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EIN BALLKLEID FÜR SCHWESTER LIV von SARAH MORGAN Ein silbernes Kleid, Diamantenschmuck und ein Märchenprinz namens Dr. Stefano Lucarelli: Heute Abend geht Liv mit dem umschwärmten Arzt auf den Weihnachtsball! Doch was geschieht, wenn die Uhr Mitternacht schlagt: Flieht Liv dann ängstlich vor ihren Gefühlen? MISS IN MASKERADE von ANNE ASHLEY Die junge Georgiana spielt ein riskantes Spiel: Als Page verkleidet, schleicht sie sich beim berüchtigten Viscount Fincham ein, um den Tod ihres Onkels aufzuklären. Doch der Hausherr ist nicht so kalt und ruchlos, wie sie es vermutet hat. Im Gegenteil! Er ist ein richtiger Gentleman. Je näher sie dem Viscount kommt, desto schwerer fällt es ihr, die Rolle aufrechtzuerhalten. Denn er bringt ihr Herz in größte Gefahr... VERFÜHRUNG AUF DEM MASKENBALL von ANNIE BURROWS Lord Ledbury war der Held jedes Schlachtfeldes - doch das Chaos in den Ballsälen Londons entsetzt ihn. Eine kichernde Debütantin heiraten? Niemals! Er sucht eine Herausforderung ... und findet sie in Julie: Die "Eiskönigin" wies bisher jeden Mann zurück. Kann er ihr kaltes Herz mit heißen Küssen zum Schmelzen bringen? MISS CHARITY UND DER MASKIERTE GENTLEMAN von SARAH MALLORY Miss Charity ist verwirrt: Als ein maskierter Räuber ihre Kutsche stoppt und sie an sich zieht, wehrt sie sich nicht - sondern genießt seine leidenschaftlichen Liebkosungen! Sie ahnt nicht, wer der Fremde ist, bis sie ihn in einer kalten Winternacht wiedertrifft. Plötzlich wird ihr einiges klar - denn jetzt will der mysteriöse Verführer mehr als feurige Küsse... TANZEN IST DIE BESTE MEDIZIN von KATE HARDY Salsa hilft gegen Herzschmerz: Als Joni mit einem Fremden heiß tanzt, ist ihre gescheiterte Verlobung fast vergessen. Ein Abend voller Lachen, eine Nacht voller Liebe und dann good-bye... Bis sie einen neuen Kollege im Krankenhaus bekommt: Dr. Hughes - Salsatänzer und Liebhaber! MASKEN DES VERLANGENS von LORI WILDE Eine aufregende Affäre mit einem maskierten Stripper scheint genau das Richtige für Summer. So kann sie hoffentlich ihren supersüßen, aber leider unerreichbaren Nachbarn Joe vergessen! Doch nach einer rauschenden Liebesnacht erlebt sie eine umwerfende Überraschung...
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Seitenzahl: 1411
Sarah Morgan, Anne Ashley, Annie Burrows, Sarah Mallory, Kate Hardy, Lori Wilde
Tanz & Maskerade - Verführt von einem Gentleman
IMPRESSUM
Ein Ballkleid für Schwester Liv erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2008 by Sarah Morgan Originaltitel: „Italian Doctor, Sleigh-Bell Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN Band 27 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Ralf Kläsener
Umschlagsmotive: GettyImages_EdwardDerule
Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733729417
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Ich werde nie wieder heiraten, niemals. Nicht in einer Million Jahren. Spar dir deine Worte. Das eine Mal hat mir wirklich gereicht.“ Liv schloss die Tür des Medizinschranks und starrte gereizt auf das glitzernde Bündel Lametta, das von außen an der Tür befestigt war. „Und das hier kommt auch weg, Anna.“
„Aber es ist doch bald Weihnachten“, protestierte die Kollegin. „Und du solltest endlich das Desaster mit deiner Ehe vergessen. Jeder kann mal im Leben einen Fehler machen.“
„Ja, aber Jack war mehr als ein Fehler. Er war eine charmante, gut aussehende Katastrophe. Zuerst kam er mir ganz normal vor.“ Liv sah ihre Freundin an und zuckte die Schultern. „Aber das war ein Irrtum. Hinweise, die mich hätten warnen müssen, habe ich ignoriert. Auch das ist ein Grund, warum ich mich mit keinem Mann mehr einlassen will. Offenbar sehe ich nur, was ich gern sehen möchte.“
Anna runzelte die Stirn. „Du gehst zu hart mit dir ins Gericht.“
„Nein, nein, ich hätte es wissen müssen. Ich habe alle Anzeichen missachtet; ich wollte sie einfach ignorieren. Selbst als Jack mich ins Krankenhaus begleitete, als unser Sohn geboren wurde, und er immer wieder ‚Das kann ich nicht ertragen‘ in sich hineingemurmelt hat, dachte ich noch, er meinte den Anblick seiner stöhnenden, geliebten Frau, die in den Wehen lag. Aber in Wirklichkeit konnte er es nicht ertragen, Vater zu werden. Er wollte keine Verantwortung übernehmen. Er wollte auch nicht länger mit mir verheiratet sein.“
Liv ordnete die Medikamente, die sie aus dem Schrank genommen hatte. „Schade, dass ihm das nicht vor meiner Schwangerschaft klar geworden ist. Versteh mich bitte nicht falsch“, fügte sie schnell hinzu, „ich bin froh, dass ich Max habe. Er ist das Beste, was mir bisher im Leben passiert ist.“
„Du bist eine wundervolle Mutter. Und Max ist ein sehr glücklicher kleiner Junge.“
War er das wirklich?
Liv versuchte, das plötzlich aufkommende Schuldgefühl zu unterdrücken. „Ich habe inzwischen gelernt, wie man einen Fußball richtig kickt, und kann einen Ferrari von einem Lamborghini unterscheiden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass in Max’ Leben ein Mann fehlt, eine Vaterfigur.“
Anna nickte. „Deshalb solltest du unbedingt die Eintrittskarten für den Ball nutzen, die du gewonnen hast.“
„Auf keinen Fall werde ich dorthin gehen.“
„Liv, es ist Weihnachtszeit, die Zeit zum Feiern und Fröhlichsein. Eine bessere Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, gibt es gar nicht. Du weißt, wie begehrt die Eintrittskarten sind. Einer Kollegin aus einer anderen Abteilung hat man tausend Pfund für ihre Karte geboten – und sie hat abgelehnt.“
„Du machst wohl Witze? Wer würde denn so verrückt sein und so viel Geld dafür bieten?“ Liv riss staunend die Augen auf. „Kennst du vielleicht jemanden, der so einen Irrsinnspreis bezahlen würde? Ich könnte meine beiden Karten verkaufen und mir endlich ein neues Auto anschaffen.“
„Warum denkst du bloß immer so praktisch?“
„Weil ich eine alleinstehende Mutter mit einem siebenjährigen Sohn bin und Verantwortung trage. Wenn ich das nicht tun würde, hätten wir oft nichts zu essen.“
„Ist dein Wagen wieder kaputt?“
„Nicht ganz, aber ich fürchte, dass er nicht mehr lange durchhält.“
Anna winkte ab. „Vergiss den Wagen. Das hier ist London – du hast Busse, U-Bahn und Züge. Also behalte die Karten, und geh zu dem Ball, Aschenputtel.“
„Wenn ich an den mageren Inhalt meines Kleiderschrankes denke, ist der Vergleich mit Aschenputtel wirklich sehr passend.“
Anna trat einen Schritt zurück und musterte Liv. „Ich würde dir ja gern ein Kleid leihen, aber ich weiß nicht so recht … deine Oberweite …“
„… ist zu groß“, sagte Liv trocken. „Das weiß ich selbst am besten. Schließlich schleppe ich sie seit achtundzwanzig Jahren mit mir herum.“
„Hattest du deine Oberweite also von Geburt an?“, lachte Anna.
Liv verdrehte die Augen. „Was reden wir hier für einen Blödsinn? Haben wir nichts anderes zu tun? Und du, meine Liebe, solltest dich nicht immer in mein Leben einzumischen versuchen.“
„Nur, wenn du mir versprichst, dass du dich im neuen Jahr endlich mal wieder mit einem Mann verabredest. Du musst ja nicht gleich heiraten …“
„Wie tröstlich für mich.“
„Aber du könntest doch mal mit jemandem ausgehen. Ich mache mir Sorgen um dich. Bist du nicht sehr einsam? Und wann hattest du zum letzen Mal Sex?“
„Musst du das so laut in die Gegend posaunen?“ Liv war rot geworden und sah sich hektisch um, ob auch tatsächlich niemand sonst in dem Raum war.
„Wenn das Wort Sex dich so erschreckt, muss es ja wirklich eine Ewigkeit her sein. Du bist jetzt seit vier Jahren geschieden. Es wird Zeit, dass du wieder anfängst, als Frau zu leben. Wenn du keine neue Beziehung willst, versuch es doch mal mit einem One-Night-Stand.“
„Kommt nicht infrage.“ Liv schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich hasse den Gedanken, neben einem Mann aufzuwachen, den ich nicht kenne und der mir eigentlich nichts bedeutet.“
„Dann wirf ihn wieder aus dem Bett, bevor du einschläfst. Oder du suchst dir einen Mann, den du kennst und der dich interessiert.“
„Das ist nichts für mich. Schon die Vorstellung, mich vor einem Mann auszuziehen, macht mir Angst.“ Liv verzog das Gesicht. „Außerdem muss ich an Max denken. Er soll nicht damit aufwachsen, dass seine Mutter wechselnde Männerbekanntschaften hat.“
„Das würde ihm zeigen, dass Beziehungen ein Bestandteil des Lebens sind, die manchmal schiefgehen und manchmal funktionieren. Was bringst du ihm jetzt bei? Dass Beziehungen unwichtig und es nicht wert sind, sich darum zu bemühen.“
Verblüfft und mit wachsenden Schuldgefühlen schaute Liv ihre Freundin an. „Du meinst also, ich erziehe Max lebensfremd?“
„Nein, ich meine, dass du es einfach nicht schaffst, deine Angst vor einer neuen Beziehung zu überwinden. Das ist doch lächerlich. Sieh dich an – du bist so hübsch und hast eine große Oberw…“
„Anna!“
„Entschuldige, aber ich glaube, du hast einfach keine Vorstellung davon, wie attraktiv du bist. Weißt du, wie die Männer dich hinter deinem Rücken nennen? Die knackige Liv …“
„Das sagen sie, weil sie mich nur angezogen sehen. Sähen sie mich nackt, würden sie feststellen, dass es mit knackig nicht weit her ist.“
„Rede keinen Unsinn. Du hast eine tadellose Figur.“ Anna beugte sich vor und nahm Liv kurz in den Arm. „Ich will dir nicht auf die Nerven gehen, aber du bist meine beste Freundin – und ich möchte, dass du einen netten Mann kennenlernst. Ich wünschte, ich könnte dir zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht schenken …“
„Ich habe dir schon gesagt, dass ich an schnellem Sex kein Interesse habe. Lieber nehme ich ein schönes Schaumbad.“ Aber Liv erwiderte Annas Umarmung, denn sie wusste, dass die Freundin es nur gut mit ihr meinte.
„Ich störe hoffentlich nicht?“, ertönte eine tiefe männliche Stimme hinter ihnen. Anna fuhr herum, ihr Gesicht war schlagartig rot geworden.
„Oh, Mr. Lucarelli … ich meine, Stefano …“ Sie räusperte sich, um ihre Kehle frei zu bekommen. „Wie haben nur …“ Sie reagierte wie eine kleine Schwesternschülerin, nicht wie eine erfahrene Krankenschwester. Hilfesuchend sah sie Liv an.
„Sie stören keineswegs“, sagte diese kühl. Hoffentlich hatte der Ankömmling nicht zu viel von ihrer Unterhaltung mit Anna mitbekommen. „Brauchen Sie etwas?“
Dunkle, forschende Augen musterten sie – und Liv wünschte, sie hätte seine Aufmerksamkeit nicht auf sich gezogen.
Sie gab sich Mühe, ganz ruhig zu erscheinen, tat so, als ob sie sein glänzendes schwarzes Haar, sein gut geschnittenes Gesicht und seinen sinnlichen Mund nicht bemerkte. Er war unglaublich attraktiv – und Liv fragte sich unwillkürlich, wie viele Frauenherzen er schon gebrochen haben mochte. Mit seinen breiten Schultern und schmalen Hüften war er die personifizierte Männlichkeit.
Er war mindestens einsneunzig groß, und der tadellos geschnittene dunkelblaue Anzug betonte seine schlanke, aber durchtrainierte Figur. „Ich kam her, weil ich Ihnen sagen wollte, dass der Patient auf die Intensivstation verlegt wurde“, sagte er ruhig zu Anna. „Und ich wollte mit Ihnen über Rachel sprechen.“
Anna schlüpfte augenblicklich in ihre Rolle als Krankenschwester. „Gibt es Probleme?“
„Si, da gibt es ein Problem“, sagte er, ohne seine Augen von Liv abzuwenden. „Ich möchte mit ihr in der Notaufnahme nicht mehr zusammenarbeiten.“
Anna runzelte die Stirn. „Sie ist eine erfahrene Schwester …“
„Mag sein, aber dann sollte sie für jemand anderen arbeiten. Meine Gegenwart scheint sie nervös zu machen. Ihre Hände zittern, sie lässt sterile Instrumente fallen, und jedes Mal, wenn ich sie anspreche, fährt sie zusammen. Das ist mir zu gefährlich.“
Anna seufzte. „Sie ist noch sehr jung. Vielleicht hat sie Angst vor Ihnen?“
Er zog die Augenbrauen unwillig zusammen. „Ich war immer höflich zu ihr, bin nie laut geworden.“
„Das müssen Sie auch gar nicht. Sie sind …“ Anna unterbrach sich, suchte nach Worten. „Sie sind vielleicht für jüngere Mitarbeiter manchmal etwas beunruhigend, flößen ihnen Angst ein.“
„Dann schicken Sie mir jemanden, der sich nicht so leicht einschüchtern lässt.“ Sein Ton war kühl. „Wenn ich in der Notaufnahme arbeite, muss ich mich ganz auf den Patienten konzentrieren. Und das erwarte ich auch von meinen Mitarbeitern. Ich will meine Instrumente im richtigen Moment in die Hand bekommen – und sie nicht vom Fußboden aufsammeln müssen.“
„Das heißt, Sie erwarten, dass Ihre Mitarbeiter Gedanken lesen können …“
Stefano Lucarelli verzog ironisch die Mundwinkel. „Ganz richtig. Blindes Verständnis und absolute Verlässlichkeit sind notwendige Voraussetzungen für die Arbeit auf der Notfallstation. Da wir das nun geklärt haben, überlasse ich Sie beide wieder Ihrem privaten Vergnügen.“
Anna blickte ihm hinterher, als er den Raum verließ. „Na, großartig. Weil er gesehen hat, wie wir uns umarmten, hält er uns jetzt wohl für lesbisch.“
Liv hielt erschrocken die Luft an. „Hoffentlich hat er nicht mitbekommen, was du über meine große Oberweite gesagt hast und dass ich lange keinen Sex hatte. Glaubst du, er hat gehört, dass du mir zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht verschaffen wolltest?“
„Schon möglich.“ Anna schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen.
Liv bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Okay, Schluss jetzt damit. Sei froh, dass ich dir nicht den Hals umdrehe. Wie soll ich Mr. Lucarelli je wieder in die Augen sehen können?“
„Ich könnte ihn unentwegt angucken. Das ist bei mir schlimmer als bei Rachel.“ Anna lachte. „Umarme mich bitte nicht mehr in der Öffentlichkeit – er könnte sonst meinen, ich wäre nicht mehr zu haben.“
„Aber du bist nicht mehr zu haben! Du bist glücklich verheiratet.“
„Das stimmt. Aber siehst du nicht auch manchmal einen Mann an und denkst nur an Sex?“
„Wenn ich ihn sehe, denke ich erst einmal an Ärger.“ Liv steckte die Schlüssel des Medizinschrankes in ihre Tasche und versuchte, nicht mehr an seine ausdrucksvollen Augen zu denken.
„Mir würde Ärger mit ihm nichts ausmachen“, meinte Anna. „Er redet eben nicht um die Dinge herum, sondern sagt genau, was er denkt.“
„Er hat hohe Ansprüche“, nickte Liv. „Das ist etwas, was ich schätze. Für ihn zählen nur Topleistungen. Das gefällt mir. Wenn ich mal einen Autounfall hätte, würde ich mir wünschen, dass er mich behandelte.“
„Was für ein beunruhigender Gedanke.“ Anna sah Liv beschwörend an. „Sollte mir das jemals passieren, hoffe ich, dass ich gerade schicke, seidene Unterwäsche trage und er mir nicht profane Baumwollschlüpfer vom Körper schneiden muss.“
„Wenn du nach einem Unfall bei ihm auf dem Tisch liegst, ist deine Unterwäsche wahrscheinlich dein geringstes Problem. Oder möchtest du mit der Versorgung deiner Verletzungen so lange warten, bis du dich umgezogen hast?“
„Ja, ja, mach du nur deine Witze. Aber ich weiß zufällig genau, dass Stefano Lucarelli schicke, seidene Unterwäsche bei Frauen ganz besonders schätzt.“
„Das heißt noch nicht, dass Mr. Lucarelli die auch bei seinen Patientinnen erwartet“, gab Liv trocken zurück. „Was ist nun – redest du mit Rachel, oder soll ich das tun? Seine Kritik an ihr ist nicht ganz unberechtigt. Sie ist verträumt und öfter mal geistesabwesend. Sie muss noch lernen, sich besser zu konzentrieren.“
„Arme Rachel. Offensichtlich ist sie völlig verunsichert. Ich glaube, ich gehe mal zu ihr und versuche, sie seelisch aufzurichten.“
„Sie braucht keine Seelenmassage, sondern ein deutliches Signal, damit sie endlich aufwacht“, widersprach Liv. „Seit unser italienischer Kollege zum ersten Mal mit seinem Ferrari auf den Parkplatz gefahren ist, lebt Rachel in einer Art Trancezustand. Sie sollte aufhören, ihn unentwegt anzuhimmeln, und sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Dann würde sie nicht so häufig Sachen fallen lassen.“
„Er ist tatsächlich manchmal etwas beängstigend.“
„Er ist ein begnadeter Arzt. Und sehr effizient.“
„Schön zu hören, wie du über ihn denkst. Wenn du ihn so sehr schätzt, solltest du am besten für ihn auf der Notfallstation arbeiten. Dann wären alle Probleme gelöst. Aber waren wir nicht gerade eben dabei, ein ganz anderes Problem zu lösen? Zum Beispiel, was du mit deinen Eintrittskarten für den Schneeflockenball machen willst?“
„Ich werde sie verkaufen. Schließlich habe ich keinen Begleiter, kein geeignetes Kleid, keinen Babysitter und sowieso keine Lust, hinzugehen.“
„Und warum lädst du nicht Stefano Lucarelli ein, mit dir hinzugehen?“
„Um Himmels willen! Bist du noch ganz bei Trost? Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mir von ihm eine Abfuhr zu holen. Und er würde sowieso ablehnen – da bin ich mir sicher.“
„So, wie er dich vorhin die ganze Zeit angesehen hat, bin ich mir überhaupt nicht sicher.“
„Wahrscheinlich hat er sich nur gefragt, warum jemand mit meinen Hüften nicht längst eine Diät gemacht hat.“
„Hör auf, du brauchst keine Diät.“ Anna sah Liv nachdenklich an. „Er hat sich ganz eindeutig für dich interessiert, Liv.“
„Anna, er kam herein, als wir über Sex redeten und uns gerade umarmten. Natürlich hat das sein Interesse geweckt. Nein, nein, du irrst dich gewaltig.“
Anna schüttelte den Kopf. „Nein, du bist im Irrtum. Er ist im Augenblick Single, das weiß ich zufällig. Warum, begreife ich nicht. Er ist ein toller Mann. Und er ist sehr reich. Seine Familie besitzt ein gigantisches Bauunternehmen in Italien. So reich und so gut aussehend – die Gaben sind auf dieser Welt sehr ungerecht verteilt.“
„Anna, du bist eine verheiratete Frau mit zwei Kindern!“
Anna überhörte die Bemerkung. „Er war wohl eine Zeit lang mit einer italienischen Schauspielerin liiert, aber die Beziehung ging in die Brüche, als sie darauf bestand, zu ihm zu ziehen. Er ist jetzt seit gut einem Monat in England. Und wahrscheinlich fühlt er sich einsam, besonders jetzt in der Weihnachtszeit.“
„Er scheint mir kein Mann zu sein, der Hilfe braucht, um eine Frau zu finden, mit der er ausgehen kann“, meinte Liv voller Sarkasmus. „Schluss jetzt mit dieser Debatte. Willst du die Karten für dich und Dave haben – oder soll ich sie verkaufen?“
Rachel stieß die Tür auf und kam in das Schwesternzimmer. Ihr Gesicht war blass. „Die Rettungswagenzentrale hat gerade angerufen, dass sie einen Mann bringen, der einen Unfall beim Rugbyspiel hatte.“ Ihre Stimme klang schrill und zittrig. „Ich kann heute nicht mehr in der Notaufnahme arbeiten, Anna. Dr. Lucarelli war … nun ja … ziemlich schroff zu mir …“
„Ernsthafte Verletzungen?“, wollte Anna wissen.
„Nein, nein, nur mein Stolz. Ich nehme an, er wollte …“
„Ich meinte, ob der Patient ernsthaft verletzt ist“, unterbrach Anna sie barsch. „Außerdem, Rachel, heißt das Mr. Lucarelli, nicht Dr. Lucarelli. Er ist Chirurg – und Chirurgen werden Mr. genannt. Das solltest du eigentlich wissen.“
„Oh, ja, entschuldige.“ Rachel hüstelte nervös. „Der Patient hat einen schweren Tritt abbekommen.“
„Wohin? Wo wurde er getroffen?“
„Er hat wohl Probleme beim Atmen“, sagte Rachel unsicher.
Liv schnaufte und gab Anna den Schlüssel zum Medikamentenschrank. „Ich kümmere mich darum. Dann werde ich der Abteilung Bescheid sagen und Mr. Lucarelli bitten, auf die Notfallstation zu kommen.“
„Ich schicke Sue, damit sie dir helfen kann“, sagte Anna und wandte sich zu Rachel um. „Und wir beide sollten uns mal unterhalten.“
Liv ließ Anna mit der unglücklichen Rachel allein und ging zur Notfallstation. Der große Raum war wie immer tipptopp für die sofortige Aufnahme von Patienten vorbereitet. Liv zog einen sterilen Kittel an und streifte gerade ein Paar Gummihandschuhe über, als Stefano Lucarelli den Raum betrat.
Er sah ihr einen Moment lang direkt in die Augen, sagte aber nichts.
Liv war leicht beunruhigt. Noch nie zuvor hatte sie einen Mann getroffen, der eine so starke, unmittelbare Wirkung auf sie ausübte. Sie fühlte, wie ihr Körper auf ihn reagierte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
Nervös drehte sie sich um, ihr Herz schlug heftig, und ihr Gesicht war rot geworden. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie ihre Emotionen nicht besser unter Kontrolle hatte. Der italienische Chirurg musste es inzwischen satt haben, von Frauen angestarrt zu werden. Das alles kommt nur von dieser idiotischen Unterhaltung mit Anna, dachte sie und nahm aus einem Schrank einen Packen steriler Tücher.
Das Gerede über Sex hatte sie dazu gebracht, über ihr Sexualleben nachzudenken. Und wenn sie daran dachte …
Sie hätte vor Frustration laut aufschreien mögen!
„Die Rettungssanitäter haben berichtet, der Mann leide unter Atemnot“, sagte sie kurz, blickte den Chirurgen aber nicht an. Sie wollte nicht, dass er ihr gerötetes Gesicht sah und daraus seine Schlussfolgerungen zog. „Ich bereite besser alles für eine künstliche Beatmung vor.“
„Gute Idee.“ In seiner Stimme war ein scharfer Unterton. Liv fragte sich, ob sie das nächste Opfer seines schon sprichwörtlichen Perfektionsanspruches sein würde.
Die Tür wurde aufgestoßen, und mit dem Patienten, der auf einer Liege hereingeschoben wurde, kam der Rest des Notfallteams herein.
Schnell und routiniert wurde der Patient auf den Behandlungstisch gelegt, und Stefano Lucarelli trat zu ihm. Mit einem Blick in die Runde brachte er sein Team zum Schweigen.
Er hat Autorität, dachte Liv. Sie verfolgte, wie jedes Mitglied der Crew sich ernsthaft und schweigend darauf konzentrierte, den Erklärungen der Rettungssanitäter zuzuhören.
Phil, der zweite, jüngere Arzt in dem Team, tastete die Vene in der Armbeuge des Patienten ab, um eine Infusionskanüle zu legen.
Liv begann, die Elektroden für die Überwachung des Blutdrucks, Pulsschlags und der Atemfrequenz auf der Brust und an den Armen des Patienten zu befestigen.
Stefano Lucarelli warf einen Blick auf die Monitore, als diese die ersten Messdaten anzeigten. „Phil, leg eine zweite Kanüle, und schicke sofort sein Blut zur Blutgruppenbestimmung ins Labor. Und macht seinen Oberkörper frei.“
Liv folgte unverzüglich seiner Anordnung. Um den Oberkörper des Mannes frei zu machen, musste sie seine Kleidung aufschneiden. Danach legte sie eine vorgewärmte Decke über ihn, um einen Kälteschock zu vermeiden.
„Seine Atemfrequenz ist nur bei achtunddreißig. Er atmet sehr flach“, sagte sie.
„Er zeigt das typische Atemnot-Syndrom.“ Stefano horchte die Brust des Patienten ab. „Seine Lungen arbeiten kaum noch.“ Liv sah aus den Augenwinkeln, dass Phil aufmerksam jede Bewegung des erfahrenen Kollegen beobachtete.
Phil arbeitete seit ein paar Monaten auf der Notfallstation und war bemüht, keine Gelegenheit zu verpassen, etwas dazuzulernen.
Und von Stefano kann er noch eine Menge lernen, dachte Liv, während sie zusah, wie der Chirurg den Patienten schnell und gründlich untersuchte.
„Er hat mehrere Abschürfungen und Quetschungen“, murmelte Liv und zeigte auf die purpurfarbenen Stellen über den Rippen.
„Seine Atemgeräusche sind ziemlich schwach.“ Stefano hängte sich das Stethoskop um den Hals. „Er hat einen Hämothorax, das heißt, eine Blutung behindert massiv seine Lungentätigkeit. Sagt im OP Bescheid, dass er möglicherweise dringend operiert werden muss. Wir werden zuerst einmal damit beginnen, das Blut abzusaugen. Und ich brauche sofort ein Röntgenbild von seiner Lunge.“
Der Radiologe des Teams machte sich unverzüglich an die Arbeit.
Liv staunte, wie präzise und effizient alle in dem Team zusammenwirkten, wie eine einstudierte Balletttruppe.
„Helfen Sie mir mal, Liv“, bat Phil. Er suchte nach einer Vene, die wegen des abgefallenen Blutdrucks kaum zu spüren war. Liv hielt den Arm des Patienten fest. „Gut, das wäre es. Kleben Sie ein Pflaster darüber, damit die Nadel nicht wieder herausrutscht.“ Auf Phils Stirn standen Schweißperlen, und er warf einen unruhigen Blick auf Stefano.
„Habt ihr zwei Kanülen gelegt?“, wollte Stefano wissen.
„Nein, erst eine“, beeilte sich Phil zu sagen. „Seine Venen sind in sich zusammengefallen und kaum zu finden“, klagte er.
„Ich brauche sofort eine zweite Kanüle, sonst kann ich nicht damit beginnen, das Blut aus seiner Lunge abzusaugen.“ Stefano trat an Phils Seite. „Dreh seinen Arm herum. Bene. Gib mir die Kanüle.“ Er streckte die Hand aus, und Liv legte eine Kanüle hinein. Fasziniert sah sie zu, wie Stefano mit einer ruhigen, sicheren Bewegung und offensichtlich ohne jede Anstrengung die Nadel in die Ader schob.
Bei ihm sehen sogar schwierige Dinge ganz einfach aus, dachte sie. Phil dachte offenbar das Gleiche, denn er warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
„Hier haben wir die Röntgenaufnahme“, sagte der Radiologe.
Alle drehten sich herum und starrten auf den Bildschirm.
„Von einer Flüssigkeitsansammlung ist nichts zu sehen“, murmelte Phil.
Stefano trat näher an den Leuchtschirm und studierte das Röntgenbild aufmerksam. „Wenn man einen Patienten im Liegen röntgt, dann befindet sich das Blut unter seiner Lunge. Hier, links und rechts, kann man die Blutung erkennen. Ich fange jetzt mit der Drainage seines Brustraums an.“ Er drehte sich um. „Liv?“
Er kennt meinen Namen?
Liv hatte gerade die zweite Kanüle mit einem Pflaster fixiert. Hatte er doch vorhin mehr von ihrer Unterhaltung mit Anna mitbekommen? Hatte er auch gehört, dass sie seit vier Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte?
„Sue wird Ihnen bei der Drainage zur Hand gehen“, sagte sie schnell und sah aufmunternd zu der Kollegin. „Ein paar sterile Tücher habe ich schon zurechtgelegt.“ Sie drehte sich zu Phil um. „Denken Sie daran, dass er schnellstens eine Bluttransfusion braucht. Und die Blutkonserve muss angewärmt werden.“
„Sue kann Phil helfen. Ich möchte, dass Sie mir assistieren.“ Stefanos entschiedener Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
Liv trat zurück, um Sue ihren Platz neben Phil zu überlassen, und griff nach den sterilen Tüchern. Erstaunt stellte sie fest, dass ihre Hände leicht zitterten. Wie war das möglich? Rachel war völlig entnervt gewesen, weil sie Stefanos hohen Ansprüchen nicht gewachsen war. Aber sie hatte doch überhaupt keinen Grund, nervös zu sein …
Sie beeilte sich, die Kanüle zurechtzulegen, die er benötigte, um das Blut aus dem Brustraum des Patienten abzusaugen. Seine Bewegungen waren so schnell und präzise, dass sie einen Moment lang Panik empfand, weil sie glaubte, nicht mit ihm mithalten zu können. Es war faszinierend und fast erschreckend, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so sicher und unglaublich effektiv arbeitete.
Dann besann sie sich auf ihre eigenen Fähigkeiten und schüttelte die Nervosität ab. Denk nicht so viel über ihn nach, ermahnte sie sich. Denk an deinen Job.
Aber sie konnte den Blick nicht von den schlanken, braun gebrannten Fingern lassen. Jeder Nerv und jeder Muskel ihres Körpers waren angespannt.
Ohne zu zögern, desinfizierte Stefano zuerst die Haut des Patienten und injizierte ein Mittel zur örtlichen Betäubung. Auf seinen Wink hin reichte ihm Liv ein Skalpell und sah zu, wie er geschickt einen Einschnitt zwischen zwei Rippen vornahm.
Er weitete den Einschnitt mit seinem Finger, der in einem sterilen Handschuh steckte, leicht aus. „Ich brauche einen 36F-Drainageschlauch. Halten Sie ihn bereit.“
Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, reichte sie ihm eine schmale Zange, weil sie wusste, dass er sie als Nächstes brauchen würde.
Stefano nahm sie wortlos und begann, den Drainageschlauch vorsichtig in den Einschnitt zu schieben. Dann befestigte er das andere Ende des Schlauches an einer Absaugpumpe.
Er fixierte den Drainageschlauch mit einer Tabaksbeutelnaht und sah dann aufmerksam auf die Monitore. „Ich brauche noch einmal eine Röntgenaufnahme seiner Brust, damit ich die Lage der Drainage kontrollieren kann.“
Der Radiologe kam sofort mit dem fahrbaren Röntgengerät herbei und machte sich an die Arbeit.
Phil warf einen unruhigen Blick auf den Auffangbeutel der Absaugpumpe. „Er verliert eine Menge Blut. Sollten wir den Schlauch nicht mal abklemmen?“
Stefano schüttelte den Kopf. „Das würde die innere Blutung nicht stoppen. Das Blut würde sich nur im Brustraum stauen und seine Atmung noch mehr behindern.“
„Mr. Lucarelli … die Röntgenaufnahme ist auf dem Bildschirm!“, rief der Radiologe.
Liv sah aus dem Augenwinkel, dass die Tür geöffnet wurde und Anna erschien.
„Die Frau des Patienten ist gekommen. Ich habe sie in den Warteraum für Angehörige gesetzt“, sagte Anna. „Könnte jemand zu ihr gehen und mit ihr reden?“
Liv sah zu Stefano, der aufmerksam und voll konzentriert das Röntgenbild studierte. Er ist noch jung, dachte Liv, noch keine vierzig, ziemlich jung für eine so verantwortungsvolle Aufgabe. Und er sah beängstigend attraktiv aus mit seinem ausdrucksvollen Gesicht, den schmalen Hüften und breiten Schultern.
Sie merkte, dass sie ihn anstarrte. Schnell sah sie weg. Ihre Augen trafen sich mit denen von Anna, die vielsagend lächelte. „Aha, hier läuft alles bestens“, flüsterte sie Liv zu.
„Sag der Frau des Patienten, dass in ein paar Minuten jemand kommt und mit ihr spricht“, bat Liv ihre Freundin.
„Wir warten, bis der Spezialist aus der Unfallchirurgie hier ist“, sagte Stefano. „Sobald der Patient stabil ist und wir genau wissen, wie wir ihn behandeln, werde ich mit der Frau sprechen.“
Phil inspizierte den Drainage-Auffangbehälter. „Es hat sich schon fast ein Liter Flüssigkeit angesammelt.“
„Den Blutverlust können wir leicht ausgleichen. Aber es ist wichtig, die innere Blutung zum Stoppen zu bringen.“ Stefano blickte auf, als der Unfallchirurg den Raum betrat.
Die beiden Männer sprachen kurz miteinander, und Liv sah, dass der Kollege Stefano sehr aufmerksam zuhörte. Es war offensichtlich, dass er großen Respekt vor Stefanos Fähigkeiten hatte.
„Ich würde gern vermeiden, eine große Thoraxoperation bei ihm durchzuführen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist“, hörte Liv den Unfallchirurgen sagen.
„Ich habe eine Drainage gelegt, die gut funktioniert“, erklärte Stefano. „Wir müssen versuchen, damit den Blutstau in seinem Brustraum abzuleiten. Wir sollten die Drainage drei bis vier Stunden lang permanent überwachen. Verliert er mehr als 200 bis 250 Kubikzentimeter Blut pro Stunde, muss er operiert werden. Ich werde jetzt mit seiner Frau sprechen. Sie kommen mit mir, Liv.“
Liv blickte überrascht auf. „Ich … ja, natürlich …“ Beinahe hätte sie sich seinen autoritären Ton verbeten, schwieg aber, als er sie ruhig und fest anblickte. „Sie sind eine ausgezeichnete Schwester. Ich möchte, dass Sie mir immer assistieren, wenn ich hier auf der Notfallstation bin.“
„Oh …“ Das Kompliment kam so unerwartet, dass sie rot wurde. Zum Glück schien er keine Antwort zu erwarten, denn er ging eilig zum Warteraum für Angehörige.
Dann winkte er Liv, ihm zu folgen. Er ging zu der Frau, die ihn unsicher und besorgt ansah, und setzte sich neben sie. „Ich heiße Stefano Lucarelli und bin der Arzt, der sich um Ihren Mann kümmert.“
„Ich bin Helen Myers.“
„Das war bestimmt ein Schock für Sie.“ Stefano sprach mit seiner ruhigen, tiefen Stimme auf sie ein. „Entschuldigen Sie, dass ich nicht eher zu Ihnen gekommen bin, aber ich musste erst Ihren Mann versorgen.“
„Natürlich …“ Die Frau stand ganz offensichtlich noch unter Schock. Sie war sehr blass und hatte vom Weinen gerötete Augen. „Wird er … wird er wieder gesund?“
„Er hat einen schweren Tritt in die Rippen bekommen. Dabei wurde auch seine Lunge verletzt.“ In einfachen, verständlichen Worten schilderte Stefano der Frau, wie es um ihren Mann stand und welche Behandlung er vorgesehen hatte. „Tim wurde auf die Intensivstation verlegt. Dort wird er permanent überwacht. Und wenn es nötig ist, wird er sofort von unserem Spezialisten operiert.“
Tim? Liv blinzelte überrascht. Sie hatte nicht vermutet, dass er sogar den Vornamen seines Patienten kannte.
„Oh, mein Gott, wie konnte das nur passieren? Beim Mittagessen hatten wir noch über unsere Pläne für Weihnachten gesprochen. Wir wollten mit unseren beiden Töchtern eine Reise nach Lappland machen.“ Sie verzog das Gesicht und begann zu weinen. „Entschuldigen Sie“, stammelte sie, „aber ich kann es immer noch nicht begreifen.“
Liv setzte sich auf der anderen Seite neben Mrs. Myers und reichte ihr eine Box Papiertaschentücher. Sie hatte erwartet, dass Stefano sich bald zurückziehen würde, wie das Ärzte normalerweise machten, aber er blieb sitzen, zog ein Taschentuch aus der Box und reichte es Mrs. Myers.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich weiß, wie schwer das für Sie ist. Sie sagten, dass Sie zwei Töchter haben. Wer kümmert sich jetzt um sie?“
„Meine Mutter.“ Mrs. Myers wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich habe sie gleich angerufen, als ich die Nachricht von Tims Unfall erhielt. Ich wollte die beiden Kinder nicht mit herbringen. Aber ich möchte Sie nicht länger aufhalten, Herr Doktor. Sie sind bestimmt sehr beschäftigt und haben Wichtigeres zu tun, als mir zuzuhören.“
„Im Moment gibt es für mich nichts Wichtigeres, als mit Ihnen zu sprechen“, sagte Stefano beruhigend. Er sah sie fragend an. „Haben Sie sonst noch eine Frage?“
„Ich möchte natürlich wissen, ob er wieder ganz gesund wird, aber das können Sie jetzt bestimmt noch nicht sagen, oder?“
„Nein, das kann ich tatsächlich noch nicht“, sagte Stefano ehrlich. „In ein paar Stunden kann Ihnen der Kollege auf der Intensivstation diese Frage besser beantworten.“
Er ist gut, wirklich gut, dachte Liv. Er war ehrlich und überzeugend, erweckte keine falschen Hoffnungen und drückte sich nicht vor den Problemen der betroffenen Angehörigen.
„Schwester Liv wird bei Ihnen bleiben und nachher auf der Intensivstation anrufen, ob Sie Ihren Mann sehen können.“
„Sobald es möglich ist, bringe ich Sie zu ihm“, meinte Liv. Die Frau sah sie dankbar an. „Das ist sehr nett … Sie sind beide sehr nett zu mir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Männer! Warum müssen sie auch so einen gefährlichen Sport treiben?“
Stefano stand auf, und um seinen Mund spielte ein ironisches Lächeln. „Der Mann, das unbekannte Wesen. Das muss am Testosteronspiegel liegen.“ Plötzlich erschien Stefano ihr sehr italienisch, und Liv verspürte ein Kribbeln am ganzen Körper.
„Mum, können wir dieses Jahr einen richtig großen Weihnachtsbaum haben? Einen, der bis zur Decke reicht?“
„Aber sicher.“ Liv versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ein „richtig großer“ Baum kosten würde. Vielleicht konnte sie mit dem Verkäufer handeln, wenn sie den Baum erst kurz vor Heiligabend kaufte. „Wie war es heute in der Schule?“
„Gut. Können wir den Baum schon am Wochenende kaufen?“ Max kletterte auf einen Stuhl und breitete seine Spielsachen auf dem Küchentisch aus. „Dann haben wir viel länger Freude daran.“
„Es ist doch erst Anfang Dezember. Wenn wir jetzt schon einen Baum anschaffen, verliert er bis Weihnachten seine Nadeln.“
„Aber Sams Eltern holen ihren Weihnachtsbaum auch schon am Wochenende. Warum wir nicht? Bitte, Mum.“
Max’ Blick strahlte so viel Vorfreude aus, dass es Liv einen Stich gab. „Mal sehen“, sagte sie vage. Nachher, wenn Max schlief, würde sie Papier und Bleistift zur Hand nehmen und Kassensturz machen. „Ich habe dich lieb. Habe ich dir das schon gesagt?“
„Jeden Tag, Mum.“
„Ist es dir zu viel?“
„Nein, überhaupt nicht.“ Max griff nach einem großen Plastiksaurier. „Ich habe dich auch lieb. Heute hat es übrigens wieder etwas geschneit. Ich hätte gern viel, viel mehr Schnee. Wäre das nicht toll?“
Liv war nicht so angetan von viel Schnee in der Stadt, aber sie wollte Max’ Begeisterung nicht schmälern. „Ja, das wäre fantastisch.“
„Ben hat sich gestern ein Bein gebrochen. Er musste ins Krankenhaus, da haben sie ihm einen Gipsverband und ein Paar Krücken gegeben. Ich habe ihm gesagt, dass du auch im Krankenhaus arbeitest, aber er meinte, er habe dich nicht gesehen. Musst du über Weihnachten wieder arbeiten?“
Liv hatte ein schlechtes Gewissen. In den letzten Jahren hatte sie sich freiwillig für den Weihnachtsdienst gemeldet, weil die Bezahlung sehr gut war. Aber sie hatte nicht bei Max sein können.
„Dieses Jahr arbeite ich nicht an den Festtagen“, beruhigte sie ihren Sohn. „Ich habe ein paar Resturlaubstage und nehme mir über Weihnachten fast eine ganze Woche frei. Nur an Silvester habe ich Dienst, aber Spätdienst, wenn du längst im Bett bist.“
„Kann ich dann vielleicht bei Sam schlafen?“
„Vielleicht. Aber da muss ich erst Anna fragen.“ Liv setzte Teewasser auf. Sie fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn sie nicht eine Freundin und Kollegin mit einem Sohn im gleichen Alter wie Max hätte.
„Cool! Ich mag gern bei Sam schlafen.“ Er schaute sie mit leuchtenden Augen an. „Weißt du, was das Tollste an Sams Haus ist?“
Nein, das wusste sie nicht. Wenn sie allerdings ihre bescheidene, winzige Wohnung mit Annas Haus mit den fünf Schlafzimmern, drei Bädern und dem großen Garten verglich, fühlte sie sich beschämt.
Sie merkte, dass Max sie fragend ansah. „Also, was ist das Beste an Sams Haus?“
„Sein Meerschweinchen. Es heißt Rambo. Und es ist so süß.“
Liv lachte, beugte sich vor und gab ihrem Sohn einen Kuss. Ihm hatte also das Meerschweinchen imponiert – und nicht die fünf Schlafzimmer.
Ihr Blick fiel auf einen nassen Fleck an der Wand der Küche. Sie würde die Stelle mal wieder überstreichen müssen. Aber erst im Frühjahr, denn jetzt in der kalten und nassen Jahreszeit kam der Fleck immer wieder durch.
Plötzlich wünschte sie sich, es würde ein Wunder geschehen und sie könnte die Welt für sich und ihren Sohn perfekt machen. Niemand hatte ihr vorher gesagt, wie viele Schuldgefühle und Sorgen eine alleinerziehende Mutter hatte.
Sie warf einen Blick auf ihren Sohn, der begeistert mit seinem Spielzeug Fantasiewelten aufbaute. Er war so fröhlich, so ausgeglichen, so zufrieden. Sie brauchte sich keine Sorgen um ihn zu machen.
Alles war in Ordnung.
Max hob den Kopf und sah Liv an. „Weißt du, dass Sams Vater ihm ein Fußballtor schenkt? Es wird im Garten aufgestellt, dann kann Sam Tore schießen üben. Ist das nicht toll? Ein großes Tor mit einem weißen Netz. Ich habe ein Foto davon gesehen. Können wir nicht auch ein Tor haben?“
„Nicht in einer Wohnung im 4. Stock.“ Wieder nagten Schuldgefühle an ihr. Max war ein Junge, er brauchte einen Garten, wo er herumtoben und Fußball spielen konnte, ohne dass sie mit ihm in den Park gehen musste.
„Wenn wir das Geld hätten, würdest du dann so ein Haus kaufen?“, wollte Max wissen. „Ich habe gehört, wie du zu Anna gesagt hast, wenn du auch so ein großes Badezimmer hättest wie sie, dann würdest du den ganzen Tag in der Wanne liegen. Warum liegst du nicht in deiner Wanne hier?“
Weil die Kacheln zersprungen sind und es durch die Fensterritzen zieht, dachte Liv. „Weil ich arbeiten muss. Das habe ich dir doch schon erklärt. Damit verdiene ich das Geld für uns beide.“ Liv griff nach dem Gemüsekorb. „Schluss jetzt mit der Diskussion. Sonst ist das Abendessen noch nicht fertig, wenn du ins Bett musst.“
Max begann mit dem Dinosaurier, den er in der Hand hielt, eine Attacke gegen die anderen Spielzeugtiere, sodass mehrere vom Küchentisch auf den Fußboden purzelten. „Warum spielst du nicht Lotto?“
„Das ist weggeworfenes Geld. Die Chance, zu gewinnen, ist winzig klein.“
„Du könntest doch heiraten. Emmas Mutter hat auch wieder geheiratet, und jetzt hat sie jede Menge Geld, denn ihr Mann ist stinkreich.“
Liv schnappte empört nach Luft. „Woher hast du diesen Ausdruck?“
„Das hat Emma gesagt.“ Max schaute seine Mutter unsicher an. „Darf man das nicht sagen?“
„Es ist keine nette Bemerkung.“ Liv dachte an die Unterhaltung mit Anna am Morgen, aber sie verdrängte gleich wieder den Namen Stefano Lucarelli aus ihrem Kopf. „Außerdem zählt nicht, wie viel Geld jemand hat, sondern ob er nett ist.“
„Emmas Mutter hat zweimal geheiratet, und du nur einmal. Wieso?“
„Das ist kein Wettbewerb, mein Schatz.“
„Warum bist du nicht mehr verheiratet?“
Liv schloss für einen Moment die Augen. Warum stellte er immer solche Fragen, wenn sie zu müde war, um eine kluge Antwort zu geben? „Darüber haben wir doch schon gesprochen, Max. Manchmal verstehen sich Menschen nicht mehr, ohne dass einer von ihnen die Schuld hat.“ An meiner gescheiterten Ehe bin ich allerdings selbst schuld, dachte Liv. Offensichtlich war sie für Jack nicht aufregend genug gewesen. Sie wischte sich die Augen trocken. Es muss an der Zwiebel liegen, die ich gerade schneide, dass meine Augen feucht geworden sind, redete sie sich ein.
„Du solltest wirklich wieder heiraten“, meinte Max altklug und nickte gewichtig. „Mir sagst du, ich soll es immer und immer wieder versuchen, wenn etwas nicht sofort klappt. Aber du selbst versuchst es erst gar nicht.“
„Das Essen ist gleich fertig“, wechselte Liv schnell das Thema. „Übrigens – heiraten ist nichts, was man mal einfach so versuchen kann. Dazu müsste ich wissen, dass ein Mann mich wirklich sehr lieb hat. Und dich natürlich auch, denn du bist ein ganz besonderer Junge.“
„Du bist auch eine ganz besondere Mum.“ Max strahlte sie an. „Ich kenne keine andere Frau, die Fußball und Autos mag. Und keiner macht so leckere Pizza wie du. Alle meine Freunde finden dich cool.“
„Nun, für ein paar Siebenjährige bin ich vielleicht cool.“ Aber die Männer in meinem Alter haben da andere Ansichten, dachte sie. Die wollen eine Frau, die sexy und verführerisch ist. Für die bin ich viel zu normal …
Liv verlor sich einen Augenblick in ihren Gedanken. Sie blickte aus dem Fenster auf das Haus gegenüber. In einer der Wohnungen setzten sich gerade ein Mann und eine Frau und ihre beiden lebhaften Kinder zum Abendessen an den Tisch.
Sie sah zu Max. Zu ihrem kleinen Sohn, der so sehr einen liebevollen Vater gebraucht hätte, der mit ihm Fußball spielte und kleine Abenteuer mit ihm erlebte.
Verdammt – warum hatte sich Jack als so ein unzuverlässiger Frauenheld erwiesen? Warum musste Max darunter leiden, dass sein Vater nicht erwachsen genug gewesen war, um sich seiner Verantwortung zu stellen?
Schluss mit den trüben Gedanken über die Vergangenheit! ermahnte sie sich.
„Wir können am Wochenende Fußball spielen im Park, wenn du willst.“
„Cool. Ich darf am Freitag in der Schulmannschaft mitspielen. Eigentlich sollte Ben spielen, aber er kann nicht.“
Liv strahlte Max an. „Das ist ja fantastisch. Warum sagst du mir das erst jetzt?“
Er sah sie nachdenklich an und zuckte mit seinen schmalen Schultern. „Ich wusste doch, dass du nicht kommen kannst, weil du arbeiten musst.“
Liv schluckte heftig. „Max …“
„Schon gut, Mum. Wir beide sind ein Team. Du gehst arbeiten – und ich gehe zur Schule.“
„Aber am Freitagnachmittag werde ich nicht arbeiten. Da nehme ich frei.“
„Wirklich?“
Sie wusste noch nicht, wie sie das machen sollte, aber irgendwie würde sie sich an dem Nachmittag freimachen. Sie würde zu dem Spiel ihres Sohnes gehen. „Um wie viel Uhr fängt es an?“
„Um zwei Uhr.“
„Ich werde pünktlich dort sein.“ Wie, das wusste sie noch nicht. Aber sie würde auf dem Schulsportplatz erscheinen, und wenn sie das den Job kostete.
Plötzlich spürte sie, wie müde sie nach dem langen Tag war. Um fünf Uhr war sie am Morgen aufgestanden. Und wenn sie einen Blick auf den Stapel Wäsche warf, der in die Waschmaschine musste, und auf Max’ Hemden, die zu bügeln waren, dann war ihr klar, dass sie nicht vor Mitternacht ins Bett kommen würde.
Ein Hoch auf die alleinerziehenden Mütter!
Am nächsten Morgen schneite es, und die Temperatur war stark gefallen.
„Isabella? Tutto bene?“ Stefano brachte seinen Ferrari auf dem Parkplatz der Klinik zum Stehen, um die Nachricht auf der Mailbox seines Handys zu beantworten. Der Wind trieb den Schnee durch die Straßen, und der Asphalt war vereist. Den Tag über würde ihm in der Notfallabteilung keine Minute Zeit bleiben, also war es besser, wenn er jetzt telefonierte. „Du hast mich angerufen?“
„Jeden Tag in den letzten beiden Wochen“, explodierte seine Schwester auf Italienisch. „Wo hast du gesteckt? Du rufst nicht an, du kommst nicht nach Hause – du hast deine Familie anscheinend vergessen. Bedeuten wir dir denn gar nichts mehr? Du bist herzlos, Stefano.“
„So einen Kommentar würde ich von meiner Freundin erwarten, aber nicht von meiner kleinen Schwester.“ Stefano stieg aus dem Wagen und lief zum Eingang der Klinik. Sein langer Cashmeremantel wärmte ihn. Er musste über die Aufregung seiner Schwester lächeln. „Warum bist du noch zu Hause? Um diese Zeit müsstest du deine Kinder in die Schule bringen.“
Wie er erwartet hatte, schnaubte Isabella vor Empörung. „Ich habe sie natürlich eben zur Schule gebracht und bin jetzt auf dem Weg ins Büro. Erinnerst du dich überhaupt noch an das Familienunternehmen, dem du den Rücken gekehrt hast, um in der Fremde Doktor zu spielen und dich mit Schauspielerinnen zu verabreden, die so dünn sind wie Spaghetti und ein Gehirn haben, kleiner als ein Stück Ravioli? Ich gebe mir wenigstens Mühe, Papa bei Laune zu halten“
Die Unterhaltung begann Stefano zu langweilen. Er stieß die Schwingtür zur Notfallabteilung auf. „Hast du mich angerufen, um über meinen Beruf als Arzt zu diskutieren – oder über meine Frauenbekanntschaften?“
„Nein, weil du trotz deiner vielen Fehler mein Bruder bist, und außerdem jemand, den man wie alle Männer ab und zu an seine Familienpflichten erinnern muss. Wann hast du Papa zum letzten Mal angerufen?“
Stefano ging den Korridor entlang zu seinem Zimmer. „Es gab nichts Neues, das ich ihm hätte erzählen können.“
„Neues? Was soll das heißen?“ Isabella gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen. „Er will nichts Neues von dir erfahren, sondern nur mal wieder deine Stimme hören.“
„Typisch Frau, nichts zu sagen zu haben, aber reden wollen“, sagte Stefano anzüglich. „Außerdem bin ich sehr beschäftigt.“
„Nun, die Zeit für einen Anruf wirst du ja noch aufbringen können. Und sieh zu, dass du auf jeden Fall Weihnachten zu Hause bist. Wir sind ab dem 23. Dezember in Cortina.“
Stefano wusste, was ihn da erwartete. Eine laute, ausgelassene Schar von Familienangehörigen und Freunden, die das geräumige Chalet der Familie in dem bekannten Wintersportort Cortina d’Ampezzo in den italienischen Dolomiten mit quirligem Leben füllen würde.
„Isabella …“
Sie unterbrach ihn. „Ich weiß, du hast viel zu tun. Aber mal hat auch die Familie Vorrang, Stefano. Du musst einfach kommen …“
„Ich werde kommen, aber ich weiß noch nicht genau, wann und für wie lange.“ Kommt darauf an, wie lange ich die Familie ertragen kann, dachte er.
„Eine Menge Freunde werden auch da sein“, meinte Isabella mit einem gewissen Unterton in der Stimme. „Auch die hübsche Donatella. Sie ist immer noch ledig.“
„Die ist ja fast noch ein Kind.“
Isabella lachte. „Sie wird bald einundzwanzig, ist also kein Kind mehr. Erinnerst du dich noch an letztes Jahr Weihnachten?“
„Ja, ich erinnere mich genau an Donatellas Push-up-BH und das mehr als großzügige Dekolleté. Ich dachte, Papa bekäme einen Schlaganfall, als er sie sah.“
„Sie hat mir gesagt, dass sie in diesem Jahr beim Weihnachtsessen unbedingt neben dir sitzen möchte.“
„Das ist keine gute Idee. Donatella ist in meiner Gegenwart immer so gehemmt, dass sie kaum ein Wort herausbringt“, protestierte Stefano. „Also vergiss es, Isabella.“
„Sie wäre eine traditionelle italienische Ehefrau, Stefano.“ Er merkte, dass die Unterhaltung Isabella Vergnügen bereitete. „Sie wäre häuslich und würde dir wunderbare Pasta kochen.“
„Unglücklicherweise lege ich mehr Wert auf Frauen, mit denen ich mich intelligent unterhalten kann. Und damit ist Donatella hoffnungslos überfordert.“
Isabella lachte laut auf. „Du bist zu hart. Um ehrlich zu sein, ich begreife nicht, warum sie so in dich verknallt ist. Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie dich zu Tode langweilt.“
Stefano ersparte sich die Antwort.
Isabella seufzte. „Außerdem glaube ich nicht, dass du nur eine Frau suchst, mit der du dich intelligent unterhalten kannst. Mit dieser Schauspielerin, mit der du zuletzt zusammen warst, hast du bestimmt nicht nur geredet.“
Stefano warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich habe jetzt zu tun, Isabella. Ist sonst noch etwas?“
„Nein, ich wollte nur mal wieder deine Stimme hören. Und dir sagen, dass du die Familie und das gemeinsame Weihnachten nicht vergessen darfst.“
Bevor er antworten konnte, unterbrach ihn ein heftiges Klopfen, dann wurde die Tür aufgestoßen. Irritiert sah er Greg Hampton, einen jungen Assistenzarzt, hereinkommen. Stefano runzelte die Stirn. Im Gegensatz zu Phil, dem anderen Assistenzarzt, gefiel ihm Greg Hamptons saloppes Auftreten und seine lässige Art, sich zu kleiden, nicht besonders. „Ciao, Isabella“, sagte er knapp und beendete das Gespräch. „Ja, bitte? Gibt es ein Problem?“, fragte er Greg.
„Könnten Sie einen Blick auf eine Röntgenaufnahme werfen? Haben Sie einen Moment Zeit?“
Stefano nickte und ging zur Tür hinüber. „Was ist das für ein Patient?“
Greg verzog das Gesicht. „Ein schreiendes, ungezogenes kleines Mädchen mit einem gequetschten Finger. Ich habe sofort eine Röntgenaufnahme machen lassen.“
Stefano warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Ihm gefiel der herablassende Ton des jungen Arztes nicht.
Sie kamen im Technikraum an, und Stefano ging gleich zu der Wand mit den Bildschirmen, auf denen die Röntgenaufnahmen der Patienten zu sehen waren. Schon der erste Blick zeigte ihm, dass ein arbeitsreicher Tag vor ihm liegen würde.
Er war noch in Gedanken bei der Unterhaltung mit seiner Schwester, während er das Röntgenbild des gequetschten Fingers näher in Augenschein nahm. Er drückte auf einen Knopf, um das Bild zu zoomen. Wieso mischt sich meine Familie immer in mein Leben ein? fragte er sich. Entweder ging es um sein Liebesleben oder seinen Beruf.
„Der Finger ist nicht gebrochen. Was haben Sie bei der Untersuchung festgestellt?“
„Ich habe sie noch gar nicht untersucht.“
„Sie haben das Mädchen zum Röntgen geschickt, ohne sie vorher zu untersuchen?“ Stefano sah Greg ungläubig an, der leicht zurückzuckte.
„Das Kind war wirklich aufsässig und wollte nicht angefasst werden. Glauben Sie mir, niemand wäre mit diesem Kind fertig geworden … und was die Mutter angeht …“ Er zuckte die Schultern. „Sie ist auch ein Albtraum. Ein Glück, dass ich nicht Kinderarzt geworden bin. Da brauche ich meine Fähigkeiten nicht an hysterische Kinder und Mütter zu verschwenden.“
„Welche Fähigkeiten?“
„Wie bitte?“ Gregs Gesicht gefror. Sein Lächeln wirkte plötzlich gequält.
„Sie sagen, Sie wollen Ihre Fähigkeiten nicht verschwenden, aber ich warte immer noch darauf, dass Sie Ihre Fähigkeiten, auf die Sie so stolz zu sein scheinen, endlich mal unter Beweis stellen, Dr. Hampton. Als Sie entschieden haben, das Kind nicht zu untersuchen, ist Ihnen das nicht gelungen.“
Greg Hampton räusperte sich verlegen. „Ich bin einfach nicht mit dem Kind fertig geworden.“
„Das wollte ich zum Ausdruck bringen.“ Stefano sah, dass der junge Arzt bis unter die Haarwurzeln rot wurde.
„Das Kind ist vollkommen durchgedreht“, versuchte er sich zu verteidigen.
„Dann ist es unser Job, einen Patienten zu beruhigen. Nach sieben Jahren Studium und Praxis sollten Sie gelernt haben, wie man mit Patienten umgeht.“
„Ich habe die Röntgenaufnahme angeordnet“, erwiderte Greg Hampton pikiert.
„Sie haben sie röntgen lassen und hätten sie ohne eingehende Untersuchung wieder weggeschickt? Ich hoffe, Sie haben ein gute Haftpflichtversicherung. Oder einen gewieften Anwalt. Wenn das Ihre Auffassung von medizinischer Arbeit ist, werden Sie beides nötig haben.“
Gregs Gesicht war inzwischen puterrot. „Ich habe angenommen, dass die Röntgenaufnahme mir Klarheit verschaffen würde.“
„Sie sind Arzt, kein Kfz-Mechaniker. Ihre Aufgabe ist es, sich eingehend mit den Patienten zu befassen.“
„Mr. Lucarelli …“
„Und noch eins … in dieser Abteilung werden Sie aufmerksam zuhören, wenn eine Mutter Ihnen etwas über den Zustand ihres Kindes sagen will. Verstanden?“
Greg starrte ihn an. „Ja.“
„Gut. Und jetzt führen Sie mich zu dem Kind.“
Sichtlich eingeschnappt ging Greg Hampton zu einem der Behandlungszimmer. Stefano erwartete, ein weinendes oder zeterndes Kind zu Gesicht zu bekommen, aber als er die Tür öffnete, hörte er das Kind fröhlich lachen.
Liv kniete auf dem Fußboden vor dem Mädchen und unterhielt sich mit dem lächelnden, lebhaften Kind, das an ihren Lippen zu hängen schien. Jedenfalls sah sie die Schwester fasziniert an, und Stefano merkte plötzlich, dass er dasselbe tat.
Er konnte seinen Blick kaum von ihrem Profil und dem aufregenden Mund abwenden, und unwillkürlich verglich er Livs Gesicht mit dem ganz auf Wirkung und sexuelle Ausstrahlung geschminkten Gesicht seiner letzten Freundin Francine.
Stefano war selbst überrascht und fragte sich, wieso er zwei Frauen miteinander verglich, die absolut nichts gemeinsam hatten.
Francine war Schauspielerin und Model, und ihr Aussehen war wichtig für ihren Job. Liv war völlig anders. Sie war nicht schön im gewöhnlichen Sinne. Ihr Mund war etwas zu groß. Aber sie hatte eine Ausstrahlung, die Stefano fesselte. Ihre Augen waren intelligent und fröhlich, und sie strahlte Wärme und Humor aus, wie sie sich mit dem Kind unterhielt.
Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Die Schwesterntracht war nicht zu eng, aber ihre weiblichen Rundungen waren nicht zu übersehen. Er merkte, dass sein Körper sofort und heftig auf den Anblick reagierte. Die unsinnige Unterhaltung mit seiner Schwester vorhin am Telefon war wohl der Grund, warum er während der Arbeit an Sex dachte …
„Du sitzt also neben deiner Freundin Annabelle“, hörte er Liv sagen. Ihre sanfte, warme Stimme klang sehr beruhigend. „Und wer ist dein Lehrer?“
„Eine Lehrerin, Mrs. Grant.“ Das Mädchen lachte Liv an. „Sie trägt ihr Haar in einem Pferdeschwanz, wie du.“
„Das ist während der Arbeit am bequemsten, dann können einem die Haare nicht über die Augen fallen. Und jetzt erzähl mir mal, Bella, was du mit deinem Finger gemacht hast.“
Als Stefano merkte, dass Greg Hampton etwas sagen wollte, brachte er ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Glücklicherweise hatte das Mädchen noch nicht gesehen, das Stefano und Greg in der offenen Tür standen.
„Das ist gestern passiert. Wir übten gerade für das Krippenspiel, da bin ich über ein Schaf gestolpert. Kein richtiges Schaf natürlich, das war Gareth, der sich verkleidet hatte. Ich bin auf meinen Finger gefallen, mit meinem ganzen Gewicht.“
Liv hatte dem Mädchen aufmerksam zugehört und untersuchte nun vorsichtig den Finger.
Stefano musterte sie versonnen. Ihr Haar hatte einen warmen, braunen Kastanienton und glänzte in dem grellen Licht der Deckenstrahler. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber ein paar widerspenstige Locken spielten um ihre Stirn. Stefano, der seit Wochen keine Frau mehr als einmal angesehen hatte, registrierte verblüfft, dass er seinen Blick nicht von ihr wenden konnte. Sie trug keine Spur von Make-up, ihre Wangen zeigten eine frische, natürliche Röte, und ihre Augenbrauen waren dicht und dunkel. Was ihn jedoch am meisten beeindruckte, war die Art und Weise, wie sie sich mit dem Mädchen unterhielt.
Bisher hatte Liv noch nicht bemerkt, dass er in der Tür stand. Ihm fiel die Unterhaltung mit ihrer Kollegin Anna ein, die er am Tag zuvor teilweise mitbekommen hatte.
Warum hatte Anna ihrer Kollegin zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht gewünscht?
Er betrachtete sie aufmerksam. Sie sah nicht wie eine Frau aus, die Probleme damit hatte, einen Liebhaber zu finden.
Warum hatte ihre Kollegin Anna sie tröstend in den Arm genommen? Was stimmte mit ihr nicht?
„Aua, das tut weh“, meinte das kleine Mädchen und zuckte zurück, als Liv ihren Finger bewegte.
„Ich weiß, es tut weh“, sagte Liv mitfühlend. „Wenn das mein Finger wäre, würde ich bestimmt weinen. Du bist sehr tapfer.“
„Ist der Finger gebrochen?“
„Das kann der Doktor, der dich gleich untersuchen wird, erst auf der Röntgenaufnahme sehen.“
Das Mädchen warf einen Blick zur Tür und erstarrte augenblicklich. Sie hatte Greg Hampton dort stehen sehen. „Er soll mich nicht anfassen!“, rief die Kleine und zog mit einem Ruck die Hand zurück.
Stefano wusste, dass er schnell eingreifen musste. Er warf einen unheilvollen Blick auf den jungen Kollegen und eilte zu Liv und dem Mädchen.
„Ciao, cucciola mia“, sagte er freundlich, aber das Mädchen schaute immer noch starr auf den Assistenzarzt. „Ich will ihn nicht als Doktor.“
„Er ist nicht dein Doktor“, beruhigte Stefano sie. Er war sich bewusst, dass seine Größe dem Mädchen Angst einflößen konnte. Deshalb ging er in die Hocke, sodass sein Gesicht mit dem des Mädchens auf gleicher Höhe war. „Du bist also auf der Bühne hingefallen.“
„Ja.“ Das Mädchen wandte den Blick von Greg Hampton ab und schaute Stefano an. „Warum sprichst du so komisch?“
Stefano lächelte. „Weil ich aus Italien komme.“
„Wie die Pizza? Ich liebe Pizza.“
„Ja, wie die Pizza.“ Stefano nahm ihre Hand und sah sich den Finger an. „Welche Sorte Pizza magst du denn besonders gern?“
„Margarita, aber nicht mit zu viel Käse und zu viel Tomaten.“
„Offensichtlich bist du eine junge Dame, die genau weiß, was sie will.“ Stefano ließ ihre Hand los. „Kannst du mir mal zeigen, wie du gefallen bist?“
Das Mädchen streckte die Hand aus und berührte leicht den Fußboden. „So bin ich auf den Finger gefallen.“
Stefano war sich Livs Gegenwart sehr bewusst, aber als er einen kurzen Seitenblick auf sie warf, merkte er, dass sie ihn nicht beachtete, sondern immer noch voll und ganz mit dem Mädchen beschäftigt war.
„Es könnte sich um eine Stauchung des zweiten Gelenkes handeln“, sagte Liv leise.
„Das halte ich auch für wahrscheinlich“, stimmte Stefano ihr zu und sah sie lächelnd an. Aber sie reagierte nicht. Sie richtete sich auf und sagte zu dem Mädchen: „Du musst in den nächsten beiden Wochen sehr vorsichtig mit deinem Finger sein.“
Stefano, der es gewohnt war, dass Frauen den Blickkontakt mit ihm suchten, war einen Moment lang irritiert durch ihr offensichtliches Desinteresse. Gestern während der Arbeit in der Notaufnahme hatte er das Gefühl gehabt, dass ein Funke zwischen ihnen übergesprungen war. Er war sicher gewesen, dass sie dasselbe gespürt hatte, aber das war wohl ein Irrtum gewesen.
Fast hätte er aufgelacht. War er schon so arrogant geworden, dass er es als selbstverständlich voraussetzte, alle Frauen würden ihn anhimmeln?
Die Mutter des kleinen Mädchens reagierte wie die meisten Frauen. Als sie Stefano ansah, weiteten sich ihre Augen. „Sind Sie hier der Chef?“
Stefano ignorierte ihren bewundernden Blick und blieb ganz cool und professionell. „Ihre Tochter muss den Finger eine Zeit lang ruhig halten, sonst kann eine Schädigung des Gelenkes eintreten.“
„Heißt das, ich kann nicht weiter in dem Stück mitspielen?“, erkundigte sich das Mädchen. Sie sah sehr enttäuscht aus.
„Was tust du denn auf der Bühne?“, wollte Stefano wissen.
„Ich bin ein Stern, der herumhüpft, während die Hirten mit den Tieren auf die Bühne kommen.“
„Das kannst du auch mit dem verletzten Finger machen“, beruhigte Stefano sie. „Du musst nur aufpassen, dass du nicht noch einmal irgendwo anstößt. Und nicht ein zweites Mal über ein Schaf stolperst.“
„Ist der Finger nicht gebrochen?“
„Nein, nur verstaucht. Wir werden dafür sorgen, dass du den Finger ruhig hältst.“
„Bekomme ich einen Gips?“
„Das ist nicht nötig. Aber wir werden den verletzten Finger an den heilen Finger daneben anbinden.“ Stefano sah Liv an. „Können Sie das übernehmen?“
Liv nickte. „Natürlich. Ich gehe davon aus, dass Sie sie in zehn Tagen zur Nachuntersuchung sehen wollen.“ Sie schrieb eine Notiz, die sie der Mutter reichte. „Und jetzt mache ich dir den Verband um die beiden Finger, Bella.“
„Ich kenne dich“, sagte die Kleine plötzlich zu Liv. „Du bist die Mutter von Max, oder? Und du heißt Liv …“
Stefano blickte überrascht auf. Sie hatte ein Kind?
Er wusste nicht, worüber er mehr überrascht war – über die Tatsache, dass sie Mutter war, obwohl sie dafür zu jung aussah, oder darüber, dass sie einem anderen Mann gehörte.
Aber wenn sie verheiratet war, warum hatte Anna dann davon gesprochen, dass sie ihr zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht wünschte?
Beunruhigt wegen der Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, erhob er sich. „Wenn Sie mich brauchen, geben Sie mir Bescheid“, sagte er sachlich.
Aber sie schien davon ebenso wenig Notiz zu nehmen wie vorhin von seinem Lächeln. Sie war voll darauf konzentriert, die Finger des Mädchens zu verbinden.
Er sah sich noch einmal kurz um. Liv war gerade dabei, den Verband zu befestigen. Dabei fiel Stefano etwas auf: Sie trug keinen Ehering.
Liv fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Während sie Bellas Mutter noch ein paar Instruktionen gab, dachte sie daran, dass es sie ungeheuer viel Beherrschung gekostet hatte, Seite an Seite mit Stefano Lucarelli zu arbeiten und dabei ganz cool zu bleiben.
Aber irgendwie hatte sie es geschafft, obwohl sie sich jede Sekunde seiner Wirkung auf sie bewusst gewesen war. Jedes Mal, wenn er in der Nähe war, kribbelte ihre Haut, und sie hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.
Da war ein Funke übergesprungen.
Nein, bei ihr hatte es gefunkt. Was er empfand, darüber machte sie sich keine Illusionen. Bei ihr jedenfalls löste er ein ganz unmissverständliches sexuelles Verlangen aus, und das beunruhigte sie.
Das war alles nur Annas Schuld. Wenn sie nicht angefangen hätte, über ihre sexuelle Enthaltsamkeit zu reden, hätte Liv wohl kaum so auf Stefano Lucarelli reagiert.
Oder doch?
Liv seufzte und wusch ihre Hände. Sie dachte an Jack, was sie sonst nach Möglichkeit vermied, aber der Gedanke an ihn erinnerte sie in diesem Moment daran, warum sie sich bewusst für ein Leben als Single entschieden hatte.
Als sie gerade ihren nächsten Patienten hereinrufen wollte, schlüpfte Anna ins Zimmer. Sie zwinkerte Liv vielsagend zu. „Unser verehrter Chefarzt scheint ja eine Menge von dir zu halten …“
„Unsinn, ich mache nur meinen Job. Übrigens – kann ich am Freitagnachmittag zwei Stunden freibekommen? Max spielt in der Fußballmannschaft der Schule mit.“
„Wirklich?“ Anna strahlte. „Das ist ja wundervoll. Ja, nimm dir zwei Stunden frei. Was hältst du davon, wenn ich ihn am Donnerstag mit Sam von der Schule abhole und er bei uns schläft?“
„Das will ich dir nicht zumuten …“
„Du tust mir damit sogar einen Gefallen. Wenn die Jungs zusammen spielen, habe ich endlich Zeit, meine Weihnachtskarten zu schreiben. Dazu bin ich einfach noch nicht gekommen.“
Liv lächelte. „Also gut. Und vielen Dank.“
„Was tut man nicht alles für sein bestes Pferd im Stall? Der gestrenge Chefarzt, vor dem die ganze Abteilung zittert, ist zu dir sanft wie ein Lamm.“ Anna lächelte maliziös. „Heute Morgen kam Stefano zu mir und sagte ohne Umschweife: ‚Wenn ich auf der Notfallstation arbeite, möchte ich, dass Liv mir assistiert.‘ Wie er deinen Namen aussprach, das klang ungeheuer sexy.“
Livs Puls schlug schneller. „Du übertreibst maßlos.“
„Was hast du nur mit ihm angestellt, dass er so viel von dir hält? Das würde ich gern wissen. Im Vergleich zu dir scheint er uns alle für Nieten zu halten.“
„Wir haben gut zusammengearbeitet, das ist alles.“
Anna lächelte vielsagend. „Ihr beide gebt ein hübsches Paar ab. Hast du ihn schon zum Schneeflockenball eingeladen?“
„Nein, das habe ich nicht. Weil ich nämlich gar nicht hingehen werde.“
„Das solltest du aber tun. Und ihn einladen, mit dir zu kommen. Davon könntest du noch deinen Enkeln erzählen.“ Anna blickte sich um, ob sie allein waren. „Eine der Schwestern hat im Internet ein Interview mit einer seiner Exfreundinnen gefunden – einer üppigen Blondine, einer Schauspielerin. Darin hat sie sich geradezu enthusiastisch über seine Fähigkeiten im Bett geäußert. Italienische Männer sind so unglaublich dominant und männlich, hat sie gesagt.“
„Schluss jetzt damit.“ Liv hielt sich die Ohren zu.
„Ich weiß gar nicht, was du hast“, sagte Anna anzüglich. „Wäre es für dich keine aufregende Vorstellung, morgens neben einem Mann wie Stefano wach zu werden?“
„Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Liz schauderte. „Dann wäre es ja hell – und ich hätte niemals den Mut, mich einem Mann bei Tageslicht nackt zu zeigen.“
Anna lachte auf. „Du hast nicht die geringste Ahnung davon, wie attraktiv du bist.“
„O doch. So attraktiv, dass Jack gleich nach der Hochzeit anfing, mit anderen Frauen zu schlafen.“
„Jack war doch nur ein …“ Anna benutzte ein derbes Schimpfwort, das Liv erröten ließ.
„Schäm dich, solche Ausdrücke zu gebrauchen.“
„Ich wollte nur damit sagen, dass er dich unglaublich mies behandelt und dein Selbstvertrauen beschädigt hat. Seinetwegen hast du jetzt Angst vor Männern und verzichtest auf Sex. Tu dir selbst einen Gefallen – lade Stefano ein und warte ab, was passiert.“
„Wahrscheinlich wäre er schockiert und würde ablehnen.“
„Du wagst es ja noch nicht einmal, mit ihm zu flirten – mit dem reichsten und attraktivsten Junggesellen, der dir je über den Weg gelaufen ist. Vielleicht solltest du mal zum Psychiater gehen.“