Talar und Hakenkreuz - Michael Grüttner - E-Book

Talar und Hakenkreuz E-Book

Michael Grüttner

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Beschreibung

Lange Zeit haben sich die deutschen Universitäten vor allem als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft gesehen. Erst allmählich und widerstrebend setzte sich die Einsicht durch, dass das nicht die ganze Geschichte ist. Inzwischen sind zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Universitäten, Disziplinen, Wissenschaftlern erschienen. Michael Grüttner legt mit diesem Buch auf der Grundlage jahrelanger Quellenforschung erstmals eine Gesamtdarstellung zu den Universitäten im Dritten Reich vor. Die 23 Universitäten, die am Ende der Weimarer Republik in Deutschland existierten, waren seit 1933 massiven «Säuberungen» ausgesetzt, die sich vor allem gegen Studierende und Wissenschaftler jüdischer Herkunft richteten. Dieser «Machtergreifung» von oben entsprach eine «Machtergreifung» von unten: Viele Professoren traten in die Partei ein, manche versuchten wie Carl Schmitt und Martin Heidegger, sich als Vordenker des NS-Regimes in Stellung zu bringen. Michael Grüttner schildert eindringlich die erstaunlich geräuschlose Machtübernahme der Nationalsozialisten, analysiert die Hochschulpolitik des Regimes, die sich ganz unterschiedlich auf die verschiedenen Fächer auswirkte, und erklärt, warum die Wissenschaften im Dienst des Nationalsozialismus nicht nur unfreier wurden, sondern mitunter sogar größere Handlungsspielräume besaßen als je zuvor. Ein Epilog zur Nachgeschichte rundet diese souveräne, längst überfällige Gesamtgeschichte ab.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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MICHAEL GRÜTTNER

TALAR UND HAKENKREUZ

Die Universitäten im Dritten Reich

C.H.Beck

Zum Buch

Lange Zeit haben sich die deutschen Universitäten vor allem als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft gesehen. Erst allmählich und widerstrebend setzte sich die Einsicht durch, dass das nicht die ganze Geschichte ist. Seitdem sind zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Universitäten, Disziplinen, Wissenschaftlern erschienen. Michael Grüttner legt mit diesem Buch auf der Grundlage jahrelanger Quellenforschung erstmals eine Gesamtdarstellung zu den Universitäten im Dritten Reich vor.

Die 23 Universitäten, die am Ende der Weimarer Republik in Deutschland existierten, waren seit 1933 massiven «Säuberungen» ausgesetzt, die sich vor allem gegen Studierende und Wissenschaftler jüdischer Herkunft richteten. Dieser «Machtergreifung» von oben entsprach eine «Machtergreifung» von unten: Viele Professoren traten in die Partei ein, manche versuchten wie Carl Schmitt und Martin Heidegger, sich als Vordenker des NS-Regimes in Stellung zu bringen. Michael Grüttner schildert eindringlich die erstaunlich geräuschlose Machtübernahme, beschreibt die nationalsozialistische Hochschulpolitik, die sich ganz unterschiedlich auf die verschiedenen Fächer auswirkte, und erklärt, warum die Wissenschaften im Dienst des Nationalsozialismus nicht nur unfreier wurden, sondern mitunter sogar größere Handlungsspielräume besaßen als je zuvor, etwa bei medizinischen Menschenversuchen. Ein Epilog zur Nachgeschichte rundet diese souveräne, längst überfällige Gesamtgeschichte ab.

Über den Autor

Michael Grüttner lehrte Neuere Geschichte in Hamburg, Berlin und Berkeley. Seit seinem Buch «Studenten im Dritten Reich» (1995) hat er sich intensiv mit den Universitäten im Dritten Reich und der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik beschäftigt. Für den «Gebhardt», das bedeutendste Handbuch der deutschen Geschichte, schrieb er den Band über das Dritte Reich in den Jahren 1933—1939 (2015).

Inhalt

Einleitung

1. Die Universitäten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme

Die Hochschulen in der Weimarer Republik

Professoren und Politik

Juden und Antisemitismus im akademischen Milieu

Die Krise der Universitäten am Ende der Weimarer Republik

2. Die nationalsozialistische Machtübernahme an den Universitäten

Politik der Gleichschaltung

Die Position des Hochschulverbandes

Die Professorenaufrufe von 1933

Die «Säuberung» der Universitäten

Die Hochschullehrer in der Zeitenwende von 1933/34

3. Nationalsozialistische Hochschulpolitik: Strukturen, Ziele und Akteure

Strukturen und Ziele nationalsozialistischer Hochschulpolitik

Das Reichserziehungsministerium (REM)

Der NS-Lehrerbund (NSLB) und die «Dozentenschaften»

Der Stab Heß und die Hochschulkommission der NSDAP

Der NS-Dozentenbund (NSDDB)

Die Dienststelle Rosenberg

Der Einfluss der SS

4. Die Universität im Kraftfeld der Politik

Das Führerprinzip und seine Folgen

Berufungen: Leistung oder Gesinnung?

Schrumpfung und Expansion

Neugründungen: Die Reichsuniversitäten Posen und Straßburg

Die Universität im Krieg

5. Der Lehrkörper

Restriktionen und Chancen: Die Lage des Lehrkörpers seit 1933

Der Professor als Parteigenosse

Die Hochschullehrer und die nationalsozialistische Politik

Hochschullehrer im Nationalsozialismus – eine Typologie

Der wissenschaftliche Nachwuchs

Das Scheitern der Vordenker

6. Wissenschaft

Wissenschaft im NS-Staat

Neue Lehrstühle

Theologie

Rechtswissenschaft

Geisteswissenschaften

Medizin

Naturwissenschaften und Mathematik

Ergebnisse und Schlussüberlegungen

Epilog: Die Nachgeschichte

Dank

Anhang

Verzeichnis der Tabellen

Tabellen im Textteil

Tabellen im Anhang

Tabellen

Verzeichnis der Abkürzungen

Anmerkungen

Einleitung

1. Die Universitäten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme

2. Die nationalsozialistische Machtübernahme an den Universitäten

3. Nationalsozialistische Hochschulpolitik: Strukturen, Ziele und Akteure

4. Die Universität im Kraftfeld der Politik

5. Der Lehrkörper

6. Wissenschaft

Ergebnisse und Schlussüberlegungen

Epilog: Die Nachgeschichte

Tabellen

Quellen und Literatur

Personenregister

Ortsregister

Einleitung

Die Universitäten blicken auf eine fast tausendjährige Vergangenheit zurück und gehören damit zu den langlebigsten Institutionen der europäischen Geschichte. Ihre Bedeutung hat im Laufe der Zeit immer mehr zugenommen. Nie zuvor war die Zahl der Universitäten, der Lehrenden und der Studierenden so groß wie in der Gegenwart. Die im 19. und 20. Jahrhundert entstehenden Forschungsuniversitäten verstanden sich als Orte der Aufklärung oder definierten sich sogar als «Hüterinnen von Wahrheit und Gerechtigkeit», wie es 1919 in einer öffentlichen Erklärung der deutschen Universitäten hieß.[1] Die vorliegende Untersuchung stellt die Frage, wie sich Einrichtungen, die mit einem so ambitionierten Selbstbild ausgestattet waren, in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur verhalten haben.

In den fast 80 Jahren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen sind, hatten es die Universitäten im Allgemeinen und die Historiker im Besonderen nicht eilig, sich mit dieser Frage näher auseinanderzusetzen. Das änderte sich in den 1990er Jahren, als erstmals zahlreiche Studien zur Geschichte verschiedener Hochschulen, Fakultäten und Institute oder auch einzelner Disziplinen und Hochschullehrer im Nationalsozialismus publiziert wurden. Eine Gesamtdarstellung der Universitätsgeschichte im Nationalsozialismus fehlte jedoch bislang.

Mehrere Anläufe sind in der Vergangenheit gescheitert. Einen besonders ehrgeizigen Versuch startete der Historiker Helmut Heiber, ein langjähriger Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, der in den 1990er Jahren eine fünfteilige Geschichte der Universität unterm Hakenkreuz ankündigte. Das Mammutprojekt wurde indes schon nach Publikation der Teile I und II eingestellt.[2] Die drei veröffentlichten Bände mit einem Gesamtumfang von über 2000 Seiten zeichnen sich durch eine beeindruckende Kenntnis der Quellen aus, aber auch durch die erkennbare Freude des Verfassers, das gefundene Material weitgehend ungefiltert, gern in anekdotischer Form, zu präsentieren, und durch den Unwillen, die Darstellung durch Fragestellungen, Thesen oder Typologien zu strukturieren. Heibers Werk ist daher ein monumentales Fragment geblieben, das aufgrund seiner Materialfülle für die weitere Forschung dennoch unverzichtbar ist.

Die Fragestellungen, Schwerpunkte und Narrative der Forschung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. In der älteren Literatur wurden die Universitäten zumeist als ein mehr oder weniger passives Objekt oder sogar als Opfer des NS-Regimes wahrgenommen. Es dominierte die Einschätzung, dass letztlich nur wenige «wirkliche» Nationalsozialisten in den Lehrkörper der Universitäten gelangt seien. Die Mehrheit der Wissenschaftler habe ihre traditionelle Arbeit fortgesetzt, als sei nichts geschehen. Die Frage nach der Anpassung der Wissenschaft an das NS-Regime beschränkte sich in der Regel auf die ideologische Anpassung. Vorherrschend war ferner die Deutung des Nationalsozialismus als eine wissenschaftsfeindliche Ideologie. Das neue medizinische Paradigma der Eugenik und die verbrecherischen Humanexperimente, die während des Krieges an KZ-Häftlingen oder Kriegsgefangenen stattfanden, wurden als «Pseudowissenschaft» deklariert und damit aus der Wissenschaftsgeschichte ausgegliedert.

Das war nicht alles falsch. Keine andere staatliche Institution wurde nach der nationalsozialistischen Machtübernahme so stark durch politisch motivierte «Säuberungen» dezimiert wie die Universitäten. Zudem erfuhren die Hochschulen nach 1933 einen erheblichen Verlust an Autonomie. Gleichwohl sind die Universitäten keineswegs nur Objekte nationalsozialistischer Herrschaft gewesen. Die Gleichschaltung der Hochschulen wurde 1933/34 nicht allein von außen vorangetrieben, sondern auch von innen. Und es waren nicht nur die Studierenden, die sich daran beteiligten, sondern auch Teile des Lehrkörpers. Die zahlreichen Parteieintritte von Hochschullehrern schon im Frühjahr 1933 sprechen eine deutliche Sprache. In allen wissenschaftlichen Disziplinen exponierten sich Hochschullehrer 1933/34 als aktivistische Vordenker einer neuen, nationalsozialistischen Wissenschaft.

Selbstverständlich ist auch die Frage, wie weit die NS-Ideologie Eingang in die universitäre Wissenschaft gefunden hat, sinnvoll, ja sogar notwendig. Allerdings war die ideologische Anpassung keineswegs so selten, wie lange Zeit behauptet wurde, und sie war nicht der einzige Weg, um als Wissenschaftler dem Regime zuzuarbeiten. Auch eine Forschung, die sich weiterhin traditionellen fachlichen Standards verpflichtet fühlte, konnte für die neuen Machthaber von großem Nutzen sein, wenn sie mit politischen Zielen des Nationalsozialismus wie Aufrüstung oder Autarkie im Einklang stand.

Gegen die behauptete Wissenschaftsfeindlichkeit des Nazi-Regimes spricht die simple Tatsache, dass die staatlichen Aufwendungen für die Wissenschaft seit 1933 nicht reduziert, sondern aufgestockt wurden. Der Nationalsozialismus stand der wissenschaftlichen Forschung nicht grundsätzlich feindselig gegenüber, wollte aber eine Wissenschaft, die seinen politischen Zielen diente. Es gibt auch keine vernünftigen Gründe, die Institutionalisierung der Eugenik oder tödlich verlaufende Humanexperimente pauschal als pseudowissenschaftlich abzutun. Die Eugenik war 1933 bereits eine international etablierte Strömung, und bei den medizinischen Versuchen mit unfreiwilligen Versuchspersonen handelte es sich um Forschungen, deren Problematik nicht in ihrer Unwissenschaftlichkeit lag, sondern in der brutalen Missachtung ethischer Regeln und Grenzen, die 1931 vom deutschen Staat klar definiert worden waren.

In der jüngeren Forschung erfreut sich der Begriff «Selbstmobilisierung» großer Popularität – ein Begriff, der auch in dieser Arbeit benutzt wird, weil er die Bereitschaft von Wissenschaftlern kennzeichnet, die eigene Forschung auf die politischen Bestrebungen des Regimes auszurichten. Ursprünglich bezog sich dieser Terminus auf die Bemühungen von Hochschullehrern in der zweiten Kriegshälfte, die Natur- und Technikwissenschaften stärker für die Rüstungsforschung einzusetzen.[3] In den vergangenen Jahren ist daraus in manchen Arbeiten ein Schlüsselbegriff geworden, der die Handlungsweise von Hochschullehrern und Wissenschaftlern während des Dritten Reiches generell charakterisieren soll. Diese Ausweitung ist jedoch nicht unproblematisch, weil sie den Eindruck erweckt, dass das Verhalten von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus durchweg auf Eigeninitiative und Freiwilligkeit basierte. Eine solche Sichtweise läuft leicht darauf hinaus, den diktatorischen Charakter des Regimes und die massiven Anpassungszwänge, denen insbesondere der wissenschaftliche Nachwuchs ausgesetzt war, herunterzuspielen.[4]

Die vorliegende Studie ist die erste Gesamtdarstellung der deutschen Universitätsgeschichte im Nationalsozialismus. Sie basiert gleichermaßen auf langwieriger Arbeit in den Archiven wie auf der Auswertung der wissenschaftlichen Literatur. Forschungsgegenstand sind die 23 Universitäten, die am Ende der Weimarer Republik in Deutschland existierten, ferner die vier Universitäten, die 1938/39 im Zuge der nationalsozialistischen Expansionspolitik Teil des deutschen Universitätssystems wurden (Wien, Innsbruck, Graz, Prag), und schließlich zwei kurzlebige Neugründungen, die Reichsuniversitäten Posen und Straßburg. Die Technischen Hochschulen, die damals noch keinen Universitätsstatus hatten, bleiben unberücksichtigt, ebenso die Handelshochschulen, Kunsthochschulen, Musikhochschulen, Landwirtschaftlichen Hochschulen und Bergakademien. Nur am Rande wird das Schicksal der nichtdeutschen Universitäten in den von Deutschland besetzten Ländern behandelt, die zum Teil unter veränderten Bedingungen weiterarbeiten konnten, zum Teil geschlossen wurden, mitunter aber im Untergrund aktiv geblieben sind.

Die Struktur des Buches basiert auf folgenden Überlegungen: Universitätsgeschichte lässt sich in drei Bereiche aufgliedern, den institutionellen, den personellen und den fachwissenschaftlichen.[5] Die institutionelle Ebene zerfällt wiederum in zwei Teilbereiche, zum einen die verschiedenen Institutionen, die innerhalb und außerhalb der Universitäten als hochschulpolitische Akteure hervortraten, zum anderen die Universität selbst als eine hierarchisch gegliederte, der Lehre und Forschung gewidmete Einrichtung. Die personelle Ebene umfasst sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden. Da über die Studierenden in der Zeit des Dritten Reiches bereits seit längerer Zeit eine umfangreiche Studie vorliegt,[6] kann die folgende Darstellung sich auf das wissenschaftliche Personal, insbesondere auf den Lehrkörper konzentrieren. Auf der fachwissenschaftlichen Ebene gilt es, zwischen den Fakultäten und Fächern zu differenzieren, die sich während der NS-Diktatur sehr unterschiedlich entwickelten. In einer Studie über die Universitäten im Dritten Reich ist es außerdem unabdingbar, die Ausgangslage, also den Zustand der Universitäten am Ende der Weimarer Republik, sowie die Phase der «Machtergreifung» 1933/34 und die Nachgeschichte bis in die 1950er Jahre hinein genauer zu betrachten. Daraus ergab sich eine Gliederung des Buches in sechs Hauptkapitel:

Das erste Kapitel liefert einen Überblick über die deutsche Universitätslandschaft in der Endphase der Weimarer Republik. Die deutschen Universitäten waren ausnahmslos staatliche Institutionen, die aber ein relativ hohes Maß an Autonomie genossen. Politisch waren sie geprägt durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs und die vehemente Ablehnung des Versailler Vertrages, hochschulpolitisch durch die Herrschaft der Ordinarien, an der sich trotz einiger Reformen in den Anfängen der Weimarer Republik nur wenig geändert hatte. Besondere Aufmerksamkeit gilt den jüdischen Hochschullehrern, die an einigen Universitäten eine bedeutende Rolle spielten, an anderen dagegen im Lehrkörper überhaupt nicht vertreten waren. Die vorliegende Untersuchung liefert dazu erstmals genaue Zahlen für sämtliche deutschen Universitäten. Schließlich wird die multiple Krise der Hochschulen am Ende der Weimarer Republik analysiert.

Das zweite Kapitel thematisiert die Phase der nationalsozialistischen Machtübernahme. Die Gleichschaltung der Universitäten wird hier als ein doppelter Prozess begriffen, zum einen als eine «Machtergreifung» von oben, die hauptsächlich von der Ministerialbürokratie ausging, zum anderen als «Machtergreifung» von unten, die von Universitätsangehörigen getragen wurde. Es wird gefragt, warum die Integration der Hochschulen in das NS-Regime sich ohne größere Konflikte und weitgehend geräuschlos vollziehen konnte. Ein wichtiger Teilaspekt ist die nationalsozialistische «Säuberung» der Universitäten, die den Lehrkörper erheblich dezimierte: Wer waren die Opfer dieser Politik und was wurde aus ihnen? Wie reagierte die Mehrheit der nicht betroffenen Hochschullehrer auf diese Maßnahmen?

Das dritte Kapitel untersucht die nationalsozialistische Hochschulpolitik und identifiziert zunächst die Ziele dieser Politik. Danach werden die wichtigsten hochschulpolitischen Akteure vorgestellt, das Reichserziehungsministerium, der NS-Lehrerbund, die Hochschulkommission der NSDAP, der Stab Heß bzw. die Parteikanzlei, der NS-Dozentenbund, das Amt Rosenberg und diverse Dienststellen der SS. Es war typisch für die im Hochschulbereich besonders stark ausgeprägten polykratischen Strukturen, dass viele dieser Akteure zumindest zeitweise versuchten, eine dominante Rolle in der Hochschulpolitik einzunehmen, und sich dabei untereinander in heftige Konflikte verstrickten, die gern mit Hilfe von Denunziationen und Intrigen ausgetragen wurden.

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels steht die Frage, welche strukturellen Veränderungen an den deutschen Hochschulen zwischen 1933 und 1945 stattfanden. Zu diesen Veränderungen gehörten die Abschaffung universitärer Wahlen, die Einführung des «Führerprinzips» und die neue Macht nationalsozialistischer Parteifunktionäre, die schon bald in allen Universitätsgremien vertreten waren und bei Personalentscheidungen die «politische Zuverlässigkeit» der Kandidaten zu überprüfen hatten. Besonderes Augenmerk gilt dem Berufungsverfahren, denn hier zeigte sich ein hochschulpolitisches Grundproblem jeder Diktatur, die Frage nach einer angemessenen Gewichtung fachlicher und politischer Gesichtspunkte bei Personalentscheidungen.

Im Zentrum des fünften Kapitels steht die Frage, wie die deutschen Hochschullehrer zum Nationalsozialismus standen. Einen weiteren Schwerpunkt der Darstellung bilden die Anpassungszwänge, denen vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs ausgesetzt war. Ausführlich geschildert wird der Aufstieg und Fall jener Wissenschaftler, die – wie Carl Schmitt oder Martin Heidegger – versuchten, sich als Vordenker des Nationalsozialismus in Stellung zu bringen. Ein weiteres Thema ist die sich wandelnde Einstellung des Regimes gegenüber Hochschullehrerinnen. Ferner werden Gründe benannt für die abnehmende Attraktivität des Hochschullehrerberufs, die in zahlreichen Fächern zu Nachwuchsmangel führte. Schließlich geht es in diesem und im folgenden Kapitel darum, das Spektrum an Verhaltensmöglichkeiten zwischen nationalsozialistischem Aktivismus und Widerstand gegen das Regime auszuloten.

Thema des sechsten Kapitels ist die Frage, inwieweit die Wissenschaft im Dienst des Nationalsozialismus gestanden hat. Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus wird erörtert, welche universitären Disziplinen vom NS-Regime besonders gefördert wurden. Weiter werden die Veränderungen skizziert, die sich seit 1933 in den Fakultäten vollzogen. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, die Entwicklung sämtlicher Disziplinen zu untersuchen, konzentriert sich die Darstellung auf die wichtigsten Fakultäten und ihre Kernfächer. Dabei werden sehr unterschiedliche Entwicklungen in den einzelnen Fakultäten erkennbar. Allgemeine Aussagen über «die» Wissenschaft im Dritten Reich lassen sich daher nur schwer treffen. Die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch den Nationalsozialismus gerät in diesem Kapitel ebenso in den Blick wie die Tatsache, dass manchen Wissenschaftlern durch die während des Krieges stattfindende moralische Entgrenzung der Forschung sogar größere Spielräume gewährt wurden als zuvor.

Der Schlussteil fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammen und behandelt darüber hinaus die kontroverse Frage, wie (in)effizient die nationalsozialistische Hochschulpolitik gegenüber den Universitäten letztlich gewesen ist. Ein Epilog analysiert die Nachgeschichte des Nationalsozialismus seit Kriegsende und schildert den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Universitäten in beiden deutschen Staaten.

Hochschule und Politik werden in dieser Studie als zwei unterschiedliche, aber durch ständige Wechselwirkung miteinander verbundene und aufeinander angewiesene Sphären gesehen.[7] Bei der Analyse dieses Verhältnisses geht es nicht nur darum, inwieweit die Politik die Wissenschaft beeinflusst hat, sondern auch umgekehrt um die Frage, welchen Einfluss die Wissenschaft auf die Politik nahm. Zweifellos griff die Politik in der nationalsozialistischen Diktatur viel stärker in das Innenleben der Universitäten ein als in einer liberalen Demokratie. Gleichwohl wurde die Entwicklung universitärer Wissenschaft selbst im Dritten Reich keineswegs nur von außen gesteuert. Tatsächlich kann angesichts der polykratischen Struktur der Hochschul- und Wissenschaftspolitik von einer systematischen Lenkung der Hochschulen im Nationalsozialismus nur bedingt gesprochen werden.

Die Quellenlage zum Thema ist uneinheitlich. Die Akten des Amtes Wissenschaft im Reichserziehungsministerium sind 1943 teilweise einem Bombenangriff zum Opfer gefallen; nach Kriegsende kam es zu weiteren Zerstörungen. Gleichwohl bilden die verbliebenen Unterlagen dieses Bestandes, die heute im Bundesarchiv Berlin lagern (Bestand R 4901), die wichtigste Grundlage dieses Buches. Ergänzend wurden außerdem Akten der Kultusministerien und der Hochschulverwaltungen von Preußen, Baden, Thüringen und Hamburg eingesehen, die sich im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem (Bestand Rep. 76) sowie im Generallandesarchiv Karlsruhe (Bestand 235), im Hauptstaatsarchiv Weimar und im Staatsarchiv Hamburg befinden. Sehr viel schlechter ist die Quellenlage für die mit Hochschulpolitik befassten Parteistellen. Die Hochschulkommission der NSDAP hat keinen archivierten Aktenbestand hinterlassen, und die wenigen im Bundesarchiv einsehbaren Restakten der Reichsleitung des NS-Dozentenbundes (Bestand NS 55) sind ausgesprochen kümmerlich. Doch sind die Unterlagen der lokalen Dozentenbundführungen, die bei Kriegsende fast überall vernichtet wurden, zumindest in zwei Universitätsarchiven (Jena und Frankfurt) teilweise erhalten geblieben und für diese Arbeit ausgewertet worden. Auch die Akten der Dienststelle des Parteiideologen Alfred Rosenberg konnten, soweit sie den Krieg überstanden haben, im Bundesarchiv Berlin (Bestände NS 8 und NS 15) eingesehen werden. Gleiches gilt für das Archiv der Reichsstudentenführung, das lange Zeit im Staatsarchiv Würzburg aufbewahrt wurde und sich heute ebenfalls im Bundesarchiv Berlin (Bestand NS 38) befindet. Exemplarisch wurden außerdem die für das Thema relevanten Unterlagen der Universitätsarchive in Berlin, Hamburg und Jena durchgesehen. Die meisten Professorenmemoiren, in denen die NS-Zeit thematisiert wird, sind als Quellen auffallend dürftig. Andere verfügbare Ego-Dokumente, etwa Briefeditionen oder Tagebücher, die in den letzten Jahren publiziert worden sind, ermöglichen dagegen einen aufschlussreichen Einblick in das Innenleben der Universitäten und ergänzen die Lektüre der Archivalien sinnvoll.

Bei der Bezeichnung von Gruppen wird dort, wo sich noch keine geschlechtsneutrale Formulierung (Studierende) durchgesetzt hat, meist das generische Maskulinum verwendet. Wenn im Folgenden also von Hochschullehrern und Professoren die Rede ist, sind stets nicht nur Männer, sondern sämtliche Angehörige des Lehrkörpers gemeint. Stattdessen stets von «Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern» zu sprechen, würde – bei einem Frauenanteil von etwa 1 Prozent im Lehrkörper der deutschen Universitäten – ein falsches Bild der historischen Realität vermitteln.

Die langwierige Arbeit in den Archiven geriet an einem trüben Novembertag unversehens zu einem Abstecher in die eigene Familiengeschichte. In einer Akte des Bundesarchivs[8] stieß ich auf ein Schriftstück aus dem Jahre 1944, das eine Denunziation meiner Mutter enthielt, die damals als zwanzigjährige Medizinstudentin an der Universität Hamburg immatrikuliert war. Die Denunziantin, eine Kommilitonin meiner Mutter, berichtete über ihre «negative politische Einstellung» und ihre «krasse Ablehnung» des Regimes, vor allem aber über ihr Bedauern, nachdem das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 missglückt war, «denn Hitler führe uns nur zum Untergang». Diese Vorwürfe, die im Kern zutreffend waren, hätten in der damaligen Zeit durchaus den Kopf kosten können. Meine Mutter hatte jedoch Glück im Unglück: Zwar kam sie aufgrund der Denunziation sofort in Haft. Aber der zuständige Staatsanwalt hatte die Zeichen der Zeit erkannt und sorgte dafür, dass sie nach einigen Monaten Untersuchungshaft aufgrund ihrer sich verschlechternden Gesundheit Haftverschonung erhielt. Ihr und allen anderen Angehörigen deutscher und europäischer Universitäten, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus gelitten haben, ist dieses Buch gewidmet.

1. Die Universitäten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme

Die Hochschulen in der Weimarer Republik

Hochschulpolitik war in der Weimarer Republik wie schon im Kaiserreich Ländersache. Die Hochschulen unterstanden nicht der Aufsicht einer Reichsbehörde, sondern den Kultusministerien der einzelnen Länder. Die regelmäßig stattfindenden Hochschulkonferenzen der Länder und des Reiches sorgten jedoch für eine gewisse Koordination der hochschulpolitischen Aktivitäten.[1] Da die meisten deutschen Universitäten – 12 von 23 – auf preußischem Boden standen,[2] wirkte zudem die Hochschulpolitik des preußischen Kultusministeriums in der Regel für die anderen Länder richtungweisend. Bayern verfügte über drei Universitäten (München, Würzburg, Erlangen), Baden über zwei (Heidelberg, Freiburg). Jeweils eine Universität hatten die Länder Sachsen (Leipzig), Württemberg (Tübingen), Thüringen (Jena), Hessen (Gießen), Mecklenburg-Schwerin (Rostock) und Hamburg.

Das hierarchische Gefälle zwischen den einzelnen Universitäten war in Deutschland weniger markant ausgeprägt als in den USA.[3] Gleichwohl gab es drei Universitäten, die sich in Bezug auf ihr Prestige und ihre Größe deutlich von den anderen abhoben: Berlin, München und Leipzig.[4] Diese drei Universitäten beriefen im Allgemeinen keine wissenschaftlichen Newcomer auf ihre Lehrstühle, sondern Professoren, die sich an anderen Hochschulen bereits wissenschaftlich bewährt und als Ordinarien etabliert hatten. Wer auf einen ordentlichen Lehrstuhl in Berlin, München oder Leipzig berufen worden war, wechselte in der Regel nicht mehr an eine andere Universität, sondern lehrte und forschte dort bis zur Emeritierung. Von den Zeitgenossen und von der Forschung sind diese drei Universitäten daher als «Schlussuniversitäten» oder als «Endstationsuniversitäten» bezeichnet worden.[5]

Die deutschen Universitäten waren staatliche Institutionen. Wichtige Entscheidungen, etwa über die Einrichtung neuer Lehrstühle oder Berufungen, konnten nicht ohne die Genehmigung der Kultusministerien gefällt werden. Dennoch verfügten die Hochschulen während der Weimarer Republik über ein relativ hohes Maß an Autonomie. Bei Berufungen gingen die Fakultäten davon aus, dass ihre Vorschläge vom zuständigen Ministerium akzeptiert werden würden, und in der Regel geschah dies auch.[6] Nur selten versuchte ein Kultusminister, gegen den erklärten Willen der Fakultäten eine konfrontative Personalpolitik zu betreiben. Das bekannteste Beispiel war der Sozialist Max Greil, der von 1921 bis 1924 das Volksbildungsministerium in Thüringen leitete und in dieser Zeit an der Universität Jena eine Reihe von politisch motivierten Berufungen durchsetzte.[7]

Die an den deutschen Universitäten tätigen Hochschullehrer (Professoren und Privatdozenten) bildeten um 1932 eine relativ kleine Gruppe von insgesamt rund 5400 Personen. Einschließlich der Lektoren, Lehrbeauftragten und sonstigen Lehrkräfte bestand der Lehrkörper sämtlicher Universitäten im Wintersemester 1932/33 aus 6140 Wissenschaftlern, darunter 74 Frauen.[8]

Als wichtigste Voraussetzung für den Beruf des Hochschullehrers hatte sich seit dem Kaiserreich die Habilitation durchgesetzt, eine Hochschulprüfung, mit der die Lehrbefugnis (venia legendi) für ein bestimmtes Fach verliehen wurde. Voraussetzung war in der Regel die Erstellung einer zweiten größeren wissenschaftlichen Arbeit (nach der Dissertation).[9] Die Habilitation erfolgte im Schnitt sieben Jahre nach der Promotion. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Habilitation, das 1880 noch bei 29 Jahren gelegen hatte, stieg während der Weimarer Republik auf 33 Jahre. Die Verleihung der Lehrbefugnis war an den meisten Universitäten ausschließlich Angelegenheit der Fakultäten. In einigen Ländern (Bayern, Thüringen, Württemberg, Mecklenburg-Schwerin) lag die ultimative Entscheidung über die Habilitation beim zuständigen Ministerium.[10]

Während die Rangunterschiede zwischen den einzelnen Hochschulen in Deutschland eine geringere Rolle spielten als in den USA oder Großbritannien, war die Hierarchie innerhalb des Lehrkörpers, insbesondere die Differenz zwischen Ordinarien und Nichtordinarien, stärker ausgeprägt.[11] Die Hochschullehrerschaft teilte sich während der 1920er Jahre in sechs verschiedene Statusgruppen: ordentliche Professoren, persönliche Ordinarien, beamtete und nichtbeamtete außerordentliche Professoren, Privatdozenten und Honorarprofessoren.

Im Zentrum des Lehrkörpers standen die ordentlichen Professoren (Ordinarien). Sie beherrschten die wichtigsten Universitätsgremien, und aus ihren Reihen rekrutierte sich das Führungspersonal der Hochschulen, der Rektor und die Dekane. Carl Heinrich Becker, der einflussreichste Bildungspolitiker der Weimarer Republik, hat die Machtposition der Ordinarien 1919 aus guten Gründen als «nahezu absolutistisch» bezeichnet.[12] Ordinarien waren Beamte, sie verfügten aber bei der Ausübung ihres Berufes – ähnlich wie Richter – über ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Gegenüber anderen Beamtenkategorien genossen sie einige wichtige Privilegien: Sie hatten keine Vorgesetzten, konnten nicht gegen ihren Willen versetzt werden, und sie wurden nicht pensioniert, sondern emeritiert. Als Emeriti bezogen sie weiterhin ihr volles Grundgehalt und besaßen das Recht, ihre Lehrtätigkeit unvermindert fortzuführen.

Neben den Ordinarien existierte noch eine kleinere Gruppe von planmäßigen Hochschullehrern, die beamteten außerordentlichen Professoren (Extraordinarien). Wie die ordentlichen Professoren hatten sie eine Lebenszeitstellung mit festem Einkommen. Ihr Verdienst und ihr hochschulpolitischer Einfluss waren jedoch geringer als der der Ordinarien. Zwischen Ordinarien und Extraordinarien stand der persönliche Ordinarius, der alle Rechte eines ordentlichen Professors besaß, aber nur das Gehalt eines Extraordinarius bezog.

Die übrigen Hochschullehrergruppen – Privatdozenten, nichtbeamtete Professoren und Honorarprofessoren – sind oft als «inoffizieller Lehrkörper» bezeichnet worden. Sie waren vielfach nur lose mit der Hochschule assoziiert und bezogen aus ihrer Lehrtätigkeit in der Regel kein festes Einkommen. Bei den Privatdozenten handelte es sich zumeist um jüngere Hochschullehrer, die mit der Habilitation ihre Befähigung zur Professur unter Beweis gestellt hatten. Privatdozenten hatten das Recht und die Pflicht, regelmäßig Lehrveranstaltungen anzubieten, ohne dass damit ein festes Einkommen verbunden war. Sechs Jahre nach der Habilitation konnten sie normalerweise mit der Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor rechnen. Ihr unsicherer Status veränderte sich dadurch nicht. Privatdozenten und nichtbeamtete Professoren stellten den Kreis der Anwärter für eine ordentliche Professur. Eine sechste Gruppe bildeten die Honorarprofessoren. Seit den 1920er Jahren wurde dieser Titel zumeist an wissenschaftlich qualifizierte Praktiker verliehen, deren Hauptberuf außerhalb der Hochschule lag.[13]

Nicht zu den Hochschullehrern zählte das übrige wissenschaftliche Personal: Lektoren, Lehrbeauftragte und nichthabilitierte Assistenten. Lektoren waren in der Regel als Sprachlehrer tätig. Viele von ihnen waren demzufolge Ausländer oder hatten einen Migrationshintergrund. Lehrbeauftragte beschäftigten sich in ihren Lehrveranstaltungen meist mit Spezialthemen, die vom regulären Lehrkörper nicht ausreichend abgedeckt wurden. Oft handelte es sich bei ihnen, ähnlich wie bei den Honorarprofessoren, um wissenschaftlich qualifizierte Praktiker aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik.

Assistenten wurden in den Jahren der Weimarer Republik hauptsächlich in den medizinischen und naturwissenschaftlichen Fächern beschäftigt. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts dienten Assistentenstellen zunehmend der Ausbildung des Nachwuchses, der über Promotion und Habilitation eine wissenschaftliche Karriere anstrebte.[14] Während der Weimarer Republik wurden Assistentenstellen oft mit bereits habilitierten Wissenschaftlern besetzt, die dadurch die lange – und vielfach vergebliche – Wartezeit auf einen Lehrstuhl finanziell leichter durchstehen konnten. Anders als in der Gegenwart boten nichthabilitierte Assistenten keine eigenen Lehrveranstaltungen an. Assistenten hatten befristete Zeitverträge. Kontinuierliche Vertragsverlängerungen, die sich manchmal über ein oder zwei Jahrzehnte erstreckten, waren aber keineswegs ungewöhnlich.[15]

Kennzeichnend für die Lage der meisten Assistenten war ihr stark personalisiertes Abhängigkeitsverhältnis zu einem Ordinarius, das manchmal weit in das Privatleben hineinreichte. Vor allem an den Medizinischen Fakultäten wurde von den Assistenten verlangt, die ihnen zur Verfügung stehende Zeit nahezu vollständig der Klinik zu widmen. Eine Verlobung oder gar eine Heirat galt als «legitimer Kündigungsgrund». Wer sich dennoch verlobte, tat dies heimlich, um seine Stellung nicht zu gefährden.[16] Der Philosoph Karl Löwith beschrieb die «typische Assistentenfigur an deutschen Universitätsseminaren» rückblickend als «beflissen und streberhaft, subaltern und kleinbürgerlich».[17]

Auch in materieller Hinsicht waren die Unterschiede zwischen den verschiedenen Statusgruppen des Universitätsbetriebes beträchtlich. An der Berliner Universität, deren Professoren ein vergleichsweise hohes Einkommen hatten, lag der durchschnittliche Jahresverdienst eines Ordinarius 1927 bei 25.500 Reichsmark (RM). Dagegen verdiente ein planmäßiger Extraordinarius im Schnitt nur 16.500 RM pro Jahr. Planmäßige Assistenten der Berliner Universität hatten 1928 im Schnitt einen Jahresverdienst von 6500 RM. Das entsprach etwa einem Viertel des durchschnittlichen Jahresverdienstes eines Ordinarius. Zum Vergleich: Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die im Dienst der Friedrich-Wilhelms-Universität standen, verdienten im Schnitt 2366 RM. Von einer großbürgerlichen Existenzweise wurde dagegen (nach einer zeitgenössischen Definition von Werner Sombart) bei einem Jahreseinkommen von mehr als 30.000 RM gesprochen.[18]

Wie hoch der individuelle Verdienst der einzelnen Professoren tatsächlich war, hing ganz wesentlich von der Höhe der Kolleggelder (Vorlesungshonorare) ab. Diese wiederum stiegen und fielen mit der Anzahl der Studierenden, welche die Lehrveranstaltungen besuchten und dafür bezahlen mussten. Wer ein Orchideenfach vertrat, das wenige Hörer anzog, bekam daher nur minimale Kolleggelder. Auf der anderen Seite erhielten manche Vertreter großer Fächer, in deren Vorlesungen Hunderte von Studierenden strömten, Kolleggelder, die noch über dem Grundgehalt lagen. Diese Differenz konnte jedoch durch Kolleggeldgarantien, das heißt durch staatlich garantierte Mindesteinnahmen an Kolleggeldern, verringert werden.[19] Unter den 88 ordentlichen Professoren der Berliner Universität befanden sich 1927 neun Großverdiener, meist Juristen oder Mediziner, deren Jahresverdienst über 40.000 RM lag. Ihnen standen 17 weitere Ordinarien gegenüber, deren jährliche Gesamtbezüge wegen geringer Vorlesungshonorare weniger als 18.000 RM betrugen.[20]

Überwiegend rekrutierten die Hochschullehrer sich in der Weimarer Republik aus dem Bürgertum. Anfang der 1930er Jahre ging fast die Hälfte von ihnen aus dem Bildungsbürgertum hervor, mit Vätern, die Professoren, Gymnasiallehrer, höhere Beamte, Juristen, Lehrer oder Pfarrer waren. Etwa 8 bis 9 Prozent stammten aus dem Besitzbürgertum. Rund ein Drittel kam aus Familien, die den alten und neuen Mittelschichten zugerechnet werden können. Kinder aus den Unterschichten waren im Lehrkörper der deutschen Hochschulen während der Weimarer Republik fast überhaupt nicht vertreten. Lediglich 1 Prozent der Hochschullehrer wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Allerdings gab es deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Fakultäten. Während im Lehrkörper der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten ein hohes Maß an sozialer Exklusivität herrschte, waren soziale Aufsteiger in den Katholisch-Theologischen Fakultäten häufiger vertreten.[21]

Obwohl Frauen seit 1919 über die Möglichkeit verfügten, sich zu habilitieren, blieb die Zahl der Hochschullehrerinnen gering. Die verfassungsrechtliche Gleichstellung der Frauen in der Weimarer Republik bedeutete noch nicht das Ende ihrer Diskriminierung an den Universitäten. Vielfach wurden an Frauen offenkundig andere Maßstäbe angelegt als an Männer. So lehnte die Philosophische Fakultät München 1932 die Zulassung einer Philosophin zur Habilitation mit der Begründung ab, «dass für weibliche Bewerber besonders scharfe Bedingungen gestellt sind, vor allem, um sie von dem Beginn einer aussichtslosen Laufbahn fern zu halten». Man wolle, so hieß es weiter, «um der Frauen willen diese nicht in die Konkurrenz hineinziehen».[22]

Am Ende der Weimarer Republik stellten Frauen gerade 1,2 Prozent des Lehrpersonals der deutschen Universitäten. An vier Universitäten (Erlangen, Königsberg, Münster, Tübingen) bestand die Dozentenschaft noch im Wintersemester 1932/33 ausschließlich aus Männern. Überdurchschnittlich viele Dozentinnen lehrten dagegen in Berlin, Heidelberg, Jena, Gießen und vor allem in Hamburg.[23] Weder in der Weimarer Republik noch im Dritten Reich konnten habilitierte Wissenschaftlerinnen ernsthaft darauf hoffen, jemals die Spitze der Hochschullehrerhierarchie, ein Ordinariat, zu erreichen. Bis 1945 erhielt nur eine einzige Frau – die Pädagogin Mathilde Vaerting in Jena – einen ordentlichen Lehrstuhl an einer deutschen Universität. Ihre Berufung erfolgte gegen den erbitterten Widerstand der Universität.[24]

Für diese erste Generation von Hochschullehrerinnen lief die Berufswahl im Regelfall auf eine zölibatäre Lebensweise hinaus. 1925 hatten 9 von 45 Hochschullehrerinnen einen Ehepartner.[25] Ganz ungewöhnlich war zur damaligen Zeit noch ein Forscherpaar wie die Historiker Otto Hintze und Hedwig Guggenheimer, zumal die spätere Hedwig Hintze auch nach der Heirat ihre wissenschaftliche Karriere fortsetzte (sie habilitierte sich 1928 in Berlin) und sich nicht auf eine diskrete Hintergrundexistenz als Ehefrau und wissenschaftliche Hilfskraft ihres Mannes beschränkte.[26] Innerhalb der Historikerzunft sorgte dieses Verhalten für erheblichen Unmut.[27]

Exakte Angaben zur Religionszugehörigkeit der Universitätslehrerschaft liegen nur für die preußischen Universitäten vor (Tabelle 1). Sie zeigen vor allem die Dominanz eines protestantisch geprägten Bildungsbürgertums innerhalb der akademischen Elite.[28] Bei einem Bevölkerungsanteil von 64,1 Prozent stellten Protestanten nahezu drei Viertel des Lehrkörpers an preußischen Universitäten. Überrepräsentiert waren auch jüdische Wissenschaftler, die 8,8 Prozent des Lehrkörpers stellten (bei einem Bevölkerungsanteil von 0,9 Prozent). Katholiken blieben demgegenüber deutlich unterrepräsentiert. Obwohl fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung katholisch war, gehörten nur 16,7 Prozent der preußischen Hochschullehrer der katholischen Kirche an. Selbst in Zentren des deutschen Katholizismus wie Köln, Bonn oder Münster bestand der Lehrkörper der Universitäten mehrheitlich aus Protestanten.[29] Diese Konstellation war wohl nicht das Ergebnis einer Diskriminierung katholischer Wissenschaftler, sondern primär Ausdruck der Bildungsferne großer Teile des deutschen Katholizismus. Manches spricht sogar dafür, dass Katholiken in Preußen zwischen 1919 und 1933 bevorzugt berufen wurden.[30]

Tabelle 1:  Die Religionszugehörigkeit der Hochschullehrer an den preußischen Universitäten nach Statusgruppen, 1924[31]

Status

Evang.

Kath.

Jüdisch

Andere

Zusammen

abs.

in %

abs.

in %

abs.

in %

abs.

in %

abs.

in %

Planmäßige Prof.

770

78,0

168

17,0

39

4,0

10

1,0

987

100

Nichtbeamtete Prof.

350

68,1

63

12,3

97

18,9

4

0,8

514

100

Privatdozenten

379

70,1

110

20,3

43

7,9

9

1,7

541

100

Zusammen

1499

73,4

341

16,7

179

8,8

23

1,1

2042

100

Trotz der grundlegenden Veränderungen, die sich seit 1918 in der deutschen Politik vollzogen, blieb die organisatorische Struktur der Universitäten bemerkenswert konstant. Sie war geprägt von einer relativ schwachen Position der zentralen Stellen und einer weitreichenden Autonomie der einzelnen Fakultäten.[32] Sowohl der Rektor als auch der Universitätssenat hatten nur geringe Kompetenzen. Weder wurden sie regelmäßig über die Entscheidungsprozesse innerhalb der Fakultäten informiert, noch hatten sie das Recht, Beschlüsse der Fakultäten zu korrigieren. Der Universitätssenat als Leitungsgremium der Hochschule war für alle wichtigen Fragen zuständig, die außerhalb der Fakultätskompetenzen lagen. Der Rektor sorgte als Vorsitzender des Senats für die Umsetzung der Senatsbeschlüsse, verfügte außerdem über das Hausrecht und repräsentierte die Universität nach außen. Wenn in Konfliktzeiten rasche Entscheidungen zu treffen waren, konnte der Rektor durchaus an Statur gewinnen, aber im Regelfall war er schon aufgrund seiner kurzen Amtszeit – das Rektorat dauerte in der Weimarer Republik nur ein Jahr – nie mehr als ein Primus inter Pares. Da eine Wiederwahl auch erfolgreicher Rektoren nicht vorgesehen war, mussten sie – so das sarkastische Fazit des Staatswissenschaftlers Ludwig Bernhard – ihr Amt immer dann aufgeben, «wenn sie den komplizierten Mechanismus der Gesamtorganisation einigermaßen verstanden» hatten.[33] Als nebenamtlicher juristischer Berater des Rektors oder des Kurators agierten der Universitätsrat beziehungsweise der Universitätssyndikus. Sie spielten zudem eine wichtige Rolle in der studentischen Disziplinargerichtsbarkeit.

Zu den Besonderheiten der preußischen Universitäten gehörte das Amt des Kurators. Die Kuratoren waren die Vertreter des Kultusministeriums an den einzelnen Universitäten und als solche insbesondere für die Haushaltsplanung zuständig. Durch ihre Hände ging die gesamte Korrespondenz zwischen Universität und Ministerium. Vor Ort, an den Hochschulen, hatten die Kuratoren wenige Fürsprecher. Sie galten als lästiges Aufsichtsorgan des Ministeriums und als Hemmnis für eine wirkliche Selbstverwaltung der Universitäten. Auf den preußischen Rektorenkonferenzen und auf Veranstaltungen des Hochschulverbandes wurde in den Anfangsjahren der Weimarer Republik mehrfach die Abschaffung der Kuratoren gefordert.[34]

Die Fakultäten umfassten im weiteren Sinne alle Lehrkräfte und Studierenden der in der Fakultät vertretenen Fächer. Demgegenüber bildeten die engeren Fakultäten die wichtigsten Entscheidungsorgane der Universität. Sie entschieden über Promotion und Habilitation, waren für die Vollständigkeit des Lehrangebots verantwortlich und hatten das Recht, dem Ministerium Vorschläge zur Besetzung von Lehrstühlen und zur Ernennung von Honorarprofessoren oder nichtbeamteten außerordentlichen Professoren vorzulegen. Den Vorsitz führte der Dekan, der jeweils für ein Jahr gewählt wurde. Die Fakultäten funktionierten nach dem Prinzip der Ordinariendemokratie: Sämtliche Entscheidungen von Bedeutung fielen auf Sitzungen der engeren Fakultät, der alle ordentlichen Professoren angehörten. Selbst die Benotung von Dissertationen wurde per Abstimmung festgelegt, obwohl die große Mehrheit der Anwesenden nie in die zu beurteilende Arbeit hineingeschaut hatte.[35] Der Ausschluss der Nichtordinarien aus den Selbstverwaltungsgremien der meisten Universitäten führte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zu einer intensiven Debatte über die Reform der Hochschulen. Das Resultat dieser Diskussion waren neue Richtlinien und Statuten, die dafür sorgten, dass auch einige Vertreter der Nichtordinarien in die engeren Fakultäten einzogen. An der Vorherrschaft der Ordinarien änderte sich dadurch nichts. Die Studierenden waren in den engeren Fakultäten nicht vertreten.

Beim Blick auf die fachliche Struktur der Universitäten in der Weimarer Republik fällt vor allem die herausragende Stellung der Geisteswissenschaften auf. Unter den 1943 Hochschullehrern, die 1931 eine beamtete Professur – als Ordinarien oder Extraordinarien – hatten, vertraten 25 Prozent eine geisteswissenschaftliche Disziplin. Etwas geringer war die Zahl der Lehrstuhlinhaber in den medizinischen (23,9 Prozent) und in den naturwissenschaftlichen (20,7 Prozent) Disziplinen. Danach folgten mit deutlichem Abstand die Juristen (10,3 Prozent), die Wirtschaftswissenschaftler (4,3 Prozent), die evangelischen Theologen (6,7 Prozent) und schließlich mit 3,9 Prozent die katholischen Theologen.[36]

Das Studium war gemäß den zeitgenössischen Vorstellungen von «akademischer Freiheit» – wie schon im Kaiserreich – wenig strukturiert. In den Jahren zwischen Studienbeginn und Examen blieb es im Wesentlichen den Studierenden überlassen, welche Lehrveranstaltungen sie besuchten und wie intensiv sie studierten. Zwischenprüfungen, regelmäßige Klausuren oder andere Formen der Leistungskontrolle waren in den meisten Fächern unbekannt oder ließen sich relativ leicht umgehen. Gewiss gab es Unterschiede zwischen den verschiedenen Fächern. So war das Medizinstudium mit seinen Pflichtvorlesungen und der ärztlichen Vorprüfung nach dem fünften Semester vergleichsweise stark reglementiert. Für die meisten deutschen Studierenden eröffnete sich aber mit dem Beginn des Studiums die Aussicht auf eine Zeit großer Unabhängigkeit. Dieses System sollte die Fähigkeit fördern, ohne äußeren Zwang eigenständig zu arbeiten. Kritiker beklagten jedoch, dass viele Studierende nach der straff reglementierten Schulzeit mit den Freiheiten, die das Studium offerierte, nicht umgehen konnten und schon mit der Zusammenstellung ihres Stundenplans überfordert waren.[37] Die «akademische Lernfreiheit» konnte daher auch zu einer jahrelangen Vernachlässigung des Studiums führen, ohne dass dies auffiel und ohne dass die Studierenden deswegen Sanktionen befürchten mussten.

Professoren und Politik

Die militärische Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die Revolution von 1918/19 erschütterten die akademische Welt in ihren Grundfesten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hatten sich alle Hochschullehrer und Studierenden mit dem Kaiserreich identifiziert. Dafür gab es nachvollziehbare Gründe. Die deutschen Hochschulen hatten im Kaiserreich den Gipfel ihrer nationalen und internationalen Reputation erreicht. Hochschullehrer genossen ein großes Sozialprestige, und die Wissenschaft wurde großzügig gefördert, wie der rasante Ausbau der Universitäten in dieser Zeit und die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahr 1911 zeigen. Obwohl selbst liberale Hochschullehrer wie der Historiker Friedrich Meinecke die Revolution von 1918/19 als eine «furchtbare Katastrophe» empfanden,[38] schien die neue demokratische Republik an den Universitäten zunächst auf Akzeptanz zu stoßen. Diesen Eindruck vermittelten zumindest diverse öffentliche Bekundungen verschiedener Hochschulen, die sich auf den Boden der neuen Ordnung stellten.[39] So erklärten die Professoren und Dozenten der Berliner Universität am 17. November 1918 in einer Resolution, dass «sie sich bereitwillig der provisorischen neuen Regierung unterstellen, die endgültige Ordnung der Verhältnisse von einer auf lauteren demokratischen Grundsätzen aufgebauten Nationalversammlung erwarten und ihre ganze Arbeitskraft in den Dienst der zurückkehrenden Studenten und der neuen sich darbietenden Aufgaben der Volksbildung zu stellen bereit sind».[40]

Von den Studierenden kamen anfangs ähnliche Signale.[41] In Jena erklärte am 9. November 1918 eine von etwa 100 Personen besuchte Studentenversammlung, «ein großer Teil der Jenaer Studentenschaft» stehe «auf dem Grundsatze der Demokratisierung Deutschlands» und werde «den Geist wahrer Demokratie stützen und fördern».[42] In Leipzig verabschiedeten am 12. November etwa 700 Studierende eine Erklärung, welche die «vom Arbeiter- und Soldatenrat gewahrte, zur Erhaltung unseres Wirtschaftslebens unbedingt notwendige Ordnung» anerkannte und gleichzeitig freie Wahlen für eine allgemeine Volksvertretung forderte.[43] Auch eine studentische Vollversammlung an der Berliner Universität stellte sich am 23. November der «provisorischen Regierung zur Verfügung» und forderte die «baldigste Einberufung der Nationalversammlung». Bei den wenige Tage später stattfindenden Wahlen für den neuen Studentenausschuss der Universität Berlin setzte sich die Hochschulpartei durch, die nach eigenen Worten «auf dem Boden der neuen Zeit» stand.[44]

Die anfängliche Bereitschaft, die neue Zeit nolens volens zu akzeptieren, beruhte im Wesentlichen auf drei Ursachen: Erstens waren selbst hartgesottene Monarchisten von dem fast widerstandslosen Zusammenbruch der Monarchie so stark beeindruckt, dass sie nicht mit einer baldigen Rückkehr zur alten Ordnung rechneten. Zweitens erschienen die Einberufung der Nationalversammlung und die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie zu diesem Zeitpunkt vielen Akademikern als einzige realistische Alternative zu einer Linksdiktatur nach bolschewistischem Muster.[45] Drittens schließlich bestand im Bürgertum die weitverbreitete Erwartung, eine parlamentarisch-demokratische Regierung werde in der Lage sein, bei künftigen Friedensverhandlungen mit den Alliierten bessere Ergebnisse zu erzielen.

Diese teils resignative, teils pragmatisch-taktische Einstellung gegenüber der Republik verflüchtigte sich indes schon im Laufe des Jahres 1919. Nach den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 schrumpfte das Gespenst des Kommunismus auf eine Größe zusammen, die nicht mehr wirklich Furcht einflößte. Und die Hoffnung auf einen milden Frieden wich einem ungläubigen Entsetzen, als im Mai 1919 die Details des Versailler Vertragswerkes veröffentlicht wurden.

Der Berliner Historiker Theodor Schiemann musste nach Bekanntgabe der Versailler Friedensbedingungen, die ihm als das Ende Deutschlands erschienen, seine Vorlesung abbrechen, weil er am Katheder einen Weinkrampf erlitten hatte.[46] Der deutschnationale Pathologe Otto Lubarsch charakterisierte den Vertrag als ein «Machwerk» von «kalt ausgeklügelter Grausamkeit und Bosheit». Für den liberalen Theologen Adolf von Harnack war der Friedensvertrag ein «Teufelssieg des Imperialismus und Kapitalismus». Und der sozialdemokratische Jurist Hermann Heller behauptete noch 1931, der Versailler «Unrechtsvertrag» habe Deutschland in eine «weiße Sklavenkolonie» verwandelt.[47] Zu den wenigen Gemeinsamkeiten, auf die sich nahezu alle Hochschullehrer und Studierenden nach 1919 verständigen konnten, gehörte die Entschlossenheit, den Frieden von Versailles nicht zu akzeptieren. Dementsprechend war der Gedanke an einen künftigen Revanchekrieg sowohl bei den Studierenden als auch im Lehrkörper weitverbreitet, wie die lateinische Inschrift des Gefallenendenkmals der Berliner Universität von 1926 dezent, aber doch unmissverständlich signalisierte: Invictis victi victuri.[48]

Auch für manche Akademiker, die sich unter dem Eindruck des Kriegserlebnisses zunächst liberal-demokratischen oder sogar pazifistischen Ideen zugewandt hatten, markierte der Versailler Vertrag einen Wendepunkt in ihrer politischen Entwicklung. Der Theologe Hermann Wolfgang Beyer, seit 1926 Professor in Greifswald, hatte als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen und war als Kriegsgegner von der Front zurückgekehrt. Krieg war für ihn, wie er im Februar 1919 schrieb, «der grausamste, abscheuerregendste Mord».[49] Beyer bejahte die Weimarer Republik und erhoffte sich, wie viele andere Deutsche, einen milden Friedensvertrag auf der Grundlage des Vierzehn-Punkte-Programms, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson formuliert hatte. Umso größer war seine Bestürzung, als die alliierten Friedensbedingungen bekannt wurden. Am 8. Mai 1919 notierte er in seinem Tagebuch:

Abends, als ich gerade fortgehen will … kommt die Zeitung und bringt … die Friedensbedingungen der Gegner. Nun fliegt der Blick gierig über die Zeilen – und erstarrt. Wir sind stumpf geworden durch das Ungeheuerliche unseres Erlebens … Aber heute, heut Abend, da zuckte es durch alle meine Adern, da schoß ein Strom von Blut mir zu Häupten und färbte mich glühend rot, daß es in mir brannte, da ballten sich die Fäuste in stechendem Schmerz, in Zorn, in Scham, in tiefer, tiefer Trauer. Da ist mir wieder ein idealer Glaube zerbrochen. Darin hatte ich des furchtbaren Krieges letzten Sinn zu finden gehofft, daß es nach ihm Frieden werden würde auf Erden. Das ist nun dahin: Nun wissen wir: Unser ganzes Leben wird sein, was unsere Jugend war: Kampf, Kampf, Kampf![50]

Mit dieser Enttäuschung begann Beyers Abwendung von der Weimarer Republik. Bei den Wahlen für die Nationalversammlung im Januar 1919 hatte er noch die liberaldemokratische DDP gewählt. Ein Jahr später unterstützte er die nationalliberale DVP. 1927/28 schloss er sich der republikfeindlichen DNVP an.[51] Eine ähnliche Entwicklung vollzogen viele seiner Kollegen. Spätestens seit der zweiten Hälfte des Jahres 1919 stand die Mehrzahl der deutschen Hochschullehrer der Weimarer Republik kritisch oder ablehnend gegenüber.

Zum Selbstverständnis der deutschen Universitäten in der Weimarer Republik gehörte die vehemente Abgrenzung gegen «Parteipolitik», «Parteienhader» und «Parteizersplitterung».[52] «Parteien und Parteipolitik», so fasste der Berliner Jurist Rudolf Smend diese Haltung zusammen, «stehen mit dem Wesen der Hochschule im Widerspruch».[53] In dieser Haltung vermischten sich zwei unterschiedliche Motive: zum einen die Furcht vor parteipolitischer Einflussnahme auf die Universitäten, insbesondere vor parteipolitisch motivierten Berufungen, zum anderen ein generelles Misstrauen gegenüber der parlamentarischen Demokratie und der tragenden Rolle, die politische Parteien in ihren Entscheidungsprozessen spielen.

Abneigung gegen Parteipolitik war daher nicht gleichbedeutend mit einer unpolitischen Haltung. Vielmehr trennte man an den Hochschulen zwischen Parteipolitik und einer Politik, die «nationale Interessen» vertrat. Letztere gehörte nach eigenem Selbstverständnis durchaus zum Aufgabenbereich der Hochschulen: «Wir sind eine deutsche Universität, und in dem furchtbaren Elend unseres Volkes ist es womöglich noch mehr als in früheren, glücklicheren Zeiten unsere heiligste Pflicht, für die Erhaltung und Neukräftigung des Deutschtums einzutreten und, wenn das Vaterland es fordert, mit voller Hingabe seinem Ruf zu folgen», erklärte 1920 der Rektor der Berliner Universität, der renommierte Althistoriker Eduard Meyer.[54] Ganz ähnlich verknüpfte der Leipziger Rektor Heinrich Siber 1927 den Grundsatz politischer Neutralität mit dem Bekenntnis «zum Vaterland» und «zum deutschen Volkstum».[55] In diesem Sinne positionierte sich im selben Jahr auch die deutsche Rektorenkonferenz in einer einstimmig angenommenen Resolution:

Es liegt den deutschen Hochschulen und ihren Rektoren fern, der studierenden Jugend die Beschäftigung mit den Problemen des politischen Lebens zu verwehren. Sie erachtet es vielmehr für selbstverständlich, daß Lehrer und Studenten mit heißem Herzen Anteil nehmen am Geschick des deutschen Vaterlandes. Dagegen lehnen sie mit dem Nachdruck ihrer Verantwortlichkeit gegenüber Staat und Wissenschaft das Hineintragen der Parteipolitik in die Hochschule grundsätzlich ab.[56]

Fraglos war diese Haltung stark durch Ressentiments gegen die Weimarer Parteiendemokratie beeinflusst.[57] Aber sie richtete sich auch gegen die politische Rechte, wenn die Autonomie der Hochschulen von dieser Seite bedroht schien. Als der nationalsozialistische Volksbildungsminister von Thüringen, Wilhelm Frick (der spätere Reichsinnenminister), 1930 dem Rasseforscher Hans F. K. Günther in Jena gegen den Willen der Universität einen Lehrstuhl einrichtete, protestierte der Hochschulverband öffentlich gegen diese «Politisierung der Hochschulen».[58] Ähnliches wiederholte sich während des Braunschweiger Hochschulkonflikts von 1931/32, als der nationalsozialistische Volksbildungsminister des Freistaates Braunschweig Dietrich Klagges in enger Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) versuchte, Rektor und Senat der TH Braunschweig auf die Knie zu zwingen.[59]

Gleichwohl haben sich überraschend viele Hochschullehrer zwischen 1919 und 1932 parteipolitisch engagiert. Wie aus neueren Lokalstudien hervorgeht, waren in der Weimarer Republik wahrscheinlich etwa 20 bis 30 Prozent aller Hochschullehrer Mitglieder einer politischen Partei. Das früher vorherrschende Bild vom unpolitischen Professor ist unter dem Eindruck dieser Forschungen weitgehend verblasst.[60] Gewiss gab es auch in der Weimarer Republik den Typ des weltfremden Gelehrten, der sich für alles, was außerhalb des eigenen Fachgebietes lag, nicht wirklich interessierte. Der Philosoph Karl Löwith berichtet in seinen Erinnerungen, er sei politisch indifferent gewesen, habe all die Jahre hindurch nie eine Zeitung gelesen und daher die nationalsozialistische Gefahr erst sehr spät erkannt.[61] Allerdings war dieser Professorentyp wohl weitaus seltener, als lange Zeit angenommen wurde.

Wie die bislang veröffentlichten Lokalstudien zeigen, war die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Lehrkörper der meisten Universitäten die stärkste Partei, so zum Beispiel in Berlin, Tübingen, Göttingen, Bonn, Jena und Münster.[62] «Im allgemeinen wurde bis zum Beweis des Gegenteils angenommen, dass man deutsch-national sei», schrieb der Mathematiker Heinrich Behnke über die Lehrenden der Universität Münster, der er seit 1927 angehörte.[63] Als nationalkonservative Partei repräsentierte die DNVP jene Kräfte, welche die Weimarer Republik grundsätzlich ablehnten und – vor allem in den ersten Jahren der Republik – dem untergegangenen Kaiserreich nachtrauerten. Dementsprechend strebte die Partei eine Rückkehr zur Monarchie an. Enge Verbindungen bestanden zu den traditionellen Eliten in Industrie, Landwirtschaft, staatlicher Bürokratie und protestantischer Kirche. Die DNVP war eine antisemitische Partei. Doch fehlte dem deutschnationalen Antisemitismus jene radikale, rassistisch geprägte Unbedingtheit, die dem Nationalsozialismus zu eigen war.[64]

Nach der DNVP war die Deutsche Volkspartei (DVP) für Professoren besonders attraktiv. Im Lehrkörper einer vergleichsweise liberalen Universität wie Hamburg zählte sie sogar mehr Mitglieder als alle anderen Parteien.[65] Als nationalliberale Partei vertrat die DVP monarchistische Positionen, war in den 1920er Jahren gleichwohl an fast allen Kabinetten der Weimarer Republik beteiligt.[66] Gerade die Zwitterexistenz dieser Partei, die sich weder dem republikanischen noch dem republikfeindlichen Lager eindeutig zuordnen ließ, scheint sie für viele Hochschullehrer attraktiv gemacht zu haben, wie der Journalist und spätere Zeitungswissenschaftler Erich Everth 1922 konstatierte:

Die Volkspartei … erscheint den Professoren, wie vielen andern, als die Partei des juste milieu, bei der nichts zu riskieren ist, weder nach rechts noch nach links, die zwischen Altem und Neuem balanciert, auch wohl laviert, bei der man sich vor allem gesellschaftlich nicht kompromittiert. Damit ist gegeben ein platonischer Monarchismus, aber auch Bejahung des bestehenden Staates, faute de mieux und weil man als Gelehrter und Forscher doch am allerwenigsten Interesse an neuer Aufregung und neuem Umsturz hat. Jedenfalls verzichten die Anhänger dieser politischen Einstellung darauf, gegen die Republik zu hetzen oder polemisch aufzutreten, sei es in oder außerhalb der Universität.[67]

Zu den wichtigsten Stützen der Weimarer Republik zählte die Deutsche Demokratische Partei (DDP).[68] Im Lehrkörper der meisten deutschen Universitäten war die linksliberale DDP jedoch deutlich schwächer vertreten als die DNVP oder die DVP. Nur an der Universität Heidelberg spielten liberaldemokratische Hochschullehrer zeitweise eine dominante Rolle.[69] An den meisten anderen Universitäten hatten die liberalen Professoren dagegen eher Grund, sich als isolierte Minderheit zu fühlen. Dieser Prozess der Isolierung hatte, wie der Historiker Friedrich Meinecke 1925 schrieb, bereits während des Ersten Weltkriegs begonnen.[70] Zu den Anhängern der DDP gehörten neben überzeugten Demokraten viele «Vernunftrepublikaner» – Hochschullehrer, die sich nach dem Untergang der Monarchie der neuen Ordnung zuwandten, obwohl sie weiterhin dem Kaiserreich nachtrauerten: «Mein Intellekt erkennt und gibt zu, daß das Alte rettungslos verloren ist, daß es sich selber das Grab gegraben hat, mein Herz aber hängt nun einmal an diesem Alten und mag von ihm nicht lassen», schrieb der Historiker Hans Delbrück Ende des Jahres 1918.[71]

Anhänger der beiden großen Linksparteien SPD und KPD waren im Lehrkörper der 23 deutschen Universitäten nur selten vertreten. Vor allem die Kommunisten, die bei Reichstagswahlen bis zu 17 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen konnten, spielten an den Hochschulen keine Rolle. Auch die katholische Zentrumspartei und die mit ihr verbundene Bayerische Volkspartei waren an den meisten Universitäten aufgrund der relativ geringen Zahl katholischer Hochschullehrer kein bedeutsamer politischer Faktor. Selbst in Hochburgen des deutschen Katholizismus blieb die Zahl ihrer Mitglieder überschaubar. In Bonn gehörten von 252 Professoren und Dozenten 15 der Zentrumspartei an, überwiegend katholische Theologen. An der Universität Münster zählte die Partei unter den insgesamt 218 Professoren 12 Mitglieder.[72]

An den meisten Universitäten stand vor 1933 eine starke Gruppe von deutschnationalen, republikfeindlichen Hochschullehrern einer deutlich schwächeren Minderheit von Liberalen und wenigen Sozialdemokraten gegenüber, die sich für die Weimarer Republik einsetzten. Dazwischen lag, wie Friedrich Meinecke 1926 analysierte, «eine breite Masse von Elementen, die stimmungsmäßig nach rechts neigen, den heutigen Staat nicht lieben, aber auch nicht geradezu verachten und ihr kühles Verhältnis zu ihm durch eine fleißige Kritik seiner Mängel zu rechtfertigen suchen».[73] Meineckes Hoffnung, Teile dieser mittleren Gruppe für die Republik gewinnen zu können, erfüllte sich nicht. Stattdessen nahm die Zahl der Wissenschaftler, die sich an den Treffen des Weimarer Kreises verfassungstreuer Hochschullehrer beteiligten, zwischen 1927 (114 Teilnehmer) und 1932 (30 Teilnehmer) deutlich ab.[74] Die Hochschulen galten daher in der Weimarer Republik nicht zu Unrecht als «Hort der Reaktion», wie der sozialdemokratische Vorwärts 1920 konstatierte.[75]

Manche Hochschullehrer nutzten auch ihre Lehrveranstaltungen, um Ressentiments gegen die Republik zu schüren. In Tübingen beispielsweise «machten die beiden Historiker Johannes Haller und Adalbert Wahl ohne Rücksicht auf das jeweilige Vorlesungsthema aus ihrer antidemokratischen Haltung, aus ihrer Verachtung gegenüber der Republik, deren Regierungen und ihrer Politik kein Hehl», wie Theodor Eschenburg in Erinnerungen an seine Studienzeit berichtet hat. Bei Haller sei kaum eine Stunde vergangen, «in der nicht eine scharfe, vielfach sogar gehässige Bemerkung … fiel, um mit großem Beifall aufgenommen zu werden». An der Berliner Universität, wo Eschenburg sein Studium fortsetzte, überwogen nach seiner Aussage ebenfalls «die undemokratischen Tendenzen». Der Althistoriker Eduard Meyer habe im Kolleg aus seiner «feindseligen Haltung» gegenüber der Weimarer Republik kein Hehl gemacht. «Die Geschichte Athens und Roms bot ja viele Möglichkeiten zum Vergleich, wenn sie auch manchmal nicht stimmten.» Durch Andeutungen habe auch der Historiker Albert Brackmann «immer wieder seine Vorliebe für die alte Monarchie» gezeigt. Der Staatsrechtler Heinrich Triepel sei in seiner Vorlesung immerhin «loyal» gewesen und habe «feindselige Bemerkungen» vermieden, gleichwohl «spürte man doch sehr deutlich seine innere Ablehnung», schrieb Eschenburg.[76]

Nostalgische Gefühle gegenüber dem untergegangenen Kaiserreich allein können die weitverbreitete Distanz der Hochschullehrer gegenüber der Weimarer Republik nicht erklären. Zwei weitere Faktoren kamen hinzu:

Erstens, der Zerfall bürgerlicher Sekurität, der in den ersten Jahren der Weimarer Republik seinen Höhepunkt erreichte.[77] Bestandteile dieses Prozesses waren der Verlust der Ersparnisse, die viele Professoren in Kriegsanleihen investiert hatten, die Auswirkungen der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen 1918 und 1923 und die außergewöhnlichen Einkommensverluste der Inflationszeit. Im Januar 1920 betrugen die realen Bezüge der akademischen Beamten nur noch ein Fünftel des Vorkriegsstandes. Dadurch schrumpften die beträchtlichen Einkommensunterschiede, die vor dem Krieg zwischen beamteten Professoren und der Arbeiterschaft bestanden hatten, zeitweise erheblich zusammen.[78]

Diese Entwicklung stärkte, zweitens, die Überzeugung, dass Demokratie notwendigerweise soziale Nivellierung bedeute und damit auf einen Statusverlust der akademischen Elite hinauslaufe. Wie Max Weber bereits im Sommer 1918 registrierte, steckte hinter dem «Gezeter» gegen die Demokratie vor allem «die Angst um das Prestige der eigenen Schicht: des Diplom-Menschentums».[79] Ähnlich argumentierte der Münchener Philosoph Helmut Kuhn, der die kritische Einstellung seiner Kollegen gegenüber der Republik rückblickend auf «ein durch demokratische Gleichmacherei gekränktes Standesgefühl» zurückführte.[80]

Trotz dieser weitverbreiteten Antipathien gegenüber der Weimarer Republik konnte die NSDAP im Lehrkörper der Universitäten bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme nicht wirklich Fuß fassen. So gehörten in Münster vor 1933 nur 5 von 218 Professoren der NSDAP an (2,3 Prozent). In Bonn besaßen lediglich 4 von 252 Professoren und Dozenten vor der «Machtergreifung» das nationalsozialistische Parteibuch (1,6 Prozent), in Berlin waren es 12 von 799 (1,5 Prozent), in Hamburg 10 von 271 (3,7 Prozent). Unter den 186 Angehörigen des Lehrkörpers der Universität Marburg befanden sich vor 1933 4 NSDAP-Mitglieder. Bei den wenigen Parteimitgliedern handelte es sich ganz überwiegend um Assistenten, Privatdozenten und außerordentliche Professoren, um Wissenschaftler also, die nicht zur Kerngruppe des Lehrkörpers gehörten.[81]

Selbst Professoren, die nach der «Machtergreifung» in das nationalsozialistische Lager übergingen, konnten der NSDAP zu Beginn der 1930er Jahre nur wenig abgewinnen. Für Franz Petri, der sich im Dritten Reich zu einem führenden «Westforscher» entwickelte, war Hitler noch im Januar 1933 ein «Demagoge, dessen persönliche Ehrlichkeit das Unheil nicht geringer macht».[82] Sein Kollege Theodor Mayer, später ein begeisterter Gefolgsmann Hitlers, kritisierte noch im Frühjahr 1933 die «Massendemagogie» der NSDAP und ihre «Unfähigkeit zu positiver Politik».[83] Der alldeutsche Hochschullehrer Johannes Haller, der im Juli 1932 öffentlich zur Unterstützung des Nationalsozialismus aufgerufen hatte, rückte schon zwei Monate später wieder von der NSDAP ab, weil er den Eindruck gewonnen hatte, dass «die Partei sich für die proletarische Richtung entschieden» habe.[84] Hinzu kam bei vielen die Furcht vor einer «Einschränkung der geistigen Freiheit»[85] und der universitären Autonomie. Wie berechtigt solche Ängste waren, hatte sich 1931/32 während des Braunschweiger Hochschulkonflikts gezeigt. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse verurteilte eine außerordentliche Rektorenkonferenz im Dezember 1932 einstimmig die Eingriffe des nationalsozialistischen Ministers in die «Freiheit der Wissenschaft und in die akademische Selbstverwaltung» und bekundete gleichzeitig ihre Entschlossenheit, «die Freiheit des akademischen Lebens und der akademischen Lehre auch durch Zurückgreifen auf die staatlichen Machtmittel» zu verteidigen.[86] Schließlich hat auch die Angst vor Karrierenachteilen manchen sympathisierenden Hochschullehrer von einem Eintritt in die NSDAP abgehalten. In mehreren Ländern, darunter Preußen, war Beamten die Mitgliedschaft in der NSDAP zu Beginn der 1930er Jahre verboten.[87]

Diese vier Faktoren, das plebejische Profil der NSDAP, der demagogische Stil ihrer Propaganda, die Angst vor einer Einschränkung der akademischen Freiheit und die Furcht vor staatlichen Repressalien, sorgten dafür, dass vor der nationalsozialistischen Machtübernahme nur wenige Professoren den Weg in diese Partei fanden. Die Hochschullehrer gehörten mithin zu jenen traditionellen Eliten, die einen signifikanten Beitrag zur Zerstörung der Weimarer Republik leisteten, ohne am Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung in nennenswerter Weise beteiligt gewesen zu sein. Eine Organisation nationalsozialistischer Hochschullehrer bildete sich daher erst nach der «Machtergreifung».

Eine entschiedene Gegenposition zur NSDAP war von den meisten Professoren aber ebenso wenig zu erwarten. Das zeigte sich schon 1931, als Friedrich Meinecke versuchte, an der Berliner Universität einen öffentlichen Aufruf gegen den Nationalsozialismus zu organisieren. Geplant war, zunächst einmal acht «gute Namen zusammenzubringen», um danach den Aufruf mit der Bitte um Unterzeichnung an «sämtliche Berliner Kollegen» zu verschicken. Der Plan scheiterte jedoch schon im Vorfeld, weil es nicht gelang, diese acht «guten Namen» zu finden: «Jeder bisher Gefragte hat Gegengründe wie Brombeeren», klagte Meinecke einem Leipziger Kollegen: «Im Hintergrund richtet man sich eben auf die kommende Naziregierung schon ein.»[88]

Tabelle 2:  Der nationalsozialistische Stimmenanteil bei studentischen Wahlen an den Universitäten und bei Reichstagswahlen, 1928–​1933 (in Prozent)[89]

Jahr

Studentische Wahlen

Reichstagswahlen

Stimmenanteil des NSDStB

Wahlbeteiligung

Stimmenanteil der NSDAP

Wahlbeteiligung

1928

11,8

64,0

2,6

75,6

1929

19,3

60,9

1930

32,4

67,1

18,3

82,0

1931

44,6

76,4

1932a

49,1

65,1

37,4

84,1

1933

41,3

71,8

43,9

88,8

a Reichstagswahl vom 31. Juli 1932.

Im Gegensatz zu den Professoren zeigten sich die Studierenden schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt ungewöhnlich aufnahmebereit für die Parolen der NSDAP. Zwischen 1928 und 1932 lag der nationalsozialistische Stimmenanteil bei Wahlen für studentische Gremien stets höher als bei Reichstagswahlen (Tabelle 2). 1931 erzielte der NSDStB bei studentischen Wahlen (mit hoher Wahlbeteiligung) schon fast 45 Prozent der Stimmen, 1932 waren es sogar 49 Prozent. Folgerichtig übernahm der NSDStB bereits 1931 die Leitung der Deutschen Studentenschaft, einer überregionalen Dachorganisation.[90] Der steigende Einfluss der Nationalsozialisten zeigte sich in der zunehmenden Aggressivität studentischer Politik, in der wachsenden Bereitschaft, mit physischer Gewalt gegen marxistische, republikanische oder jüdische Kommilitonen vorzugehen, und in hasserfüllten Kampagnen gegen einzelne Hochschullehrer, die aufgrund ihrer politischen Überzeugungen oder aus antisemitischen Gründen an der Lehre gehindert wurden. Für überregionale Schlagzeilen sorgte insbesondere das Vorgehen der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten gegen die Professoren Emil Julius Gumbel (Heidelberg), Günther Dehn (Halle) und Ernst Cohn (Breslau).[91]

Juden und Antisemitismus im akademischen Milieu

Die Geschichte jüdischer Gelehrter an den deutschen Universitäten lässt sich für die Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme sowohl als Erfolgsgeschichte wie auch als Diskriminierungsgeschichte schreiben. Die Erfolge zeigen sich zum einen in der relativ starken Präsenz von Juden im Lehrkörper der deutschen Universitäten und in wissenschaftlichen Großorganisationen wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, zum anderen in der außergewöhnlich großen Zahl jüdischer Spitzenforscher. Im Wintersemester 1932/33 waren 6,2 Prozent des Lehrkörpers der deutschen Universitäten Juden oder Jüdinnen.[92] Zu dieser Zeit stellten Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft 0,9 Prozent der deutschen Bevölkerung.[93] Zudem war in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fast ein Drittel aller deutschen Nobelpreisträger jüdisch oder jüdischer Herkunft.[94] Es fällt auf, dass die jüdischen Lehrkräfte sich sehr ungleichmäßig auf die verschiedenen Universitäten verteilten. Besonders stark vertreten waren jüdische Hochschullehrer in Frankfurt, Berlin und Breslau. Im Lehrkörper der Universitäten Erlangen, Greifswald und Tübingen gab es dagegen keine Juden (Tabelle 27 im Anhang). Diese erheblichen Unterschiede lassen sich durch zwei Faktoren erklären: Zum einen spiegeln sie die Stärke der jüdischen Gemeinden in den einzelnen Universitätsstädten. Je größer die Gemeinde, desto größer war auch die Zahl der jüdischen Studierenden, und mit ihr wuchs in der Regel die Bereitschaft der Universitäten, begabte jüdische Wissenschaftler zu habilitieren und zu berufen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die drei Universitäten, deren Lehrkörper einen besonders hohen Anteil jüdischer Gelehrter aufwiesen, in den Städten lagen, die zur damaligen Zeit die größten jüdischen Gemeinden Deutschlands beherbergten (Frankfurt, Berlin und Breslau).[95] Zum anderen verweist die Statistik auf den Einfluss des Antisemitismus an den verschiedenen Hochschulen. Eine Universität wie Tübingen hatte gegen Ende der Weimarer Republik auch deshalb keine jüdischen Dozenten, weil unter den Professoren offensichtlich ein stillschweigendes Einverständnis herrschte, Juden weder zu habilitieren noch zu berufen. So musste der langjährige Assistenzarzt der Tübinger Universitätsnervenklinik Alfred Storch Tübingen 1927 verlassen und nach Gießen wechseln, weil es ihm als Jude unmöglich war, sich an der Universität Tübingen zu habilitieren. In Gießen gelang die Habilitation ein Jahr später problemlos.[96] Im Februar 1933 fasste der Kanzler der Universität Tübingen August Hegler die vorherrschende Stimmung so zusammen: Man habe «hier die Judenfrage gelöst», indem «man nie davon gesprochen» habe.[97] Ähnlich äußerte sich im Januar 1934 der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät Erlangen.[98]

Insgesamt betrachtet waren jüdische Wissenschaftler im deutschen Universitäts- und Wissenschaftssystem aber überproportional vertreten. Diese Tatsache rief schon lange vor 1933 Antisemiten aller Couleur auf den Plan. Zu ihnen gehörten Angehörige völkischer oder nationalsozialistischer Gruppierungen wie der Physiker Johannes Stark, der 1930 anklagend von einer «Verjudung der deutschen Hochschulen» sprach.[99] Kritik kam jedoch auch von anderer Seite, beispielsweise aus dem katholischen Milieu. Als Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, sich 1930 für die Berufung des renommierten jüdischen Juristen Hans Kelsen an die Kölner Universität einsetzte, sprach die Kölnische Volkszeitung von einem «Berufungsskandal». Adenauers Vorgehen sei unverständlich und befremdend: «Ist dem Oberbürgermeister nicht bekannt, daß die Universität Köln bereits mit Dozenten jüdischen Bekenntnisses überbesetzt ist; eine Tatsache, die auch in Professorenkreisen aus sachlichen Gründen starken Widerspruch findet?»[100]

Es überrascht daher nicht, dass jüdische Wissenschaftler in der Weimarer Republik vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt waren. Aggressive Antisemiten wie der Hamburger Geograph Siegfried Passarge oder der Jenaer Zoologe Ludwig Plate, die sogar in ihren Vorlesungen antijüdische Bemerkungen fallen ließen, waren allerdings eher selten.[101] Auch persönliche Angriffe gegen jüdische Kollegen blieben an den Universitäten verpönt.[102] Der «Radauantisemitismus» galt als unakademisch. Stattdessen herrschte an vielen Hochschulen ein «stiller Antisemitismus», den «man mehr fühlen als deutlich wahrnehmen konnte», wie der Jurist Wolfgang Kunkel rückblickend notierte.[103] Dieser stille Antisemitismus fand sich sogar bei manchen Liberalen.[104]

Zwar hatten begabte jüdische Nachwuchswissenschaftler an den meisten deutschen Universitäten durchaus die Möglichkeit, sich zu habilitieren. Ihre Chancen, auf einen Lehrstuhl berufen zu werden, waren jedoch deutlich geringer als die ihrer protestantischen oder katholischen Kollegen – eine Tatsache, über die in Universitätskreisen bemerkenswert offen gesprochen wurde.[105] Max Weber gab 1919 in seiner berühmten Rede über Wissenschaft als Beruf jüdischen Wissenschaftlern in Anlehnung an Dante sogar den Rat, alle Hoffnungen auf eine Universitätskarriere aufzugeben: «lasciate ogni speranza».[106]

Das war allerdings eine Übertreibung. Tatsächlich konnten jüdische Wissenschaftler in der Weimarer Republik durchaus an die Spitze der universitären Hierarchie gelangen. An der Berliner Universität gehörten gegen Ende der Weimarer Republik 7 von 141 Ordinarien (5 Prozent) der jüdischen Religionsgemeinschaft an.[107] Vereinzelt wurden jüdische Ordinarien sogar zu Rektoren gewählt – so die Juristen Jakob Friedrich Behrend (1882/83 in Greifswald) und Max Pappenheim (1901/02 in Kiel) sowie der Philosoph Ernst Cassirer (1929/30 in Hamburg).[108] Solche Erfolgsgeschichten waren jedoch Ausnahmefälle, wie die vergleichende Untersuchung von Universitätskarrieren im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zeigt.

Tabelle 3:  Die Ordinarienquote unter den an der Berliner Universität lehrenden Hochschullehrern nach Religionszugehörigkeit, 1871–​1933[109]

Religion/Herkunft

Hochschullehrer 1871–1933

Davon erhielten ein Ordinariat bis 1933

absolut

in %

absolut

in %

Protestantena

1336

69,9

597

44,7

Katholikenb

116

6,1

78

67,2

Juden

246

12,9

41

16,7

Getaufte jüdischer Herkunft

213

11,1

85

39,9

Zusammen

1911

100,0

801

41,9

a Ohne Protestanten jüdischer Herkunft. b Ohne Katholiken jüdischer Herkunft.