Systemwechsel jetzt - Markus Schratter - E-Book

Systemwechsel jetzt E-Book

Markus Schratter

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Beschreibung

Als politisch interessierter Beamter beobachtet Markus Schratter den Staat seit zwanzig Jahren von innen. In diesem Buch sagt er: Ein Systemwechsel steht bevor. Wir haben jetzt vielleicht noch die Chance, ihn im gesamtgesellschaftlichen Sinn zu gestalten. Ansonsten entsteht eine Oligarchie, in der rechts- oder linkspopulistische Kräfte von der Dauerkrise profitieren.

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SYSTEMWECHSEL JETZT

Markus Schratter:

Systemwechsel jetzt

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Europa

12345—27262524

ISBN: 978-3-99001-701-2

eISBN: 978-3-99001-702-9

MARKUS SCHRATTER

SYSTEMWECHSEL Jetzt!

Wie wir die Republik aufs Spiel setzen

Die letzte Chance zur Rettung der Demokratie

edition a

INHALT

Erster Teil:Das Ende eines Systems

Zweiter Teil:Aufstieg, Blüte und Niedergang von Systemen

Dritter Teil:Systemwechsel jetzt

Glossar

Weiterführende Literatur und Materialien

Gewidmet

den politischen Parteien der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Vorbemerkung

Das politische System hat sich in den letzten Jahren verändert. Und es wird sich weiter verändern. Zahlreiche Krisen scheinen sich aneinanderzureihen: Wirtschaftskrisen, Arbeitskräftemangel trotz immer größerer Bevölkerungszahlen, Migrationskrisen, Europaskepsis, Wissenschaftsskepsis, Demokratieverdrossenheit und so weiter. Dauernd ist die Rede davon, diese Krisen bekämpfen zu müssen, oder aber sie werden verleugnet. Auf die Idee, dass all dies bloß Symptome und Folgen einer ganz anderen, eigenen Krise sind, kommt man nicht. Die Krise, ja Katastrophe des politischen Systems wird nicht erkannt und nicht thematisiert.

Es handelt sich hierbei um meine persönlichen Betrachtungen und Gedanken zum Staat. Ich habe sie als Staatsbürger niedergeschrieben, als Staatsbürger, der sich immer als zoon politikon einer Politeia betrachtete und als solcher dem Staat dienen wollte. Irgendein tief verwurzeltes Gefühl in mir hielt mich davon ab, Parteien zu dienen. Es war der Staat, der für mich stets an oberster Stelle stand. So rückte ich nach der Matura im Alter von 17 Jahren als Einjährig-Freiwilliger beim Bundesheer ein. Und stellte mich danach – gegen alle innerfamiliären Sorgen – dem Polizeidienst. Das Jus-Studium begann ich erst mit 25 Jahren. In die Parteipolitik fand ich noch später, mit 34 Jahren. All diese Schritte und Wege ließen mich nicht nur, wie ich es ursprünglich vorhatte, den Staat kennenlernen, sondern völlig unbeabsichtigt auch die Satelliten, die um ihn kreisen und auf ihn wirken: die Parteipolitik, die Wissenschaft, die Universitäten, die Medien und so weiter.

Nach insgesamt fast 21 Jahren Staatsdienst und politischer Beobachtung dominieren in mir zwei Schlussfolgerungen:

durch den Dienst für den Staat, mit dem ich mich ja stets identifiziert habe, hatte ich permanent Gelegenheit, mich selbst kennenzulernen und stets kritisch zu hinterfragen (da ja der Staat auch permanent von allen Seiten hinterfragt wird);

der Staat (Cicero: Res publica; Platon: Politeia) ist keine Republik, keine Politeia mehr; daran ist aber nicht der Staat (=die Summe all seiner Bürger) schuld.

Meine Betrachtungen sind keine Suche nach Schuldigen der Vergangenheit und Gegenwart oder nach Schuldigen und Verursachern des Status quo. Die Menschen, die an den Schalthebeln der Macht verantwortlich sind, sind ihrerseits systemischen Zwängen unterworfen. So wollen meine Betrachtungen nichts anderes als einen Erklärungsaspekt liefern, warum wir heute dort stehen, wo wir stehen. Damit wir da auch wieder rauskommen. Und zwar, indem wir eine Fortsetzung dieser Fehler nicht zulassen.

Unsicherheit, Machtkampf, Machtverlust, innen- und geopolitische Instabilität und der Niedergang materieller und ideeller Werte haben in politischen Systemen selten zu Demokratisierung, Liberalisierung und Föderalisierung, sondern zu Autokratisierung, Totalisierung und Zentralisierung geführt. Und oft haben die Menschen, die in so einem Veränderungsprozess gefangen waren, diesen nicht erkannt. Und ein anderer Teil wollte nicht, dass man ihn erkennt, weil man sonst ihre Macht und ihre Legitimation zur Macht hinterfragen könnte.

Wem ich für die Möglichkeit, den Staat und seine derzeitigen Akteure wirklich kennenzulernen und darüber Betrachtungen anzustellen, zu danken habe, sagt die Widmung. Ebendort finden sich einerseits die Verursacher von Zu- und Missständen sowie Problemen, wie auch die Urheberschaft für den gegenwärtigen (im Gange befindlichen) Systemwechsel. Andererseits sind in der Widmung jene genannt, bei denen die (letzte?) Möglichkeit für die Bewältigung dieser Herausforderungen liegt, sei es, weil sie die Macht in Händen haben (werden) oder weil wir aus ihren Fehlern in der Vergangenheit lernen können.

Und so widmet sich der Erste Teil den aktuellen und möglichen Entwicklungen und Gefahren. Manche, die ihn gelesen haben, sehen in ihm eine mögliche nahe Zukunft, andere sind fest davon überzeugt, dass es sich um Realitäten der Gegenwart beziehungsweise der nahen Vergangenheit handelt. Für alle aber wirkt er dystopisch. Wie ich diesen Ersten Teil letztlich einordne, geht aus seinen letzten Zeilen hervor. Der Zweite Teil widmet sich den Gefahren der Vergangenheit, die schon mal radikale Systemumbrüche verursacht haben. Der Dritte Teil stellt den Perspektiventeil dar. Permanent die im Zweiten Teil umrissenen geschichtlichen Entwicklungen im Hinterkopf behaltend, greift der Dritte Teil bekannte, aber immer öfter ignorierte Leitsätze aus der Staatstheorie und Ethikphilosophie auf. Diese Gesamtbetrachtung half mir im Sinne der Chronologie der drei Teile:

die Symptome einzuordnen und zu verstehen, warum wir dort stehen, wo wir stehen;

einzuschätzen, was die Zukunft bringen könnte, wenn wir so weitermachen;

die Ursachen der Symptome zu erkennen und zu benennen.

Denn die Diagnose ist immer die Voraussetzung für den Heilungsprozess.

Erster Teil:

DAS ENDE EINES SYSTEMS

»Nur weil du dich nicht für Politik interessierst, heißt das noch lange nicht, dass die Politik sich nicht für dich interessiert.«

Perikles

Dissident in einer Demokratie

Das ungeprüfte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden. Alles soll hinterfragt werden. Das war die Auffassung des altgriechischen Philosophen Sokrates. Sokrates wurde in einer bestehenden Demokratie zum Dissidenten, weil er die Mächtigen und ihre Motive hinterfragte. Diese »Demokratie« ließ ihn daher festsetzen und zwang ihn, sich mit Gift das Leben zu nehmen.

Dieser erste Teil meiner zusammengefassten persönlichen Betrachtungen und Gedanken ist meine Zwischenbilanz nach mehr als zwei Jahrzehnten politischer Beobachtungen, bei denen mir über zwanzig Jahre Staatsdienst viel erhellt haben. Diese Beobachtungen sind für mich aber nicht nur ein Blick in die Vergangenheit und Gegenwart, sondern vielmehr werfen sie für mich die Frage nach der Zukunft auf. Und mit jedem einzelnen der über zwanzig Jahre wurde mir bewusster, dass sie mir nicht nur Antworten auf die Frage meiner eigenen Zukunft geben, sondern auch auf die Zukunft anderer Menschen, auf die sich das System, für das ich lebe und arbeite und dessen Veränderungen ich direkter und ohne die Filter von »Öffentlichkeitsarbeit« und »Außenwahrnehmung« erleben darf, ebenfalls auswirken wird.

Die Bilanz, meine ersten Gedanken, scheinen im Hier und Jetzt zu beginnen. Immer mehr habe ich das Gefühl, dass Menschen, Medien, Politiker nun erkennen und kundtun, was sich für mich schon vor Jahren angekündigt hat. Etwas, dass ich noch nicht in Worte fassen konnte oder wollte, weil es mich als völlig surreal und absurd abschreckte. Ein Hier und Jetzt, das scheinbar abschreckt und doch nur der Anfang von etwas Neuem sein könnte. Aber auch ein Hier und Jetzt, das neue Wege aufzeichnet, da es inzwischen für viele abschreckend genug ist, dass es offensichtlich Handlungsbedarf erkennen lässt. Es ist also ein Hier und Jetzt, das mir selbst grotesk und nicht real vorkommt. Das aber auch, angesichts seiner endlich offensichtlichen Abschreckung, zu konstruktiven Erkenntnisängsten und somit zu Veränderungsgedanken führen könnte.

»Stets gehöre ein Mensch zu den Verfolgten und nicht zu den Verfolgern«

Talmud – Bava Kama

Es geht zum Ende

Die Menschen spüren, dass es zu Ende geht. Deshalb sind sie so verhaltensauffällig. Manche sogar wie die Schmeißfliegen im Milchglas. Sie werden immer exaltierter, nehmen sich immer wichtiger, werden immer selbstverliebter, lieben es, jeden Tag vor sich selbst zu posieren, werden aber bei all den schönen Fassaden auch immer skrupelloser anderen gegenüber. Sie spüren, dass sie kämpfen müssen, oder glauben es zumindest. Aber je überschäumender sie werden, desto handlungsunfähiger sind sie, Getriebene ihres eigenen Verhaltens, beschleunigen sie mit ihrem Verhalten die Dynamik der Veränderung. Eine Veränderung, die immer schneller kommt und sich immer weniger aufhalten lässt. Je krampfhafter man versucht, sich der Veränderung in den Weg zu stellen, umso höher türmt sie sich auf. Während die einen immer schneller unsere Welt verändern, sind die anderen wie gelähmt, fast schon im Totstellreflex, in der inneren Emigration, im Burnout, vielleicht auch nur gelangweilt beziehungsweise bemüht, den Frust mit permanentem Feiern durchzutauchen. Auch sie tragen zum Ende bei.

»Es gibt drei Sorten von Menschen: solche, die sich zu Tode sorgen; solche, die sich zu Tode arbeiten; und solche, die sich zu Tode langweilen.«

Winston Churchill

Ist die Demokratie ein Traum?

Man spürt ein Knistern. Jeder spürt, dass sich etwas verändern wird. Jeder spürt, dass sich schon etwas verändert hat. Viele haben ein schlechtes Gefühl, jedenfalls aber ein Gefühl der Unsicherheit oder Ungewissheit. Es kommt etwas Neues. Manche glauben an eine glorreiche Zukunft, man hätte doch schließlich mit seiner Philosophie und Ideologie den Gipfel der Schöpfung erreicht, in der Lage alles und jeden aus der Vergangenheit zu verurteilen und an den Pranger zu stellen. Andere resignieren, viele glauben, dass sie es nicht in der Hand haben, wie die Zukunft sich weiterentwickelt. Einige glauben und hoffen, dass sie etwas verändern können, wenn man nur ihren Drohungen oder Verlockungen endlich Glauben schenkt. In einer Demokratie ist das doch möglich. Wenn man die öffentliche Meinung auf seiner Seite hat, dann kann man etwas verändern. Die Menschen haben dann das Gefühl, dass es um sie geht. Ihre Stimme ist gefragt. Alle paar Jahre dürfen sie entscheiden, wem sie für die nächsten Jahre ihr Vertrauen schenken, um die Dinge ins Gute zu wenden. Man träumt von der Demokratie, in der jeder die Macht hat, etwas zu verändern, freilich in seinem eigenen Sinn. Man liest ja schließlich überall von Demokratie und Menschenrechten und von den politischen Akteuren wird man hofiert. Alle buhlen um einen, überall Tage der offenen Tür und staatliche Institutionen, die einem die lebendige Demokratie, deren Teil man ist, vor Augen führen. Wie könnte dieser Traum denn keine Demokratie sein, wie könnte das denn ein Albtraum sein, in dem alles anders ist als es scheint?

Wird der Traum der Demokratie bedroht?

Und doch hört man schon von allen Seiten, dass dieser Traum bedroht ist. So wie er vor hundert Jahren bedroht wurde, von einer Gefahr, die man nicht gesehen hat, nicht sehen wollte oder schlichtweg verschlafen hat. Man macht sich Sorgen. Bei den nächsten Wahlen? Oder vielleicht doch erst bei den übernächsten Wahlen? Wann wird der Traum der Demokratie ein Ende haben? Um sich davon abzulenken, fokussiert man sich ein wenig auf Symptombehandlung: hier ein paar Tausend Arbeitskräfte mehr, dort ein paar Millionen an Geld mehr und man wird dann schon das Schlimmste abwenden können. Oder einfach noch militanter für seine Gesinnung einstehen. Jeder für die eigene freilich. Noch ist man ja in einer Demokratie, da muss man seine eigene Meinung und Interessen ganz besonders marktschreierisch verkünden. Die Säule der Demokratie steht doch eh noch auf einem soliden Fundament und ist noch tragfähig, die verträgt schon ein wenig untergriffige Angriffe auf andere Menschen, oder?

Vor lauter Träumereien den Albtraum verschlafen?

Ist es gar kein Traum, in dem die Menschen leben, für den es sich zu kämpfen lohnt? War der Traum schon seit geraumer Zeit ein Albtraum, den man nicht wahrhaben wollte? Beziehungsweise mangels persönlicher Betroffenheit nicht bemerkt hat? Wurden längst Menschen an den Pranger gestellt? In Schauprozessen wie einst im Kolosseum den bluthungrigen Massen vorgeführt? In die Erschöpfung getrieben? In den gesellschaftlichen Tod getrieben? In den Freitod getrieben – wie einst Sokrates? Wenn es dann zum Äußersten gekommen ist, dann werden von den einen Nachrufe mit salbungsvollen Worten in tiefer Betroffenheit gestartet. Es werden Etiketten vorgewiesen, damit man als moralisch makellos dasteht. Andere sind noch ärger, sie zeigen sogar offene Begeisterung über das tragische Schicksal von Menschen, die keinen Ausweg mehr hatten.

Die einen sind ja eh glücklich, weil sie sich von ihrer Interessenvertretung oder politischen Partei gut vertreten fühlen. Gewiss, man macht sich Sorgen. Was ist, wenn wir nicht mehr an der Macht sind. Die anderen sind von der Unzufriedenheit abgelenkt. Aber die Unzufriedenheit wird durch die Hoffnung abgemildert, dass wir sicher beim nächsten Mal in der Regierung sind. So kann man sich schön auf reine Machtfragen fokussieren und dabei geflissentlich ignorieren, dass sich manches grundlegend verändert hat: nämlich der Umgang mit Menschen. Und zwar mit Menschen, die anders denken als jene, die an der Macht sind. Es geht nicht um das ganze System des friedlichen Zusammenlebens in einem Gemeinwesen. Es geht um technische Fragen der Macht. Die Auseinandersetzung mit Machtfragen als Selbstzweck ist bequemer, als sich darüber Gedanken zu machen, ob und wie sich unser Gemeinwesen als Ganzes verändert hat und künftig weiter verändern wird. Während man im Traum in der eigenen (wenn auch nur künftigen) Macht schwelgt, kann man in Ruhe den Albtraum verschlafen, wie wir miteinander umgehen, den Albtraum verschlafen, dass die demokratische Republik inzwischen weder Demokratie noch Republik ist.

Was unterscheidet den Staat von einer Räuberbande?

Aber genug von der »hohen Politik«. Wie geht es den Menschen in diesem Traum? Jene, die sich als Staatsbürger fühlten und ein Leben lang Beiträge zum Gemeinwesen geleistet haben. Die kommen plötzlich drauf, dass sie trotzdem Mindestpensionen bekommen, weniger als so mancher, der nicht arbeitet. Dass sie für Schmerzeingriffe und Operationen Monate, wenn nicht Jahre warten müssen. Sie kommen drauf, dass sie mit vierzig Grad Fieber und einer tückischen Infektion, bei der jede Stunde zählt, stundenlang unbehandelt in der Notfallambulanz liegen gelassen werden. Dass sie für die Erstuntersuchung ihres Kindes nach einem Notfall nur mit Intervention, und auch dann erst nach Wochen, einen Termin bekommen. Erfahrene Dienstnehmer kommen drauf, wie Neueinsteiger hofiert, mit allen möglichen Vergünstigungen gelockt werden, während sie selbst bei dreißigjährigen Dienstjubiläen im besten Fall ein zumindest noch druckfrisches Schreiben bekommen. Auch die jungen Neueinsteiger bekommen mit, wie mit den »Alten« umgegangen wird. Viele erfahrene Kräfte werden in die Frühpension, wenn nicht sogar in die Kündigung gemobbt, um der Jugend oder der eigenen Anhängerschaft Platz zu machen. Sie alle und viele mehr fragen sich: ist das noch gerecht?

Was unterscheidet den Staat von einer Räuberbande? Der spätantike Philosoph Augustinus gibt sich in seinem Werk Der Gottesstaat die Antwort auf seine Frage gleich selbst: die Gerechtigkeit!

Das Kastensystem

Die Menschen glauben, dass sie in einer egalitären Gesellschaft leben. Tatsächlich leben sie in einer stark geschichteten, also stratokratischen Gesellschaft. Sie leben in einem Kastensystem. Sie glauben, die Adelstitel der Vergangenheit, abhängig vom Zufall der Geburt, überwunden zu haben. Aber sie leben in einer Gesellschaft, die sich neue Adelstitel gab. Adelstitel, die nicht weniger von Zufällen abhängen. Vom Zufall der Geburt, vom Zufall der Zeitressourcen, vom Zufall, entdeckt worden zu sein, vom Zufall, gerade das richtige Alter zu haben, gerade der richtigen Partei anzugehören und anderen Faktoren. In dieser Kastenpyramide sind diejenigen ganz unten, die in jungen Jahren zu arbeiten beginnen mussten, entweder weil sie aus dem Schulsystem gefallen sind, die finanzielle familiäre Situation es nötig gemacht hat oder aber aus freien Stücken, sich bereits in den Dienst der Gesellschaft gestellt haben, indem sie einen Lehrberuf ergriffen und fleißig in die Systeme eingezahlt haben. Über ihnen stehen diejenigen, die durch den Zufall ressourcenkräftigerer Eltern oder Erziehungsberechtigter sowie ihrer eigenen Veranlagung, zum Beispiel von Lern- und Durchhaltevermögen, eine höherbildende Schule abschließen konnten und über so etwas wie eine Matura verfügen. Über ihnen stehen jene, die durch den Zufall noch besserer Ressourcen im obigen Sinn, einen modernen Adelstitel erwerben konnten, wie zum Beispiel »Bachelor«, »Master« oder »Magister«. Aber auch sie sind noch nicht ganz oben, denn durch die Inflation dieser modernen Adelstitel kann es sein, dass man sich auch als Bachelor oder Master irgendwann wird abrackern müssen, um überleben zu können. Aber wer ist denn dann ganz oben, in dieser reichen und selbstgerechten fiktiven Gesellschaft? Die Kaste der Prominenz und der Politik! Sie brauchen nämlich keine der Voraussetzungen der vorgenannten Stufen. Sie brauchen aber ebenfalls den Zufall. Den Zufall, zur rechten Zeit am rechten Ort eingesetzt zu werden, eine politische Funktion zu bekommen. Oder den Zufall, entdeckt worden zu sein und von konventionellen beziehungsweise sozialen Medien zu Stars hochstilisiert worden zu sein – solange die Halbwertszeit solcher Prominenz nicht abgelaufen ist. Es ist in einer Gesellschaft solcher Oberflächlichkeiten daher nicht zuletzt auch eine Frage des Alters. Zwischen welchen Stufen die Geächteten, Verbannten, Abgestürzten, die »C-Promis« stehen, ist in dieser diffusen Gesellschaft nicht ganz klar. Ganz außerhalb stehen sie jedenfalls noch nicht, solange sie sich ökonomisch beziehungsweise mit medialer Präsenz über Wasser halten können.

DAS NEUE KASTENSYSTEM

Die Aura der Macht

Es ist eine Gesellschaft, in der der Wanderpokal der Macht schon noch übergeben wird, mitunter immer unvermittelter und unvorhersehbarer und in immer kürzeren Intervallen, was manche als Zeichen zunehmender Instabilität werten. Wer diese Macht aber, wenn auch nur kurzfristig, bekommt, sei es durch ein Mandat im Parlament, eine Regierungsposition oder einen Parteivorsitz, strahlt, zumindest zu Beginn, eine gewisse Aura der Macht aus. Die Untergebenen versuchen den neuen Machthabern zu gefallen, um in der Gunst nicht abzustürzen, das Gemeinwesen steht nicht im Vordergrund. Für Kritik von innen ist da nicht viel Platz. Das gilt für innen. Von außen ist es das extreme Gegenteil. Der Machthaber möchte seinerseits gefallen, auch der mediale Verkauf hat Vorrang gegenüber den Interessen des Gemeinwesens oder gegenüber der Solidarität mit der eigentlichen Machtbasis, den Untergebenen. Nach außen und frecherweise auch nach innen wird aber eine heile Welt und Interesse an ihrem Wohlbefinden vorgetäuscht. Wohingegen diejenigen, denen der Machthaber gefallen möchte, immer lauter schimpfen und bei jedem kleinen Anlass, für den der Machthaber mitunter gar nichts kann, sofortigen Rücktritt und am besten gleich auch einen Schauprozess fordern. Es ist also ein Dreieck der Anbiederung, in dem die jeweilige Einbahnstraße der Anbiederung ihren Zweck nicht nur verfehlt, sondern sogar konterkariert.

DIE EINBAHNSTRASSEN DER ANBIEDERUNG

Die Aura der Demokratie

Demokratie ist im fiktiven System der Oberflächlichkeiten voll im Trend. Jeder, der etwas auf sich hält, etikettiert sich mit Demokratie und ihren Errungenschaften wie Freiheit oder Menschenrechte. Mit diesen Begriffen kann man auch verdeckte Absichten kolossal reinwaschen. Denn was ist Demokratie? Demos ist das Volk, kratos ist die Herrschaft. Es wird also ein Begriff bejubelt und glorifiziert, der eine bestimmte Form der Herrschaft beschreibt. Wer sich parteipolitisch engagiert, dem geht es auch um die Mitwirkung an dieser Herrschaft, um die Teilhabe an dieser Macht. In der modernen Massendemokratie hat das ganze Volk gewiss nicht die Herrschaft inne, sondern diese lediglich an Vertreter delegiert. Es ist also eine Regierungs- und Herrschaftsform. Eine Regierungs- und Herrschaftsform also, die zum Selbstzweck hochstilisiert und mit einem Heiligenschein versehen wird, der vielleicht manche blendet, andere verblendet. Denn auch in einer Demokratie gibt es Herrscher und Beherrschte, wobei Erstere die Repräsentanten der Letzteren sind. Die pluralistische, heterogene Demokratie weiß das. Die monistische, homogene Demokratie sieht Herrscher und Beherrschte als Einheit, die einen einheitlichen Volkswillen propagiert, der in einer Erziehungsdiktatur allen aufgezwungen werden kann. Wenn eine Herrschaftsform an sich zum nicht näher erklärten Selbstzweck hochstilisiert wird, kommt es nicht mehr auf Ziel und Zweck dieser Herrschaft an. Sie bedient dann nur mehr sich selbst, sie ist dann auf Erhalt ihrer Herrschaftsinstitutionen aus und fragt nicht mehr nach dem wozu oder nach dem wohin. Sie wird dann zur inhaltsleeren Worthülse, ihre Institutionen wie das Parlament zu einem bloßen Forum des Machterhalts der Akteure, die dort gerade drin sitzen. Eine solcherart blut- und inhaltsleere Demokratie, die keine Strategie, kein höheres Ziel außer sich selbst und auch keine Kraft mehr hat, weil sich die sie beherrschenden Akteure zum Zwecke des eigenen Machterhalts immer mehr zerstreiten, ist in großer Gefahr. Sie kann völlig unhinterfragt derart hochstilisiert werden, als Selbstzweck gerettet werden zu müssen, dass der eine heilsbringende Retter, der sich findet, sie leicht und mitunter unbemerkt in eine Autokratie mit Scheinparlament umwandeln kann.

Das Privileg politischen Engagements

Wer sind denn diejenigen, die hier die Demokratie und ihre Institutionen beherrschen? Jene, die es dem Zufall zu verdanken haben, dass sie oder ihre Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten die Ressourcen aufbringen konnten, sich nach Möglichkeit bereits in jungen Jahren politisch und aktivistisch engagieren zu können, Türklinken zu putzen, um einer Partei so sehr zu gefallen, dass sie ihn oder sie in ein parlamentarisches Mandat, ein Politbüro einer staatlichen Institution oder sogar in eine Regierungsposition hievt. Wo dann die Parteiinteressen zu verteidigen sind und nicht vorrangig jene des Gemeinwesens. Oder anders gefragt: wer kommt denn aller nicht in die Politik? Jene, die sich in der Arbeit für andere aufreiben. Sei es aus finanzieller Notwendigkeit, sei es aus Gemeinwohlorientiertheit. Sei es bei der beruflichen oder privaten Betreuung oder Ausbildung von Kindern, bei der Behandlung, (Erst-)Versorgung, Pflege von Patienten, sei es in der Lebensmittel- oder Grundbedarfsversorgung, sei es in 24-Stunden-Diensten auf der Straße im Dienst für die allgemeine Sicherheit oder im Betrieb für die öffentliche Daseinsvorsorge mit Strom, Wasser oder einem funktionierenden Fern- und Nahverkehrssystem. Welche Rolle spielen diese Menschen ohne das (Zeit-)Privileg, sich politisch engagieren zu können, in der Demokratie? Sie dürfen alle paar Jahre ein Kreuz bei einer politischen Kraft machen, in der Hoffnung und dem Vertrauen, dass sie ihre Interessen, die sich täglich für das Gemeinwohl einsetzen, vertritt, und zwar auf Jahre. Aber es sind dann die Parteigünstlinge, die in die Entscheidungsposten gespült werden und dann diesen für das Gemeinwohl arbeitenden Menschen sagen wollen, wo´s langgeht. Denn gespielt echte Demokraten sind solche Parteigünstlinge meist nur kurz vor den Wahlen, aber nicht in den paar Jahren danach, da wird dann die Maske zumindest gegenüber den Untergebenen fallen gelassen, da zählt dann das Interesse der Partei, die sie dorthin gespült hat, wo sie sind.

Die Getriebenen

All das ist aber kein Grund diese Parteigünstlinge zu beneiden. Denn sie sind Getriebene. Getriebene der Partei, die eine Gegenleistung erwarten darf. Getriebene ihres eigenen Kadavergehorsams. Im besten Fall Getriebene ihres Loyalitätsbewusstseins ihrem Arbeitsbeschaffer, der Partei gegenüber. Eine freie Meinung im Sinne echter Demokratie ist ihnen nicht erlaubt. Brav müssen sie die Fahnen und Symbole ihrer »Bewegung« zur Schau stellen und diese bei jeder Gelegenheit propagieren. Dank der sozialen Medien ist dies nun noch besser, öfter und aufdringlicher möglich – und: es ist besser kontrollier- und steuerbar. Und wenn diese Getriebenen gar eine hohe Regierungsfunktion bekleiden und getreue Leibgardisten an ihrer Seite haben, dann müssen sie auch noch Erfolge liefern, spätestens bis zur nächsten Wahl, damit die Parteiförderungen auch danach noch fließen. Ideal, dass dann die gesamte Staatsdienerschaft einem immer strengeren und abhängigeren Weisungsverhältnis unterliegt, sodass der ganze Staatsapparat dem Parteizweck untergeordnet werden kann. Aber auch das ist nicht angenehm. Es gibt Beamte und sogar Vertragsbedienstete, die alles genau beobachten und dokumentieren und die den Machthabern und ihren Vasallen den Spiegel vorhalten können. Angesichts der immer dynamischeren Spirale der Fluktuation in den Politbüros, tun sie das immer weniger aus parteipolitischer Motivation, denn aus Staatsräson, erkennend, dass die Machtspielchen gemeinwesenzersetzend sind.

Umklammerung von Staat und Gesellschaft

Parteien werden als zentrale Träger der pluralistischen Demokratie wahrgenommen und auch gesetzlich als solche hervorgehoben. Wie also soll eine pluralistische Gesellschaft mit Parteien umgehen, die sich immer öfter gegenseitig der Korruption bezichtigen. Es ist anrüchig geworden parteinah zu sein. Unter rechnungspflichtige Kuratel sind Parteien bereits gestellt – haben sich dem selbst unterstellt. Aber nicht nur sich stellen sie damit unter Kuratel, sondern auch die Bevölkerung. Menschen, die Parteien unterstützen wollen, müssen bereits bei Bagatellbeträgen in Kauf nehmen, dass ihre personenbezogenen Daten im Parteienzusammenhang nachvollzogen werden können. Das Misstrauen gegenüber Parteien ist also perfekt. Wer wird als erster die Frage stellen, was diese misstrauenswürdigen Parteien dann überhaupt noch im Parlament verloren haben? Aber noch hat sich die Parteiendemokratie nicht selbst abgeschafft. Noch dürfen die Parteien das Parlament als Plattform der Darstellung und Selbstdarstellung, der Debatten und der Streitereien, der Reden und der Entscheidungen nützen. Noch dominieren die Parteien über das Parlament jene staatlichen Institutionen, die den Staat kontrollieren dürfen. Noch sind sie da, die Parteien, überall. Ihre Fäden reichen auch gewaltenübergreifend von der Gesetzgebung in die Verwaltung und in die Justiz. Die neue Gewaltenteilung ermöglicht, dass die nominelle Mehrheit im Parlament auch Regierung, Verwaltung, Justiz dominiert und somit in weiterer Folge auch Wirtschaft und Medien wesentlich beeinflusst. Noch sind sie da, die Parteien. Noch räumen die Parteien nach einer Wahlniederlage freiwillig das Feld der Verwaltung, da sie glauben und hoffen dürfen, dass sie wieder zurückkommen und ohnehin im Parlament weiter dem Machtstreben frönen dürfen. Noch ist es keine plebiszitäre Führerdemokratie.

Politiker als kleingeistige Bürokraten

Es sind also Parteimanager und Menschen, die Parteitürklinken geputzt haben, die von der Parteien Gnaden ins Parlament oder in Regierungsfunktionen, beziehungsweise deren Politbüros einziehen dürfen. Sie müssen in Parteikategorien denken, auch wenn sie einen an sich qualifizierenden fachlichen Hintergrund haben. Die große Veränderung, der der Staat und das System ausgesetzt sind, sehen sie nicht, wenn es die Machtbasis der Partei nicht unmittelbar betrifft. Solange die Außenwahrnehmung der Partei nicht getrübt ist, kann alles weiter verwaltet werden, statistische Kleinarbeit geleistet, joviales Wohlwollen hier und überwachender Tadel da verteilt werden. Die Staatsverwaltung dient also dem Parteiwohl, da es aber noch Wahlen gibt irgendwann, muss die Fassade des Gemeinwohlcharakters zumindest aufrecht erhalten werden. Man kann sich daher – jeder in seinem Ressort – wunderbar in irgendwelchen Einzelmaßnahmen verlieren, ohne auf die Idee kommen zu müssen, dass das gesamte Getriebe mit all seinen Zahnrädern bereits ins Stottern geraten ist. Man braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, dass der Austausch einzelner Zahnräder am Multiorganversagen nichts mehr ändern kann und ändern wird. Man kann sich hervorragend auf Symptome fokussieren, ohne einen Gedanken an die Ursachen zu verschwenden.

Politkommissare

Die Erfahrenen sind kritisch. Erfahrung und Kritik sind keine gute Machtbasis für oberflächliche, opportunistische und ideologische Günstlinge. Man muss daher alles daran setzen, die Erfahrenen, die womöglich auch gar nicht die Parteiinteressen, sondern das Gesamtsystem im Kopf haben, zahnlos zu machen. Pragmatisierungen zurückdrängen, Bestellungen hoher Leitungsfunktionen auf Zeit begrenzen und am besten alle paar Monate neu- und umstrukturieren, um Verwirrung und nicht zuletzt Angst zu stiften: wen wird es als Nächsten treffen. Welche Führungskraft wird als Nächste geköpft, welches Team als Nächstes zerschlagen? Wie in der Russischen Revolution oder im Spanischen Bürgerkrieg braucht es Politkommissare, die überwachen, ob eh alle Führungskräfte dem ideologischen Kult hörig sind. Für das Klima der Angst braucht es einen Scharfmacher, der über Leichen geht. Einen Politmanager, der sich nach außen mit dem Tand schöner Worte schmückt. Eiskalte Absägungen und parteiideologische Umstrukturierungen lassen sich schließlich schön mit Euphemismen, wie betriebswirtschaftlich notwendig oder Transparenz oder Effizienz kolossal verschleiern, sodass der Kern der Absicht zumindest nach außen unsichtbar bleibt.

Wissen Sie nicht, dass Sie mit einem Löwen sprechen?

Für das Klima der Angst brauchen wir wieder die Aura der Macht. Und wenn sich diese mit der Aura der Demokratie legitimieren lässt, umso besser. Und damit ist der Legitimationszusammenhang perfekt: Die Aura der Demokratie legitimiert die Aura der Macht. Die Aura der Macht ermöglicht ein Klima der Angst. Und das Klima der Angst ermöglicht die totale Unterordnung der Interessen, zum Beispiel einer (demokratisch legitimierten) Partei. Und so schließt sich das Dreieck des Legitimationszusammenhangs.

Und so schließt sich auch das Teufelsdreieck (volks-) herrschaftlicher Aura. Die Staatsbürger nützen ihr demokratisches Wahlrecht. Sie statten die politischen Repräsentanten mit politisch-staatlicher Macht aus. Mit dieser Aura der (demokratisch legitimierten) Macht wird Macht ausgeübt. Gegenüber dem Staatsapparat, ob im Gesundheitsbereich, in den Schulen oder bei der Polizei. Wenn diese Macht autoritär und zudem (da es ja um Parteiinteressen geht) skrupellos ausgeübt wird, schafft sie bei den Menschen, die im Gemeinwesen, im Staat tätig sind, ein Klima der Angst. Da diese Menschen im Staatsdienst aber keine Kryptoniten von einem andern Stern, sondern selbst Staatsbürger sind, wirkt sich das Klima der Angst, schleichend, aber schließlich doch auf das demokratische System aus, in dem der Staatsbürger der Souverän ist. Das Dreieck volksherrschaftlicher Aura führt somit zunächst schleichend, dann aber, wenn der Machtkampf und der Machtmissbrauch zunehmend offener werden, immer schneller und dramatischer zu einem anderen System.

Ein echter Demokrat – egal, ob mit kommunal-, regional- oder nationalpolitischem Hintergrund – hätte es niemals nötig, einem Untergebenen die drohende Frage zu stellen, ob er nicht wisse, mit wem er redet, vor allem wenn er gerade im ausschließlichen Interesse seiner eigenen Partei handelt. Ein Löwe würde mit solch einer Frage auch niemals seine Autorität unterstreichen.

DAS TEUFELSDREIECK VOLKSHERRSCHAFTLICHER AURA

Bürokratie als Nebelgranate