deshalb schon sehr lange um eine konsequente Haltung der Kompetenzorientierung und der Fokussierung auf die (oft zunächst unbewussten) Lösungsfähigkeiten der Betroffenen.
Das vorliegende Buch bietet für diese Sichtweise sehr viel und sehr überzeugendes Material, wofür ich den Autoren besonders dankbar bin. Es macht in sehr differenzierter und fundierter Form deutlich, dass bei aller Empathie und Wertschätzung des Leids der Betroffenen und ihrer Angehörigen die Aspekte der vielfältigen Kompetenzen unbedingt beachtet werden müssen – nicht nur bei den einzelnen KlientInnen selbst, sondern auch bei ihren Beziehungssystemen. Denn infolge der traditionellen, eher pathologieorientierten traumatherapeutischen Konzepte wurden und werden die Beziehungssysteme, besonders die Familien, wenn das traumatische Geschehen innerfamiliär auftrat, noch immer sehr oft als massiv gestörte, »kaputte Beziehungsruinen« beschrieben. Den KlientInnen selbst hilft das überhaupt nicht, sondern es schwächt sie eher und pfropft auf ihr ohnehin schon schlimmes Leid oft noch massive Loyalitätskonflikte auf. Dass in diesem Buch der Blick systematisch ausgeweitet wird auf das umfassendere Beziehungssystem – und dies mit sehr wertvollem Material differenziert illustriert wird –, halte ich für ein weiteres bedeutsames Verdienst der Autoren.
Viele Beiträge zur Traumatherapie bereiten mir insofern Unbehagen, als sie für mich suggerieren, dass man traumatisierte KlientInnen wie zerbrechliche Porzellanfiguren behandeln müsse, weil sie so wenig belastungsfähig seien. Sicher ist eine achtsame und behutsame Haltung empfehlenswert. Es sollte aber auch nie vergessen werden, welche ungeheure Überlebenskompetenz notwendig ist, um die zum Teil extrem schrecklichen Erfahrungen, denen die KlientInnen ausgesetzt waren, zu überleben. Manchmal frage ich mich, ob ich selbst das so überstanden hätte, oft auch mit der Vermutung, dass die betroffenen KlientInnen da mehr Kompetenzen aufweisen, als ich sie bei mir vermute. Auf diese großen inhärenten Fähigkeiten kann auch den KlientInnen gegenüber nie genug hingewiesen werden, denn gerade daraus entsteht bei ihnen allmählich wieder eine Perspektive der Zuversicht und des Vertrauens in die eigene Kompetenz, was eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung der schrecklichen Erfahrungen ist. Auch diese Aspekte werden in diesem Buch immer wieder mit vielen überzeugenden Belegen hervorgehoben, was ich ebenfalls als besonders wertvoll erachte.
Und noch ein bedeutsamer Faktor schimmert hier verdienstvollerweise immer wieder in der Darstellung durch: Ein Erfolg in einer Traumatherapie, auch das Reaktivieren von Sicherheitserleben, Kompetenzerfahrung und Ressourcen-Evozierung ist letztlich seltenst ein individuelles Geschehen allein, wenn es sich auch im Individuum zeigt. Immer ist auch der eigene Prozess der TherapeutInnen und der systematische, würdigende Aufbau des Therapie- oder Beratungssystems dafür entscheidend. Je mehr sich die TherapeutInnen in eine optimale, sie selbst schützende und auch ihre Bedürfnisse achtende Position begeben können, desto mehr werden sie zu einem hilfreichen Modell für die KlientInnen.
Ich kenne die beiden Autoren seit vielen Jahren und hatte persönlich öfters die Gelegenheit, ihre Arbeit und ihr Denken kennen und wertschätzen zu lernen. Deshalb weiß ich, dass sie das hier beschriebene Thema mit sehr fundierter und vielfältiger Erfahrung in allen Belangen mehr als gut kennen. Dass es ihnen aber gelungen ist, dieses komplexe Gebiet so wunderbar differenziert, klar und dabei äußerst umfassend bearbeiten zu können, ruft in mir Bewunderung und Dankbarkeit hervor. Ich halte dieses Buch für einen wichtigen Meilenstein auf dem Gebiet der systemischen Therapie und bin sicher, dass es die systemische Traumatherapie entscheidend vorwärts bringen wird. Ich wünsche dem Buch den großen Erfolg, den es verdient.
Dr. med. Dipl.-Volkswirt Gunther SchmidtHeidelberg, August 2008
»Das Leben wird nach vorn gelebt, kann aber erst nach hinten verstanden werden«.
(Sören Kierkegaard)
Auf Grund der Arbeit mit traumatisierten Systemen und angeregt durch unsere Klienten, Paare und Familien, haben wir begonnen, unsere Erfahrungen als systemische Familientherapeuten und Traumatherapeuten konzeptionell zusammenzuführen. Der Satz von Sören Kierkegaard spiegelt dabei den Prozess unserer konzeptionellen Überlegungen, die sich in der Arbeit mit traumatisierten Systemen entwickelten. Wir merkten, dass wir in unserer traumatherapeutischen und systemischen Arbeit viele Wege beschritten hatten und über die Zeit sich bestimmte Zugänge als sinnvoller und zieldienlicher herauskristallisierten als andere. Das Buch will anregen, systemisch-traumatherapeutische Ideen nach vorne zu leben. Besonders faszinieren uns die Parallelen in der Arbeit mit inneren und äußeren Systemen. Das Prinzip der Selbstähnlichkeit von Systemstrukturen (Fraktalität) ermöglicht es, Konzepte und Konstrukte von inneren auf äußere Systeme und umgekehrt zu übertragen.
In diesem Buch wollen wir das Spannungsfeld und die gegenseitigen Ergänzungsmöglichkeiten von Traumatherapie auf der einen Seite und systemischer Therapie auf der anderen Seite beleuchten, um die großen Ressourcen beider Verfahren füreinander fruchtbar zu machen.
In der traumatherapeutischen Fachliteratur taucht das Wort System gelegentlich im Sinne einer Gruppe von Menschen auf, oder man verbindet mit systemischer Perspektive in verkürzter Weise den Umstand, dass z. B. die Sichtweise von Eltern oder der Familie einbezogen wird. Dabei wurden systemtherapeutische Konzepte oder systemtheoretische Ansätze bislang in der Traumafachwelt nicht berücksichtigt. Ebenso verhält es sich mit der systemischen Therapie. Auch hier sind die Behandlungsverfahren, die Bedeutung von Traumafolgestörungen oder Stressbelastungsstörungen inklusive der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse kaum bekannt. Erst seit 2005 finden sich in der Literatur einige Anzeichen einer Auseinandersetzung mit der Traumatherapie.
Die Trennung beider Ansätze ist umso erstaunlicher, als bereits in den 1970er und frühen 1980er Jahren in den USA durch S. Minuchin, C. Madanes und in Italien durch das Mailänder Team das Thema Gewalt und sexuelle Gewalt in Familien bearbeitet wurde und Konzeptionen für das therapeutische Handeln entstanden.
Aufsuchende Familientherapeutinnen oder systemisch arbeitende Kolleginnen aus den Allgemeinen Sozialen Diensten und systemische Berater aus Jugend- oder Familienzentren, die in Brennpunkten tätig sind, sind in ihrer beruflichen Praxis sehr häufig mit traumatisierten Menschen und Systemen konfrontiert und oft genug überfordert und fragen sich, wie sie in ihrem Berufsfeld mit traumatisierten Systemen arbeiten können. Wenn wir einmal von den Großschadensereignissen absehen, sind diese Kolleginnen und Kollegen die eigentlichen »Ersthelfer« für traumatisierte Menschen, auch wenn es sich nicht um akute, sondern häufiger um chronische Traumatisierungen handelt. Sie sind besonders angewiesen auf eine gute Ausbildung und gute Werkzeuge, damit sie Menschen unterstützen können und beiden Seiten sowohl Fehldiagnosen wie auch unnütze Leidenswege erspart bleiben.
Wir wenden uns an die Kolleginnen und Kollegen, die mit einem systemischen Ansatz in Kontexten tätig sind, in denen sie mit traumatisierten Systemen in Kontakt kommen. Außerdem möchten wir Traumatherapeuten mit einer individuumszentrierten Weiterbildung darauf neugierig machen, sich mehr mit den Möglichkeiten von Systemen zu beschäftigen und deren Ressourcen in ihre Arbeit zu integrieren.
Mit diesem Buch wollen wir zeigen, wie eine systemisch orientierte Traumatherapie oder eine traumatherapeutisch orientierte Systemtherapie Menschen helfen kann und wie systemische und traumatherapeutische Haltungen, Ideen, Methoden und Therapiestrategien sich wechselseitig bereichern können.
Der erste Teil dient der Einordnung und Skizzierung eines systemischen Ansatzes im Feld der Traumatherapie. Nach einer Diskussion über das Zueinander von Trauma- und Systemtherapie im 1. Kapitel widmet sich das 2. Kapitel den Grundlagen unseres Ansatzes von Traumatherapie und dem Konzept der strukturellen Dissoziation. Im 3. Kapitel geht es um die theoretischen Eckpfeiler einer systemischen Traumatherapie. Dazu gehören beispielhaft: Ressourcenorientierung, Kontextorientierung, Auftrags- und Zielorientierung, Lösungs- und Zukunftsorientierung, Musterbezogenheit, die therapeutische Beziehung usw. Das 4. Kapitel beschreibt einige Techniken und Methoden aus dem systemischen Spektrum und berichtet darüber, wie diese im Rahmen der Traumatherapie genutzt werden können.
Der zweite Teil des Buches widmet sich speziell der systemischen Traumatherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Im 5. Kapitel werden die kindliche Entwicklung aus Sicht der Bindungstheorie, Neurobiologie und Psychotraumatologie vorgestellt und Entwicklungen in traumatisierten Systemen. Im 6. Kapitel geht es um einzeldiagnostische Instrumente für Kinder und Jugendliche. Es wird ein systemisches Achsen- und Evaluationsmodell für die traumatherapeutische Praxis präsentiert. Das 7. Kapitel widmet sich der Therapie mit Kindern und ihren Familien. Es werden fünf Zugänge zu traumatisierten Systemen gezeigt, die sich an diesem Modell orientieren und anhand von Fallbeispielen erläutert werden. Das 8. Kapitel stellt einzelne Interventionen in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen innerhalb und außerhalb von Therapie vor.
Die Traumatherapie ist auf dem Wege zu einer allgemeinen Psychotherapie der Traumafolgestörungen. Klaus Grawe hat in seinem Buch Neuropsychotherapie (2004, S. 164) bereits darauf hingewiesen:
»Die PTSD kann damit als gutes Beispiel dafür gelten, wie durch Kombination von psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung der Störungsgrundlagen ein breit abgestütztes Verständnis der Störungszusammenhänge erarbeitet werden kann, das Therapeuten schließlich befähigt, die konkrete Behandlung auf der Grundlage dieses Störungsverständnisses flexibel auf die besonderen Belange des einzelnen Patienten zuzuschneiden.«
Wir hoffen, hiermit einen systemischen Beitrag zu leisten.
Besonderer Dank gilt unseren Klientinnen und Klienten, die uns lehrten, was für sie von Bedeutung und Wichtigkeit auf dem Weg der Veränderung war.
Auch gilt unser Dank unseren therapeutischen Lehrerinnen und Lehrern. Besonders erwähnen möchten wir hier: Luise Reddemann, Arne Hofmann, Ellert Nijenhuis, Helga Mattheß, Gunther Schmidt, Martin Kirschenbaum, Hakon Oen, Steve de Shazer, Insoo Kim Berg, Michael Grinder – um nur einige unserer wichtigsten Vorbilder und Mentoren zu nennen.
Bedanken möchten wir uns auch bei den vielen Kolleginnen und Kollegen für den fachlichen Austausch: bei Sabine Reisner, Ralf Schobert, Anke Nottelmann, Karl-Heinz Pleyer, Alexander Korittko, Stefan Reichelt, unserer Intervisionsgruppe, dem Team meiner (A. K.) kinderpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Praxis und dem Trainerteam des ifs (Institut für Familientherapie, systemische Supervision und Organisationsentwicklung).
Nicht zuletzt danken wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Weiterbildungsgänge des ifs, im Besonderen aus der systemischen Traumatherapie, die durch ihre Fragen und ihre Anregungen dazu beigetragen haben, dieses Konzept zu entwickeln.
Besonderer Dank gilt auch dem Carl-Auer Verlag, der uns diese Veröffentlichung ermöglicht.
Reinert Hanswille und Annette KissenbeckEssen, im Mai 2008
In den frühen 1990er Jahren finden sich in Deutschland die Anfänge einer eigenständigen Traumatherapie. Vor allem die klassischen Psychotherapieverfahren besetzten das Feld. Später gesellten sich spezielle Traumatherapieverfahren hinzu, die sich teilweise aus den bekannten Therapieverfahren (psychodynamischen Ansätzen oder Verhaltenstherapie) entwickelt haben oder neu konzeptualisiert wurden (wie z. B. EMDR). Sie alle leisteten bedeutsame Pionierarbeit.1Die systemische Therapie und Familientherapie nahmen an dieser Entwicklung kaum teil. Dies ist umso verwunderlicher, als auch in der Familientherapie einige Hinweise zu finden sind, wie mit traumatisierten Familien gearbeitet werden kann, die aber nicht weitergeführt wurden.2 Figley (1989) zeigte bereits Mitte der 1980er Jahre die Möglichkeiten eines familientherapeutischen Ansatzes in der Traumatherapie.
In jüngster Zeit finden sich in Amerika einige Publikationen, die sich dem Zusammenspiel von Familientherapie bzw. Systemtherapie und Traumatherapie widmen.3In der deutschsprachigen systemischen Literatur hingegen gibt es nur wenige Buchveröffentlichungen zur Traumatherapie4 und einige Anmerkungen im Antrag für den wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie (von Sydow et al. 2007). Hinzu kommen einige wenige Fachaufsätze in psychotherapeutischen Fachzeitschriften.5 Die systemische Auseinandersetzung mit der Expertise der Traumatherapie findet nicht statt.
Das faktische Nebeneinander von Traumatherapie und Systemtherapie ist umso verwunderlicher, als einerseits in der Traumatherapie immer wieder die Familie als Ressourcenraum betont wird und anderseits viele methodische und konzeptionelle Ideen der systemischen Therapie in den unterschiedlichen Ansätzen der Traumatherapie zu finden sind.
Wir möchten mit diesem Buch eine Brücke schlagen zwischen Traumatherapie und Systemtherapie.
In der traumatherapeutischen Praxis wird immer wieder davon gesprochen, dass Traumatherapie systemisch orientiert sein soll. Gemeint ist damit oft »Wir führen ab und zu Elterngespräche« oder »Wir ziehen, wenn es nötig ist, auch mal den Lehrer hinzu« oder »Systemische Therapie wäre gut, aber es ist unrealistisch, denn die ganze Familie bekommen wir nicht an einen Tisch, außerdem ist das in vielen Fällen von innerfamiliären Traumatisierungen auch nicht sinnvoll«.
Heute wird die systemische Therapie als ein Theorierahmen verstanden, innerhalb dessen sich die systemische Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen oder anderen sozialen Systemen versammelt. »Der Übergang von der Familientherapie zur systemischen Perspektive (vgl. Reiter et al. 1988, 1997) resultiert aus einer sich zu Anfang der 80er Jahre rasch verbreitenden Skepsis gegenüber den Familientherapien der Zeit« (Ludewig 2004, S. 71). Die Familientherapie wird heute weitgehend als eine von vielen Settingvarianten der systemischen Therapie verstanden. Der Therapieprozess kann durchgehend in ein und demselben Setting stattfinden, z. B. mit einer Einzelperson, oder aber in wechselnden Settings und Subsystemen.
Das bedeutet in der Praxis: Der therapeutische Prozess von Peter (zwölf Jahre, komplexe Traumafolgestörung, ausgelöst durch den plötzlichen Tod des Bruders) begann mit einer Familiensitzung, daran schlossen sich mehrere Einzelsitzungen an, es folgten einige Sitzungen mit den Subsystemen der Geschwister. Dazwischen gab es Sitzungen mit dem Elternpaar sowohl in ihrer Rolle als Eltern wie als Ehepaar. Der Prozess wurde beendet mit einigen Familiensitzungen, in denen der gemeinsame Trauerprozess abgeschlossen wurde. So kann nach Auftrag und Notwendigkeit zwischen den einzelnen Settings gewechselt werden – im Sinne eines möglichst effektiven Gesamtprozesses.7
Der bifokale Blick auf Individuum und System bzw. die Kunst der »Gleitsicht«:
(a) Aus systemischer Sicht heißt das, dass wir neben den Mustern der Interaktion zwischen verschiedenen Familienmitgliedern – oft schon schwierig genug – auch die Psychodynamik Einzelner und ihre individuellen Entwicklungen im Blick haben sollten. Traumatisierungen werden sonst leicht übersehen oder nicht genügend beachtet. Vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichten kann Empathie, z. B. für einen Elternteil, aus dessen persönlicher Geschichte erwachsen. Vertieft wird man auch mit inneren Anteilen einzelner Systemmitglieder arbeiten müssen, um ihre Innenhandlungen zu verstehen und um ihre Interaktionen außen mit der Familie bzw. dem sozialen System zu erkennen. So können verschiedene Anteile eines Klienten sehr unterschiedliche, ja extrem widersprüchliche Muster mit Familienmitgliedern entwickeln. Häufig erklärt erst das Verständnis für den Einzelnen die systemischen Verstrickungen oder traumatischen Triggerkaskaden.
(b) Auch aus individuumszentrierter Sicht sollte die Therapie sich nicht nur auf die Arbeit mit dem Klienten reduzieren oder nur seine Psychodynamik bzw. sein Innensystem in den Blick nehmen. Klienten entwickeln ihre Eigenschaften, Verhaltensweisen und ihre Persönlichkeit in ihren familiären und sozialen Systemen. Interaktionelle Störungen, transgenerationale Vermächtnisse oder desorganisierte Bindungserfahrungen lassen sich nur im Kontext der Familie erkennen und verstehen. Andere Entwicklungen werden wiederum nur vor dem Hintergrund sozialer Bezugssysteme verständlich. Dabei müssen wichtige, ressourcenvolle Beziehungen gestärkt und von zu belastenden Beziehungen abgegrenzt werden.
Systeme bewegen sich auf einem funktionalen Kontinuum. Sie können sich stabilisieren bzw. destabilisieren und triggern. Sie können sich auch »infizieren«. Der Begriff der »Infektion« bezieht sich hier auf Muster von Grenzverletzungen (Gewalt, Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung), die sich als misslungene Lösungsversuche verfestigt haben und mit denen sich Systemmitglieder gegenseitig gefährden.
Erst beide Perspektiven zusammen – die individuumszentrierte und die systemische Sichtweise: die Kunst der »Gleitsicht« – fördern einen fortlaufenden rekursiven Prozess und potenzieren die therapeutische Wirkung der Traumatherapie.
In der traumatherapeutischen Literatur finden sich unterschiedlichste Konzepte, wie traumatische Erfahrungen geordnet und klassifiziert werden können. Dazu werden differenzierende Kriterien wie z. B. Schwere, Dauer, Art des Traumas vorgeschlagen.
Terr (1990) kennt zwei unterschiedliche Typen von Traumata:
Traumatyp I handelt von einmaligen und völlig unerwartet auftretenden Ereignissen, wie zum Beispiel dem plötzlichen Tod eines Kindes, dem Autounfall, dem Flugzeugunglück, einem Terroranschlag oder auch invasiven medizinischen Eingriffen (z. B. frühzeitigem Erwachen aus der Narkose).
Traumatyp II handelt von Situationen, die längere Zeit – unter Umständen jahrzehntelang – andauern und aus denen es kein Entrinnen gibt; das können sein Krieg, sexuelle Gewalt, Gewalterfahrungen in der Familie, Vertreibung, Folter, Gefangenschaft, Geiselnahme, Vernachlässigung im frühen Kindesalter, anhaltende bedrohliche Mobbingsituationen.
Shapiro (die Begründerin des EMDR; vgl. Shapiro 1998, 2003) schlägt eine Unterscheidung nach der Schwere des Traumas vor:
Big T-Traumata: Ereignis existentieller äußerer und innerer Bedrohung durch Angriffe auf den Körper, das Leben und die emotionale und soziale Existenz, Terror und Foltererlebnisse in kriegerischen, politischen und kriminellen Zusammenhängen, Natur- und Verkehrskatastrophen, Unfälle, schwere Erkrankungen, invasive medizinische Eingriffe, plötzliche vorzeitige Verluste.
Small t-Traumata: die scheinbar weniger katastrophalen Ereignisse, die mit Schreck und Angst in Verbindung mit einem hohen Maß an bestürzender Beschämung, Peinlichkeit, tiefer Verunsicherung und vermeintlicher oder realer Schuld einhergehen und die den Betroffenen mit der gleichen Unausweichlichkeit wie die Big T-Traumata widerfahren.
Wöller (2006, S. 12; Hervorh.: R. H. u. A. K.) führt eine weitere Kategorie ein, die in vielen Kontexten ebenfalls Sinn ergibt:
»Apersonale Traumen sind solche, die nicht durch Menschen herbeigeführt werden. Beispiele hierfür sind Naturkatastrophen, die meisten Verkehrsunfälle sowie die unpersönlichen Aspekte von Kriegseinwirkungen. Personale Traumen sind dagegen räuberische Überfälle, Vergewaltigungen, Gewalt im personalen Nahbereich in Form von ehelicher Gewalt, Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch, ferner Folter, Geiselhaft und Kriegseinwirkungen.«
Eine weitere Unterscheidung ist in Mono- und Multitrauma möglich.
»Es spricht einiges dafür, dass das klassische PTBS-Störungsbild mit Intrusionen, Vermeidung und Übererregung eher mit dem Monotrauma einhergeht und komplexere Bilder, z. B. die ›Disorder of Extreme Stress, Not Otherwise Specified (DESNOS)‹, typische Folgen von Multi- oder chronischen Traumata sind« (Maercker u. Rosner 2006, S. 8).
Diese Unterscheidung wird aufgegriffen, wenn Traumata nach ihrer Häufigkeit unterteilt werden:
Monotrauma: einmalige Traumatisierung (ein Verkehrsunfall, eine Vergewaltigung). Hier finden sich unterschiedliche traumatisierende Ereignisse mit unterschiedlichem Schweregrad.
Sequentielle Traumatisierung: Diese Kategorie stammt von Keilson (1979) und meint über einen Zeitraum erfolgte mehrfache Traumatisierungen, die in sich ähnlich sind. Das können z. B. Foltererfahrungen, Kriegserlebnisse, innerfamiliärer Missbrauch sein.
Kumulative Traumata (Khan 1963) meint die Addition von Ereignissen, von denen jedes einzelne keine Traumatisierung ausgelöst hätte. Erst die Addition führt zu einer posttraumatischen Erkrankung. Hier können Bagatellunfälle, Beschämungen, Bedrohungserlebnisse, Mobbing etc. gemeint sein.
Die Ergebnisse der Traumaforschung legen auch eine Unterscheidung nahe, die das Lebensalter berücksichtigt. Denn die Ergebnisse zeigen, dass Traumatisierung im frühen Kindesalter deutlich eher zu komplexen Traumafolgestörungen führen als Traumatisierungen im Erwachsenenalter.
Der Grad der Dissoziation, die durch das Trauma ausgelöst wurde, ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal und wird näher in Abschnitt 2.6 beschrieben:
Die primäre strukturelle Dissoziation (ein ANP [anscheinend normale Persönlichkeit] und ein EP [emotionale Persönlichkeit]): Zur Erklärung von EP und ANP siehe die Abschnitte 2.6.4 und 2.6.5. Störungsbilder: die einfache akute Belastungsstörung, die einfache posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die einfache dissoziative Störung der Bewegungs- und Sinnesempfindung.
Die sekundäre strukturelle Dissoziation (eine ANP und zwei bzw. mehrere EPs). Störungsbilder: traumabezogene Borderline-Persönlichkeitsstörung, DESNOS (Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified), komplexe PTBS, komplexe dissoziative Störungen der Bewegung und Sinnesempfindung sowie andere dissoziative Erkrankungen.
Die tertiäre strukturelle Dissoziation (zwei oder mehrere ANPs und zwei oder mehrere EPs). Störungsbild: dissoziative Identitätsstörung.
(Vgl. Mattheß u. Nijenhuis 2006, S. 465–482; Nijenhuis, van der Hart u. Steele 2004a.)
Alle bis hierhin kurz referierten Unterscheidungsmerkmale von Traumatisierungen beziehen sich auf das Individuum. Für eine systemische Traumatherapie ist es wichtig, auch Unterscheidungsmerkmale für Traumatisierungen im System zu benennen.
Außerfamiliär verursachte Traumata können z. B. sein:
Gewalt oder sexuelle Übergriffe von außen
Unfälle, Brandereignisse
chronische Krankheiten, medizinische Eingriffe, plötzliche Behinderungen
Krieg, Verfolgung, Vertreibung etc.
Mobbing, Burn-out, Ausgrenzung etc.
Naturkatastrophen
traumatische Verluste, z. B. Trennungen.
Innerfamiliär verursachte (man-made) Traumata können z. B. sein:
sexuelle oder inzestuöse Übergriffe oder Ausbeutung
Züchtigung von Kindern, Gewalt gegenüber Kindern
körperliche Deprivation oder Misshandlung
emotionale Deprivation
Gewalt zwischen Eltern, Mord
Suizidierung eines Familienmitgliedes
Erkrankungen von Familienmitgliedern.
Innerfamiliäre Traumata wiegen auf Grund ihrer weitreichenden entwicklungsformenden Folgen in aller Regel schwerer.
Bei welchen Traumatisierungen ein systemischer Ansatz hilfreich ist, hängt vom Setting, den therapeutischen Möglichkeiten und den Erfahrungen der Patienten ab.
Bei einer einfachen PTBS oder einem Monotrauma können sowohl ein familientherapeutisches Vorgehen wie ein einzeltherapeutisches Vorgehen angezeigt sein. Wenn das Monotrauma in der Familie geschah oder die gesamte Familie durch ein Ereignis betroffen war, ist es sinnvoll, die Aufmerksamkeit in der Arbeit auf das System zu richten, um zu entscheiden, welche Gesamt- oder Subsettings zu welchem Zeitpunkt hilfreich sein können. Dazu bieten sich unterschiedliche, eher systemische Techniken an, aber unter Umständen auch EMDR im Gesamtsystem (Shapiro, Kaslow a. Maxfield 2007).
Aus systemischer Sicht ist es von besonderer Bedeutung, wie nah der Täter dem Opfer war. Vielfältig belegt ist, dass die Traumafolgen umso heftiger sind, je näher sich Opfer und Täter stehen. Die Vertrautheit zwischen Täter und Opfer gehört neben der Dauer der Traumatisierung und dem Lebensalter des Opfers zu den ausschlaggebenden Faktoren für die Stärke einer Traumafolgestörung.
Aus systemischer Sicht unterscheiden wir fünf Zugänge in einem systemischen 5-Achsen-Modell (vgl. Abschnitt 6.3 und Kapitel 7).
I. Traumaauslöser. Sie können, wie zuvor beschrieben, unterschieden werden in:
außer- bzw. innerfamiliäre
personale (man-made) oder apersonale (z. B. Naturkatastrophen)
Grundthemen.
II. Traumakontext: Er meint den begleitenden sozialen (familiären oder außerfamiliären) Kontext bzw. die Kontextualisierung vor, während, nach dem Trauma.
III. Traumadosis: Sie bezieht sich auf Dauer, Schwergrad (Typ 1 oder Typ 2), Alter und differenziert in einzelne traumatische Ereignisse, Ereignisketten und Ereignisfelder (traumatische Zustände) im System.
IV. Traumafokus: Er unterscheidet traumatisierte Systeme, je nachdem ob:
das Individuum allein traumatisiert ist
das Subsystem (Dyade bzw. Triade) traumatisiert ist (z. B. Mutter und Kind; Geschwister)
das Gesamtsystem traumatisiert ist (z. B. Familie oder andere Subsysteme bzw. Arbeitssysteme).
V. Traumabeziehungsmuster: Durch traumatische Erfahrungen können sich bestimmte anhaltende bzw. überdauernde Beziehungsmuster organisieren. Sie werden hier in drei Kategorien unterteilt, die in ihrem Grad der Verstörung (Inkohärenz) zunehmen und miteinander korrespondieren können:
interaktionelle (z. B. durch traumatischen Stress bei Eltern und Kind nach Frühgeburt)
transgenerationale (z. B. Weitergabe von selbsterlebter Traumatisierung)
fragmentierte (z. B. Weitergabe dissoziativer Muster oder desorganisierter Bindungserfahrungen).
In den Kapiteln 5–8 beschreiben wir ausführlich das 5-Achsen-Modell systemischer Arbeit mit traumatisierten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien.
Komplexe Traumatisierungen und Traumafolgestörungen bieten ein breites Anwendungsfeld systemischer Überlegungen für eine Therapiekonzeption an (vgl. Abschnitt 5.5): die Stabilisierungsphase, die Arbeit mit Ressourcen, die Arbeit mit Triggern (Auslösern für Traumaerinnerungen), die gegenseitige Unterstützung bei Flashbacks, die Entwicklung einer stützenden Atmosphäre im Umgang mit den Symptomen, Aktivierung der Systemressourcen, das Anbieten stabiler Beziehungen. Methodische Ideen dazu werden in Kapitel 4 beschrieben, z. B. die Arbeit mit dem inneren System, den inneren Anteilen, die Ressourcenarbeit, die Arbeit mit Metaphern oder dem Familienbrett etc.
Bei Monotraumen, bei denen nur ein Familienmitglied betroffen ist, kann eine Einzeltherapie sehr effektiv sein. Hier bietet sich EMDR als das Verfahren der Wahl an. In solchen Fällen ist die systemische Arbeit eher zur Stabilisierung und Ressourcensuche im System zu nutzen und zur Integration des Traumas in das Familiensystem.
Grundsätzlich kann die systemische Arbeitsweise auf vier Ebenen genutzt werden:
Allgemeine Nutzung systemischer Perspektiven, Theorien und Methoden innerhalb der Traumatherapie, auch im Rahmen einer individuellen Traumatherapie.
Einbindung der Familienmitglieder beziehungsweise Systemmitglieder in die Stabilisierung von traumatisierten Menschen.
Nutzung von Subsystemen in der Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen bei innerfamiliärer Traumatisierung, z. B. Nutzung des Subsystems Mutter/Tochter, Nutzung von sicheren Geschwisterbindungen und sicheren mehrgenerationale Beziehungen; vgl. z. B. Frau T., 38, die erzählt:
»Auf meine Mutter war kein Verlass, sie hat getrunken oder war ständig mit anderen Männern unterwegs, die uns dann gequält haben. Wenn ich damals nicht meine Oma gehabt hätte, die sich um mich und meinen Bruder gekümmert hat, nachdem mein Stiefvater uns das angetan hat, hätte ich nicht gewusst, was ich mache, ich glaube, ich hätte mich umgebracht.«
d) Arbeit mit der gesamten Familie sowohl im Bereich der Stabilisierung als auch bei der Traumakonfrontation, bei Traumatisierungen innerhalb der Familie, bei nichtpersonalen Traumen oder bei Traumatisierungen, bei denen der Täter nicht aus der Familie stammt, z. B. Unfall, Brand, Naturkatastrophe, Krankheit oder Tod eines Familienmitglieds, Gewalt etc.
In der Praxis mischen sich diese Ansätze, und die Aussage Heinz von Foersters sollte die Leitlinie sein: »Handle stets so, dass du die Anzahl deiner Möglichkeiten vergrößerst.«
1Wir wollen hier auf einige Vertreter hinweisen: Foa u. Rothbaum (1998); Ehlers (1999); Linehan (1993a, b, 1996); Bohus (2002); Fischer (2000a); Phillips u. Frederick (2003); Huber (2003a, 2005); Reddemann (2000,2001,2004a, b, c); Shapiro (1998a, b); Hofmann (1999); Levine (1998); Rothschild (2002).
2Madanes (1995, 1997); Everstin u. Everstine (1985); Trepper u. Berret (1991); James u. Nasjeleti (1983); Cirillo u. Di Blasio (1992); Bentovim (1995) u. a.
3Wir beschränken uns hier auf einige Buchpublikationen und möchten besonders auf folgende Titel hinweisen: Shapiro, Kaslow a. Maxfield (2007); Kaslow et al. (2003); Boss (2006); Saxe, Ellis a. Kaplow (2007).
4Schweitzer u. von Schlippe (2006); Neuburger (2007); Sutter (2005).
5Bräutigam (2006); Korittko (2000, 2002, 2006); Pleyer (2003, 2004); Bittenbinder (2000); Oesterreich (2005); von Saint Paul (2006); Russinger (2004).
6Wir möchten verweisen auf: von Schlippe u. Schweizer (1996); Schweitzer u. von Schlippe (2006); Ludewig (2004, 2005); von Sydow et al. (2007); Ritscher (2006); Simon (2006); Klein u. Kannicht (2007).
7Unser Verständnis der systemischen Therapie wird ausführlicher dargestellt in Hanswille (2000b).
Die Geschichte der Traumatherapie, des Traumas und der sogenannten Traumafolgestörungen sind wie ein Abbild der gesellschaftlichen Prozesse der vergangen 200 Jahre. Interessant ist es, zu sehen, wie die Bedeutung der Ideen einem ständigen Wandel unterworfen waren, je nach gesellschaftspolitischer Diskussion. So wechselten immer wieder Phasen öffentlichen Interesses mit Phasen der Leugnung und Verheimlichung ab und spiegelten auf gesellschaftlicher Ebene die Traumaverarbeitungsprozesse zwischen Konstriktion und Intrusion wider (vgl. Abschnitt 2.2.2).
Jean Martin Charcot (1822–1893), ein Psychiater und Neurologe, und Pierre Janet (1852–1947) können als die Gründer der modernen Traumatherapie bezeichnet werden. Ihr phasenorientierter Ansatz der Traumatherapie und andere Behandlungsideen sind noch heute für die Therapie wichtig.
Der Erste und der Zweite Weltkrieg und auch die Eisenbahnunfälle des vorletzten und letzten Jahrhunderts sorgten für vielfältige Untersuchungen8 und wichtige Ergebnisse, auf die auch die moderne Traumatherapie gerne zurückgreift. Die Forschung mit Opfern des NS-Regimes und mit amerikanischen Soldaten des Vietnam-Krieges schärften das Verständnis dafür, dass Traumatisierungen eine massive Einschränkung der Lebensqualität darstellen und nicht von alleine verheilen.9 Parallel zur Entwicklung dieser Verständnisse bildeten sich die ersten traumatherapeutischen Methoden heraus. Die feministische Forschung der 1960er und 1970er Jahre schärfte das Bewusstsein für Traumatisierungen, die in der Familie durch sexuelle und körperliche Gewalt geschahen.10 Etwas später kam durch die Bindungsforschung das Verständnis für Entwicklungstraumatisierungen hinzu.
Diesen Forschern und Forscherinnen ist es zu verdanken, dass die psychotherapeutische Diskussion über Traumatisierungen immer größeren Einfluss gewann und schließlich 1980 die »posttraumatische Belastungsstörung« erstmals in das DSM III aufgenommen wurde.
8Erinnert sei hier z. B. an Oppenheim (1899); Myers (1940); Kardiner (1941); Simmel (1918); Niederland (1980).
9J. Shay (1997) berichtet in seinem Buch Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, dass nach dem Vietnam-Krieg doppelt so viele Veteranen durch Suizid verstarben, als Soldaten bei den Kampfhandlungen umgekommen sind
10Hier sei auf die Pionierarbeiten von Diana Russel (1986) und Judith Herman (2003) verwiesen.
11Persönliche Mitteilung während des Seminars Phasenorientierte Behandlung komplexer Traumafolgestörungen im Januar 2006 in Hilden.
Traumatherapie wird als ein phasenorientiertes Therapieverfahren verstanden: Damit greifen die meisten traumatherapeutischen Richtungen auf die Überlegungen von Pierre Janet zurück.
Es werden vier spezielle traumatherapeutische Phasen unterschieden (vgl. auch Abschnitt 7.3):
Orientierung (Joining- und Kontraktphase, Anamnese, Diagnostik etc.)
Stabilisierung
Traumabegegnung (-bearbeitung, -konfrontation, -synthese)
Trauma- und Trauerintegration.
Einige Verfahren gehen stark phasenorientiert und mit einer manualisierten Therapiekonzeption vor. Andere Verfahren sehen in den Phasen eher eine Orientierung, die im Prozess der Therapie berücksichtigt wird. Diese Überlegungen kommen einer systemisch orientierten Traumatherapie näher. Hier sind die Phasen nicht als statische Stufen zu sehen, die »abgearbeitet« werden müssen, sondern eher als dynamisch ineinander verwobene Elemente, die es zu berücksichtigen gilt. So sind die Stabilisierung, Traumabegegnung, Psychoedukation, Traumaintegration usw. Therapieabschnitte, die immer wieder notwendig und wichtig sind. Die Stabilisierung versteht sich als ein Prozess der Veränderung, in der Klienten immer wieder Stabilität erlernen sollen, um den Alltag besser zu bewältigen und zu erfahren, wie sich die Integration der traumatischen Erfahrung auf die eigene Alltagsbewältigung auswirkt. Der Prozess der Verarbeitung lässt sich am ehesten als ein Pendeln zwischen Entlastung, Stabilisierung der Ressourcen einerseits und Belastung, Konfrontation, Integration andererseits beschreiben.
In der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen gibt es einige Vorannahmen, die sich von therapeutischen Vorannahmen bestimmter Psychotherapieverfahren unterscheiden:
Die Therapie soll keinen zusätzlichen Stress aufbauen, vor allem nicht in der ersten Phase der Stabilisierung.
Die Klienten sollen erfahren, ihre physiologische Erregung kontrollieren zu können – genauso wie ihre Affekte (vorher ist keine Traumabegegnung möglich).
Die Klienten sollen lernen, sich selbst zu beruhigen und sich selbst zu trösten.
Die Klienten sollen sich in der therapeutischen Beziehung sicher fühlen.
Die Klienten sollen die Kontrolle über den therapeutischen Prozess bekommen.
Sie sollen Selbstkontrolle erlernen, um innere wie äußere Sicherheit zu gewinnen.
Die Klienten sollen lernen, ihren inneren Stress besser zu managen, und gleichzeitig lernen, zusätzlichen Stress zu vermeiden.
Ressourcenorientierung ist eine Haltung, die in allen Therapiephasen von großer Bedeutung ist. Sie ist Teil der Stabilisierung, der Traumabegegnung und der Traumaintegration.
In den Sitzungen sollen Therapeuten Informationen geben, um bei den Klienten das Gefühl von Kontrolle, Sicherheit, Transparenz und Durchschaubarkeit herzustellen.
Die Therapie sollte sich im optimalen Erregungsbereich des »Window of Tolerance« bewegen (s. Abb. 1).
Abb. 1: Window of Tolerance (nach Ogden a. Minton 2000)
Das Window of Tolerance beschreibt den optimalen Erregungszustand für Klienten in einem therapeutischen Prozess. Dabei wird davon ausgegangen, dass es eine Untererregung (Hypoarousal) gibt, bei der die Atmung und die Affekte flach sind. Die Klienten erscheinen wie betäubt und sind unfähig, klar zu denken. Die Depression gilt als ein Zustand von Hypoarousal. Das Gegenstück ist die Übererregung (Hyperarousal). In dieser Situation haben Menschen eine erhöhte Atemfrequenz wie nach großer Anstrengung, sie zittern oder erleben intrusive Bilder. Sie sind hypervigilant, erleben sich in einem kreisenden mentalen Verarbeitungsprozess.