Systemisches Handwerk - Rainer Schwing - E-Book

Systemisches Handwerk E-Book

Rainer Schwing

4,6

Beschreibung

Wer systemisch arbeitet, wird sich mit der Zeit sein Handwerkszeug passend zurechtlegen. Manchmal ist sicherlich auch ein Handbuch erforderlich, in dem man nachschlagen kann, je nachdem, in welchem Zusammenhang und mit wem man es zu tun hat. Ein solcher Werkzeugkoffer ist erst recht für diejenigen nützlich, die das systemische Handwerk erlernen oder in den ersten Gesellenjahren sind. Die beiden Autoren, erfahren als Ausbilder, Berater, Therapeuten und Supervisoren, leiten Schritt für Schritt durch die Phasen systemischer Arbeit: Beobachten, Informationen erfassen und dokumentieren, Aufträge klären, Hypothesen bilden, Ziele definieren; Maßnahmen planen und umsetzen. Das systemische Vorgehen wird so konkret dargestellt, dass es direkt angewendet werden kann. Zahlreiche Fallbeispiele veranschaulichen die Umsetzung in den verschiedenen Feldern psychosozialer Arbeit. Kurze Skizzierungen des theoretischen Hintergrunds runden die Darstellung des jeweiligen »Werkzeugs« ab. Das beschriebene Vorgehen ist keiner systemischen Richtung verpflichtet, sondern vermittelt schulenübergreifend wertvolles Know-how für alle Arbeits- und Berufsfelder.

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Rainer Schwing / Andreas Fryszer

Systemisches Handwerk

Werkzeug für die Praxis

Mit 30 Abbildungen und 14 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

9., unveränderte Auflage

© 2018, 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: Satzspiegel, Nörten-HardenbergEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99549-6

Inhalt

Vorwort der Autoren

Vorwort von Margarete Hecker

1 Ein erster Blick in den Koffer: Was Sie wo finden

1.1 Zur inhaltlichen Gliederung

1.2 Zum formalen Aufbau der Texte – Hinweise für den Leser

1.3 Unsere theoretische Position: Schaschlik statt Gulasch!

2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

2.1 Was Sie hier erwartet: über die Einstiegsphase

2.2 Was ist das System und wer gehört dazu?

Hintergrund: Über den Systembegriff und über Konstruktionen

2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen

2.3.1 Fakten

Hintergrund: Fakten – gibt es so etwas wie Objektivität?

2.3.2 Sichtweisen

Hintergrund: Unterschiede sind Information – Information ermöglicht Veränderung

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

2.4.1 Gesprächsaufbau und mögliche Fragen

2.4.2 Joining: Anwärmen, Kennen lernen und Vorstellen

2.4.3 Überweisungskontext, Aufträge und Anliegen klären

2.4.4 Problem- und Ressourcenexploration

2.4.5 Kontrakt für eine weitere Zusammenarbeit

2.4.6 Auswertung des Erstkontaktes

Hintergrund: Kann man beobachten, ohne zu handeln?

2.5 Verhalten und Interaktionen beobachten

Hintergrund: Interviewen oder Inszenieren

2.5.1 Verhaltensmuster

2.5.2 Interaktionen: die soziale Dynamik des Systems

Hintergrund: Was sind Interaktionen?

2.5.3 Gruppe als System: Interaktion als Schlüssel zur sozialen Dynamik

2.5.4 Verhaltens- und Interaktionssequenzen

2.5.5 Rollen

2.6 Eigene körperliche und emotionale Reaktionen beobachten

3 Informationen aufbereiten, analysieren und visualisieren

3.1 Genogramm

3.1.1 Einige Hinweise zum Erstellen eines Genogramms:

3.1.2 Genogramme: zwei Beispiele

Hintergrund: Kontextualisierung

3.2 Map

3.2.1 Funktionale und dysfunktionale Beziehungsstrukturen nach Minuchin

Hintergrund: Was meint struktureller Ansatz?

Hintergrund: Normative oder ergebnisneutrale Sichtweisen

3.2.2 Hinweise zur Anwendung der Map

3.2.3 Handlungsmöglichkeiten: der kreative Umgang mit schwierigen Triaden

3.3 Familien-Helfer-Map

Hintergrund: Kybernetik I. und II. Ordnung

3.3.1 Erstellen einer Familien-Helfer-Map

3.3.2 Hinweise zur Erfassung der informellen Helfer

3.3.3 Hinweise zur Erfassung des professionellen Helfersystems

3.3.4 Legende zur Familien-Helfer-Map

Hintergrund: Zur Frage der Neutralität

3.4 Zeitstrahl

Hintergrund: Kontextualisierung – die zeitliche Dimension

3.4.1 Gestaltung des Zeitstrahls

3.4.2 Zusammenarbeit mit den Klienten am Zeitstrahl

3.5 Soziogramme: Die Gruppe als System

Hintergrund: Soziometrie und Gruppendynamik als frühe Ansätze einer systemischen Sichtweise

3.6 Berichte

3.6.1 Kriterien guter Berichte

3.6.2 Welche Dimensionen nehme ich in den Bericht?

3.6.3 Verlaufsberichte zur Evaluation und Hilfeplanung

4 Entscheiden: Kontrakte schließen, Ziele setzen, Maßnahmen planen

4.1 Kontrakte als durchgängiges Prinzip systemischen Arbeitens

Hintergrund: Warum sprechen Systemiker von Kontrakten und Anliegensklärung?

4.1.1 Wie ein Kontrakt entsteht

4.1.2 Was kann ein Kontrakt beinhalten?

Hintergrund: Unverbindlicher Umgang mit dem Kontrakt

4.1.3 Die Politik des Systems: von offenen, verdeckten, widersprüchlichen und ambivalenten Aufträgen

Hintergrund: Das Hohelied der verdeckten Aufträge

4.1.4 Klagende Klienten: Das offene Ohr als Auftrag

4.1.5 Geschickte Klienten: Wenn die Überweiser motivierter sind als die Klienten

4.1.6 Kontrolle als Auftrag: Wenn die Beraterin motivierter sein muss als ihre Klienten

4.1.7 Eine Methode um die Auftragslage zu klären: das Auftragskarussell

4.1.8 Passen Auftrag und Angebot zusammen?

4.2 Hypothesen bilden und zur Arbeitshypothese verdichten

Hintergrund: Warum reden Systemiker lieber von Hypothesen als von Diagnosen

4.2.1 Quellen und Themen von Hypothesen

4.2.2 Wie konstruieren wir Hypothesen?

4.2.3 Drei praktische Tipps

Hintergrund: Lob des Hypothetisierens

4.3 Hypothesenbildung in der Arbeit mit Migranten

4.4 Gute Ziele definieren

Hintergrund: Zielorientiert arbeiten

4.4.1 Kriterien für das Formulieren von Zielen

4.4.2 Ziele für eine Fremdunterbringung

4.4.3 Ziele beschreiben und nutzen: zwei Instrumente

4.4.4 Maßnahmen planen und evaluieren

4.5 Gruppe als System: Hypothesenbildung

4.5.1 Unterschiede in den Kontexten von Gruppen – Unterschiedliche Leitungsanforderungen

4.5.2 Arbeitshypothese: zu wenig oder zu viel Kohäsion

4.5.3 Arbeitshypothese: zu viel destruktive Gruppendynamik

4.5.4 Arbeitshypothese: zu wenig oder zu viele Außengrenzen

4.5.5 Arbeitshypothese: unterschiedliche, gegensätzliche Werte und Interessen

4.5.6 Arbeitshypothese: »Alpha« steht für die »falschen« Werte und Interessen

4.5.7 Warum derart normative Hypothesen?

5 Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten

Hintergrund: Induktion von Neuem

Hintergrund: Lösungen sind wichtig – Probleme auch

5.1 Skulpturen: Metaphern im Raum

5.1.1 Skulptur als Metapher für Beziehungen

Hintergrund: Welchen Nutzen hat eine Skulptur?

5.1.2 Sprachliche Metaphern als Skulptur

5.1.3 Skulptur als Metapher für Zeit: Memory-Lane

5.2 Erweiterungen: Skulpturen in verschiedenen Settings

5.2.1 In der Einzelarbeit: Soziales Atom und Stuhlskulptur

5.2.2 Das Familienbrett

5.2.3 Symbolskulpturen

5.2.4 Skulpturarbeit in Fallbesprechungen

5.2.5 Skulpturarbeit in der Familienrekonstruktion

Hintergrund: Systemiker und die Geschichte

5.2.6 Systemische Strukturaufstellungen

5.3 Zirkuläre Fragen

Hintergrund: Was ist eigentlich zirkulär an zirkulären Fragen?

5.3.1 Konstruktionsprinzipien zirkulärer Fragen

Hintergrund: Wie zirkuläre Fragen wirken

5.3.2 Problem- und Ressourcenkontexte: die Anwendung zirkulärer Fragen

5.3.3 Zwei Empfehlungen zum Umgang mit zirkulären Fragen

5.4 Kommentare

5.4.1 Normalisieren

5.4.2 Komplimentieren, Ressourcen aktivieren

5.4.3 Reframing – Changing Your Reality by Changing Your Description

5.4.4 Ambivalenzkommentare (paradoxe Interventionen)

Hintergrund: Über paradoxe Aufträge und paradoxe Interventionen

5.5 Zeugenarbeit

5.5.1 Erweiterung der Perspektive im Klientensystem

5.5.2 Innere Autoritäten, Vorbilder und Kritiker

5.5.3 Wohlwollende Begleiter und Weggefährten

5.5.4 Kulturelle Perspektiven in interkulturellen Beratungen

Hintergrund: Erforschen, erschaffen und dekonstruieren von Konstruktionen

5.6 Verhalten modellieren: handlungsorientierte Interventionen

Hintergrund: Hilfe mit Rat und Tat: Ist das systemisch?

5.6.1 Personelle Konstellation: Wen lade ich ein?

5.6.2 Anfangsszenen: Die Bedeutung der ersten Minuten

5.6.3 Vehikel-Nutzung: Arbeit an der direkten Szene

5.6.4 Räumliche Konstellation verändern, die Arbeit mit Grenzen

5.6.5 Darstellung der Situation (Inszenierung, enactment)

5.7 Kontexte modellieren: Netzwerkarbeit

5.8 Externalisierung

Hintergrund: Wie wirken Externalisierungen

5.9 Metaphern und Geschichten

Hintergrund: Geschichten in Therapie und Lebenshilfe

5.10 Zwischen den Sitzungen

5.10.1 Beobachtungsaufgaben

5.10.2 Ambivalenzarbeit: »Nichts tun!« oder »Mehr desselben!«

5.10.3 Veränderungsaufgaben

5.10.4 Rituale

5.10.5 Einüben neuer Verhaltensweisen

5.11 Veränderungen begleiten und stützen

5.11.1 Cheerleading und Vermögenswachstum

5.11.2 Ein Klima für Veränderungen

5.11.3 Von Rückfällen und Vorfällen

5.12 Abschiede und Abschlussphasen

5.12.1 Die Dynamik von Abschiedsprozessen

Hintergrund: Phasen des Abschiedsprozesses

5.12.2 Die Gestaltung von Abschlussphasen

5.13 Wann ist was günstig: Gibt es typische Verläufe?

6 Haltungen, Werte und Rollen im systemischen Handwerk

6.1 Haltungen und Werte

6.2 Die Kontrolle

6.3 Rollen der Beraterin: Teacher, Facilitator, Consultant, Evaluator

Literatur

Register

Vorwort

Vor fast 30 Jahren erkundigten sich einige Sozialpädagoginnen bei unserem Kollegen Winiger Beuse nach einer systemischen Ausbildung, die nicht im engeren Sinne therapeutisches Know-how vermittelt, sondern auf Berufskontexte im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen zugeschnitten sei. Es gab damals kaum solche Angebote, zumindest nicht in der fraglichen Region. Die meisten Weiterbildungen waren klinisch ausgerichtet, auch wenn sie den Begriff Beratung im Titel führten. Die vermittelten Methoden stammten aus therapeutischen Settings und wurden für therapeutische Arbeitsfelder gelehrt. Nach unseren Beobachtungen in der Praxis und als Lehrende in verschiedenen Familientherapie-Ausbildungen hatten wir den Eindruck gewonnen, dass die systemischen Ansätze für die Reflexion psychosozialer Arbeit sehr erhellend, die eher klinisch ausgerichteten Methoden in diesen Kontexten aber oft wenig praxistauglich waren.

Ausgehend von der eingangs aufgeworfenen Frage entstand die Idee zu einem Curriculum, woraufhin vier Lehrtherapeutinnen eines bis dahin losen Netzwerkes (Winiger Beuse, Erika Lützner-Lay, Artur Goerke-Hengst, Rainer Schwing) sich mit den Interessenten zusammensetzten. Wir bastelten aus den Bedürfnissen der Interessenten und den eigenen Trainingserfahrungen eine zweijährige Weiterbildung, die systemisches Know-how gezielt für den Bereich Sozialer Arbeit, für Fachkräfte im Gesundheitswesen und in pädagogischen Einrichtungen vermittelt. Aus der regen Nachfrage und den wachsenden Lehrerfahrungen entstand das »praxis – institut für systemische beratung«.

Heute liegen 18 Jahre Erfahrung mit diesem Curriculum und über 40 durchgeführte Trainingsgruppen hinter uns. Es gibt inzwischen sehr viel mehr Literatur zu systemischen Ansätzen in breit gefächerten Anwendungsgebieten. Es gibt exzellente Fundierungen systemischer Praxis und auch Beschreibungen einzelner methodischer Ansätze. Es finden sich aber kaum Methodenbücher, die die Komplexität psychosozialer Praxis erfassen und Handlungsansätze für die verschiedenen Tätigkeitsfelder praxisorientiert darstellen.

Das war Anlass, aus unseren Materialien, die zum Teil auch in Zusammenarbeit mit Supervisions- und Ausbildungsteilnehmerinnen entstanden sind, von ihnen mit entwickelt, getestet und verbessert wurden, einen Methodenkoffer zusammenzustellen. Mit diesem Methodenkoffer verfolgen wir auch ganz praktische Zwecke: Wir wollen Kolleginnen und Kollegen in Weiterbildungen ein Methodeninventar zur Verfügung stellen, das den Weiterbildungsteilnehmerinnen aus unterschiedlichsten Praxisfeldern (stationär, teilstationär, ambulant) Orientierung und Vertiefung bietet. Die Arbeitsfelder der Kandidatinnen und Kandidaten umfassen Betreuen, Beraten, Fördern und Arbeiten mit Einzelpersonen, Gruppen und Familien. Für diese Zielgruppe wollen wir Arbeitshilfen liefern. Schließlich wollen wir auch Studierende und Auszubildende in sozialen, pädagogischen und therapeutischen Berufen ansprechen, die in diesem Werkzeugkoffer praxisorientierte Darstellungen finden, um sich auf die Aufgaben vorbereiten zu können, die ihnen in der alltäglichen Praxis begegnen werden.

Selbstverständlich ist nicht jede Methode für jede Situation geeignet; und wer all die hier vorgestellten Methoden brav und fleißig umsetzt, der wird zumindest eine Aktivität beim Gegenüber fördern: Flucht. Vielmehr ist eine kluge Auswahl und Begrenzung des Inventars in der Arbeit mit Klienten erforderlich. Ein Interview wird nicht durch die hohe Anzahl zirkulärer Fragen systemisch oder gut. Notwendig ist die Anpassung der Methoden an die eigene Person und die Bedingungen des Arbeitszusammenhangs.

Die Darstellung verschiedener Werkzeuge aus den unterschiedlichen systemischen und anderen Traditionen ist ein weiteres Anliegen, das wir mit diesem Buch verfolgen. Wir halten die bewusste Kombination verschiedener Vorgehensweisen bei Berücksichtigung der jeweiligen impliziten theoretischen Annahmen für zukunftsweisend. Diese Überlegung ist maßgeblich für den Aufbau des Buches, wie wir im ersten Kapitel näher erläutern. In den Formulierungen haben wir uns für einen willkürlichen Wechsel zwischen weiblicher und männlicher Form entschieden, gemeint sind immer beide Geschlechter.

Das Allerwichtigste an dieser Stelle: Kein Buch, kein Gedanke entsteht nur durch einen, auch nicht nur durch zwei. So waren viele Menschen bei der Entstehung direkt oder indirekt beteiligt, ohne sie gäbe es dieses Buch nicht: Unsere Familien, die uns mit Geduld und Unterstützung begleitet haben; Ausbilderinnen und Kollegen des Instituts, von denen wir viel gelernt haben, und mit denen es immer wieder Spaß macht, Neues zu entwickeln; der wissenschaftliche Beirat des Institutes, dem wir viele Anregungen und Unterstützung auch in schwierigen Zeiten verdanken; Leserinnen, die uns wertvolle Kritik und Anregung gegeben haben; Klienten, Supervisanden und Kunden, die uns wertvolle Rückmeldungen gaben.

Insbesondere danken wir: Inge Liebel-Fryszer, Franca, Lina und Leon Fryszer, Eugenia Schwing, Erika Lützner-Lay, Winiger Beuse, Artur Goerke-Hengst, Verena Krähenbühl, Dr. Margarete Hecker, Prof. Dr. Nossrat Peseschkian, Ruth Heise, Ingrid Sorge-Wiederspahn, Marika Eidmann, Heike Schwarz, Hans-Werner Eggemann-Dann, Cordula Alfes, Irma Schnocks, Anja Deger, Carole Gammer, Rainer Bosselmann, Antony Williams, Jürg Hartmann, Carl Wörner, Dr. Fritz Glasl, dem Caritasverband Frankfurt und dem Team der Eltern- und Jugendberatungsstelle Stadtmitte, dem Team des praxis-instituts für systemische beratung, dem früheren Psychologisch-Pädagogischen Zentrum (PPZ e. V.) und seinen Mitarbeitern sowie unseren Klienten, Supervisanden und Kunden, von denen wir unendlich viel gelernt haben.

Ein besonderer Dank gilt unseren Eltern für all die Grundsteine, die sie gelegt haben und die dieses Buch ermöglicht haben.

Andreas Fryszer und Rainer Schwing

Vorwort

Dies ist das Buch, das ich aus meiner Erfahrung in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen gern selbst geschrieben hätte. Leider ist es aber durch anderweitige persönliche und berufliche Aufgaben nicht dazu gekommen. Umso mehr möchte ich Rainer Schwing und Andreas Fryszer beglückwünschen, die aus ihrer reichen Erfahrung im Begleiten von Helfersystemen aller Art ein Handbuch geschrieben haben, das eine Fülle von ganz praktischen Anleitungen enthält, um auch komplizierte Problemkonstellationen zu ordnen und zu verstehen und darin handeln zu können. Sie zeigen, wie systemische Theorie und systemische Praxis Fachkräften der verschiedenen Praxisfelder eine neue hilfreiche Sichtweise vermitteln kann, die auch als Grundlage einer Theorie Sozialer Arbeit verstanden werden kann.

So oft haben wir als Lehrende an der Hochschule gehört, die therapeutischen Konzepte und vielen gelungenen Fallbeispiele, die uns auch in Weiterbildungen vermittelt werden, seien ja schön und gut, aber in der Praxis des eigenen Arbeitszusammenhangs nicht anwendbar. Das war eine sehr frustrierende Erfahrung. In diesem Buch wird anhand von zahlreichen Fallbeispielen beschrieben und belegt, wie systemische Konzepte, die ursprünglich im klinischen Bereich entwickelt wurden, auf alle anderen Bereiche helfender Berufe übertragen werden können. Häufig erlebt man etwa unter Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen eine eher gedrückte Stimmung, wenn sie sich darüber austauschen, wie wenig sie erreichen können, wie überlastet sie sind und wie wenig kollegiale Unterstützung sie erfahren. In diesem Buch ist dagegen viel von Ressourcenorientierung die Rede und davon, wie neue Sichtweisen und Handlungskonzepte mehr Freude und Arbeitszufriedenheit vermitteln, und wie das Vertrauen in die eigene Kompetenz gestärkt wird.

Besonders hilfreich erleben die Kolleginnen aus der Praxis zum Beispiel die Reduktion der Komplexität durch die legendäre »Philadelphia Map«, eine Landkarte, in die Hierarchien, Beziehungen und die Struktur des Systems eingetragen werden. Diese Landkarte soll als experimentelle Diagnose verstanden werden, sie ist nicht endgültig, sondern verändert sich im Verlauf des Hilfeprozesses. Der Klient ist damit nicht abgestempelt. Er wird damit auch nicht auf ein Schema reduziert. Ein anderes Beispiel: Diagnose und Intervention werden nicht getrennt, es braucht keinen besonders langen Vorlauf für die Exploration, der Einstieg in den Veränderungsprozess erfolgt direkt mit dem »joining«, der ersten Beziehungsaufnahme zwischen Beratern und Klienten. Diese Vorgehensweise macht Mut, sich auch an komplexere, vielleicht erstarrte, festgefahrene Klientensysteme heranzuwagen.

Dieses Buch bietet dem Lernenden eine Fülle von handwerklichen Anregungen und fantasievollen Möglichkeiten, wie etwa durch Umdeutungen, positive Konnotationen, Geschichten und Rituale in Systemen mit abweichendem Verhalten Veränderung angeregt wird. Das heißt aber nicht, dass hier eine Trickkiste angeboten wird, aus der man sich beliebig bedienen kann, um als neuer Zauberkünstler aufzutreten. Das »Wie« des Handelns steht im Vordergrund, die systemische Denk- und Vorgehensweise wird konkret und aus theoretischen Erklärungsmustern abgeleitet, der Zusammenhang von Theorie und Praxis bleibt bestehen.

Wie wir aus vielfältigen vergleichenden Studien über die Wirkungsweise von Interventionsstilen und Interventionsschulen der unterschiedlichen theoretischen Orientierung wissen, hängt das Gelingen immer von der Persönlichkeit des Beraters ab, von seiner Glaubwürdigkeit und von seiner Identifikation mit der eigenen Methode. Die Hand, die das Werkzeug führt, ist letztlich entscheidend. In diesem Buch ist der Persönlichkeit des Beraters kein eigenes Kapitel gewidmet, aber in den Fallbeispielen scheint die Wertschätzung für den Klienten in seiner Notsituation durch, auch mit welcher Behutsamkeit und Vorsicht die Wahl der Intervention abgewogen wird. Die Praktikerin, die sich durch systemische Konzepte und durch die systemische Sichtweise weiterqualifizieren will, wird genügend Hinweise finden, dass die »Landkarte«, die sie sich als Hilfskonstruktion zum besseren Verständnis ihrer Klienten erstellt hat, nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden darf. Die reale Situation kann eben auch ganz anders sein als die Konstruktion, die sie für ihr Verständnis definiert hat. Bei aller beherzten Anwendung bisher ungewohnter Interventionen bleibt das oberste Gebot der Beobachtung des Klientensystems bestehen: Welche Rückmeldungen geben mir die Klienten und wie sensibel reagiere ich auf diese Signale?

Es gibt im deutschsprachigen Raum bereits einige gute, bewährte theoretische Lehrbücher zur systemischen Therapie und Beratung. Wir haben daraus viel von den amerikanischen Pionieren gelernt, die in den 1950er und 1960er Jahren begonnen haben, nicht mehr nur den Einzelnen zu sehen, sondern den Fokus auf den Symptomträger in seinem jeweiligen Kontext zu richten. Andreas Fryszer und Rainer Schwing haben hier ein Handbuch erarbeitet, das sich in jedem Kapitel auf die gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland bezieht, auf unsere Gesetzeslage und unsere institutionellen Gegebenheiten, in denen Kolleginnen und Kollegen arbeiten. In den vielen Fallbeispielen tauchen alle gesellschaftlichen Schichten auf, von der strukturlosen Armutsfamilie der Sozialpädagogischen Familienhilfe über die Mittelschichtfamilie, die eine Beratungsstelle aufsucht, bis zum Team einer bürokratisch organisierten Behördenstruktur.

Der Ruf nach erfahrenen Praktikern und Praktikerinnen wird immer stärker angesichts der sozialen Verwerfungen, die vor allem in den Armutsregionen der Großstädte Schlagzeilen machen. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung unter Kolleginnen und Kollegen aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik, aus Psychologie und Psychiatrie sowie aus anderen helfenden Berufen, dass sie Hilfe, Anregungen und mehr Alternativen in ihrem zuweilen grauen Alltag erfahren, dass ihre Profession durch überzeugende Kompetenz eine Aufwertung und mehr Anerkennung erfährt, die sie bei der zunehmenden sozialen Ausgrenzung weiter Schichten der Bevölkerung und damit ihrer selbst bitter nötig haben.

Margarete Hecker

1 Ein erster Blick in den Koffer: Was Sie wo finden

1.1 Zur inhaltlichen Gliederung

Jedes Handeln und damit auch professionelles Handeln beinhaltet eine Abfolge von Sehen, Ordnen und Entscheiden. Idealtypisch lässt stellt sich diese wie in Abbildung 1 darstellen.

Abbildung 1: Lineare Folge von Sehen, Ordnen, Entscheiden und Handeln

Tatsächlich aber steht im Alltag das Handeln oft an erster Stelle, bevor wir sehen und begründen können, warum wir so gehandelt haben; das gilt auch für professionelle Zusammenhänge. Und diese umgekehrte Abfolge ist oft auch notwendig, da die jeweiligen Situationen dies erfordern. Sehen, Ordnen, Entscheiden und Tun passieren parallel.

Systemisch betrachtet sehen wir das Durchlaufen dieser Stadien als einen zirkulären Prozess, der die vier Schritte immer wieder und in kurzen Zyklen durchläuft. Zirkulär steht hier im Gegensatz zu linear. Damit sind wir bei einem wichtigen Gegensatzpaar der systemischen Sichtweise. Linear meint in einer zeitlichen Reihenfolge; erst sehen, dann ordnen und dann entscheiden und letztlich handeln. Ein Schritt resultiert aus dem vorherigen; Sehen ist die Voraussetzung für Ordnen, Ordnen wiederum für Entscheiden und daraus resultiert das Handeln.

Zirkulär dagegen meint eine wechselseitige Abhängigkeit: Aus Ordnen kann Sehen entstehen, aus Handeln kann Entscheiden folgen. Die Reihenfolge des Ablaufes ergibt sich nicht aus sich heraus im Sinne eines kausalen Zusammenhangs; die Elemente beeinflussen sich wechselseitig. Jede Setzung eines Anfangs und eines Endes, jede Interpunktion in diesem kreisförmigen Prozess ist willkürlich (s. Abb. 2 und vgl. ausführlich den Hintergrundtext Seite 209 ff., Kap. 5.3). Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang der Satz Heinz von Foersters: »Willst Du erkennen, dann lerne zu handeln« (1985, S. 60).

Die bewusste Reflexion, Organisation und Planung dieser Schritte in der Arbeit mit Familien, Gruppen und Einzelnen ist Gegenstand dieses Buches. Die Darstellung folgt den idealtypischen Phasen eines Interventionsprozesses. Wir wollen zeigen, wie aus systemischer Sicht diese Abfolge gestaltet werden kann:

Abbildung 2: Zirkuläre Sicht von Sehen, Handeln, Ordnen und Entscheiden

–Sehen: Exploration, Diagnostik und Erstinterview (Kapitel 2),

–Ordnen: Informationsauswertung und Dokumentation (Kapitel 3),

–Entscheiden: Hypothesen bilden, Ziele setzen, Maßnahmen planen (Kapitel 4),

–Handeln: Intervenieren und Prozesse begleiten (Kapitel 5).

1.2 Zum formalen Aufbau der Texte – Hinweise für den Leser1

Unser Ziel ist es, Werkzeuge systemischen Arbeitens so darzustellen, dass der Praktiker sie auch anwenden kann. Wir beschreiben die einzelnen Methoden ausführlich und geben zusätzlich Hinweise und Anleitungen, die sich in der Praxis als sinnvoll erwiesen haben. Ergänzt werden diese Darstellungen durch praktische Beispiele aus Beratungssituationen. All diese Beispiele wurden sorgfältig verfremdet, so dass ein Rückbezug auf die realen Personen und Situationen nicht möglich ist.

Mit der Anwendung bestimmter Werkzeuge sind systemische Sichtweisen verbunden, die dem methodischen Vorgehen einen Sinn geben. Der Umgang mit diesen Werkzeugen vermittelt dem Anwender systemische Sichtweisen, Grundhaltungen und theoretische Überlegungen. Und nur der wiederholte Gebrauch eines Werkzeugs macht es erst zum eigenen Werkzeug, in der Beratung wie im Handwerk. Darüber hinaus haben wir der Darstellung vieler Werkzeuge einen im Druck hervorgehobenen Abschnitt mit der Überschrift »Hintergrund« angefügt, der dazu dient, den Leserinnen systemische Grundhaltungen und Theoriekonzepte sowie Zusammenhänge zwischen praktischem Tun und ideellem oder geschichtlichem Hintergrund systemischen Arbeitens nahezubringen.

Aus dem Gespräch mit Lernenden ist uns die Frage vertraut: Was genau ist denn an einer Methode systemisch? Welche Ideen stecken hinter diesem Vorgehen? Dies sind wichtige Fragen zur Herausbildung einer eigenen Identität als systemisch arbeitender Helfer.

Methoden und Techniken ermöglichen Handeln wie es Hammer, Zange oder Schweißgerät als Werkzeuge tun. Brillen, Mikroskope, Fernrohre oder Infrarotkameras ermöglichen uns je nach Situation ein genaueres Wahrnehmen der Welt. Theoretische Positionen schulen unsere Sicht der Welt. Sie sind die Brillen, die Unterschiedliches in sozialen Systemen sichtbar machen. So gesehen sind für uns nicht nur Methoden und Techniken, sondern auch theoretische Konzepte Werkzeuge zur Wahrnehmung und auch als solche zu behandeln. Der Nutzen, je nach Situation, handelnden Personen und Zielsetzung, entscheidet darüber, ob wir ein theoretisches Konzept, eine Methode oder auch eine Technik anwenden oder nicht (vgl. Herwig-Lempp 2004, S. 44). So stellen wir in den »Hintergrundtexten« nicht nur verschiedene, sondern sich teilweise widersprechende theoretische Positionen dar und empfehlen dem Leser sich situationsbedingt zu entscheiden.

Im Zusammenhang dieses Buches verzichten wir jedoch auf eine geschlossene Darstellung theoretischer Grundlagen systemischen Arbeitens. Dazu liegen eine Reihe guter und kompetenter Veröffentlichungen vor (z. B. von Schlippe u. Schweitzer 1996).

Als zentrales Anliegen steht für uns im Vordergrund, Lernende bei der Umsetzung und Anwendung systemischen Arbeitens zu unterstützen und erfahrenen Praktikern ein Methoden-Handbuch mit vielen nützlichen Anregungen zur Verfügung zu stellen. Die Hintergrundtexte können vom eiligen, anwendungsorientierten Leser oder dem, der sich schon mit den verschiedenen theoretischen Sichtweisen beschäftigt hat, durchaus überschlagen werden.

Wir halten es allerdings für ausgesprochen wichtig, dass der Anwender die jeweiligen impliziten Annahmen über Erkenntnis, Wahrheit und Wirkmechanismen der Werkzeuge, die er verwendet, kennt. Wir plädieren für eine Kombination verschiedener Methoden bei einem bewussten Umgang mit ihren impliziten Annahmen (Schaschlikprinzip: all die Köstlichkeiten aufspießen, die schmecken und passen), sind aber gegen eine großzügige Kombination von Werkzeugen, wenn deren theoretische Annahmen nicht berücksichtigt werden (Gulaschprinzip: Alles in einen Topf und umrühren).

1.3 Unsere theoretische Position: Schaschlik statt Gulasch!

Liest man systemische Artikel, Bücher oder Weiterbildungscurricula, so entsteht mitunter der Eindruck, systemische Therapie oder Beratung sei sehr auf bestimmte Methoden bezogen und als Methodologie zu verstehen. Systemiker sind doch die, die entweder zirkulär fragen, narrativ Geschichten explorieren oder von Problemen nichts wissen wollen und immer erst einmal nach Ausnahmen und Wundern fragen?

Nun gehört es zu jeder systemischen wie zu jeder therapeutischen Richtung, dass sie sich dem Anspruch stellt, eine eigene Methodologie zu entwickeln. Solche Abgrenzungen und Einengungen hindern uns aber, den Reichtum an Methoden, Techniken und theoretischen Sichtweisen zu nutzen, die in der historischen Entwicklung der systemischen Arbeit entstanden sind, und passen ebenso wenig zu der Vielfalt von Anforderungen und unterschiedlichen Menschen, auf die man in der psychosozialen Arbeit trifft.

Wir verstehen systemisches Arbeiten zuerst einmal als eine Handlungsperspektive, die Orientierung für Hypothesenbildung und Interventionsplanung gibt. In diese Perspektive passen aus unserer Sicht viele Verstehensansätze und Methoden aus der systemischen und auch aus anderen therapeutischen Traditionen. Die Zusammenarbeit mit Kolleginnen mit unterschiedlichsten fachlichen Berufsbiografien hat uns hier viele erhellende und weiterführende Anregungen vermittelt. Der psychoanalytische Ansatz des szenischen Verstehens kann die systemische Arbeit bereichern, verhaltenstherapeutische Übungen können gut in systemische Interventionsstrategien eingepasst werden, gut dosierte Methoden aus dem Psychodrama oder der Gestaltpsychologie erleichtern vielen Menschen das Verstehen auf nichtsprachlicher Ebene und regen so wichtige Veränderungen an. Gemeinsamer Nenner bleibt die systemische Perspektive: Der Blick auf das ganze Feld und die Impulse, die eine bestimmte Intervention im Kontext setzt oder aus diesem erhält.

Unsere Arbeit in Supervision, Training und Organisationsentwicklung in unterschiedlichen Feldern über mehr als 20 Jahre hat uns gezeigt, dass die Umsetzung einer systemischen Schule in Reinform selten möglich ist und auch nicht praktiziert wird. Die Realität vor Ort ist üblicherweise gekennzeichnet von einer Kombination verschiedener therapeutischer und beraterischer Ansätze. Wir halten diesen Umgang mit Techniken, Methoden und theoretischen Annahmen verschiedener Schulen für angebracht und angemessen. Denn in der Schule lernt man bestenfalls für das Leben – aber nicht um im Leben Schule zu spielen!

Wir sehen die Zukunft von Beratung und Therapie eher in einer Kombination der unterschiedlichsten Schulen. Gerade Veröffentlichungen jüngeren Datums weisen in eine solche Richtung, wie etwa die Entwicklung der »generischen Prinzipien« von Schiepeck und anderen, die wir im einleitenden Text zum Interventionskapitel vorstellen (S. 172 f., Kap. 5). In der Physik wurden Prinzipien formuliert, die Veränderungsprozesse in selbstorganisierenden Systemen einleiten (vgl. Haken u. Schiepek 2006). Ebenfalls in Kapitel 5 geht es um die von Grawe in der vergleichenden Therapieforschung gefundenen Wirkfaktoren für Veränderungen, die in vielen Theorieansätzen zu finden sind. Die Ergebnisse von Schiepek und Grawe gleichen sich erstaunlich und decken sich mit unseren Erfahrungen aus der beraterischen und therapeutischen Arbeit mit sozialen Systemen.

Wir sehen darin eine Ermutigung, Sichtweisen, Vorgehensweisen und Methoden verschiedener Schulen innerhalb und auch außerhalb der systemischen Ansätze zu kombinieren. Man könnte von Schaschlikberatung sprechen: die besten, schmackhaften Stücke, die gut (auch zueinander) passen, spießen wir auf.2

Dabei halten wir es allerdings für sinnvoll, den Verstehenshintergrund der jeweiligen Werkzeuge zu kennen, also zu wissen, warum dieses Vorgehen oder diese Technik Veränderung ermöglichen soll. Ebenso halten wir es für wesentlich als Anwender einer Methode zu wissen, wie die jeweilige theoretische Ausrichtung »Erkenntnis« und »Wahrheit« definiert und damit Einfluss nimmt auf das Verhältnis von Klientensystem und Berater:

–Wie viel Respekt hat der Berater vor den Rahmungen und Sichtweisen seiner Klienten?

–Wie sicher glaubt sich der Berater im Besitz einer gültigen Norm oder Wahrheit, wie Systeme funktionieren sollten, damit Leben gelingt?

–Wie sicher ist sich der Berater, dass »Wirklichkeit« und »Strukturen in Systemen« als real erkannt werden können?

Gerade weil die Beantwortung dieser Fragen von Schule zu Schule – auch innerhalb der neueren Ansätze systemischen Arbeitens – erheblich variiert und relevant für die Art der Beziehungsgestaltung zum Klientensystem ist, sollte man dies bei der Verwendung von Methoden unterschiedlicher Ansätze berücksichtigen. Tut man das nicht, wirft man die Werkzeuge und Sichtweisen unterschiedlicher Schulen wahllos in einen Topf. Wir könnten dann von »Gulaschberatung« sprechen.

Wir empfehlen deshalb: Schaschlik statt Gulasch! Dabei ist uns bewusst, dass Widersprüche zwischen den Ansätzen nicht aufzulösen sind. Ein normativer Ansatz, wie der von Salvador Minuchin, und ein narrativer Ansatz, wie der von Steve de Shazer, sind und bleiben gegensätzlich und schließen sich aus. Doch hier können wir von der Physik lernen. Ob nun Licht eine elektromagnetische Welle ist oder aus Materieteilchen besteht, wissen wir nicht. Beide Sichtweisen schließen sich logisch gegenseitig aus. Bestimmte Erscheinungen lassen sich nur mit der einen Theorie erklären und andere mit der anderen. Physiker wechseln je nach Situation ihre Sichtweise vom Licht! Wir ziehen diesen pragmatischen Umgang mit Sichtweisen und Schulen vor. Wir verwenden eine Theorie in unserer Praxis so lange, wie sie praktisch gewinnbringend ist. Lieber wechseln wir während einer Beratung den theoretischen Bezug als an der Entwicklungsfähigkeit und der Veränderungsbereitschaft des Klientensystems zu zweifeln, nur weil wir mit der bisher verwendeten Sichtweise keine Veränderung erreicht haben.

1Wir benutzen aus Gründen der Lesbarkeit bei Personenbenennungen abwechselnd die männliche und die weibliche Form, meinen aber jeweils immer auch das andere Geschlecht.

2Diese Metapher verdanken wir unserem Kollegen und Lehrer Dr. Rainer Bosselmann.

2 Explorieren, beobachten, Anfänge gestalten

2.1 Was Sie hier erwartet: über die Einstiegsphase

In der Einstiegsphase geht es darum, zwischen den Beteiligten Vertrauen aufzubauen, Beziehungen zu knüpfen und Informationen zu sammeln, um dann eine Vereinbarung über die Art der Unterstützung und die Ziele der Zusammenarbeit zu treffen. Hierfür passt der Begriff »explorieren«. Er meint erforschen und untersuchen. Wir sehen, hören und beobachten (eher passiv-aufnehmende Aktivitäten), gehen aber auch aktiv auf die Klienten zu: Wir erfragen, erforschen, probieren aus. Und vor allem stellen wir aktiv einen Kontakt zu den Menschen her, öffnen Türen, bauen Brücken, stellen Vertrauen her und vermitteln Zuversicht. Inhaltlich geht es um die Klärung der folgenden Fragen:

–Wer gehört zum System der Hilfesuchenden?

–Wer wünscht welche Hilfe? Wer ist wie motiviert?

–Welche Ressourcen sind vorhanden?

–Welche Probleme und Defizite liegen vor? Wie werden diese und deren Ursachen von den verschiedenen Beteiligten gesehen?

–Was erfahren wir in den Gesprächen über Beziehungsstrukturen, Regeln und die Kommunikation des Systems?

–Welche ersten Eindrücke haben wir jenseits der gesprochenen Worte vom Klientensystem und seinem weiteren Lebensumfeld?

Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, können wir ein Unterstützungsangebot formulieren und zusammen mit den Beteiligten prüfen, ob deren Erwartungen und Bereitschaft sich mit unserem Angebot verbinden lassen.

In manchen Zusammenhängen wird sich die Explorationsphase über einen längeren Zeitraum erstrecken und aus mehreren Treffen mit verschiedenen beteiligten Klienten und anderen Helfern bestehen. Dabei kann es um Gespräche gehen oder auch um vielerlei andere Aktivitäten wie zum Beispiel Spielen, Alltagsbeschäftigungen oder Spaziergänge. In anderen Zusammenhängen reicht ein einziges Erstinterview von einer Stunde, in dem die Entscheidung fällt, ob und welcher Kontrakt geschlossen wird.

Je nach Arbeitsfeld ist der eigentliche Empfänger der Unterstützung nicht gleichzeitig der Auftraggeber, der die Kosten trägt. In solchen Zusammenhängen entstehen Dreiecksbeziehungen, bestehend aus dem Empfänger der Unterstützung, dem Auftraggeber und dem Dienstleister, der die Unterstützung erbringt. In solchen Konstellationen können mehrere Erstgespräche nötig sein: Gespräche mit allen drei Parteien und weitere nur zwischen dem Unterstützungsempfänger und dem Dienstleister. Entsprechend wird dann auch mit dem Auftraggeber und Kostenträger ein Kontrakt vereinbart, beispielsweise wenn der Mitarbeiter eines Jugendamtes für eine Familie eine Familienhilfemaßnahme in Auftrag gibt oder der Leiter für ein Team seiner Einrichtung einen Supervisor engagiert.

In manchen Arbeitsfeldern sind intensive Vorarbeiten mit dem Klientensystem erforderlich, damit dieses erst bereit oder in der Lage ist, mit dem Berater einen Kontrakt abzuschließen. Bei Klienten mit verschiedenen Problembereichen braucht der Helfer unter Umständen einige Zeit, um selbst abzusehen, was alles an Hilfen nötig und möglich ist.

Ob es sich um ein einstündiges Erstgespräch oder um eine halbjährige Einstiegsphase mit vielen Aktivitäten handelt: die Themen, die erarbeitet werden müssen, sind in beiden Fällen die gleichen.

2.2 Was ist ein System und wer gehört dazu?

Wenn wir ein System beobachten wollen, dann tauchen sofort Fragen auf: Woran erkenne ich ein System? Wer gehört zum System und wer nicht? Was beobachte ich, wenn ich ein System beobachte?

Gehört der leibliche Vater dazu, der seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zum Sohn hat? Was ist mit der verstorbenen Großmutter, deren Einfluss auf die Familie noch deutlich ist? Und was ist mit dem Lehrer, der sich so intensiv seit zwei Jahren für die Familie engagiert? Woran erkennen wir die Grenze eines Systems? Was müssen wir beachten, wenn wir eine Gruppe von Menschen als System begreifen und beobachten?

Hintergrund: Über den Systembegriff und über Konstruktionen

Woher weiß ich eigentlich, wer zu einem System gehört und wer nicht? Woran erkenne ich ein System? Was ist überhaupt ein System?

Zunächst die schlechte Nachricht für systemische Berater: Es gibt keine Systeme! Dann die gute Nachricht: Deshalb kann man sich zahllose Systeme ausdenken – es muss sich nur als sinnvoll herausstellen! Unsere Definition, wer in einem vorliegenden Fall zum System gehört, muss uns ermöglichen, erfolgreich zu arbeiten. Ist dies nicht der Fall, müssen wir vielleicht unsere Sicht vom System verändern, um zu neuen Handlungsmöglichkeiten zu kommen. Das Kriterium, eine Systemgrenze gerade so und nicht anders zu definieren, ist nicht, ob unsere Definition irgendeiner Wahrheit entspricht, sondern ob sie praktisch nützlich ist. Dahinter steht die Annahme: Der Begriff System ist wie jeder Begriff nur eine Konstruktion.

Die Welt durch eine Brille zu betrachten, durch die man Systeme sieht, ist eine Entscheidung von uns. Es ist eine Interpretation der Welt, die uns hilfreich erscheint, um sie besser zu verstehen und Ideen zu entwickeln, wie wir erfolgreich in ihr handeln können. Aber es gibt keine Notwendigkeit zu dieser Sichtweise. Es gibt keine sichtbaren Grenzen um Systeme oder Subsysteme. Ein Familientherapeut brachte diese Erkenntnis mit dem Satz »You cannot kiss a system!« auf den Punkt. In der Welt Systeme zu unterscheiden dient unserer Orientierung. Wir schaffen uns damit eine Landkarte. Aber der dort eingezeichnete Berg könnte auch ganz anders gezeichnet werden. Wir dürfen ihn nicht mit dem tatsächlichen Berg verwechseln. Die Karte ist nicht die Landschaft; und sie ist nur so lange gut, wie sie uns erfolgreich bei der Orientierung hilft.

Diese Sichtweise ist geprägt vom Konstruktivismus (vgl. z. B. von Glasersfeld 1998; Watzlawick 1985, 1986), einer Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass unsere Theorien und Begriffe Konstruktionen über die Welt sind, die auf unseren Wahrnehmungen beruhen und nie unabhängig von diesen sein können. So unterscheidet sich ein Infrarotfoto der Erde sehr von einem normalen Foto, obwohl die Erde dieselbe ist. Was wahrgenommen wird, ist immer wesentlich abhängig vom Wahrnehmungsapparat und von seiner Bauweise. Die Wahrnehmungen werden von uns verarbeitet und daraus entwickeln wir unsere Sicht der Welt, unsere Theorien. Dies ist sehr von der Bauweise unseres Nervensystems abhängig, die bestimmt, wie wir Informationen auswerten. Der Begriff Konstruktion macht deutlich, dass unsere Theorien von unserem Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat abhängig und nicht zwangsläufig Abbildungen einer Realität außerhalb von uns sind.

Eine Analogie von Maturana und Varela (1987, S. 149) macht dies deutlich: »Stellen wir uns jemanden vor, der sein ganzes Leben in einem Unterseeboot verbracht hat, ohne es je zu verlassen, und der in dem Umgang damit ausgebildet wurde. Nun sind wir am Strand und sehen, dass das Unterseeboot sich nähert und sanft an der Oberfläche auftaucht. Über Funk sagen wir dann dem Steuermann: ›Glückwunsch, du hast alle Riffe vermieden und bist elegant aufgetaucht; du hast das Unterseeboot perfekt manövriert.‹ Der Steuermann im Inneren des Boots ist jedoch erstaunt: ›Was heißt denn »Riffe« und »Auftauchen«? Alles, was ich getan habe, war, Hebel zu betätigen und Knöpfe zu drehen und bestimmte Relationen zwischen den Anzeigen der Geräte beim Betätigen der Hebel und Knöpfe herzustellen – und zwar in einer vorgeschriebenen Reihenfolge, an die ich gewöhnt bin. Ich habe kein »Manöver« durchgeführt, und was soll das Gerede von einem »Unterseeboot«?‹

Für den Fahrer im Inneren des Unterseeboots gibt es nur die Anzeigen der Instrumente, ihre Übergänge und die Art, wie zwischen ihnen bestimmte Relationen hergestellt werden können. Nur für uns draußen, die wir sehen, wie sich die Relationen zwischen dem Unterseeboot und seiner Umgebung verändern, gibt es das ›Verhalten‹ des Unterseebootes, ein Verhalten, das je nach seinen Konsequenzen mehr oder weniger angemessen erscheint. Wenn wir bei der logischen Vorgehensweise bleiben wollen, dürfen wir die Arbeitsweise des Unterseeboots selbst und die Dynamik seiner Zustände nicht mit dessen Verlagerungen und Bewegungen im Milieu verwechseln.

Die Dynamik von Zuständen des Unterseeboots mit seinem Steuermann, der die Außenwelt nicht kennt, vollzieht sich nie in einem Operieren mit Abbildungen der Welt, die der Außenbeobachter sieht: Sie beinhaltet weder ›Strände‹ noch ›Riffe‹ noch ›Oberfläche‹, sondern nur Korrelationen zwischen Anzeigen innerhalb bestimmter Grenzen. Entitäten wie Strände, Riffe oder Oberfläche sind einzig für einen Außenbeobachter gültig, aber nicht für das Unterseeboot oder für den Steuermann, der als dessen Bestandteil operiert. Was für das Unterseeboot in dieser Analogie gilt, ist auch für alle lebenden Systeme gültig: Für den Frosch mit dem verdrehten Auge, für das Wolfsmädchen und für jeden von uns als menschliche Wesen.«

Der Konstruktivismus beschäftigt sich explizit nicht mit der Frage, ob es eine Realität außerhalb unserer Wahrnehmung gibt oder nicht. Er bestreitet damit aber nicht die Existenz einer Realität außerhalb von uns. Die materialistischen Erkenntnistheorien dagegen gehen von einer materiellen Wirklichkeit außerhalb von uns aus und sprechen bei Theorien und Erkenntnissen folgerichtig auch nicht von Konstruktionen, sondern von Abbildungen eben dieser existierenden Wirklichkeit. In dieser Betrachtungsweise sind dann die Abbildungen entweder falsch oder wahr. Tendenziell werden sie immer genauer und richtiger, weil sie fortschreitend die Welt immer besser und kompletter abbilden.

Konstruktivisten hingegen sprechen nicht davon, ob Konstruktionen richtig oder falsch sind. Wenn wir keine Aussagen über die tatsächliche Existenz der Wirklichkeit machen können, inwiefern sollten dann unsere Konstruktionen richtig oder falsch sein? Für konstruktivistisch Denkende ist das Kriterium zur Beurteilung einer Theorie nicht die Wahrheit oder Richtigkeit der Theorie, sondern ihre Brauchbarkeit und Nützlichkeit.

Wir können also selbst festlegen, wer zu einem System gehört und wer nicht. Es ist auch sinnlos darüber zu diskutieren, ob das so definierte System von uns richtig oder falsch definiert wurde. Es ist aber sinnvoll darüber zu diskutieren, ob das so definierte System sinnvoll ist, ob es für unsere Ziele in der Arbeit nützlich ist oder ob man die Grenze um das System besser anders verlaufen ließe, um erfolgreich arbeiten zu können.

Was genau meint der Begriff System?

Was unter einem System und insbesondere einem sozialen System zu verstehen ist, lässt sich anhand der folgenden Annahmen zu Eigenschaften und Merkmalen sozialer Systeme beschreiben:

–Ganzheit: »Eine Veränderung in einem Teil des Systems beeinflusst notwendigerweise das ganze System« (de Shazer 1998, S. 40); alle Elemente des Systems sind wie in einem Mobile miteinander verbunden; im Einzelnen finden sich die Bewegungen des Ganzen wieder; Bewegungen Einzelner übertragen sich auf das Ganze.

–Übersummativität: »Das Ganze unterscheidet sich von der Summe der Teile« (de Shazer 1998); es hat eine andere Qualität, ist mehr: ein Musikstück ist mehr als die Summe der Noten, ein Team kann anderes und mehr als mehrere Einzelkämpfer.

–Zirkuläre Kausalität, Nichtlinearität: »Eine Folge von Ursachen und Wirkungen, die zur Ausgangsursache zurückführen und diese bestätigen oder verändern« (Simon et al. 1984, S. 393; de Shazer 1998, S. 40); Vorgänge in Systemen lassen sich sinnvoller als zirkuläre Wechselwirkungsprozesse beschreiben, weniger als lineare Prozesse, die eine Einbahnstraße zwischen Ursache und Wirkung unterstellen (vgl. ausführlicher S. 209 ff., Kap. 5.3).

–Das Konzept »offenes System«: »Organische Systeme auf der Zellebene, komplexe Organismen und Populationen von Organismen leben in ständigem Austausch mit ihrer Umgebung. Dieser Austausch ist unabdingbar für das Fortbestehen von Leben und Form des Systems, denn Interaktion ist die Grundlage der Selbsterhaltung. (…) Mit dem Gedanken der Offenheit werden die Schlüsselbeziehungen zwischen der Umwelt und dem internen Funktionieren des Systems betont. Es wird davon ausgegangen, daß Umwelt und System sich in Interaktion und gegenseitiger Abhängigkeit befinden. Dieser Offenheit biologischer und sozialer Systeme steht die ›Geschlossenheit‹ vieler physikalischer und mechanischer Systeme entgegen. Der Grad der Offenheit kann jedoch variieren. Einige offene Systeme können nur auf einen relativ eingeschränkten Bereich von Inputs aus der Umwelt reagieren. Türme, Brücken oder auch mechanisches Spielzeug mit festgelegten Bewegungsabläufen sind geschlossene Systeme. Eine Maschine, die die inneren Abläufe entsprechend den Veränderungen in der Umwelt regulieren kann, gilt als teilweise offenes System. Lebende Organismen, Organisationen oder gesellschaftliche Gruppen sind gänzlich offene Systeme« (Morgan 1997, S. 60).

–Homöostase: »Dieser Begriff bezieht sich auf die Selbstregulierung und die Fähigkeit, einen stabilen Zustand aufrechtzuerhalten. Biologische Organismen streben nach Regelmäßigkeit in ihrer Form und nach Abgrenzung von der Umwelt unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines ständigen Austauschs mit ihr. All dies wird durch homöostatische Prozesse erreicht, die das Funktionieren des Systems auf der Basis des heute als ›negatives Feedback‹ bezeichneten Vorgangs regulieren und kontrollieren. Abweichungen von einem Regelmaß oder einer Norm setzen Abläufe in Gang, durch die diese Abweichung korrigiert wird. Wenn beispielsweise unsere Körpertemperatur normale Grenzen übersteigt, setzen bestimmte Körperfunktionen ein, die dem Temperaturanstieg entgegenzuwirken versuchen – wir beginnen zu schwitzen und heftig zu atmen. Soziale Systeme erfordern ebenfalls solche homöostatischen Kontrollvorgänge, wenn sie in einer dauerhaften Form weiter bestehen sollen« (Morgan 1997, S. 60 f.).

–Anforderungsvielfalt: Dieses Prinzip »besagt, daß die inneren Regulationsmechanismen eines Systems genauso vielfältig sein müssen wie die Umwelt, mit der es in Wechselwirkung steht. Denn nur durch die Einbeziehung der erforderlichen Vielfalt in die interne Kontrolle kann ein System mit der Vielfalt und den Anforderungen seitens der Umwelt interagieren. Jedes System, das sich von der Vielfalt der Umwelt isoliert, neigt zur Auszehrung und verliert seine Komplexität und seine Eigenheit. Anforderungsvielfalt ist demnach ein wichtiges Merkmal lebender Systeme jeder Art« (Morgan 1997, S. 62).

–Systemevolution: Dieses Prinzip beschreibt die Fähigkeit von Systemen, sich zu entwickeln, zu verändern, »komplexere Formen der Differenzierung und Integration anzunehmen. Eine größere Vielfalt innerhalb des Systems erhöht die Fähigkeit, mit Anforderungen und Möglichkeiten seitens der Umwelt zu interagieren. (…) [Dies] erfordert einen zyklischen Prozess von Variation, Selektion und Bewahrung der ausgewählten Charakteristika« (Morgan 1997, S. 62).

–Beobachtersysteme: Aus den vorherigen Ausführungen zum Konstruktivismus ergibt sich, dass es kein System ohne einen Beobachter gibt. Ein System ist immer die Erfindung eines Beobachters. Entsprechend ist der Beobachter Teil des Systems (vgl. Hintergrundtext S. 79 ff.).

Systemisch zu denken und zu handeln bedeutet für uns, Ereignisse zu kontextualisieren (vgl. dazu die Hintergrundtexte S. 66 ff. und S. 90). Eine systemische Betrachtung versteht ein Problem und den Menschen, der sich damit herumschlägt, innerhalb seines Lebenszusammenhangs und abhängig von diesem. Unter dieser Prämisse halten wir den beschriebenen Systembegriff für ausgesprochen hilfreich und sinnvoll.

Wir müssen also selbst bei jedem Auftrag definieren, wer zum System gehören soll und wer nicht. Für diese Festlegung gibt es keine Regeln und auch kein richtig oder falsch. Darüber hinaus sind wir auch verantwortlich dafür, ob wir uns für eine sinnvolle Festlegung entschieden haben, die zu guten Ergebnissen führt.

So können wir die Kernfamilie, die wegen der Schulschwierigkeiten und dem dissozialen Verhalten des zwölfjährigen Sohns Unterstützung sucht, als System sehen, mit dem wir primär arbeiten. In diesem System können wir den Sohn, die Tochter und die Mutter als Subsystem sehen, während der Vater etwas außerhalb steht. Die wichtigen Großeltern mütterlicherseits, die viel Einfluss auf diese Kernfamilie ausüben, können wir als erweitertes familiäres System sehen, die Schule und den beteiligten Sozialdienst als eigenständige Systeme. Nun können wir je nach unserem institutionellem, konzeptionellem und fachlichem Verständnis planen, ob wir in einer längeren und intensiven Explorationsphase unterschiedliche Gespräche mit den Eltern, der ganzen Familie, unter Beteiligung der Großeltern, mit den Kindern allein, dem Sozialdienst und auch der Schule führen. Oder es kann sein, dass wir uns auf die Arbeit mit der Kernfamilie beschränken und so nach einem Erstinterview zu einem Kontrakt kommen.

2.3 Gesprächsvorbereitung: Fakten, Sichtweisen

Wenn wir mit sozialen Systemen arbeiten ist es wichtig eine Haltung einzunehmen, die uns hilft zu realisieren, dass wir zu den gleichen Ereignissen recht unterschiedliche Geschichten hören. Manchmal decken sich diese, manchmal unterscheiden sie sich, oft sind sie diametral entgegengesetzt. Wer hat Recht? Wer lügt? Wer sieht die Dinge »verzerrt« und wer »richtig«? Sollte man das ausdiskutieren und klären oder besser alles tun, damit die Unterschiede nicht zu Streitereien führen?

Die Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen kann uns in diesem Zusammenhang hilfreich sein. In der Exploration werden uns viele Informationen spontan oder auf Fragen hin mitgeteilt. Beim Zuhören und ersten Ordnen dieser Mitteilungen halten wir die Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen für sinnvoll – auch wenn wir im folgenden Hintergrundtext diese Unterscheidung relativieren.

2.3.1 Fakten

Wenn wir Mitglieder des Systems aktiv befragen, dann empfiehlt es sich, zunächst einige Fakten zu sammeln, bevor wir uns für die Sichtweisen der Beteiligten interessieren. So erhalten wir als Außenstehende eine erste Orientierung. Es empfiehlt sich, jeweils bestimmte Fragen zu bündeln, so dass inhaltliche Einheiten entstehen, die den Zusammenhang herstellen und der Konzentration der Gesprächspartner dienen. Die folgende Auflistung ist ein Vorschlag am Beispiel einer Familie und verdeutlicht, was wir mit Fakten meinen. Die Fragen können analog auch auf andere Systeme bezogen werden: Teams, Gruppen, Organisationen.

–Erfassen des Familiensystems: Wer gehört zur Familie? Wer lebt in einem Haushalt zusammen? Wie stehen die Mitglieder der Familie verwandtschaftlich zueinander? Anhand dieser Informationen erstellen wir ein Genogramm (s. S. 61 ff. Kap. 3.1).

–Familienanamnese: Wie ist die Entstehungsgeschichte der Familie? Bei wem lebten wann die Kinder? Welche Bindungspersonen hatte welches Kind zu welcher Zeit? Was waren wichtige Veränderungen im Laufe der Familiengeschichte (Meilensteine, Highlights, Stolpersteine, Glücksfälle, Schicksalsschläge etc.)? Diese Informationen lassen sich gut mit einem Zeitstrahl dokumentieren und ordnen (s. S. 88 ff., Kap. 3.4).

–Problemanamnese: Hierbei geht es um die Geschichte des Problems. Worin genau besteht das Problem? Seit wann besteht das Problem? Was geschah zur Zeit des Auftretens des Problems sonst noch Besonderes? Was hatte bisher einen positiven Einfluss auf die Problementwicklung? Was hatte bisher einen negativen Einfluss? Was hatte keinen Einfluss? Die meisten dieser Informationen lassen sich ebenfalls übersichtlich mit einem Zeitstrahl dokumentieren.

–Erfassen des aktuellen Helfersystems: Wer ist aktuell mit diesem Fall beschäftigt und mit welchem Auftrag, welchen Zielen und Arbeitsansätzen? Durch wen und wie kamen diese Helfer dazu? Diese Informationen lassen sich gut in der Familien-Helfer-Map darstellen (s. S. 78 ff., Kap. 3.3).

–Erfassen der bisherigen Lösungsversuche: Was haben die Betroffen bisher selbst zur Lösung des Problems unternommen? Welche Helfer waren in der Vergangenheit mit dem Fall beschäftigt und wer hat sie womit beauftragt? Wie und durch wen wurde die Hilfeleistung beendet? Auch diese Informationen lassen sich mit dem Zeitstrahl dokumentieren.

Dieses Erfassen von rudimentären Fakten ermöglicht uns nicht nur eine erste Orientierung in einem neuen System. Es erlaubt uns auch, durch aktives Fragen die Führung im Gespräch zu übernehmen. Im Gegensatz etwa zu nondirektiven Beratungsansätzen ist die systemische Arbeitsweise dadurch gekennzeichnet, dass die Beraterin durch aktives Fragen das Gespräch leitet. Für viele Klienten ist das durchaus angenehm, weil ein unstrukturierter, fremder Raum – und das ist eine Beratungssituation für die meisten Menschen – verunsichert und durchaus auch Unbehagen und Angst auslösen kann. Dieses Vorgehen kann Sicherheit für Klienten und Berater bieten und ermöglicht, sich ein wenig zu beschnuppern und kennen zu lernen.

Hintergrund: Fakten – gibt es so etwas wie Objektivität?

Der Begriff Fakten suggeriert die Möglichkeit objektiver Tatsachen unabhängig von der Sichtweise eines Beobachters. Aber jede Tatsache muss ja zunächst von jemandem wahrgenommen werden, dann muss sie von diesem Beobachter ausgewertet und mit Begriffen belegt und schließlich formuliert werden. Und dann gibt es noch jemanden, der diese Information aufnimmt und wiederum interpretiert und auswertet. Wie wir etwas wahrnehmen, wie wir etwas interpretieren und wie wir etwas ausdrücken, ist aber sehr abhängig von unserer Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Die wiederum hängt von unserer gesamten Lebenserfahrung und erst recht von unserer momentanen persönlichen Verfassung ab. Der Physiker David Bohm hat in seinem Buch »Der Dialog« (1998) die Prozesse gründlich beschrieben, die es unmöglich machen, die aufgenommene Information von den inneren Zuständen des Beobachters getrennt zu halten. Maturana und Varela (1987, S. 32) haben diesen Gedanken in einem Satz zusammengefasst: »Alles Gesagte ist von jemandem gesagt.«

So gesehen gibt es keine Rechtfertigung, überhaupt von Fakten zu sprechen. Keine Information ist objektiv, jede ist untrennbar mit der Wahrnehmung und Interpretation eines Beobachters verbunden und somit subjektiv.

Wir haben es also streng genommen immer mit Sichtweisen zu tun und nie mit Fakten!

Entsprechend sollten wir uns folgende Grundhaltung zulegen:

–Alle Aussagen sind subjektive Sichtweisen und keine objektiven Fakten.

–Nachzuforschen wer lügt, wer recht hat und wer falsch liegt, ist in der Regel wenig nutzbringend.

–Unterschiede zwischen den Sichtweisen der Beteiligten sind von Interesse und beinhalten wesentliche Informationen, für die es sich lohnt Raum zu schaffen und die helfen können, Neues entstehen zu lassen.

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns hüten, selbst eine dezidierte Meinung zu Prozessen in einem System zu haben, wenn unsere Informationen von einem Systemmitglied stammen und wir die Sichtweisen der anderen nicht kennen. Dieser Rat erscheint selbstverständlich und überflüssig belehrend zu sein. Nur wissen wir aus der Arbeit mit Helfersystemen zu gut, wie schnell und sicher von Professionellen Aussagen über Ehen, Familien oder Personen des Umfelds eines Klienten gemacht werden, obwohl sie nur mit einem der Beteiligten gesprochen haben. Selbst in fachlichen Stellungnahmen wird oft so vorgegangen: Aussagen Einzelner werden als Fakten behandelt und sind Grundlage fachlicher Schlussfolgerungen und Stellungnahmen.

Ein weiteres Beispiel für die Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen. Dazu zwei Aussagen:

a) »Am 24.12. ist Weihnachten.«

b) »Mein Mann ist unfähig, Kinder zu erziehen.«

Wir werden uns in der Regel mit einer Familie wesentlich schneller über den ersten Satz einigen können als über den zweiten. Vor allem für den Vater in der Familie könnte es schwierig sein, den zweiten Satz als Faktum zu akzeptieren. Aber um diesen Unterschied geht es uns, wenn wir von Fakten und Sichtweisen sprechen. Im Grunde ist jede Information eine Sichtweise und subjektiv. Pragmatisch lohnt sich aber die Unterscheidung von relativ eindeutigen Rahmendaten oder Fakten wie im ersten Satz genannt (»Am 24.12. ist Weihnachten«) und Sichtweisen, die wesentlicher Stoff für unsere Arbeit mit dem System sein können. Unter Fakten verstehen wir hier vor allem Informationen, die von den Mitgliedern eines Systems mit hoher Übereinstimmung bestätigt werden. Zur Erfassung von Rahmendaten lohnt sich also diese Unterscheidung von Fakten und Sichtweisen, um eine erste Ordnung in die Arbeit mit einem System zu bringen (aber Vorsicht: es kann auch Situationen geben, in denen diskutiert wird, ob Weihnachten nicht doch erst am 25.12. ist, wie in Amerika).

2.3.2 Sichtweisen

Nachdem wir eine erste Orientierung im System durch einige erfragte Fakten erhalten haben, können wir uns für die Sichtweisen der betroffenen Mitglieder interessieren. Aber auch die Sichtweisen der anderen beteiligten Helfer sind von Interesse. Es ist sinnvoll, im Gespräch mehrere Fragen zu inhaltlichen Einheiten zu bündeln.

–Sichtweisen des Problems: Was denken die verschiedenen Beteiligten (Mitglieder des Systems, Freunde und Helfer) darüber, was das Problem ist? Was denken sie, sind die Ursachen? Was sind die Folgen des Problems? Warum halten sie es für wünschenswert, dass etwas Neues geschieht? Was meinen sie, müsste man tun, damit sich das Problem verschlimmert?

–Lösungsideen der Beteiligten: Was denken einzelne Beteiligte, wie eine Lösung aussehen könnte? Was könnten erste Schritte sein? Was könnte das Ziel sein? Wann wäre alles gut? Woran würden die Betroffenen merken, dass alles gut ist?

–Erfassen der Aufträge/Wünsche der Beteiligten: Was denken die Beteiligten, was die Helfer tun sollten und mit welchem Ziel? Wie sollten die Helfer vorgehen und wie sehr sollten sie sich engagieren? Was sollte man besser lassen? Was müssten die Helfer tun, um den Auftrag entzogen zu bekommen?

–Meinungen zu den bisherigen Lösungsversuchen: Was denken die Beteiligten, was bei den eigenen Lösungsversuchen bisher herausgekommen ist? Durch wen, wie und aus welchem Grund wurden die bisherigen professionellen Maßnahmen beendet? Was haben die Beteiligten aus den bisherigen Hilfsmaßnahmen (von den bisherigen Helfern) gelernt? Was kritisieren sie und was hat ihnen gefehlt?

–Hinweise zur Dokumentation von Sichtweisen: Die Informationen, die wir bei der Erfragung der Sichtweisen erhalten haben, können in der Legende zur Familien-Helfer-Map dokumentiert werden.

Zur eigenen Haltung beim Erfragen von Sichtweisen

Die mitgeteilten Sichtweisen werden unterschiedlich sein und sich manchmal sogar widersprechen. Aus dem Blickwinkel verschiedener Beteiligter sehen die gleichen Dinge eben oft ganz verschieden aus. Hier ist unsere eigene Haltung im Gespräch wichtig, damit die Gesprächssituation gelingt.

–Wir dürfen selbst keine Angst haben vor diesen unterschiedlichen, oft sogar widersprüchlichen Sichtweisen und vor der Disharmonie, ja vielleicht sogar Erregung oder Feindseligkeit, die dadurch zwischen den Beteiligten entstehen kann.

–Wir benötigen eine innere Haltung und Überzeugung, dass die Unterschiede in den Sichtweisen wertvoll und interessant sind und alle Beteiligten daraus lernen können.

–Wir brauchen eine innere Haltung, die vermittelt, dass unterschiedliche Sichtweisen – selbst bei Menschen, die sich nahestehen – selbstverständlich und natürlich sind.

–Wir müssen selbst überzeugt sein, dass alle Sichtweisen ihre Berechtigung haben, es keine richtigen oder falschen gibt, sondern alle gleichermaßen gültig sind.

Als Helfer, der aktiv nach den verschiedenen Sichtweisen gefragt hat, haben wir auch eine Verantwortung für die Gesprächssituation und dafür, was zwischen den Beteiligten daraus erwächst. Deshalb ist es wichtig, die beschriebenen Haltungen deutlich gegenüber den Anwesenden zu vertreten und als Grundlage des Gesprächs einzuführen. Wir schaffen damit einen Raum, in dem Verschiedenheiten und Gegensätze nicht sofort zu Unterstellungen, Kampf, Sieg oder Niederlage führen, sondern nebeneinanderstehen dürfen, um kennen gelernt und betrachtet zu werden. Dazu kann es auch nötig sein zu intervenieren, wenn Teilnehmer versuchen, andere Sichtweisen abzuwerten oder jemanden als Lügner zu bezeichnen, weil er die Dinge einfach nur anders sieht.

Die Unterschiede sollen in ihren jeweiligen Hintergründen und Konsequenzen bedacht werden können. Dies muss uns zumindest ansatzweise gelingen,

–damit die Menschen nach dem Gespräch nicht mit mehr Problemen belastet sind als vorher;

–damit eine Arbeitsgrundlage entsteht, in der Unterschiede im Erleben, in den Interessen und im Handeln der Beteiligten bearbeitbar sind;

–weil diese Situation ein Vertrauenstest für uns Helfer ist. Ist der Helfer in der Lage, für jede Sicht der Dinge Platz zu bieten, ohne negativen Folgen für den Einzelnen? Gerade diese Frage ist für die Beteiligten wichtig, und der Helfer muss sich in dieser Hinsicht bewähren.

Hintergrund: Unterschiede sind Information – Information ermöglicht Veränderung

Hierbei handelt es sich um einen fundamentalen systemischen Glaubenssatz. Als Systemiker gehen wir davon aus, dass es wertvoll ist, Unterschiede zu erfassen, weil diese als Information verstanden werden, die Systeme anregen kann, sich zu verändern.

Jede Information bezeichnet einen Unterschied. Die Aussage »Der Himmel ist blau« ist nur möglich, weil wir anderes wahrnehmen, das nicht blau ist. Der Begriff »Himmel« erhält nur dadurch seinen Sinn, dass wir andere Dinge beobachten, die eben nicht »Himmel« sind, also Verschiedenheit zum Umfeld kenntlich macht. Die Sufis haben eine schöne Analogie, die diesen Gedanken beinhaltet: »Wenn du etwas über das Wasser erfahren willst, dann darfst du keinen Fisch fragen.« Erst die Erfahrung von anderen Zuständen als Wasser macht es möglich, die Qualität des Wassers zu beschreiben. Eine Erfahrung, die Fische selten überleben!

Tom Waits drückt in zwei Zeilen seiner »San Diego Serenade« diesen Zusammenhang zwar lyrisch, aber ebenso präzise aus: »I never saw my hometown until I stayed away too long.« »I never saw the east coast until I moved to the west.«

Wodurch ändern sich soziale Systeme? Soziale Systeme ändern sich in der Regel durch Ereignisse (Geburten, Hochzeiten, Krankheiten, Trennungen, Wohnortwechsel, Veränderungen der Umwelt etc.) und nicht durch Beratung. Sie ändern sich aber auch dadurch, dass ihre Mitglieder etwas anders machen als bisher, etwas verändern! Genau darauf setzen wir in Beratungen. Wir versuchen auf die Betroffenen so einzuwirken, dass diese in der Lage sind, etwas anderes zu machen. Das können sie nur, wenn sie etwas neu und anders sehen als bisher, wenn sie ihre bisherigen Sichtweisen mindestens ansatzweise aufgeben und neue entwickeln. Dazu brauchen die Systeme, mit denen wir arbeiten, neue Informationen. Weil aber Information Unterschied ist, interessieren wir uns für die Unterschiede in den Sichtweisen der Mitglieder des Systems. Wir produzieren sogar aktiv alternative Sichtweisen, formulieren selbst neue Sichtweisen oder fragen so, dass Mitglieder des Systems neue Einsichten entwickeln können. Deshalb sind die Fragen zu den unterschiedlichen Sichtweisen so wesentlich und mindestens so wichtig wie die Fragen zu den Fakten.

Das Erfragen der Sichtweisen hinsichtlich des Informationsgewinns ist besonders ergiebig, wenn man weniger direkte Fragen stellt, sondern zirkulär fragt (vgl. ausführlich S. 211 ff., Kap. 5.3.1).

Noch mehr Sichtweisen bedeuten manchmal noch mehr neue Information. Deshalb ist es auch hilfreich, Sichtweisen von Personen zu erfragen, die gar nicht unmittelbar beteiligt, aber dennoch wichtig für einzelne Mitglieder des Systems sind.

Was sagt wohl die Großmutter mütterlicherseits dazu, was das Problem ist und wer was tun muss? Wenn der Pfarrer Ihrer Gemeinde sagen würde, wie eine gute Lösung aussähe, was würde er sagen?

Eine solche Arbeit nennt man auch »Einbeziehung von Zeugen« (vgl. S. 254, Kap. 5.5).

2.4 Vom Kontakt zum Kontrakt: Erstkontakte

Unabhängig davon wie in einem Arbeitsfeld eine Explorationsphase gestaltet wird, ein Erstkontakt wird dazugehören. Für solche Erstkontakte schlagen wir einen Gesprächsleitfaden vor. Erstinterviews oder Einstiegsphasen am Anfang einer Abhandlung oder einer Ausbildung zur systemischen Arbeit vorzustellen, beinhaltet ein Problem. Im Erstinterview und der Einstiegsphase kommt all das zum Einsatz, was an Interventionen, Sichtweisen, inneren Einstellungen und Haltungen sowie Techniken zum systemischen Arbeiten gehört. Das muss erst nach und nach erworben werden; deshalb kann das Folgende für den Lernenden nur Anregung und erste Orientierung sein und muss mit den Inhalten vor allem des 5. Kapitels gefüllt werden.

2.4.1 Gesprächsaufbau und mögliche Fragen

Einen ersten Kontakt mit einem Klienten oder einem Klientensystem kann man in folgende Gesprächsphasen gliedern:

a) Joining, Anwärmphase, Vorstellung des Beraters und seiner Organisation,

b) Überweisungskontext und Anliegen klären,

c) Ressourcen, Problem- und Lösungskontexte explorieren,

d) Kontraktabschluss,

e) Auswertung des Erstkontaktes.

Der Gesprächsleitfaden und auch die Vorschläge zu Fragen sollen anregen, die eigene Form, Erstkontakte zu gestalten, durch systemische Aspekte zu erweitern. Dabei halten wir es nicht für sinnvoll, alle aufgeführten Fragerichtungen im Erstkontakt anzuwenden. Entsprechend den ersten intuitiven Hypothesenbildungen können einzelne Bereiche vertieft und andere weggelassen werden. Je nach Setting können einzelne Phasen und Fragerichtungen auch über mehrere Termine und längere Zeiträume verteilt werden. Oder es kann sein, dass mehrere Erstgespräche mit den verschiedenen Mitgliedern des Systems in unterschiedlicher Zusammensetzung sinnvoll sind.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang manchmal vom Klienten und manchmal vom Klientensystem, weil sich der Leitfaden in unserer Praxis sowohl für die Arbeit mit Einzelklienten wie auch Klientensystemen (Familien, Gruppen, Teams) bewährt.

2.4.2 Joining: Anwärmen, Kennen lernen und Vorstellen

Joining bedeutet soviel wie Kontakt herstellen, Ankoppeln, die Klienten dort abholen, wo sie stehen. Wir bemühen uns um eine Atmosphäre, die es allen Beteiligten erlaubt, miteinander warm zu werden, und wir erkunden, wodurch wir Zugang zu den Klienten erhalten.

Eine Möglichkeit: Zunächst geht es um mehr oder weniger belanglosen Smalltalk. Danach können wir mit Themen und Fragen weitermachen, die dem gegenseitigen Kennen lernen dienen. Gegenseitig meint: Nicht nur wir wollen das Klientensystem kennen lernen, sondern auch die Klienten sollen etwas über unseren persönlichen und vor allem auch institutionellen Hintergrund erfahren.

Aufgaben und Bedeutung des Joining im Einzelnen:

–Die Klienten kommen auch innerlich in der Beratungssituation an (die Seele braucht dafür manchmal länger als der Körper). Sie können sich auf den Raum, die Beraterin, die Situation einstellen.

–Die Beraterin übernimmt aktiv die Rolle der Gastgeberin und gestaltet die Atmosphäre und das Gespräch.

–Die Beraterin stimmt sich auf die Wellenlänge der Klienten ein, lernt ihre Sprache kennen. Dabei achtet sie auf Körpersprache, Sitzordnung, Sitzhaltung, Sprachniveau, Schlüsselworte. Wir können uns auf diese Art dem Stil der Klienten ein wenig anpassen (pacing), um dann hinsichtlich der Gesprächsstruktur und den Fragen die Führung (leading) zu übernehmen.

–Auch unter professionellen Aspekten ist zu beachten, dass sich Menschen hier zum ersten Mal begegnen. Wer in einer neuen Situation mit fremden Menschen erst einmal etwas gesagt hat, der hat es einfacher, weiter ins Gespräch zu kommen.

–Wir legen die Schwelle für jedes Familienmitglied in der neuen Situation möglichst tief und nehmen zu allen persönlich Kontakt auf.

–Die Klienten zeigen sich in ihrer ersten Selbstdarstellung nicht gleich als Problemträger, sondern als Menschen mit Ressourcen und Fähigkeiten, die im Leben stehen.

–Durch bewusstes Einbeziehen der Kinder machen wir deutlich: Auch Kinder und ihre Sichtweisen zählen hier.

Beispiele:

–Die Beraterin nimmt sich Zeit für einige Minuten Smalltalk und gestaltet entsprechend die Situation:Wie war der Weg? War die Einrichtung gut zu finden? War es stressig, den Termin wahrzunehmen? Die Beraterin erzählt etwas Entsprechendes von sich.

–Klienten sind nicht mit Problemen gleichzusetzen: Sie haben Berufe, verleben Freizeit, haben Hobbys und andere Ressourcen, die es gilt kennen zu lernen. Jedem, auch den Kindern, kann die Beraterin Fragen zu positiven Aspekten seines Lebens, seiner Alltagsorganisation, seiner Interessen, seiner Ansichten stellen. Es sollte dabei um Bereiche und Themen gehen, die vorzugsweise Spaß machen.

–An die Eltern:Was ist Ihr Beruf? Was macht man da so? Was macht Ihnen daran Spaß? Wie machen Sie das mit der Kinderbetreuung nachmittags? Wie gefällt Ihnen Ihre Wohngegend? Was tun Sie so in Ihrer Freizeit? Welche Hobbys haben die Familienmitglieder? Wie verbringen Sie Ihre Urlaube?

–An die Kinder:Was machst du nachmittags am liebsten? Was ist dein Lieblingsfach in der Schule? Treibst du Sport? Wo? Wie läuft das? Hast du Freunde? Gehst du gern in den Kindergarten oder in die Schule? Was ist dein Lieblingsspiel? Wer ist dein bester Freund?

Eine kurze Vorstellung des Beraters und seiner Institution ist in der Regel sinnvoll, da Klienten meist wenig über ihre Arbeitsweise und ihre Aufgaben wissen, dies aber von sich aus selten thematisieren. Der Berater erzählt den Klienten:

–wo sie sich gerade befinden;

–wie die Institution arbeitet, über den Aufgabenbereich und die Rolle des Beraters, die Vernetzung mit anderen Stellen, die Schweigepflicht, über die persönliche Gestaltung der beruflichen Aufgabe durch den Berater;

–welche Kontrollaufgaben, gesetzlichen, gerichtlichen und anderen Aufträge der Berater hat, wann er Informationen weitergeben und wie er das mit den Klienten kommunizieren wird;

–wer das alles bezahlt und trägt – und warum.

2.4.3 Überweisungskontext, Aufträge und Anliegen klären

Eine Voraussetzung für den Kontraktabschluss mit dem Klientensystem ist die Erfassung der Aufträge. Wir unterscheiden hier:

–Erwartungen in Bezug auf das Erstinterview,

–Aufträge der Überweisenden hinsichtlich der Hilfe,

–Aufträge der Anwesenden in Bezug auf die Hilfe.

Die beiden letzten Punkte werden wir möglicherweise am Ende des Erstinterviews noch einmal vertiefen müssen, wenn der Kontrakt für die weitere Zusammenarbeit zwischen Klientensystem und Berater geschlossen wird. Wie weit es möglich ist, Aufträge schon an dieser Stelle zu behandeln, hängt ganz wesentlich vom Klientensystem ab. Manche Klienten stehen unter erheblichem Druck, möglichst schnell über das zu berichten, was sie belastet, was für sie das »wirkliche« Problem ist. Wenn wir diesen Druck bemerken, sollten wir nicht all zu sehr auf unserer Systematik des Gesprächs beharren und diese beiden Punkte später aufgreifen. Die Klienten sollen in erster Linie das Gefühl entwickeln, mit ihren Anliegen bei uns aufgehoben zu sein.

An dieser Stelle geht es uns darum, Anregungen zu geben, wie Erwartungen und Aufträge erst einmal erfasst werden können. Es gibt durchaus problematische Auftragskonstellationen: Aufträge, die unerfüllbar sind, solche die widersprüchlich und verdeckt sind, jeder im System kann etwas anderes wollen. Wir diskutieren im Kapitel 4.1.3 (S. 112 ff.) ausführlich verschiedene Auftragskonstellationen und stellen Lösungen für den Umgang damit vor.

Beispielfragen, um die Erwartungen der Anwesenden an das Erstinterview zu erkunden:

–Auf welchen Zeitrahmen haben Sie sich für unser Treffen eingestellt?

–Was sind Ihre Erwartungen an unser Treffen heute? Woran würden Sie am Ende des Treffens merken, dass sich Ihre Erwartungen erfüllt haben? (Konkrete Beschreibung des Klienten erfragen!)

–Was sollte heute aus Ihrer Sicht auf keinen Fall passieren?

–Was erwarten Sie von mir als Berater beim ersten Treffen?

Auch der Berater teilt mit, wie er sich zeitlich und organisatorisch den Erstkontakt vorstellt und was er mit welcher Zielsetzung besprechen möchte.

Punkte für sinnvolle Vereinbarungen zwischen Klienten und Berater zum Erstkontakt:

–Wie lange dauert das Erstgespräch? Wer erfährt über Inhalt und Ergebnisse?

–Worauf lassen Klienten und Berater sich beim ersten Treffen ein und worauf nicht?

–Wofür fühlt sich der Berater bei diesem ersten Treffen zuständig, was übernimmt er und was nicht?

–Was soll am Ende des Treffens erreicht sein und was nicht?

Erfassung des Überweisungskontextes und der Aufträge