Systemische Traumatherapie - Reinert Hanswille - E-Book

Systemische Traumatherapie E-Book

Reinert Hanswille

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Beschreibung

Traumatisierende Ereignisse kommen weitaus häufiger vor, als es auf den ersten Blick scheint. Unfälle, Gewalterfahrungen, Missbrauch oder Vernachlässigung lösen in rund einem Viertel der Fälle Traumafolgestörungen aus, die sich oft erst nach Monaten zeigen. Dieses Buch verbindet erstmals das Know-how der klassischen Traumatherapie mit den erfolgreichen Methoden der systemischen Therapie zu einem umfassenden Konzept. Familientherapeuten vermittelt es einen Überblick über den aktuellen Stand der Traumatherapie und Traumaforschung. Traumatherapeuten und Medizinern ermöglicht die Einbeziehung des Systems, dessen Unterstützung zu nutzen, die Traumabehandlung deutlich zu verkürzen und Rückfälle zu vermeiden. Mitarbeitern im sozialen Dienst, die oft den ersten Kontakt zu Betroffenen haben, hilft es, Traumatisierungen zu erkennen und ihre Behandlung in die richtigen Wege zu leiten. So entlastet eine Systemische Traumatherapie – neben den Traumatisierten selbst – letztendlich alle Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Ein bedeutender Teil des Buches beschäftigt sich mit der Therapie von traumatisierten Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Familien. Auf der Basis von kindlichen Entwicklungs- und traumaspezifischen Aspekten entwickeln die Autoren hier ein systemisches Konzept für die therapeutische Praxis. Darin werden Diagnoseinstrumente vorgestellt, Therapiestrategien entworfen und Interventionen für traumatisierte Systeme beschrieben.

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Reinert Hanswille/Annette Kissenbeck

SystemischeTraumatherapie

Konzepte und Methodenfür die Praxis

Mit einem Geleitwort von Ellert Nijenhuisund einem Vorwort von Gunther Schmidt

Vierte Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Vierte Auflage, 2022

ISBN 978-3-89670-753-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8365-5 (ePUB)

© 2008, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Einleitung: Systemische Traumatherapie – Traumatherapie systemisch

Teil I: Systemische Traumatherapie – Theoretische Grundlagen und Methoden

1.Traumatherapie und Systemtherapie

1.1Zueinander von Traumatherapie und Systemtherapie

1.2Anmerkungen zu unserem Verständnis von systemischer Therapie

1.3Individuumzentrierte und systemorientierte Traumakategorien

1.3.1Wie werden Traumata unterschieden?

1.3.2Unterscheidungsmerkmale aus systemischer Sicht

2.Grundlagen der Traumatherapie

2.1Schlaglichter aus der Geschichte der Traumatherapie

2.2Krankheitsbilder und Verbreitung

2.2.1Definitionen und Kennzeichen von Traumatisierungen

2.2.2Was geschieht in der traumatischen Situation und ersten Verarbeitung?

2.2.3Wann sind Traumafolgen zu erwarten?

2.2.4Die sogenannten Traumafolgestörungen

2.2.5Comorbide Traumafolgestörungen

2.2.6Dissoziation

2.3Vom Erstkontakt zur Stabilisierung

2.3.1Beziehungsaufbau und Anamnese

2.3.2Diagnostik

2.3.3Psychoedukation

2.3.4Stabilisierung

2.3.5Der Ego-State-Ansatz

2.3.6Der innere Beobachter

2.3.7Arbeit mit dem inneren Kind

2.4Von der Traumabegegnung zur Traumasynthese

2.4.1Verfahren zur Traumabegegnung

2.4.2EMDR

2.4.3Die Beobachtertechnik

2.4.4Die Bildschirmtechnik

2.5Von der Trauma- zur Trauerintegration

2.6Die strukturelle Dissoziation als Metatheorie der Traumatherapie

2.6.1Der Ansatz der strukturellen Dissoziation

2.6.2Psychobiologische Erklärungsmuster

2.6.3Die Handlungssysteme

2.6.4Die Unterteilung der strukturellen Dissoziation

2.6.5EPs – Emotionale Persönlichkeitsanteile

2.6.6ANPs – anscheinend normale Persönlichkeitsanteile

2.6.7Die integrative Kapazität

2.6.8Implikationen für die Therapie

3.Konzeptionelle Überlegungen für eine systemische Traumatherapie

3.1Systembezogenheit

3.2Das innere System

3.3Kybernetik 2. Ordnung, Beobachterposition und Wirklichkeitskonstruktion

3.4Kontextbezogenheit

3.5Die therapeutische Beziehung

3.6Ressourcenorientierung, Salutogenese, Resilienz und Posttraumatic Growth

3.6.1Ressourcenorientierung

3.6.2Salutogenese

3.6.3Resilienz

3.6.4Posttraumatic Growth

3.7Körper und Bewegung im therapeutischen Prozess

3.8Lösungs-, Zukunfts- und Alltagsorientierung

3.9Auftragsklärung und Zielorientierung

3.10Musterorientierung

3.11Respektlosigkeit und Humor

4.Methodische Ideen für eine systemische Traumatherapie

4.1Skulpturarbeit

4.2Familienbrett und Systembrett

4.3Äußeres und inneres Reflektierendes Team (RT)

4.4Genogrammarbeit

4.5Beziehungslandkarte

4.6Ressourcenorientierte Techniken

4.7Körperarbeit

4.8Fragetechniken

4.9Wunderfrage mit dem BASK-Modell

4.10Skalierungen

4.11Aufgaben zwischen den Sitzungen

4.12Memory Lane, Zeitlinienarbeit

4.13Externalisierung

4.14Unsere Wohnung – unser Haus

Teil II: Systemische Traumatherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien

5.Trauma und Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

5.1Entwicklung aus Sicht der Bindungstheorie

5.2Entwicklung aus Sicht der Neurobiologie

5.3Entwicklung aus Sicht der Psychotraumatologie

5.4Traumasymptome kindlicher Entwicklungsstufen

5.5Entwicklung in traumatisierten Systemen

5.6Co-Evolution in traumatisierten Systemen

6.Diagnostik mit traumatisierten Systemen

6.1Grundlagen diagnostisch-therapeutischer Arbeitshypothesen

6.1.1Anamnese

6.1.2Implikationen einer Traumaperspektive

6.1.3Diagnostische Hypothesen und Konstrukte

6.1.4Traumaassoziierte Diagnosen

6.2Individuelle Diagnostik mit Kindern und Jugendlichen

6.2.1Basisorientierte individuelle Diagnostik

6.2.2Ressourcenorientierte individuelle Diagnostik

6.2.3Traumaorientierte individuelle Diagnostik

6.3Systemdiagnostik mit der Familie

6.3.1Basisorientierte Systemdiagnostik

6.3.2Ressourcenorientierte Systemdiagnostik

6.3.3Traumaorientierte Systemdiagnostik: Das 5-Achsen-Modell

6.4EMIL: Ein Evaluationsmodell für Interventionen und Lösungen

6.4.1Traumaauslöser – Das adaptierte Genogramm

6.4.2Traumakontext – Die sozialen Kontextkoordinaten: der Traumatisierung und danach?

6.4.3Traumadosis – Das Ressourcen- und Traumadiagramm

6.4.4Traumafokus – Die Systemische Traumalandkarte

6.4.5Traumabeziehungen – Das familiäre Beziehungsnetz

6.4.6Interventionen mit TRIAS

6.4.7Krisenintervention mit BREAK

6.4.8Traumarealisierung im System – Das 4-Stufen-Modell

6.4.9Soziale Bezugsarbeit – Die außerfamiliären Bezugskreise

6.4.10Professionelle Netzwerkarbeit – Die Netzwerkkarte

7.Therapie mit traumatisierten Systemen

7.1Grundgedanken

7.1.1Therapeutisches Ziel der Affektregulation

7.1.2Zielklärung, Zeitplanung und Zugänge zum System

7.2Systemtherapeutische Zugänge über die 5 Traumaachsen

7.2.1Systemtherapeutischer Zugang über Traumaauslöser (Achse I)

7.2.2Systemtherapeutischer Zugang über Traumakontext (Achse II)

7.2.3Systemtherapeutischer Zugang über Traumadosis (Achse III)

7.2.4Systemtherapeutischer Zugang über Traumafokus (Achse IV)

7.2.5Systemtherapeutischer Zugang über Traumabeziehungen (Achse V)

7.3Therapiephasen

7.3.1Orientierung im System

7.3.2Stabilisierung im System

7.3.3Traumabegegnung im System

7.3.4Traumaintegration im System

8.Interventionen mit traumatisierten Systemen

8.1Interventionen innerhalb von Therapie

8.1.1Psychoedukative Elemente

8.1.2Kindzentrierte Techniken

8.1.3Familienzentrierte Techniken

8.1.4Gruppentherapie zur Entwicklungs- und Kompetenzförderung

8.1.5Elternarbeit mit Trauma- und Ressourcenfokus

8.1.6Systeminterventionen bei Krisen

8.1.7Systeminterventionen bei Verlusttrauma

8.1.8Systeminterventionen bei Akuttrauma

8.1.9Pharmakotherapie

8.2Interventionen außerhalb von Therapie

8.2.1Entwicklungsförderung

8.2.2Netzwerkarbeit

8.2.3Kinder- und Jugendhilfegesetz

8.2.4Jugendhilfemaßnahmen

Verzeichnis der Abkürzungen

Anhang 1: Systemisches 5-Achsen-Modells

Anhang 2: Posttraumatische Belastungssymptome (PTBS)

Anhang 3: Child Dissociative Checklist (CDC)

Anhang 4: SDQ-20Somatoform Dissociation Questionnaire

Anhang 5: Zeitreise

Literatur

Index

Über die Autoren

Geleitwort

Trauma: eine Störung und Verstörung verschiedener Systeme

Was ist ein System? Eine bestimmte Menge von interagierenden und voneinander abhängigen Einheiten, die zusammen ein Ganzes bilden. Wir Menschen sind ganzheitliche Systeme, die zwar auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden können – biologisch, psychologisch, sozial –, aber im tieferen Sinne nur zu verstehen sind, wenn man diese Ebenen in ihrer engen Beziehung zueinander betrachtet. Wie mittlerweile etliche Phänomenologen, Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler betonen, lassen sich unser Gehirn, unser Körper, unser Geist und unsere Umwelt nur künstlich voneinander trennen, weil sie eng miteinander gekoppelt sind. Demnach sind wir verkörperte Systeme, die alle möglichen wiederum mit ihnen verbundenen Systeme auf niedrigeren Entwicklungsstufen einschließen (z. B. Zellen, Zellansammlungen, das Gehirn, das Nervensystem, den Körper) und die in eine Vielfalt von miteinander verbundenen sozialen Systemen eintauchen (z. B. Dyaden, Familien, Institutionen, Subkulturen, Kulturen und Nationen).

Trauma-Überlebende, insbesondere solche, die als Kinder chronisch missbraucht oder vernachlässigt wurden, können eine Vielzahl an körperlichen und psychischen Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Es hat manchmal den Anschein, als seien sie als Gesamtsystem in eine Art permanentes Chaos gedriftet. Aber dieses Chaos ist nur zu verständlich. Denn besser, als in Stücke gerissen zu werden, reorganisiert sich die Persönlichkeit in zwei oder mehr unterschiedliche und unzureichend integrierte Subsysteme bzw. dissoziiert in verschiedene Persönlichkeitsanteile. Es erfolgt eine basale Aufteilung in einen »anscheinend normalen Anteil«, der versucht den Alltag so zu regeln, als sei alles in Ordnung, und in einen »emotionalen Anteil«, der in traumatischen Erinnerungen fixiert ist.

Trauma-Überlebende haben in ihrem Umfeld oft zwischenmenschliche Traumatisierungen erlebt. Das heißt, wer Missbrauch und Vernachlässigung durch andere erfahren hat, war oft weiteren Systemen ausgeliefert. Sie umfassen Schädiger, Opfer-Täter-Dyaden, Kernfamilien und erweiterte Familien oder noch größere soziale Strukturen. Bedeutenderweise tendieren auch diese anderen Systeme dazu, zwischen anscheinender Normalität und hoher Emotionalität zu alternieren. In diesen wiederkehrenden Wechseln zeigt das Trauma sein Janus-Gesicht. Schädiger verhalten sich oft so, als sei nichts falsch an ihrem Tun, und Familien beteiligen sich häufig an dieser Farce scheinbarer Normalität. Viele psychiatrische Einrichtungen und ganze Gesellschaften haben dieses Spiel mitgespielt oder spielen es noch, indem sie die große Anzahl von Kindheitstraumatisierungen unter psychiatrischen Patienten und in der Gesamtbevölkerung übersehen oder verleugnen. Wie immer auch das, was geschieht oder geschah, mitgeteilt wird, es herrscht in der Regel eine hohe Emotionalität vor. Daher ist ein Trauma eine Störung der Systeme, die nur durch Heilung und Integration auf der miteinander gekoppelten intra- und interpersonellen Systemebene gelöst werden kann.

Um eine solche Umsetzung geht es in diesem schon lange überfälligen und bemerkenswerten Buch. Ich wünsche ihm und seinen beiden Autoren eine große Leserschar – und dieser eine leidenschaftliche Inspiration für die Arbeit mit traumatisierten Systemen.

Ellert Nijenhuis, Ph. D.Assen, Niederlande, im August 2008

Vorwort

Der Bereich der Therapie von KlientInnen, deren Beschwerden als Ausdruck schwerer Traumatisierungen erklärt und beschrieben werden, hat in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung genommen, die man sinnbildlich fast als Flutwelle bezeichnen könnte. Zuvor war dies ein vergleichsweise eher unterbelichtetes Feld – was erstaunlich ist, denn die Zahl von Interaktionen und Erfahrungen, die als traumatisierend wirken können, war sicher nicht geringer als heute. Aus meiner Sicht lässt sich die Tatsache, dass etwa das schmerzliche Thema des »sexuellen Missbrauchs« an Kindern endlich wieder als real erlittenes Phänomen ernst genommen wurde, auch schon zu einem beträchtlichen Teil auf die systemische, familientherapeutische Arbeit zurückführen. (Den Begriff »sexueller Missbrauch« halte ich für sehr unglücklich, weil er implizieren könnte, dass es einen sexuell passenden »Gebrauch« geben könnte, und das halte ich an sich schon für nicht akzeptabel.) In der Geschichte der Psychotherapie waren solche Themen ja über viele Jahrzehnte eher als Ausdruck neurotischer Fantasien von KlientInnen bewertet worden, nachdem Freud sich entschlossen hatte, dieses brisante Thema doch lieber als Ausdruck individueller Störung zu behandeln – wohl auch deshalb, um im Wien der Jahrhundertwende nicht noch mehr anzuecken.

Die systemische Arbeit sieht individuelles Erleben als ernst zu nehmenden Ausdruck von kontextbezogenen Prozessen und berücksichtigt damit immer auch die Perspektive, dass es sich als adäquat verstehen lässt, wenn man nur den relevanten Kontext dafür auffinden kann. Sie hat dadurch ganz sicher entscheidend dazu beigetragen, dass Menschen, die durch solches Leid gegangen sind, entsprechend gewürdigt werden und dass man ihre Wahrnehmungsprozesse als Ausdruck von Kompetenz betrachtet, anstatt sie als neurotisch eingebildet abzuwerten.

Als Konsequenz aus der Traumadiskussion gibt es für Menschen, die als Opfer sexueller oder sonstiger Gewalt durch andere Menschen gelten, inzwischen sehr viele Angebote an diversen Formen der Psychotherapie. Für viele Problembereiche, auch gerade für solche, die als besonders »schwierig« gelten, haben sich systemische Konzepte als sehr wirksame Hilfen bewährt (siehe auch v. Sydow et. al. 2007, Simon 2008, Schmidt 2004). Erstaunlicherweise fehlte es aber bisher an fundierter Literatur zur systemischen Therapie von Traumata, obwohl in diesem Bereich in der Praxis längst mit systemischen Konzepten gearbeitet wird.

Um so erfreulicher und verdienstvoller finde ich, dass dieses Buch nun endlich vorliegt. Es schließt die skizzierte Lücke in der Literatur auf eine Weise, die ich als äußerst nützlich und hilfreich für die Betroffenen selbst, ebenso aber auch für die Angehörigen und für die potenziellen »Helfer« halte. Bedingt durch die Tradition vieler bis heute vorherrschender Therapieansätze, die auf der Basis von Pathologie- und Defizit-Konzepten arbeiten, herrscht im Bereich der Trauma-Arbeit noch immer die Sichtweise vor, dass Menschen, die unter Traumatisierungen leiden, sehr fragil, kaum belastungsfähig und häufig sowohl psychisch als auch somatisch äußerst labil seien. Auch wenn dies oft tatsächlich zu beobachten ist, drückt es nur einen Aspekt der Dynamik aus.

Leider geht mit dieser Sichtweise sehr oft (sicher gut gemeint) einher, dass man solche Menschen als stark gestörte »Patienten« behandelt und kaum die Möglichkeit in Betracht zieht, dass sie über vielfältige autonome und sehr hilfreiche Kompetenzen verfügen. Das traumatische Geschehen und seine leidvollen Folgen werden dabei sehr häufig als so zentraler Aspekt des Lebens der Betroffenen angesehen, dass wie mit einem »Röhrenblick« viele andere wesentliche Bereiche ihrer Fähigkeiten nahezu vollständig ausgeblendet werden.

In den letzten Jahren hat aber nun die Forschung in den Bereichen der Salutogenese (Gesundheitsentwicklung) und der Resilienz (die sich mit der Widerstandsfähigkeit und Lösungsfähigkeit von Menschen auch in Extremsituationen beschäftigt) deutlich zeigen können, dass selbst extreme Traumata und sehr leidvolle Reaktionen von Menschen auf sie keineswegs bedeuten, dass diese Menschen einen grundsätzlichen Mangel an Fähigkeiten aufweisen oder als grundsätzlich »gestörter« als andere Menschen angesehen werden müssten. Diese Erkenntnisse fließen zwar zunehmend auch in traumatherapeutische Konzepte ein, an der Beschreibung und Behandlung von als traumatisiert angesehenen Menschen als sehr schwierig und oft nur sehr langwierig zu therapierend hat dies bis heute allerdings wenig geändert.

Viele Definitionen und Erklärungskonzepte zur Trauma-Dynamik – auch manche, die aus den Ergebnissen der modernen Hirnforschung abgeleitet werden – wirken wie Wirklichkeitskonstruktionen, die allein die traumatischen Ereignisse selbst als die wirklichkeitsgestaltende Kraft (das gestaltende Agens) erscheinen lassen. Sie laden dadurch aber zu Perspektiven ein, die die Erlebenden eher als ausgelieferte Opfer ohne jede Gestaltungschancen erscheinen lassen. Das trägt zu Fokussierungen mit Ohnmachtserleben bei und kann leidvolles Erleben eher noch verstärken. Aus lösungsorientierter, hypnosystemischer Perspektive muss man dagegen unbedingt beachten, dass es auch nach den traumatischen Ereignissen viele Episoden im Erleben eines Menschen gibt, in denen es ihm/ihr relativ gut geht. Auch wenn dies nicht anhält, beweist es doch, dass im unbewussten Erlebnisrepertoire die Kompetenzen für eine andere Art des Umgangs mit dem leidvoll Erlebten vorhanden sind. Eine therapeutisch hilfreiche Arbeit muss – neben der Empathie für das Leid – genau dies in den Fokus rücken. So kann der Zugang zu den Selbstgestaltungsfähigkeiten der KlientInnen wieder schneller hergestellt werden. Auch hier muss beachtet werden (in Orientierung an den Autopoiese-Konzepten), dass nicht das Ereignis selbst etwas zum nachhaltig schlimmen Trauma macht, sondern die Art, wie es verarbeitet wird, und auf welche Beziehungsnetzwerke sich die Betroffenen nach dem Trauma stützen können. Hierin liegen viele Chancen für erfolgreiche Therapie. Ich halte es für ein großes Verdienst der Autoren, diesen Beziehungsaspekt und diese Ressourcenorientierung immer wieder herauszuheben.

Seit vielen Jahren zeigt unsere Arbeit ambulant (z. B. am Milton-Erickson-Institut Heidelberg) wie auch stationär (an der Fachklinik am Hardberg und an der SysTelios-Klinik für Gesundheits- und Kompetenzentwicklung, beide in Siedelsbrunn) mit großem Erfolg, dass Menschen mit Traumatisierungen über enorme Kompetenzen verfügen und deshalb auch keineswegs wie »Patienten« »behandelt« werden sollten, sondern als völlig gleichrangige, autonome Kooperationspartner mit vielen Stärken, trotz großen Leids, dem sie ausgesetzt waren. Ich werbe deshalb schon sehr lange um eine konsequente Haltung der Kompetenzorientierung und der Fokussierung auf die (oft zunächst unbewussten) Lösungsfähigkeiten der Betroffenen.

Das vorliegende Buch bietet für diese Sichtweise sehr viel und sehr überzeugendes Material, wofür ich den Autoren besonders dankbar bin. Es macht in sehr differenzierter und fundierter Form deutlich, dass bei aller Empathie und Wertschätzung des Leids der Betroffenen und ihrer Angehörigen die Aspekte der vielfältigen Kompetenzen unbedingt beachtet werden müssen – nicht nur bei den einzelnen KlientInnen selbst, sondern auch bei ihren Beziehungssystemen. Denn infolge der traditionellen, eher pathologieorientierten traumatherapeutischen Konzepte wurden und werden die Beziehungssysteme, besonders die Familien, wenn das traumatische Geschehen innerfamiliär auftrat, noch immer sehr oft als massiv gestörte, »kaputte Beziehungsruinen« beschrieben. Den KlientInnen selbst hilft das überhaupt nicht, sondern es schwächt sie eher und pfropft auf ihr ohnehin schon schlimmes Leid oft noch massive Loyalitätskonflikte auf. Dass in diesem Buch der Blick systematisch ausgeweitet wird auf das umfassendere Beziehungssystem – und dies mit sehr wertvollem Material differenziert illustriert wird –, halte ich für ein weiteres bedeutsames Verdienst der Autoren.

Viele Beiträge zur Traumatherapie bereiten mir insofern Unbehagen, als sie für mich suggerieren, dass man traumatisierte KlientInnen wie zerbrechliche Porzellanfiguren behandeln müsse, weil sie so wenig belastungsfähig seien. Sicher ist eine achtsame und behutsame Haltung empfehlenswert. Es sollte aber auch nie vergessen werden, welche ungeheure Überlebenskompetenz notwendig ist, um die zum Teil extrem schrecklichen Erfahrungen, denen die KlientInnen ausgesetzt waren, zu überleben. Manchmal frage ich mich, ob ich selbst das so überstanden hätte, oft auch mit der Vermutung, dass die betroffenen KlientInnen da mehr Kompetenzen aufweisen, als ich sie bei mir vermute. Auf diese großen inhärenten Fähigkeiten kann auch den KlientInnen gegenüber nie genug hingewiesen werden, denn gerade daraus entsteht bei ihnen allmählich wieder eine Perspektive der Zuversicht und des Vertrauens in die eigene Kompetenz, was eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung der schrecklichen Erfahrungen ist. Auch diese Aspekte werden in diesem Buch immer wieder mit vielen überzeugenden Belegen hervorgehoben, was ich ebenfalls als besonders wertvoll erachte.

Und noch ein bedeutsamer Faktor schimmert hier verdienstvollerweise immer wieder in der Darstellung durch: Ein Erfolg in einer Traumatherapie, auch das Reaktivieren von Sicherheitserleben, Kompetenzerfahrung und Ressourcen-Evozierung ist letztlich seltenst ein individuelles Geschehen allein, wenn es sich auch im Individuum zeigt. Immer ist auch der eigene Prozess der TherapeutInnen und der systematische, würdigende Aufbau des Therapie- oder Beratungssystems dafür entscheidend. Je mehr sich die TherapeutInnen in eine optimale, sie selbst schützende und auch ihre Bedürfnisse achtende Position begeben können, desto mehr werden sie zu einem hilfreichen Modell für die KlientInnen.

Ich kenne die beiden Autoren seit vielen Jahren und hatte persönlich öfters die Gelegenheit, ihre Arbeit und ihr Denken kennen und wertschätzen zu lernen. Deshalb weiß ich, dass sie das hier beschriebene Thema mit sehr fundierter und vielfältiger Erfahrung in allen Belangen mehr als gut kennen. Dass es ihnen aber gelungen ist, dieses komplexe Gebiet so wunderbar differenziert, klar und dabei äußerst umfassend bearbeiten zu können, ruft in mir Bewunderung und Dankbarkeit hervor. Ich halte dieses Buch für einen wichtigen Meilenstein auf dem Gebiet der systemischen Therapie und bin sicher, dass es die systemische Traumatherapie entscheidend vorwärts bringen wird. Ich wünsche dem Buch den großen Erfolg, den es verdient.

Dr. med. Dipl.-Volkswirt Gunther SchmidtHeidelberg, August 2008

Einleitung: Systemische Traumatherapie – Traumatherapie systemisch

»Das Leben wird nach vorn gelebt,

kann aber erst nach hinten verstanden werden«.

(Sören Kierkegaard)

Auf Grund der Arbeit mit traumatisierten Systemen und angeregt durch unsere Klienten, Paare und Familien, haben wir begonnen, unsere Erfahrungen als systemische Familientherapeuten und Traumatherapeuten konzeptionell zusammenzuführen. Der Satz von Sören Kierkegaard spiegelt dabei den Prozess unserer konzeptionellen Überlegungen, die sich in der Arbeit mit traumatisierten Systemen entwickelten. Wir merkten, dass wir in unserer traumatherapeutischen und systemischen Arbeit viele Wege beschritten hatten und über die Zeit sich bestimmte Zugänge als sinnvoller und zieldienlicher herauskristallisierten als andere. Das Buch will anregen, systemisch-traumatherapeutische Ideen nach vorne zu leben. Besonders faszinieren uns die Parallelen in der Arbeit mit inneren und äußeren Systemen. Das Prinzip der Selbstähnlichkeit von Systemstrukturen (Fraktalität) ermöglicht es, Konzepte und Konstrukte von inneren auf äußere Systeme und umgekehrt zu übertragen.

In diesem Buch wollen wir das Spannungsfeld und die gegenseitigen Ergänzungsmöglichkeiten von Traumatherapie auf der einen Seite und systemischer Therapie auf der anderen Seite beleuchten, um die großen Ressourcen beider Verfahren füreinander fruchtbar zu machen.

In der traumatherapeutischen Fachliteratur taucht das Wort System gelegentlich im Sinne einer Gruppe von Menschen auf, oder man verbindet mit systemischer Perspektive in verkürzter Weise den Umstand, dass z. B. die Sichtweise von Eltern oder der Familie einbezogen wird. Dabei wurden systemtherapeutische Konzepte oder systemtheoretische Ansätze bislang in der Traumafachwelt nicht berücksichtigt. Ebenso verhält es sich mit der systemischen Therapie. Auch hier sind die Behandlungsverfahren, die Bedeutung von Traumafolgestörungen oder Stressbelastungsstörungen inklusive der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse kaum bekannt. Erst seit 2005 finden sich in der Literatur einige Anzeichen einer Auseinandersetzung mit der Traumatherapie.

Die Trennung beider Ansätze ist umso erstaunlicher, als bereits in den 1970er und frühen 1980er Jahren in den USA durch S. Minuchin, C. Madanes und in Italien durch das Mailänder Team das Thema Gewalt und sexuelle Gewalt in Familien bearbeitet wurde und Konzeptionen für das therapeutische Handeln entstanden.

Aufsuchende Familientherapeutinnen oder systemisch arbeitende Kolleginnen aus den Allgemeinen Sozialen Diensten und systemische Berater aus Jugend- oder Familienzentren, die in Brennpunkten tätig sind, sind in ihrer beruflichen Praxis sehr häufig mit traumatisierten Menschen und Systemen konfrontiert und oft genug überfordert und fragen sich, wie sie in ihrem Berufsfeld mit traumatisierten Systemen arbeiten können. Wenn wir einmal von den Großschadensereignissen absehen, sind diese Kolleginnen und Kollegen die eigentlichen »Ersthelfer« für traumatisierte Menschen, auch wenn es sich nicht um akute, sondern häufiger um chronische Traumatisierungen handelt. Sie sind besonders angewiesen auf eine gute Ausbildung und gute Werkzeuge, damit sie Menschen unterstützen können und beiden Seiten sowohl Fehldiagnosen wie auch unnütze Leidenswege erspart bleiben.

Wir wenden uns an die Kolleginnen und Kollegen, die mit einem systemischen Ansatz in Kontexten tätig sind, in denen sie mit traumatisierten Systemen in Kontakt kommen. Außerdem möchten wir Traumatherapeuten mit einer individuumszentrierten Weiterbildung darauf neugierig machen, sich mehr mit den Möglichkeiten von Systemen zu beschäftigen und deren Ressourcen in ihre Arbeit zu integrieren.

Mit diesem Buch wollen wir zeigen, wie eine systemisch orientierte Traumatherapie oder eine traumatherapeutisch orientierte Systemtherapie Menschen helfen kann und wie systemische und traumatherapeutische Haltungen, Ideen, Methoden und Therapiestrategien sich wechselseitig bereichern können.

Der erste Teil dient der Einordnung und Skizzierung eines systemischen Ansatzes im Feld der Traumatherapie. Nach einer Diskussion über das Zueinander von Trauma- und Systemtherapie im 1. Kapitel widmet sich das 2. Kapitel den Grundlagen unseres Ansatzes von Traumatherapie und dem Konzept der strukturellen Dissoziation. Im 3. Kapitel geht es um die theoretischen Eckpfeiler einer systemischen Traumatherapie. Dazu gehören beispielhaft: Ressourcenorientierung, Kontextorientierung, Auftrags- und Zielorientierung, Lösungs- und Zukunftsorientierung, Musterbezogenheit, die therapeutische Beziehung usw. Das 4. Kapitel beschreibt einige Techniken und Methoden aus dem systemischen Spektrum und berichtet darüber, wie diese im Rahmen der Traumatherapie genutzt werden können.

Der zweite Teil des Buches widmet sich speziell der systemischen Traumatherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Im 5. Kapitel werden die kindliche Entwicklung aus Sicht der Bindungstheorie, Neurobiologie und Psychotraumatologie vorgestellt und Entwicklungen in traumatisierten Systemen. Im 6. Kapitel geht es um einzeldiagnostische Instrumente für Kinder und Jugendliche. Es wird ein systemisches Achsen- und Evaluationsmodell für die traumatherapeutische Praxis präsentiert. Das 7. Kapitel widmet sich der Therapie mit Kindern und ihren Familien. Es werden fünf Zugänge zu traumatisierten Systemen gezeigt, die sich an diesem Modell orientieren und anhand von Fallbeispielen erläutert werden. Das 8. Kapitel stellt einzelne Interventionen in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen innerhalb und außerhalb von Therapie vor.

Die Traumatherapie ist auf dem Wege zu einer allgemeinen Psychotherapie der Traumafolgestörungen. Klaus Grawe hat in seinem Buch Neuropsychotherapie (2004, S. 164) bereits darauf hingewiesen:

»Die PTSD kann damit als gutes Beispiel dafür gelten, wie durch Kombination von psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung der Störungsgrundlagen ein breit abgestütztes Verständnis der Störungszusammenhänge erarbeitet werden kann, das Therapeuten schließlich befähigt, die konkrete Behandlung auf der Grundlage dieses Störungsverständnisses flexibel auf die besonderen Belange des einzelnen Patienten zuzuschneiden.«

Wir hoffen, hiermit einen systemischen Beitrag zu leisten.

Besonderer Dank gilt unseren Klientinnen und Klienten, die uns lehrten, was für sie von Bedeutung und Wichtigkeit auf dem Weg der Veränderung war.

Auch gilt unser Dank unseren therapeutischen Lehrerinnen und Lehrern. Besonders erwähnen möchten wir hier: Luise Reddemann, Arne Hofmann, Ellert Nijenhuis, Helga Mattheß, Gunther Schmidt, Martin Kirschenbaum, Hakon Oen, Steve de Shazer, Insoo Kim Berg, Michael Grinder – um nur einige unserer wichtigsten Vorbilder und Mentoren zu nennen.

Bedanken möchten wir uns auch bei den vielen Kolleginnen und Kollegen für den fachlichen Austausch: bei Sabine Reisner, Ralf Schobert, Anke Nottelmann, Karl-Heinz Pleyer, Alexander Korittko, Stefan Reichelt, unserer Intervisionsgruppe, dem Team meiner (A. K.) kinderpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Praxis und dem Trainerteam des ifs (Institut für Familientherapie, systemische Supervision und Organisationsentwicklung).

Nicht zuletzt danken wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Weiterbildungsgänge des ifs, im Besonderen aus der systemischen Traumatherapie, die durch ihre Fragen und ihre Anregungen dazu beigetragen haben, dieses Konzept zu entwickeln.

Besonderer Dank gilt auch dem Carl-Auer Verlag, der uns diese Veröffentlichung ermöglicht.

Reinert Hanswille und Annette KissenbeckEssen, im Mai 2008

Teil I:Systemische Traumatherapie – Theoretische Grundlagen und Methoden

1.Traumatherapie und Systemtherapie

1.1Zueinander von Traumatherapie und Systemtherapie

In den frühen 1990er Jahren finden sich in Deutschland die Anfänge einer eigenständigen Traumatherapie. Vor allem die klassischen Psychotherapieverfahren besetzten das Feld. Später gesellten sich spezielle Traumatherapieverfahren hinzu, die sich teilweise aus den bekannten Therapieverfahren (psychodynamischen Ansätzen oder Verhaltenstherapie) entwickelt haben oder neu konzeptualisiert wurden (wie z. B. EMDR). Sie alle leisteten bedeutsame Pionierarbeit.1 Die systemische Therapie und Familientherapie nahmen an dieser Entwicklung kaum teil. Dies ist umso verwunderlicher, als auch in der Familientherapie einige Hinweise zu finden sind, wie mit traumatisierten Familien gearbeitet werden kann, die aber nicht weitergeführt wurden.2 Figley (1989) zeigte bereits Mitte der 1980er Jahre die Möglichkeiten eines familientherapeutischen Ansatzes in der Traumatherapie.

In jüngster Zeit finden sich in Amerika einige Publikationen, die sich dem Zusammenspiel von Familientherapie bzw. Systemtherapie und Traumatherapie widmen.3 In der deutschsprachigen systemischen Literatur hingegen gibt es nur wenige Buchveröffentlichungen zur Traumatherapie4 und einige Anmerkungen im Antrag für den wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie (von Sydow et al. 2007). Hinzu kommen einige wenige Fachaufsätze in psychotherapeutischen Fachzeitschriften.5 Die systemische Auseinandersetzung mit der Expertise der Traumatherapie findet nicht statt.

Das faktische Nebeneinander von Traumatherapie und Systemtherapie ist umso verwunderlicher, als einerseits in der Traumatherapie immer wieder die Familie als Ressourcenraum betont wird und anderseits viele methodische und konzeptionelle Ideen der systemischen Therapie in den unterschiedlichen Ansätzen der Traumatherapie zu finden sind.

Wir möchten mit diesem Buch eine Brücke schlagen zwischen Traumatherapie und Systemtherapie.

1.2Anmerkungen zu unserem Verständnis von systemischer Therapie6

In der traumatherapeutischen Praxis wird immer wieder davon gesprochen, dass Traumatherapie systemisch orientiert sein soll. Gemeint ist damit oft »Wir führen ab und zu Elterngespräche« oder »Wir ziehen, wenn es nötig ist, auch mal den Lehrer hinzu« oder »Systemische Therapie wäre gut, aber es ist unrealistisch, denn die ganze Familie bekommen wir nicht an einen Tisch, außerdem ist das in vielen Fällen von innerfamiliären Traumatisierungen auch nicht sinnvoll«.

Heute wird die systemische Therapie als ein Theorierahmen verstanden, innerhalb dessen sich die systemische Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen oder anderen sozialen Systemen versammelt. »Der Übergang von der Familientherapie zur systemischen Perspektive (vgl. Reiter et al. 1988, 1997) resultiert aus einer sich zu Anfang der 80er Jahre rasch verbreitenden Skepsis gegenüber den Familientherapien der Zeit« (Ludewig 2004, S. 71). Die Familientherapie wird heute weitgehend als eine von vielen Settingvarianten der systemischen Therapie verstanden. Der Therapieprozess kann durchgehend in ein und demselben Setting stattfinden, z. B. mit einer Einzelperson, oder aber in wechselnden Settings und Subsystemen.

Das bedeutet in der Praxis: Der therapeutische Prozess von Peter (zwölf Jahre, komplexe Traumafolgestörung, ausgelöst durch den plötzlichen Tod des Bruders) begann mit einer Familiensitzung, daran schlossen sich mehrere Einzelsitzungen an, es folgten einige Sitzungen mit den Subsystemen der Geschwister. Dazwischen gab es Sitzungen mit dem Elternpaar sowohl in ihrer Rolle als Eltern wie als Ehepaar. Der Prozess wurde beendet mit einigen Familiensitzungen, in denen der gemeinsame Trauerprozess abgeschlossen wurde. So kann nach Auftrag und Notwendigkeit zwischen den einzelnen Settings gewechselt werden – im Sinne eines möglichst effektiven Gesamtprozesses.7

Der bifokale Blick auf Individuum und System bzw. die Kunst der »Gleitsicht«:

(a) Aus systemischer Sicht heißt das, dass wir neben den Mustern der Interaktion zwischen verschiedenen Familienmitgliedern – oft schon schwierig genug – auch die Psychodynamik Einzelner und ihre individuellen Entwicklungen im Blick haben sollten. Traumatisierungen werden sonst leicht übersehen oder nicht genügend beachtet. Vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichten kann Empathie, z. B. für einen Elternteil, aus dessen persönlicher Geschichte erwachsen. Vertieft wird man auch mit inneren Anteilen einzelner Systemmitglieder arbeiten müssen, um ihre Innenhandlungen zu verstehen und um ihre Interaktionen außen mit der Familie bzw. dem sozialen System zu erkennen. So können verschiedene Anteile eines Klienten sehr unterschiedliche, ja extrem widersprüchliche Muster mit Familienmitgliedern entwickeln. Häufig erklärt erst das Verständnis für den Einzelnen die systemischen Verstrickungen oder traumatischen Triggerkaskaden.

(b) Auch aus individuumszentrierter Sicht sollte die Therapie sich nicht nur auf die Arbeit mit dem Klienten reduzieren oder nur seine Psychodynamik bzw. sein Innensystem in den Blick nehmen. Klienten entwickeln ihre Eigenschaften, Verhaltensweisen und ihre Persönlichkeit in ihren familiären und sozialen Systemen. Interaktionelle Störungen, transgenerationale Vermächtnisse oder desorganisierte Bindungserfahrungen lassen sich nur im Kontext der Familie erkennen und verstehen. Andere Entwicklungen werden wiederum nur vor dem Hintergrund sozialer Bezugssysteme verständlich. Dabei müssen wichtige, ressourcenvolle Beziehungen gestärkt und von zu belastenden Beziehungen abgegrenzt werden.

Systeme bewegen sich auf einem funktionalen Kontinuum. Sie können sich stabilisieren bzw. destabilisieren und triggern. Sie können sich auch »infizieren«. Der Begriff der »Infektion« bezieht sich hier auf Muster von Grenzverletzungen (Gewalt, Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung), die sich als misslungene Lösungsversuche verfestigt haben und mit denen sich Systemmitglieder gegenseitig gefährden.

Erst beide Perspektiven zusammen – die individuumszentrierte und die systemische Sichtweise: die Kunst der »Gleitsicht« – fördern einen fortlaufenden rekursiven Prozess und potenzieren die therapeutische Wirkung der Traumatherapie.

1.3Individuumzentrierte und systemorientierte Traumakategorien

1.3.1 Wie werden Traumata unterschieden?

In der traumatherapeutischen Literatur finden sich unterschiedlichste Konzepte, wie traumatische Erfahrungen geordnet und klassifiziert werden können. Dazu werden differenzierende Kriterien wie z. B. Schwere, Dauer, Art des Traumas vorgeschlagen.

Terr (1990) kennt zwei unterschiedliche Typen von Traumata:

Traumatyp I handelt von einmaligen und völlig unerwartet auftretenden Ereignissen, wie zum Beispiel dem plötzlichen Tod eines Kindes, dem Autounfall, dem Flugzeugunglück, einem Terroranschlag oder auch invasiven medizinischen Eingriffen (z. B. frühzeitigem Erwachen aus der Narkose).

Traumatyp II handelt von Situationen, die längere Zeit – unter Umständen jahrzehntelang – andauern und aus denen es kein Entrinnen gibt; das können sein Krieg, sexuelle Gewalt, Gewalterfahrungen in der Familie, Vertreibung, Folter, Gefangenschaft, Geiselnahme, Vernachlässigung im frühen Kindesalter, anhaltende bedrohliche Mobbingsituationen.

Shapiro (die Begründerin des EMDR; vgl. Shapiro 1998, 2003) schlägt eine Unterscheidung nach der Schwere des Traumas vor:

Big T-Traumata: Ereignis existentieller äußerer und innerer Bedrohung durch Angriffe auf den Körper, das Leben und die emotionale und soziale Existenz, Terror und Foltererlebnisse in kriegerischen, politischen und kriminellen Zusammenhängen, Natur- und Verkehrskatastrophen, Unfälle, schwere Erkrankungen, invasive medizinische Eingriffe, plötzliche vorzeitige Verluste.

Small t-Traumata: die scheinbar weniger katastrophalen Ereignisse, die mit Schreck und Angst in Verbindung mit einem hohen Maß an bestürzender Beschämung, Peinlichkeit, tiefer Verunsicherung und vermeintlicher oder realer Schuld einhergehen und die den Betroffenen mit der gleichen Unausweichlichkeit wie die Big T-Traumata widerfahren.

Wöller (2006, S. 12; Hervorh.: R. H. u. A. K.) führt eine weitere Kategorie ein, die in vielen Kontexten ebenfalls Sinn ergibt:

»Apersonale Traumen sind solche, die nicht durch Menschen herbeigeführt werden. Beispiele hierfür sind Naturkatastrophen, die meisten Verkehrsunfälle sowie die unpersönlichen Aspekte von Kriegseinwirkungen. Personale Traumen sind dagegen räuberische Überfälle, Vergewaltigungen, Gewalt im personalen Nahbereich in Form von ehelicher Gewalt, Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch, ferner Folter, Geiselhaft und Kriegseinwirkungen.«

Eine weitere Unterscheidung ist in Mono- und Multitrauma möglich.

»Es spricht einiges dafür, dass das klassische PTBS-Störungsbild mit Intrusionen, Vermeidung und Übererregung eher mit dem Monotrauma einhergeht und komplexere Bilder, z. B. die ›Disorder of Extreme Stress, Not Otherwise Specified (DESNOS)‹, typische Folgen von Multi- oder chronischen Traumata sind« (Maercker u. Rosner 2006, S. 8).

Diese Unterscheidung wird aufgegriffen, wenn Traumata nach ihrer Häufigkeit unterteilt werden:

Monotrauma: einmalige Traumatisierung (ein Verkehrsunfall, eine Vergewaltigung). Hier finden sich unterschiedliche traumatisierende Ereignisse mit unterschiedlichem Schweregrad.

Sequentielle Traumatisierung: Diese Kategorie stammt von Keilson (1979) und meint über einen Zeitraum erfolgte mehrfache Traumatisierungen, die in sich ähnlich sind. Das können z. B. Foltererfahrungen, Kriegserlebnisse, innerfamiliärer Missbrauch sein.

Kumulative Traumata (Khan 1963) meint die Addition von Ereignissen, von denen jedes einzelne keine Traumatisierung ausgelöst hätte. Erst die Addition führt zu einer posttraumatischen Erkrankung. Hier können Bagatellunfälle, Beschämungen, Bedrohungserlebnisse, Mobbing etc. gemeint sein.

Die Ergebnisse der Traumaforschung legen auch eine Unterscheidung nahe, die das Lebensalter berücksichtigt. Denn die Ergebnisse zeigen, dass Traumatisierung im frühen Kindesalter deutlich eher zu komplexen Traumafolgestörungen führen als Traumatisierungen im Erwachsenenalter.

Der Grad der Dissoziation, die durch das Trauma ausgelöst wurde, ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal und wird näher in Abschnitt 2.6 beschrieben:

a)Die primäre strukturelle Dissoziation (ein ANP [anscheinend normale Persönlichkeit] und ein EP [emotionale Persönlichkeit]): Zur Erklärung von EP und ANP siehe die Abschnitte 2.6.4 und 2.6.5. Störungsbilder: die einfache akute Belastungsstörung, die einfache posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die einfache dissoziative Störung der Bewegungs- und Sinnesempfindung.

b)Die sekundäre strukturelle Dissoziation (eine ANP und zwei bzw. mehrere EPs). Störungsbilder: traumabezogene Borderline-Persönlichkeitsstörung, DESNOS (Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified), komplexe PTBS, komplexe dissoziative Störungen der Bewegung und Sinnesempfindung sowie andere dissoziative Erkrankungen.

c)Die tertiäre strukturelle Dissoziation (zwei oder mehrere ANPs und zwei oder mehrere EPs). Störungsbild: dissoziative Identitätsstörung.

(Vgl. Mattheß u. Nijenhuis 2006, S. 465–482; Nijenhuis, van der Hart u. Steele 2004a.)

1.3.2 Unterscheidungsmerkmale aus systemischer Sicht

Alle bis hierhin kurz referierten Unterscheidungsmerkmale von Traumatisierungen beziehen sich auf das Individuum. Für eine systemische Traumatherapie ist es wichtig, auch Unterscheidungsmerkmale für Traumatisierungen im System zu benennen.

Außerfamiliär verursachte Traumata können z. B. sein:

•Gewalt oder sexuelle Übergriffe von außen

•Unfälle, Brandereignisse

•chronische Krankheiten, medizinische Eingriffe, plötzliche Behinderungen

•Krieg, Verfolgung, Vertreibung etc.

•Mobbing, Burn-out, Ausgrenzung etc.

•Naturkatastrophen

•traumatische Verluste, z. B. Trennungen.

Innerfamiliär verursachte (man-made) Traumata können z. B. sein:

•sexuelle oder inzestuöse Übergriffe oder Ausbeutung

•Züchtigung von Kindern, Gewalt gegenüber Kindern

•körperliche Deprivation oder Misshandlung

•emotionale Deprivation

•Gewalt zwischen Eltern, Mord

•Suizidierung eines Familienmitgliedes

•Erkrankungen von Familienmitgliedern.

Innerfamiliäre Traumata wiegen auf Grund ihrer weitreichenden entwicklungsformenden Folgen in aller Regel schwerer.

Bei welchen Traumatisierungen ein systemischer Ansatz hilfreich ist, hängt vom Setting, den therapeutischen Möglichkeiten und den Erfahrungen der Patienten ab.

Bei einer einfachen PTBS oder einem Monotrauma können sowohl ein familientherapeutisches Vorgehen wie ein einzeltherapeutisches Vorgehen angezeigt sein. Wenn das Monotrauma in der Familie geschah oder die gesamte Familie durch ein Ereignis betroffen war, ist es sinnvoll, die Aufmerksamkeit in der Arbeit auf das System zu richten, um zu entscheiden, welche Gesamt- oder Subsettings zu welchem Zeitpunkt hilfreich sein können. Dazu bieten sich unterschiedliche, eher systemische Techniken an, aber unter Umständen auch EMDR im Gesamtsystem (Shapiro, Kaslow a. Maxfield 2007).

Aus systemischer Sicht ist es von besonderer Bedeutung, wie nah der Täter dem Opfer war. Vielfältig belegt ist, dass die Traumafolgen umso heftiger sind, je näher sich Opfer und Täter stehen. Die Vertrautheit zwischen Täter und Opfer gehört neben der Dauer der Traumatisierung und dem Lebensalter des Opfers zu den ausschlaggebenden Faktoren für die Stärke einer Traumafolgestörung.

Aus systemischer Sicht unterscheiden wir fünf Zugänge in einem systemischen 5-Achsen-Modell (vgl. Abschnitt 6.3 und Kapitel 7).

I. Traumaauslöser. Sie können, wie zuvor beschrieben, unterschieden werden in:

•außer- bzw. innerfamiliäre

•personale (man-made) oder apersonale (z. B. Naturkatastrophen)

•Grundthemen.

II. Traumakontext: Er meint den begleitenden sozialen (familiären oder außerfamiliären) Kontext bzw. die Kontextualisierung vor, während, nach dem Trauma.

III. Traumadosis: Sie bezieht sich auf Dauer, Schwergrad (Typ 1 oder Typ 2), Alter und differenziert in einzelne traumatische Ereignisse, Ereignisketten und Ereignisfelder (traumatische Zustände) im System.

IV. Traumafokus: Er unterscheidet traumatisierte Systeme, je nachdem ob:

•das Individuum allein traumatisiert ist

•das Subsystem (Dyade bzw. Triade) traumatisiert ist (z. B. Mutter und Kind; Geschwister)

•das Gesamtsystem traumatisiert ist (z. B. Familie oder andere Subsysteme bzw. Arbeitssysteme).

V. Traumabeziehungsmuster: Durch traumatische Erfahrungen können sich bestimmte anhaltende bzw. überdauernde Beziehungsmuster organisieren. Sie werden hier in drei Kategorien unterteilt, die in ihrem Grad der Verstörung (Inkohärenz) zunehmen und miteinander korrespondieren können:

•interaktionelle (z. B. durch traumatischen Stress bei Eltern und Kind nach Frühgeburt)

•transgenerationale (z. B. Weitergabe von selbsterlebter Traumatisierung)

•fragmentierte (z. B. Weitergabe dissoziativer Muster oder desorganisierter Bindungserfahrungen).

In den Kapiteln 5–8 beschreiben wir ausführlich das 5-Achsen-Modell systemischer Arbeit mit traumatisierten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien.

Komplexe Traumatisierungen und Traumafolgestörungen bieten ein breites Anwendungsfeld systemischer Überlegungen für eine Therapiekonzeption an (vgl. Abschnitt 5.5): die Stabilisierungsphase, die Arbeit mit Ressourcen, die Arbeit mit Triggern (Auslösern für Traumaerinnerungen), die gegenseitige Unterstützung bei Flashbacks, die Entwicklung einer stützenden Atmosphäre im Umgang mit den Symptomen, Aktivierung der Systemressourcen, das Anbieten stabiler Beziehungen. Methodische Ideen dazu werden in Kapitel 4 beschrieben, z. B. die Arbeit mit dem inneren System, den inneren Anteilen, die Ressourcenarbeit, die Arbeit mit Metaphern oder dem Familienbrett etc.

Bei Monotraumen, bei denen nur ein Familienmitglied betroffen ist, kann eine Einzeltherapie sehr effektiv sein. Hier bietet sich EMDR als das Verfahren der Wahl an. In solchen Fällen ist die systemische Arbeit eher zur Stabilisierung und Ressourcensuche im System zu nutzen und zur Integration des Traumas in das Familiensystem.

Grundsätzlich kann die systemische Arbeitsweise auf vier Ebenen genutzt werden:

a)Allgemeine Nutzung systemischer Perspektiven, Theorien und Methoden innerhalb der Traumatherapie, auch im Rahmen einer individuellen Traumatherapie.

b)Einbindung der Familienmitglieder beziehungsweise Systemmitglieder in die Stabilisierung von traumatisierten Menschen.

c)Nutzung von Subsystemen in der Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen bei innerfamiliärer Traumatisierung, z. B. Nutzung des Subsystems Mutter/Tochter, Nutzung von sicheren Geschwisterbindungen und sicheren mehrgenerationale Beziehungen; vgl. z. B. Frau T., 38, die erzählt:

»Auf meine Mutter war kein Verlass, sie hat getrunken oder war ständig mit anderen Männern unterwegs, die uns dann gequält haben. Wenn ich damals nicht meine Oma gehabt hätte, die sich um mich und meinen Bruder gekümmert hat, nachdem mein Stiefvater uns das angetan hat, hätte ich nicht gewusst, was ich mache, ich glaube, ich hätte mich umgebracht.«

d)Arbeit mit der gesamten Familie sowohl im Bereich der Stabilisierung als auch bei der Traumakonfrontation, bei Traumatisierungen innerhalb der Familie, bei nichtpersonalen Traumen oder bei Traumatisierungen, bei denen der Täter nicht aus der Familie stammt, z. B. Unfall, Brand, Naturkatastrophe, Krankheit oder Tod eines Familienmitglieds, Gewalt etc.

In der Praxis mischen sich diese Ansätze, und die Aussage Heinz von Foersters sollte die Leitlinie sein: »Handle stets so, dass du die Anzahl deiner Möglichkeiten vergrößerst.«

1Wir wollen hier auf einige Vertreter hinweisen: Foa u. Rothbaum (1998); Ehlers (1999); Linehan (1993a,b, 1996); Bohus (2002); Fischer (2000a); Phillips u. Frederick (2003); Huber (2003a, 2005); Reddemann (2000, 2001, 2004a, b, c); Shapiro (1998a, b); Hofmann (1999); Levine (1998); Rothschild (2002).

2Madanes (1995, 1997); Everstin u. Everstine (1985); Trepper u. Berret (1991); James u. Nasjeleti (1983); Cirillo u. Di Blasio (1992); Bentovim (1995) u. a.

3Wir beschränken uns hier auf einige Buchpublikationen und möchten besonders auf folgende Titel hinweisen: Shapiro, Kaslow a. Maxfield (2007); Kaslow et al. (2003); Boss (2006); Saxe, Ellis a. Kaplow (2007).

4Schweitzer u. von Schlippe (2006); Neuburger (2007); Sutter (2005).

5Bräutigam (2006); Korittko (2000, 2002, 2006); Pleyer (2003, 2004); Bittenbinder (2000); Oesterreich (2005); von Saint Paul (2006); Russinger (2004).

6Wir möchten verweisen auf: von Schlippe u. Schweizer (1996); Schweitzer u. von Schlippe (2006); Ludewig (2004, 2005); von Sydow et al. (2007); Ritscher (2006); Simon (2006); Klein u. Kannicht (2007).

7Unser Verständnis der systemischen Therapie wird ausführlicher dargestellt in Hanswille (2000b).

2.Grundlagen der Traumatherapie

2.1Schlaglichter aus der Geschichte der Traumatherapie

Die Geschichte der Traumatherapie, des Traumas und der sogenannten Traumafolgestörungen sind wie ein Abbild der gesellschaftlichen Prozesse der vergangen 200 Jahre. Interessant ist es, zu sehen, wie die Bedeutung der Ideen einem ständigen Wandel unterworfen waren, je nach gesellschaftspolitischer Diskussion. So wechselten immer wieder Phasen öffentlichen Interesses mit Phasen der Leugnung und Verheimlichung ab und spiegelten auf gesellschaftlicher Ebene die Traumaverarbeitungsprozesse zwischen Konstriktion und Intrusion wider (vgl. Abschnitt 2.2.2).

Jean Martin Charcot (1822–1893), ein Psychiater und Neurologe, und Pierre Janet (1852–1947) können als die Gründer der modernen Traumatherapie bezeichnet werden. Ihr phasenorientierter Ansatz der Traumatherapie und andere Behandlungsideen sind noch heute für die Therapie wichtig.

Der Erste und der Zweite Weltkrieg und auch die Eisenbahnunfälle des vorletzten und letzten Jahrhunderts sorgten für vielfältige Untersuchungen8 und wichtige Ergebnisse, auf die auch die moderne Traumatherapie gerne zurückgreift. Die Forschung mit Opfern des NS-Regimes und mit amerikanischen Soldaten des Vietnam-Krieges schärften das Verständnis dafür, dass Traumatisierungen eine massive Einschränkung der Lebensqualität darstellen und nicht von alleine verheilen.9 Parallel zur Entwicklung dieser Verständnisse bildeten sich die ersten traumatherapeutischen Methoden heraus. Die feministische Forschung der 1960er und 1970er Jahre schärfte das Bewusstsein für Traumatisierungen, die in der Familie durch sexuelle und körperliche Gewalt geschahen.10 Etwas später kam durch die Bindungsforschung das Verständnis für Entwicklungstraumatisierungen hinzu.

Diesen Forschern und Forscherinnen ist es zu verdanken, dass die psychotherapeutische Diskussion über Traumatisierungen immer größeren Einfluss gewann und schließlich 1980 die »posttraumatische Belastungsstörung« erstmals in das DSM III aufgenommen wurde.

2.2Krankheitsbilder und Verbreitung

2.2.1 Definitionen und Kennzeichen von Traumatisierungen

Nach Fischer und Riedesser (1998, S. 79) wird unter Trauma heute verstanden:

»… ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und eigenen individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltbild bewirkt.«

Die Kennzeichen für ein Trauma sind: die Überwältigung durch unerträgliche Geschehnisse, das Erleben von Ausgeliefertsein, Machtlosigkeit, gekoppelt mit der Erfahrung, nicht fliehen oder dagegen ankämpfen zu können, psychischer oder physischer Todeserfahrung ausgesetzt zu sein und die Abspaltung dieser unbestreitbaren und unerträglichen Erfahrung in das sogenannte Traumagedächtnis.

Die Schätzungen über die Verbreitung von traumatischen Erfahrungen in der Gesamtbevölkerung gehen weit auseinander. Statistisch müssen ca. ein bis zwei Drittel der Menschen in ihrem Leben mit einem Trauma rechnen. Von diesen entwickeln ca. ein Drittel eine sogenannte Traumafolgestörung. Die restlichen zwei Drittel bewältigen die traumatische Situation mit Hilfe ihrer Ressourcen und durch die Unterstützung der sozialen Systeme, vor allem der Familie. Beim Zusammenbruch des World Trade Centers in New York 2001 entwickelten 7–15 % der Menschen eine Traumafolgestörung. Von den Menschen, die eine schlimme Folter erleben oder die Ermordung eines Familienangehörigen mit ansehen müssen, entwickeln circa 50 % eine Traumafolgestörung, und von denjenigen, die als Kinder über eine lange Zeit sexuelle Gewalt in der Familie erleben mussten, sind es ca. 80 %. Die politische Auseinandersetzung mit traumatischen Lebensereignissen ist vor allem durch die sogenannten Großschadensereignisse (11. September 2001 in New York, die Attentate von London und Madrid, den Tsunami, das Eisenbahnunglück von Eschede und die vielen Amokläufe in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen) angeregt worden. Dabei wird häufig vergessen, dass der größere Teil vor allem komplexer Traumafolgestörungen überwiegend aus familiären Situationen, wie sexueller Gewalt gegen Kinder, Vergewaltigungen, rituellen Gewalterfahrungen, emotionalen wie körperlichen Vernachlässigungen etc., entstehen. Hinzu kommen die Opfer von Verkehrsunfällen, außerhäuslicher Gewalt, Kriegsopfer, Verfolgte, Folteropfer, Heimatvertriebene und Traumatisierungen, die im Rahmen medizinischer Eingriffe oder durch unverarbeitete Verluste entstehen.

2.2.2 Was geschieht in der traumatischen Situation und ersten Verarbeitung?

Damit man die therapeutischen Vorgehensweisen besser versteht, ist es notwendig zu wissen, was in der traumatischen Situation mit und im Menschen geschieht. Wir wollen diesen Prozess kurz beschreiben, ohne auf die komplexen neurobiologischen Prozesse einzugehen. Als erste Reaktion auf eine akute Belastungssituation entsteht die peritraumatische Dissoziation, deren Intensität vielfach ein Indikator für die Stärke der späteren Traumafolgestörung ist. Dabei werden die Gefühle abgeschaltet, der betreffende Mensch befindet sich in einem Zustand von Konstriktion (emotionaler Abschaltung) und/oder Hypervigilanz (emotionaler Übererregung) und ist hochaufmerksam und konzentriert. Einen Autofahrer könnte man nach einem schweren Unfall vielleicht dabei beobachten, wie er das Wichtigste organisiert, z. B. das Warndreieck aufzustellen, Autokennzeichen zu notieren oder die Polizei anzurufen etc. Dieser Zustand kann je nach Situation und individueller Konstitution Sekunden oder Stunden dauern. Die Konstriktion kann in manchen Fällen die gesamte Stresszeit anhalten und sich erst in der Entspannungssituation umschalten. Dann brechen Gefühle und Erinnerungssplitter hervor, die Intrusionen genannt werden. Sie stellen keine Erinnerungen dar (Erinnerungen sind Narrative über die erlebte Vergangenheit mit adäquaten Affekten), sondern ein Wiedererleben der traumatischen Situation (so als ob sie jetzt in der Gegenwart geschehen würde) mit allen ungefilterten Gefühlen, Bildern und Wahrnehmungen. Intrusionen werden oft begleitet von bildhaftem Wiedererleben der Traumasituation, Flash-backs mit Gefühlen von Todesangst, Überflutung von Affekten (z. B. Angst oder Verzweiflung), Weinkrämpfen, Realitätsverlust, Zitteranfällen als Zeichen vegetativer Erregung und machen das Leben für die Betroffenen zu einer ständigen Bedrohung durch das Trauma.

Manchmal werden die Intrusionen in den ersten sechs bis zwölf Wochen spontan verarbeitet, und die Opfer leben ihr Leben nahezu wie vor dem Trauma weiter. In den ersten Wochen nach dem Trauma fühlen sich viele Menschen wie »in Watte gepackt«, die Empfindungen sind getrübt, der Geschmack scheint schwächer, die Farben in der Natur scheinen nicht so klar, die Töne der Musik gedämpfter etc. Hinzu kommen Intrusionen, Albträume und Flash-backs. Physiologische Reaktionen in dieser Zeit sind: erhöhter Puls, Übererregung, Zitteranfälle, Schwitzen oder Frieren, körperliche Schwäche, Verspannungen, Kopfschmerzen etc.

Manche Menschen haben in dieser Zeit ein starkes Bedürfnis, über die traumatische Situation zu reden, andere versuchen, sie mit aller Macht zu verdrängen, wieder andere wechseln zwischen diesen beiden Extremen. Soziale Beziehungen, vertraute Menschen, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das Gefühl von Schutz im sozialen System bieten gute Bedingungen dafür, die traumatische Situation ohne eine Traumafolgestörung zu überwinden. Wenn hinzukommt, dass die Opfer ihre inneren Ressourcen und Bewältigungsmechanismen sowie ihr Vertrauen auf ihre Selbstheilungskräfte aktivieren und nutzen können, ist die Möglichkeit groß, die Auswirkungen der traumatischen Situationen nach wenigen Monaten zu überwinden.

Wichtig ist zu verstehen, dass in den ersten Wochen das Pendeln zwischen Intrusionen (einschießenden Erinnerungen) und Konstriktion (Abschalten) eine normale Verarbeitung der traumatischen Erfahrung ist. Dieser Prozess ermöglicht unserem Organismus eine innerpsychische Verarbeitung und gleichzeitig Stabilität. Das Miteinander von psychischer und physischer Veränderung und Stabilisierung ist gleichsam ein Prinzip der Traumatherapie.

Die Resilienz- und Salutogeneseforschungen zeigen eindrucksvoll, wie groß die Möglichkeiten von Menschen sind, traumatische Situationen zu bestehen.

Wenn Klienten zu einem frühen Zeitpunkt nach dem Trauma in Therapie kommen, ist es eine der vornehmsten Aufgaben, diese Selbstheilungskräfte zu unterstützen und anzuregen.

Das Individuum und das System, in dem es lebt, haben unterschiedlichste Möglichkeiten, eine »gesunde« Verarbeitung der traumatischen Situationen zu unterstützen:

•die Möglichkeit anbieten, über das Schreckliche zu sprechen;

•Signale geben: Du kannst es immer wieder erzählen, wenn es gut für dich ist, es ist mir nicht zu viel;

•Signale geben: Hier bei uns bist du sicher und geliebt;

•Nähe und Geborgenheit vermitteln;

•Anregungen zur Ablenkung geben: über etwas anderes zu reden, etwas anderes zu denken und zu tun;

•Unterstützung anbieten, sich auch aktiv abzulenken, um die sich ständig zwanghaft wiederholenden Gedanken zu unterbrechen;

•etwas »Schönes« machen: etwas unternehmen, was Freude bereitet;

•mit Menschen zusammen sein, die man mag;

•wohltuende Dinge unternehmen.

All das hilft, das Trauma zu verarbeiten. Im Traum findet das Verträumen des Traumas, das am Tag im Bewusstsein keinen Raum findet, weil es vielleicht zu beängstigend oder schwierig ist, seinen Platz; das hilft bei der Verarbeitung.

Natürlich gibt es auch schwierige Verarbeitungsprozesse, die mit großer Angst vor Intrusionen verknüpft sind (z. B. wenn es am Abend still wird und die inneren Bilder und Ängste hochkommen) und die dann mit Alkohol oder Medikamenten beruhigt werden. Gleichzeitig vermeidet man Triggerreize (Auto zu fahren, bestimmte Wege zu gehen) oder entwickelt Zwänge, um sich innerlich zu stabilisieren. Einige stürzen sich in Arbeit und/oder produzieren viel Stress. Andere lenken sich durch neue Aufregungen ab, führen ein riskantes Leben oder verlieben sich neu etc., um den Schmerz und die Verletzung der Traumatisierung nicht zu spüren.

2.2.3 Wann sind Traumafolgen zu erwarten?

Faktor 1: Zeit und Häufigkeit. Die traumatische Situation dauert lange an (manchmal über Jahre), sie wiederholt sich häufig, sie kommt unerwartet und plötzlich (vor allem, wenn die Traumatisierung in den ersten zehn Lebensjahren erfolgte).

Faktor 2: Die Umstände der Traumatisierung. Die Tat beinhaltete auch physische Gewalt und/oder sexuelle Gewalt (die physische und/oder psychische Unversehrtheit wurde angetastet oder ist gefährdet), es waren mehrere Täter daran beteiligt, sie beinhaltete sadistische Folter, die Tat wird bagatellisiert oder rituell überhöht, sie fand in einem als sicher erachteten Bereich statt (eigene Wohnung, eigene Familie, Schule, Kindergarten, Jugendgruppe, Kirchengemeinde, Sportverein etc.).

Faktor 3: System- und Sozialfaktoren. Das Opfer ist bei der Traumatisierung und danach alleine, es hat niemanden, mit dem es sprechen kann und wo es sich anschließend aufgehoben fühlt. Das Opfer kannte und mochte den Täter und erwartete von ihm eine solche Tat nicht. Es fühlt sich von ihm verlassen oder verraten. Andere Menschen, die davon erfahren, glauben nicht, dass die Tat begangen wurde, oder bagatellisieren sie.

Faktor 4: Individuelle Faktoren. Die Persönlichkeit ist noch nicht gefestigt (Kinder und Jugendliche), das Opfer hatte während der Tat starke Dissoziationen, das Opfer fühlt sich mitschuldig.

Chronische Traumafolgen

Vor allem komplexe Traumatisierungen (siehe Abschnitt 5.5) bewirken bei den Opfern chronische Traumafolgen. Besonders häufig sind dabei eine Änderung in der Selbstwahrnehmung (z. B. durch ständige Selbstvorwürfe), eine Änderung in der Fremdwahrnehmung (z. B. Täteridealisierung), Veränderungen in der Beziehung zu anderen (z. B. durch Rückzug, Aggressivität, Depressivität, die Unfähigkeit, jemandem zu vertrauen, die Schwierigkeit, positive Gefühle dauerhaft zu spüren), das Gefühl, nichts bewirken zu können, die befürchtete Wahrscheinlichkeit, erneut Opfer oder selbst Täter zu werden, chronische Persönlichkeitsveränderungen, Veränderungen der Lebensüberzeugungen (»Ich werde immer wieder Opfer, mir widerfährt kein Glück mehr …«) etc.

2.2.4 Die sogenannten Traumafolgestörungen

Die Bezeichnungen der unterschiedlichen Traumafolgestörungen sind:

Tab. 1: Diagnosebezeichnungen

Der ICD-10 erfasst die posttraumatische Belastungsstörung unter »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen«, F43-43.9, und im Bereich F62, »Andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastungen«, und subsumiert darunter:

»Ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation geführt hat und schließlich eine Anpassungsstörung hervorruft« (Dilling et al. 1993, S. 167).

Neben diesen diagnostischen Beschreibungen gibt es zurzeit vor allem zwei Weiterentwicklungen dieser Diagnose. Bei der einen geht es um die Frage, ob die Folgen von Monotraumata,

»also einmaligen Traumata wie Naturkatastrophen, Unfällen, kriminellen Übergriffen u. a., nicht von den Folgen kumulativer oder chronischer Traumata wie sexueller Missbrauch, Folter- oder Geiselhaft u. a. zu unterscheiden sind. Oder ob nicht auch andere schwerere – oder umgangssprachlich auch ›traumatisierend‹ genannte – Lebensereignissen wie Trauer, Scheidung, der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes u. a. PTBS-ähnliche psychische Störungen bei einem Teil der Betroffenen nach sich ziehen können« (Maercker u. Rosner 2006, S. 8).

Die zweite findet sich in der traumatherapeutischen Fachliteratur und der klinischen Praxis; dort wird inzwischen die Unterscheidung zwischen Mono- und Multitrauma deutlicher vollzogen. Beim Monotrauma finden sich eher Symptome wie Intrusionen, Vermeidung und Übererregung, während bei der komplexen Traumafolgestörung DESNOS eine gestörte Affektregulation, selbstdestruktives Verhalten, Störungen der Wahrnehmung und des Bewusstseins, Störungen der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, Somatisierungen mit abgespaltenem Schmerz- und Taubheitsgefühl und Veränderungen in den Lebenseinstellungen und Bedeutungssystemen zu finden sind. Im klinischen Alltag sind große Bereiche der Überschneidung zwischen beiden Traumafolgestörungen, aber auch deutliche Unterschiede zu beobachten.

Während lange davon ausgegangen wurde, dass im ambulanten Sektor überwiegend Klienten mit einem Monotrauma anzutreffen und in den Kliniken die komplex Traumatisierten zu finden sind, wird in den letzten Jahren deutlich, dass es gerade im ambulanten Bereich viele komplex traumatisierte Klienten gibt, die nicht als traumatisiert erkannt und therapiert wurden. Hierzu gehören vor allem Klienten mit Entwicklungstraumatisierungen und Klienten mit vielen kleinen Traumatisierungen, die nach einem Ereignis, wie z. B. einem Verkehrsunfall, an einer Traumafolgestörung leiden, die auf Grund des einzelnen Ereignisses eine PTBS nahelegt, aber auf Grund der Vulnerabilität eine komplexe Traumafolgestörung entwickelten.

2.2.5 Comorbide Traumafolgestörungen

Die posttraumatische Belastungsstörung ist ein schwer zu diagnostizierendes Krankheitsbild, weil es von vielen komorbiden Störungen überlagert sein kann. Weit mehr als 50 % der Klienten, die an einer PTBS leiden, zeigen auch Symptome einer anderen psychischen Störung. Besonders häufig sind Depressionen, Ängste, Sucht, somatoforme Störungen, Beziehungsstörungen, dissoziative Störungen, Essstörungen und Borderlinestörungen zu finden.

Menschen erleiden nicht automatisch nach einer traumatischen Situation eine Traumafolgestörung. Neben den schon erwähnten Resilienzfaktoren und Kontextbedingungen des Traumas ist der Auslöser für das Trauma dafür verantwortlich, wie wahrscheinlich eine Traumafolgestörung ist. Wie häufig Traumafolgestörungen nach traumatischen Erfahrungen auftreten, lässt sich nur bedingt sagen. Die stärksten Risikofaktoren für eine PTBS sind nach einer Metaanalyse von Brewin (2003) die mangelnde soziale Unterstützung, vorangehende posttraumatische Lebensbelastungen, die Traumaschwere, anderweitige belastende Kindheitserfahrungen, Missbrauch in der Kindheit, psychiatrische Vorerkrankungen, niedriger sozialer Status, geringe Intelligenz bzw. Bildung, weibliches Geschlecht.

Grundsätzlich gilt:

•Je früher im Leben Traumata auftreten und je länger sie andauern, umso wahrscheinlicher sind komplexe Traumafolgestörungen.

•Je sicherer die Bindungserfahrungen in der Kindheit, je stabiler die sozialen Beziehungen und die Persönlichkeit in der Gegenwart, je geringer die allgemeinen Lebensbelastungen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, nach einem belastenden Ereignis keine Traumafolgestörung zu entwickeln.

Heute wird die akute PTBS, die spontan nach einer Dauer von vier Monaten bis zu einem Jahr beendet sein kann, von posttraumatischen Belastungen unterschieden, die z. T. auch erst Jahre später auftreten können. Manchmal tauchen allerdings auch nur sogenannte Restsymptome auf, bei denen die Verknüpfung zum Trauma verlorengegangen ist (z. B. Alkohol- und Medikamentensucht).

Die einfache PTBS nach einem Monotrauma findet sich selten. Menschen mit guten Resilienzfaktoren entwickeln nach einem Monotrauma selten eine PTBS. Menschen, die nach einem Monotrauma eine PTBS entwickeln, haben oft Vortraumatisierungen erlebt oder haben aus anderen Gründen in der Gegenwart eine höhere Vulnerabilität (z. B. durch unsichere Bindungserfahrungen in der Kindheit oder ein hohes Belastungsniveau).

Häufiger findet sich die komplexe PTBS. Üblicherweise tritt sie auf bei Menschen, die wiederholt Opfer von Traumatisierung wurden, wie zum Beispiel durch Gewalt in der Familie, Folter, Isolationshaft, Gewalttaten, Fluchterlebnisse etc. Die komplexe PTBS wird häufig auch als DESNOS bezeichnet und diagnostiziert.

2.2.6 Dissoziation

»Der Verdacht auf eine dissoziative Störung oder auf dissoziatives Verhalten ist ein ziemlich sicherer Hinweis, dass hier eine Traumafolgestörung vorliegt« (Reddemann 2004d, S. 54 f.). Dissoziation ist ein Abwehrmechanismus während und nach dem Trauma. Nach dem Trauma bleibt die Dissoziation als eine Traumafolgestörung bestehen. Die Dissoziation ist ein Merkmal einer komplexen PTBS. Vereinfacht könnte man sagen, je höher der traumatische Stress, desto mehr Dissoziation ist nötig. Die peritraumatische Dissoziation ist ein Schutz (z. B. dagegen, körperliche Schmerzen bzw. Qualen wahrzunehmen). Das Problem des dissoziativen Schutzes ist, dass die traumatische Situation im dissoziativen Zustand gespeichert wird und dadurch dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich ist. Onno van der Hart sagt: »Je mehr Dissoziation in der traumatischen Situation nötig ist, umso höher ist das Risiko, eine Traumafolgestörung zu entwickeln.«11 Was in der aktuellen traumatischen Situation hilfreich ist – erschwert später die Verarbeitung. Denn gespeichert werden dann nicht nur das traumatische Ereignis an sich, sondern auch die Bewältigungsstrategie, die Dissoziation, verbunden mit z. B. Depersonalisation oder Derealisation oder anderen dissoziativen Zuständen. Das hat zur Folge, dass Klienten unter Umständen selbst Jahrzehnte nach dem Trauma immer dann, wenn sie durch einen Traumareiz getriggert werden, dissoziieren. Das kann z. B. durch einen Geruch, Geräusche, Bilder, Körperempfindungen ausgelöst werden, die an das Trauma erinnern.

Hinweise auf dissoziative Symptome:

•Die Klienten erscheinen unerreichbar, und der Blick geht ins Leere.

•Sie wirken wie weggetreten.

•Sie verwandeln sich wie »in eine andere Person«, d. h., die Stimme und Sprache, Mimik und Gestik verändern sich.

•Sie berichten darüber, dass sie manchmal das Gefühl haben, neben sich zu stehen und sich wie fremd in der Welt zu fühlen.

•Sie berichten darüber, dass sie sich an bestimmte Zeiten und Phasen in ihrem Leben nicht erinnern können oder dass ihnen Alltagsrinnerungen fehlen.

•Sie berichten darüber, dass sie sich manchmal an Orten wiederfinden, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen sind.

•Sie empfinden körperliche Schmerzen, für die es keine physiologische bzw. medizinische Erklärungen gibt.

•Sie erleben, dass sie manchmal Körperteile nicht mehr bewegen können.

•Sie berichten über plötzliche Ausfälle von Sinneswahrnehmungen (z. B. Seh-, Hör-, Geruchs- oder Geschmacksveränderungen).

•U. a. m.

Dissoziation wird heute nach psychoformen und somatoformen Phänomenen unterteilt. Wir wollen hier nur diese Unterscheidung nutzen und in Tabelle 2 einige Merkmale aufführen. Weiterhin wird in positive und negative dissoziative Symptome unterschieden, was wir hier vernachlässigen.

psychoform

somatoform

•Amnesien (autobiografisch)

•Amnesien (in der Gegenwart)

•emotionale Betäubung

•unerklärlich auftretende Emotionen

•innere Stimmen im Kopf

•Hören innerer Dialoge

•Zeitverlust

•Depersonalisation

•Altersregression

•Derealisation

•Fugue-Zustände

•affektives und kognitives Wiedererleben des Traumas

•Identitätskonfusion und -diffusion

•Schmerzunempfindlichkeit

•körperliche Betäubung

•lokalisierte Schmerzen

•Bewegungsstörungen und -einschränkungen

•unerklärlich und plötzlich auftretende Körperempfindungen, -schmerzen

•Wiedererleben der körperlichen Komponenten des Traumas

•wechselnde Störungen von Sinneswahrnehmungen

•u. a. m.

Tab. 2: Dissoziative Symptome

Klienten dissoziieren auch in der Therapie, wenn sie plötzlich mit traumatischen Erinnerungen konfrontiert werden oder wenn etwas Beängstigendes oder Unvorhergesehenes geschieht, allerdings sollte es nach Möglichkeit nicht dazu kommen. Wenn es trotzdem geschieht, empfiehlt es sich, die Konfrontation durch Dissoziationsstopp (durch ein Stören in der Welt der Klienten) zu unterbrechen. Das kann zuerst auf den Ebenen Person, Zeit und Ort durch Fragen geschehen: Wie ist Ihr Name, wie ist mein Name? Was ist heute für ein Tag? Welches Datum haben wir beute? Wo befinden Sie sich gerade?

Wenn das nicht ausreicht, können Dissoziationen unterbrochen werden durch:

•lautes Ansprechen mit dem Namen

•Ansprechen mit einem falschen Namen

•In-die-Hände-Klatschen

•auffordern zum Augenkontakt, Blickkontakt (und diesen halten)

•auffordern, sich hinzustellen und mit den Füßen zu stampfen oder sich zu bewegen

•auffordern, bewusst tiefer zu atmen

•an einer Duftflasche riechen lassen

•kurze Berührung (falls der Therapeut die Erlaubnis dazu hat)

•Hände unter kaltes Wasser halten oder Eiswürfel auf die Handfläche legen etc.

Die Arbeit mit dissoziativ gestörten Menschen, hier meinen wir speziell Klienten mit einer DIS (dissoziativen Identitätsstörung), gehört zu den besonderen Herausforderungen in der Traumatherapie. In der Regel wurden diese Klienten in ihrer frühen Kindheit über lange Zeit schwerst traumatisiert oder haben schwere Entwicklungstraumatisierungen erlitten. Ihre Therapien benötigen von Seiten der Therapeuten viel Erfahrung, spezifische Kenntnisse und viel Zeit (die Therapie dauert oft Jahre). Es ist keine Schande, mit solchen Klienten nicht arbeiten zu wollen oder zu können und sie an geeignete Kolleginnen und Kollegen zu überweisen. Sie sind sicher nicht durch eine Familientherapie behandelbar.

2.3Vom Erstkontakt zur Stabilisierung

Traumatherapie wird als ein phasenorientiertes Therapieverfahren verstanden: Damit greifen die meisten traumatherapeutischen Richtungen auf die Überlegungen von Pierre Janet zurück.

Es werden vier spezielle traumatherapeutische Phasen unterschieden (vgl. auch Abschnitt 7.3):

•Orientierung (Joining- und Kontraktphase, Anamnese, Diagnostik etc.)

•Stabilisierung

•Traumabegegnung (-bearbeitung, -konfrontation, -synthese)

•Trauma- und Trauerintegration.

Einige Verfahren gehen stark phasenorientiert und mit einer manualisierten Therapiekonzeption vor. Andere Verfahren sehen in den Phasen eher eine Orientierung, die im Prozess der Therapie berücksichtigt wird. Diese Überlegungen kommen einer systemisch orientierten Traumatherapie näher. Hier sind die Phasen nicht als statische Stufen zu sehen, die »abgearbeitet« werden müssen, sondern eher als dynamisch ineinander verwobene Elemente, die es zu berücksichtigen gilt. So sind die Stabilisierung, Traumabegegnung, Psychoedukation, Traumaintegration usw. Therapieabschnitte, die immer wieder notwendig und wichtig sind. Die Stabilisierung versteht sich als ein Prozess der Veränderung, in der Klienten immer wieder Stabilität erlernen sollen, um den Alltag besser zu bewältigen und zu erfahren, wie sich die Integration der traumatischen Erfahrung auf die eigene Alltagsbewältigung auswirkt. Der Prozess der Verarbeitung lässt sich am ehesten als ein Pendeln zwischen Entlastung, Stabilisierung der Ressourcen einerseits und Belastung, Konfrontation, Integration andererseits beschreiben.

In der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen gibt es einige Vorannahmen, die sich von therapeutischen Vorannahmen bestimmter Psychotherapieverfahren unterscheiden:

•Die Therapie soll keinen zusätzlichen Stress aufbauen, vor allem nicht in der ersten Phase der Stabilisierung.

•Die Klienten sollen erfahren, ihre physiologische Erregung kontrollieren zu können – genauso wie ihre Affekte (vorher ist keine Traumabegegnung möglich).

•Die Klienten sollen lernen, sich selbst zu beruhigen und sich selbst zu trösten.

•Die Klienten sollen sich in der therapeutischen Beziehung sicher fühlen.

•Die Klienten sollen die Kontrolle über den therapeutischen Prozess bekommen.

•Sie sollen Selbstkontrolle erlernen, um innere wie äußere Sicherheit zu gewinnen.

•Die Klienten sollen lernen, ihren inneren Stress besser zu managen, und gleichzeitig lernen, zusätzlichen Stress zu vermeiden.

•Ressourcenorientierung ist eine Haltung, die in allen Therapiephasen von großer Bedeutung ist. Sie ist Teil der Stabilisierung, der Traumabegegnung und der Traumaintegration.

•In den Sitzungen sollen Therapeuten Informationen geben, um bei den Klienten das Gefühl von Kontrolle, Sicherheit, Transparenz und Durchschaubarkeit herzustellen.

•Die Therapie sollte sich im optimalen Erregungsbereich des »Window of Tolerance« bewegen (s. Abb. 1).

Abb. 1: Window of Tolerance (nach Ogden a. Minton 2000)

Das Window of Tolerance beschreibt den optimalen Erregungszustand für Klienten in einem therapeutischen Prozess. Dabei wird davon ausgegangen, dass es eine Untererregung (Hypoarousal) gibt, bei der die Atmung und die Affekte flach sind. Die Klienten erscheinen wie betäubt und sind unfähig, klar zu denken. Die Depression gilt als ein Zustand von Hypoarousal. Das Gegenstück ist die Übererregung (Hyperarousal). In dieser Situation haben Menschen eine erhöhte Atemfrequenz wie nach großer Anstrengung, sie zittern oder erleben intrusive Bilder. Sie sind hypervigilant, erleben sich in einem kreisenden mentalen Verarbeitungsprozess.

Beide Bereiche, Hypoarousal und Hyperarousal, sind ungünstig für Veränderungsprozesse, die Gedächtnisleistung ist reduziert, und eine mentale Verarbeitung wird durch stressphysiologische Prozesse blockiert. Im Hyperarousal dominiert der Sympathikus und im Hypoarousal der Parasympathikus des vegetativen Nervensystems.

2.3.1 Beziehungsaufbau und Anamnese12

Für die meisten Menschen mit Traumafolgestörungen ist eine sichere und stabile therapeutische Beziehung für ein Gelingen des therapeutischen Prozesses unabdingbar. Sie haben in ihrem Leben erfahren, dass Beziehungen enttäuscht oder missbraucht wurden oder sie mit ihrem Leiden durch andere beschämt wurden. Umso wichtiger ist es, dass sich Klienten in der therapeutischen Beziehung sicher fühlen können, ernst genommen werden und Unterstützung erfahren, die sie ermuntert, persönliche Veränderungsschritte zu unternehmen.