Tanzende Herzen - Haidee Sirtakis - E-Book

Tanzende Herzen E-Book

Haidee Sirtakis

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Beschreibung

Hanna hatte vor Jahren einen Unfall und sitzt seitdem im Rollstuhl. Als Seminarleiterin ist sie sehr erfolgreich und eigentlich ganz zufrieden, doch ihre beste Freundin Olivia sieht das anders, denn was Hanna noch fehlt, ist eine Liebesbeziehung. Kurzerhand engagiert Olivia eine "Berührerin für behinderte Menschen" für Hanna, die von dieser Idee nicht sehr begeistert ist – aber als sie die "Berührerin" näher kennenlernt, ändert sich das. Nach einigen glücklichen Tagen wird Hanna jedoch jäh aus dem siebten Himmel gerissen, als ihre Geliebte sie plötzlich wutentbrannt verlässt und Hanna die Schuld dafür gibt ...

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Haidee Sirtakis

TANZENDE HERZEN

Roman

© 2018édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-248-0

Coverfoto: © iStock.com/GemaIbarra

1

»Jemand fehlt da«, murmelte Hanna. Noch einmal zählte sie unauffällig die im Raum anwesenden Personen.

Es war die erste Stunde eines neuen Seminars, und das bedeutete, sie war ohnehin ziemlich aufgeregt, auch wenn sie schon seit Jahren Motivations- und Anti-Aggressionsseminare gab. Wenn dann auch noch etwas nicht glattlief, weil beispielsweise eine Person, die sie erwartet hatte, nicht kam und Hanna nicht wissen konnte, ob sie noch kommen würde, steigerte sich diese Aufregung noch.

Sie wusste selbst, dass sie als Seminarleiterin entspannter hätte sein sollen, aber das hatte sie in all den Jahren nicht geschafft. Vielleicht waren ihre Seminare deshalb so erfolgreich. Es wurde niemals Routine, war immer wieder eine neue Herausforderung.

Dass sie viel durchgemacht hatte, sahen andere schon daran, dass sie im Rollstuhl saß. Manchmal sah sie die Überraschung in den Augen der Menschen, wenn sie hereintraten, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass ihre Seminarleiterin behindert sein würde. Oftmals wurde das dann jedoch von einer gewissen Erleichterung abgelöst. Sie würde verstehen.

Mit einem letzten Blick sah Hanna auf die Uhr. Es war Zeit.

»Ich darf Sie ganz herzlich zu diesem Seminar begrüßen«, begann sie mit einem einladenden Lächeln. »Ich weiß, es war ganz sicher nicht leicht für Sie hierherzukommen.« Ihre Augen musterten einen nach dem anderen verständnisvoll. »Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es sich lohnen wird. Manche Probleme sind sichtbar«, sie wies mit einer Hand auf ihren Rollstuhl, »andere nicht so. Das heißt aber nicht, dass sie weniger wichtig sind.« Sie lächelte noch ein wenig mehr. »Ich frage mich zum Beispiel, was Sie gedacht haben, als Sie hier hereingekommen sind und mich gesehen haben.«

Einige der Anwesenden blickten verlegen zur Seite, versuchten den Augenkontakt mit Hanna zu vermeiden, andere jedoch taten genau das Gegenteil, schauten ihr geradezu frech ins Gesicht. So bekam sie schon einen ersten Eindruck, wen sie wie würde behandeln müssen.

»Mein Anblick hat Sie in der einen oder anderen Weise provoziert«, stellte sie fachkundig fest. »Das kann man gar nicht verhindern. Und deshalb führt das auch gleich zu unserem ersten Thema.«

Mit einer praktisch unsichtbaren Bewegung drückte sie auf die Fernbedienung in ihrer Hand, die mit ihrem Laptop verbunden war, und schon beamte es einen Titel an die weiße Wand hinter ihr. Warum lassen wir uns so schnell provozieren? Anti-Aggressionstraining mit Hanna Freivogel.

»Ich fühle mich nicht von Ihnen provoziert«, bemerkte ein Teilnehmer sofort. »Kann ich jetzt wieder gehen?« Er lachte und blickte um Aufmerksamkeit heischend in die Runde.

Einige der anderen lachten mit ihm, andere blickten ihn geradezu strafend an. Vielleicht hatten sie dieselbe Idee gehabt, wollten es aber nicht zugeben.

»Sie können jederzeit gehen.« Hanna blickte ihm offen ins Gesicht. »Das ist kein Gefängnis hier. Aber ich verspreche Ihnen: Sie verpassen was.« Ihre Augen blitzten schelmisch, als sie hinzufügte: »Und wollen Sie nicht vielleicht wissen, was Sie verpassen?«

Nun lachten die meisten. Der junge Mann, der sich durch seine Bemerkung Hanna gegenüber hatte produzieren wollen, verzog jedoch nur das Gesicht.

»Ich heiße Freivogel«, fuhr Hanna vergnügt fort, »und deshalb bitte ich Sie, sich ebenfalls frei wie ein Vogel zu fühlen. Das wird zu den besten Ergebnissen führen. Zwang und Druck führen genau zu dem, was wir hier alle loswerden wollen: zu Aggressionen.«

Nun konnte sich kaum jemand im Raum mehr dagegen wehren zu nicken. Sie alle wussten offensichtlich, wovon Hanna sprach.

In diesem Moment wurde von außen energisch die Tür aufgerissen. »Miércoles! Mist aber auch. Warum nur muss ich so einen doofen, saublöden Kurs besuchen?« Eine Frau ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss knallen, bevor sie bemerkte, dass der Raum voller Leute war, die sie alle anstarrten.

Eine Sekunde lang herrschte absolute Stille, bevor Hanna freundlich sagte: »Sie müssen Frau Gonzales sein. Sie sind die Letzte auf meiner Liste, die noch fehlt.«

»Ja . . . ähm.« Dunkle Augen blickten Hanna an, glitten über ihren Rollstuhl. »Das bin ich. Emilia Gonzales.«

»Der Rollstuhl war gerade schon unser Thema«, erklärte Hanna zuvorkommend. »Fühlen Sie sich durch mich provoziert? Oder durch meinen Rollstuhl?«

»Wie? Was? Nein, natürlich nicht.« Emilias schwarze Augenbrauen zogen sich zusammen. »Warum sollte ich?«

»Dann wollten Sie also uns provozieren? Durch Ihren Auftritt eben?«, fragte Hanna.

Verdutzt starrte Emilia sie an. »Nein, ich . . . ich habe mich nur darüber geärgert . . .« Sie holte tief Luft. »Ich bin zu spät. Wegen so einem boludo, so einem Hohlkopf bin ich zu spät.« Theatralisch warf sie die Hände in die Höhe.

»Das ist wahr«, bestätigte Hanna. »Sie sind zu spät. Weshalb Sie das Seminar nun gestört haben. Würden Sie uns vielleicht jetzt erlauben weiterzumachen? Möglicherweise ist das ja auch für Sie nützlich.«

Emilia sah immer noch etwas verdattert aus, zog sich dann aber einen Stuhl heran und setzte sich.

»Sehen Sie?«, fuhr Hanna nun wieder an alle gewandt fort. »Provokationen lassen sich oft gar nicht vermeiden. Sie überfallen uns manchmal genauso überraschend wie Frau Gonzales hier«, besänftigend lächelte sie Emilia an, »ohne dass wir etwas dagegen tun können.« Ihr Blick verharrte noch einen Moment auf der attraktiven Südländerin mit der olivfarbenen Haut. »Und genauso unvermeidlich war es wohl, dass dieser Hohlkopf, wie Sie ihn nannten, Sie aufgehalten hat. Deshalb sollten Sie sich jetzt nicht mehr darüber ärgern.«

»Sie haben gut reden«, murmelte Emilia mehr als sie sprach.

Dennoch hatte Hanna es verstanden. »Glauben Sie wirklich?«, fragte sie zurück. Langsam rollte sie auf Emilia zu. »Denken Sie nicht, dass ich einiges habe, worüber ich mich ärgern könnte?«

Da Hanna mit ihrem Rollstuhl direkt vor ihr stehengeblieben war, hatte Emilia kaum eine andere Wahl als sie anzusehen. Sie hob den Blick, und erneut wurde er von den Rädern und dem Gestell abgelenkt, das Hannas Beine ersetzen musste. »Das . . . ähm . . . ja . . . sicher«, erwiderte sie undeutlich.

»Ich will damit nicht sagen, dass dein Ärger weniger wert ist als meiner.« Wieder lächelte Hanna sie an. Dann hob sie den Kopf und sprach lauter in den Raum hinein. »Gerade merke ich, dass ich noch etwas vergessen habe. Im Allgemeinen schlage ich immer vor, dass wir uns in meinen Seminaren duzen. Wenn das für alle in Ordnung ist.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich von allen Seiten.

»Für dich auch, Emilia?«, fragte Hanna noch einmal nach und ließ ihren Blick sinken, um Emilia wieder anschauen zu können.

Wunderschöne dunkelbraune Augen wagten sich langsam hinter den schulterlangen, ebenso dunklen Haaren hervor, die sie bislang verdeckt hatten, weil Emilia sie wie einen Vorhang nach vorn hatte fallen lassen.

Kurz stutzte Hanna. Puh, was für Augen. Funkelnd wie Edelsteine und voller Energie. Fast musste sie innerlich lachen. Ja, die Energie hatten sie alle schon bei ihrem ersten Auftritt gespürt.

Emilia schluckte. »Ja . . . ja. Ist okay.«

»Dann wollen wir mal weitermachen«, kündigte Hanna an, verabschiedete sich von Emilia mit einem Nicken, drehte ihren Rollstuhl um und rollte auf ihren Platz neben dem Laptop zurück. »Das war jetzt wirklich ein gutes Beispiel für Aggressionen, die durch Provokationen ausgelöst werden«, fuhr sie währenddessen fort. »Wir ärgern uns über irgendeinen Hohlkopf –«

»Ha!«

Mit einem fragenden Blick drehte Hanna ihren Rollstuhl so, dass sie in die Richtung blickte, aus der dieser Ausbruch gekommen war. Da folgte noch ein Fluch, und eine Tasche wurde mit einem lauten Knall auf den Tisch geworfen. Wer anders konnte das sein als Emilia?

»Erst einmal tief durchatmen und ankommen, Emilia.« Hanna schenkte Emilia einen sanften Blick. »Lass dir von diesem Hohlkopf doch nicht den Tag verderben. Das schadet nur dir selbst. Ihm ist das völlig egal. Wahrscheinlich hat er es längst vergessen.«

»Ja, wahrscheinlich!« Emilia warf aufstöhnend den Kopf in den Nacken. »Und ich soll mich jetzt einfach so beruhigen? Du hast doch keine Ahnung!« Ihre dunklen Augen schossen selbst durch den ganzen Raum Blitze auf Hanna.

Was für eine Frau, dachte Hanna und fühlte sich wie bei etwas Verbotenem ertappt. Auf eine gewisse Art war es das wohl auch. Schließlich war Emilia eine Seminarteilnehmerin und sie selbst die Seminarleiterin. Da sollte sie mehr Distanz bewahren.

Und doch konnte sie sich nicht ganz von Emilias Anblick losreißen. Wie war das noch mal mit den Provokationen? dachte sie innerlich über sich selbst den Kopf schüttelnd. Sie mag ein Traum von einer Frau sein, aber das hat mich im Moment nicht zu interessieren. Sonst könnte das zum Alptraum werden.

Es schien, als würde gerade ein Vulkanausbruch in Emilia toben. Ihr ganzer Körper zitterte, weil sie ihn zu unterdrücken versuchte.

»Das denken wir immer«, bemerkte Hanna ruhig. »Dass die anderen von dem, was in uns vorgeht, keine Ahnung haben. Aber wie sollen sie das, wenn wir es ihnen nicht sagen? Niemand kann Gedankenlesen.« Sie beugte sich leicht in ihrem Rollstuhl vor. »Also sag mir doch: Wovon habe ich keine Ahnung?«

Abwartend lehnte sie sich zurück. In so einer Situation war der einzige Weg, ganz ruhig zu bleiben. Ruhe war stets das oberste Gebot. Die anderen kommen lassen. Ihnen die Chance geben, das herauszulassen, was sie bedrückte.

»Ich bin nicht freiwillig hier.« Emilias Backenzähne mahlten. »Das doofe Jobcenter hat mich zu diesem Seminar verdonnert.«

Hannas Mundwinkel zuckten. »Das trifft wahrscheinlich für einige hier zu.« Sie blickte sich um, und ein paar der Anwesenden nickten. »Trotzdem scheint sich keiner so sehr darüber aufzuregen wie du.«

»Jaja! Ich bin mal wieder an allem schuld!« Emilia sprang auf und starrte Hanna mit glühenden Augen an.

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Hanna.

»Aber gedacht!«, schnappte Emilia. »Das war doch die pure Rache!« Ihre Hand schlug wild durch die Luft. »Nur weil ich dieser blöden Tussi vom Amt die Meinung gesagt habe!«

Hanna hob die Augenbrauen. »Provokationen funktionieren in beide Richtungen. Und wir wissen glaube ich alle«, sie schaute sich schmunzelnd im Seminarraum um, »dass Behörden da extrem humorlos sein können.«

Ein mehr oder weniger unterdrücktes Lachen füllte den Raum. Es gab wohl kaum jemanden, der damit noch keine Erfahrungen gemacht hatte.

»Und als ob das nicht genug wäre, hat mich vorhin auch noch ein Auto gerammt.« Es war, als hätte Emilia gar nicht gehört, was Hanna gesagt hatte. »Einfach abgeschossen.« Ihre Augen glühten fast noch mehr. »So ein Vollidiot ist mir hinten in mein Auto gefahren.« Wild wirbelte sie mit den Händen durch die Luft. »Verstehst du? Ist doch alles nur eine große Kacke. Que mierda.« Wütend ließ sie sich auf ihren Stuhl zurückfallen.

»Mierda.« Hanna lachte. »Ist es nicht wunderbar, wie sich das anhört? Obwohl es etwas bezeichnet, was gar nicht wunderbar ist. Südländische Sprachen klingen einfach immer wie Musik.«

»Was soll das denn jetzt?«, grummelte Emilia. »Machst du dich über meine Sprache lustig?«

»Nein, gar nicht.« Verneinend schüttelte Hanna den Kopf. »Ich liebe Spanisch.«

»Schön für dich.« Emilia kochte immer noch. »In der Zeit jetzt könnte ich wenigstens den Papierkram erledigen, den ich wegen dem Unfall auch noch am Hals habe. Aber stattdessen sitze ich hier herum. Als ob ich sonst nichts zu tun hätte!«

»Stimmt.« Hanna nickte. »Das ist alles nur vergeudete Zeit hier. Du hast ja kein Problem damit, dich nicht provozieren zu lassen.«

Plötzlich sprachlos starrte Emilia sie an.

»Sieh es doch mal positiv«, fuhr Hanna besänftigend fort. »Ist bei dem Unfall irgendwas passiert? Hast du Schmerzen?«

»Nein.« Langsam schüttelte Emilia den Kopf. »Mir geht’s gut. Ich bin okay.«

»Also nur Blechschaden?«, hakte Hanna nach.

»Nur . . .« Emilia verzog die Lippen. »Totalschaden. Alles kaputt.«

»Dein Auto. Aber nicht du«, erinnerte Hanna sie. »Ist das nicht eine gute Nachricht?« Unwillkürlich glitt ihr Blick über ihre eigenen Beine im Rollstuhl.

Emilias Unterkiefer klappte nach unten. »Tut . . . tut mir leid«, flüsterte sie und schluckte. »Entschuldige bitte.«

»Du musst dich nicht bei mir entschuldigen. Du hast mir ja nichts getan«, entgegnete Hanna nüchtern. »Aber manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ja, es ist schlimm, wenn ein Tag so verläuft wie deiner. Und dann kommt noch etwas hinzu und noch etwas. Es ist ganz normal, dass man dann irgendwann explodiert.«

Schief verzog Emilia einen Mundwinkel. »Findest du?«

»Ja, finde ich. Das kann ich gut verstehen.« Mitfühlend lächelte Hanna sie an. »Aber gerade deshalb brauchen wir Werkzeuge, um mit unserer Frustration, mit unseren Enttäuschungen, mit dem allen, was manchmal über uns hereinbricht, umgehen zu können. Du sagst, du verschwendest hier deine Zeit.« Ohne dass sie es merkte, versanken ihre Augen in denen von Emilia, als wäre da etwas, das sie unwiderstehlich anziehen würde. »Aber was würdest du jetzt stattdessen tun? Denkst du wirklich, dass du etwas Sinnvolles tun könntest, so aufgeregt, wie du bist? Du würdest selbst beim Ausfüllen der Formulare Fehler machen, und dann würdest du dich noch mehr ärgern.«

Emilia konnte sich sichtlich ebenso wenig von Hannas Augen losreißen wie umgekehrt. Immer noch lag ein leises Glühen in ihnen, und für einen Moment konnte sie anscheinend nicht antworten. »Ja, wahrscheinlich würde ich das«, murmelte sie dann.

»Siehst du?« Hanna fühlte Verlegenheit in sich aufsteigen. Schnell nutzte sie eine Bewegung ihres Rollstuhls, um die Verbindung, die sich auf einmal ganz unerwartet zwischen ihnen ergeben hatte, aufzulösen. »Und das gilt für uns alle«, fuhr sie so sachlich wie möglich fort. Wie viele Minuten waren das, die ich sie angesehen habe? dachte sie verwirrt. Hat das irgendjemand mitgekriegt? Sie versuchte ihre Nervosität zu unterdrücken. »Wir steigern uns oft selbst in etwas hinein, obwohl die Provokation bereits vergangen ist«, setzte sie noch erklärend hinzu.

»Vergangen ist gut«, schnaubte Emilia. »Das wird mich noch eine Weile beschäftigen. Oder kann ich das hier erledigen, im Seminar? Dann ist es vielleicht keine so große Zeitverschwendung.«

»Manchmal kann man Zeit sparen, indem man Zeit investiert.« Ein harter Brocken, wirklich, musste Hanna innerlich seufzend zugeben, während sie nach außen hin eine professionelle Entschlossenheit zeigte, freundlich, aber bestimmt. »Dafür sind wir hier.«

»Das heißt also, ich kann das nicht hier machen.« Grimmig presste Emilia die Lippen zusammen, griff wütend nach ihrer Tasche und marschierte, schnaubend wie ein Pferd, in Richtung Tür.

»Wenn du gehen willst, kann ich dich nicht davon abhalten.« Hanna rollte ihr nach.

Ihre Stimme hatte Emilia aufgehalten, die sich nun umdrehte.

»Aber überleg es dir noch einmal. Steh dir nicht selbst im Weg.« Hanna war nun bei Emilia angekommen und schaute zu ihr hoch. »Lass uns daran arbeiten.«

Mit der Handfläche schlug Emilia einmal kräftig gegen die Wand. »Verdammt, ich will diesen Kurs nicht besuchen! Mein Problem kann dieses Seminar mit Sicherheit auch nicht aus der Welt schaffen.« Ihre Augen verwandelten sich in schmale Schlitze, durch die sie Hanna wie durch Schießscharten anstarrte. »Oder habe ich nach dem heutigen Tag etwa eine Festanstellung? Kannst du mir einen Job besorgen?«

Das ist es also. Wenigstens wusste Hanna jetzt, was Emilia so wütend machte. Es war nicht der Autounfall. Der kam nur hinzu und hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, das ohnehin schon randvoll gewesen war.

»Ich glaube«, Hanna drehte ihren Rollstuhl in den Raum zurück, »es wäre ganz gut, wenn wir jetzt eine kleine Pause machen. Die Raucher sehnen sich bestimmt sowieso schon danach.« Sie lächelte verständnisvoll. »Und damit auch die anderen einen Kaffee trinken können, sehen wir uns hier in einer halben Stunde wieder.«

Fast ohne Zögern wurden Stühle gerückt, und alle verließen den Raum. Einige warfen Emilia dabei etwas genervte Blicke zu, die meisten waren aber wohl dankbar für die ungeplante Unterbrechung.

»Du bist ja noch da.« Etwas schmunzelnd schaute Hanna Emilia an. »Wolltest du nicht gehen?«

Mürrisch blickte Emilia auf Hanna hinunter. »Ich dachte, du brauchst vielleicht jemanden, der deinen Rollstuhl schiebt.«

»Oh, das ist aber nett, dass du das anbietest«, ging Hanna sofort auf den Vorschlag ein. »Ja, tatsächlich. Ich wollte auf den Balkon. Etwas frische Luft schnappen.« Sie wies auf die Balkontür. »Kannst du die mal aufmachen? Draußen in der Sonne ist es bestimmt angenehmer.«

»Die Sonne kommt und geht. Das ändert gar nichts«, brummelte Emilia, trat hinter Hannas Rollstuhl und schob sie auf den Balkon hinaus.

»Ach, tatsächlich?« Hanna schloss die Augen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, indem sie ihnen ihr Gesicht entgegenhielt. »Ich fühle mich schon viel besser.«

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, wie Emilia am Balkongeländer stand und mit immer noch mürrischer Miene auf die Straße hinunterschaute. Sie sagte nichts.

»Was für ein wunderschöner Sommertag«, fuhr Hanna fort. »Findest du nicht?«

»Ich sagte doch schon, dass mich das nicht interessiert. Und dass es überhaupt nichts ändert«, brummte Emilia abwehrend. »Was hat das Wetter damit zu tun, ob ich einen Job habe oder nicht?«

»Das ist wahr.« Hanna seufzte und legte ihre Hände in den Schoß. »Daran ändert es nichts.«

»Na also.« Emilia schien mit ihrer Antwort zufrieden. »Was soll das also alles? Das Wetter, dieses Seminar . . . Völlig überflüssig, sich darüber zu unterhalten.«

»Warum setzt du dich nicht mal hin?«, fragte Hanna. »Wir können uns ja über etwas anderes unterhalten.«

Emilias Augenbrauen zogen sich zusammen. »Warum soll ich mich denn hinsetzen?«, fragte sie bissig.

Hanna zuckte die Schultern. »Aus Höflichkeit? Für mich?« Sie blickte in Emilias Richtung und blinzelte ein wenig gegen das Licht der Sonne. »Es wäre nämlich angenehmer, wenn wir uns auf Augenhöhe unterhalten könnten. Ich kann leider nicht aufstehen.«

Im Gegenlicht konnte Hanna es nicht genau sehen, aber es schien, als ob Emilias Augen sich weit öffneten. Dann strich sie sich verdattert durchs Haar. »Augenhöhe . . .«, stammelte sie fast unhörbar und schluckte. »Ja . . . ähm . . . klar. Natürlich.« Peinlich berührt setzte sie sich auf einen Stuhl.

»Ja, daran muss man sich erst gewöhnen, nicht wahr?« Hanna rollte etwas näher an Emilia heran und legte vorsichtig eine Hand auf ihren Arm. »Das musste ich auch. Aber wie du siehst . . .«, sie lächelte leicht, »geht das.« Mitfühlend suchte sie Emilias Blick. »Was auch immer im Leben schiefläuft, es gibt für alles eine Lösung. Und wenn ich dir das sage, kannst du mir das ruhig glauben.«

Skeptisch betrachtete Emilia Hanna und ihren Rollstuhl.

»Du glaubst es nicht?« Hanna lachte leicht. »Du kannst dir nicht vorstellen, dass das hier eine Lösung ist?« Sie legte leicht den Kopf schief. »Was wäre denn die Alternative? Zu Hause sitzen und weinen? Glaub mir, das habe ich getan. Es hilft nicht.« Auffordernd drückte sie Emilias Arm. »Was ist passiert, dass du bei jeder Gelegenheit an die Decke gehst?«

Emilia atmete tief durch. »Mein Chef ist pleitegegangen. Er hat sich verspekuliert, dieser cretino«, knurrte sie. »Er wollte immer mehr Geld haben. Sein Vorhaben ging aber leider den Bach runter. Er hat alles ruiniert . . . und mich gleich mit.« Mit jedem Wort kam sie mehr in Fahrt und begann sich ganz fürchterlich aufzuregen. »Und nun habe ich keine richtige Arbeit und auch keine Lebensfreude mehr. Mein Leben ist futsch!«

Was für ein Temperament. Ein richtiger Vulkan, dachte Hanna. »Das habe ich auch gedacht«, sagte sie. »Wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Aber was wäre, wenn ich das immer noch denken würde?«

»Du hast auf alles eine Antwort, oder?« Erregt sprang Emilia auf und fuhr sich wild durch die Haare. »Aber ich bin Spanierin!«

»Ach ja? Habe ich noch gar nicht gemerkt.« Hanna schmunzelte. Eine feurige Spanierin, dachte sie. Fast zu viel Feuer für eine einzelne Frau. Aber das waren Gedanken, die sie lieber ganz schnell wieder in den Hintergrund drängte. Sie räusperte sich. »Und was willst du mir jetzt damit sagen?«

»Für dich scheint vieles so einfach zu sein.« Emilia sprach leise. »Du denkst, man muss nur mit den Fingern schnippen, und alles ist in Ordnung.« Sie atmete tief ein und aus und schüttelte den Kopf. »Mein Akzent macht es für mich nicht gerade leichter, hier eine Anstellung zu finden.«

»Ist das wirklich so?«, fragte Hanna ungläubig. »Das hätte ich nicht gedacht. Du sprichst doch hervorragend Deutsch.«

»Ja, hättest du nicht gedacht. Du hättest vieles nicht gedacht«, zischte Emilia sie an. »Ich sage ja, du hast keine Ahnung.«

»Anscheinend nicht«, gab Hanna zu. »Aber eins weiß ich bestimmt: Wenn man aufgibt, hat man schon verloren.« Ihr kam eine Idee. »Von einer Spanierin hätte ich das nicht erwartet. Du hast so viel Temperament und Energie –«

Wie aus dem Nichts sprang Emilia vom Stuhl hoch, packte links und rechts Hannas Rollstuhl und rüttelte an ihm. Dann erstarrte sie, ließ den Rollstuhl los und hielt Hanna bedrohlich nahe einen Zeigefinger vor die Nase. »Du . . . du verstehst rein gar nichts«, knurrte sie, erstarrte erneut und setzte sich schließlich wieder hin.

Huch . . . was war das denn? Zwar hatte Hanna eine Reaktion heraufbeschwören wollen, aber nicht diese. »Das sagtest du schon«, entgegnete sie trocken. »Mehrmals.«

Emilia stieß einen tiefen Seufzer aus. »Tut . . . tut mir leid.« Verlegen lächelte sie. »Du hast das ganz richtig erkannt: Mein Temperament. Ich weiß nicht mehr wohin damit, seit ich nicht mehr –« Sie verstummte und wischte sich über die Augen. »Du . . . du sitzt im Rollstuhl. Ist bestimmt schlimm für dich«, sagte sie plötzlich mit zittriger Stimme, schaute Hanna mitleidig an und schloss dann die Augen.

»Ich habe mich an meinen Flitzer gewöhnt.« Hanna lachte leicht. »So nenne ich meinen Rollstuhl ab und zu: meinen Flitzer.«

Emilia schaute sie überrascht an.

»Hättest du nicht gedacht, was?« Emilias Gesichtsausdruck fand Hanna irgendwie süß, aber sie rief sich zur Ordnung und fuhr ernster fort: »Aber vielleicht hilft es dir ja, wenn du weißt, dass ich nicht immer so ruhig und ausgeglichen war wie heute. Es gab Zeiten, da habe ich wie wild um mich geschlagen und diese Welt da draußen gehasst.« Eigenartig, noch nie habe ich mich in einem Seminar mit jemandem darüber unterhalten und zugegeben, dass es in mir auch mal anders, ganz anders ausgesehen hat.

»Oh . . . wirklich?« In Emilias Stirn bildeten sich tiefe Furchen. »Dann verstehst du ja vielleicht, wie wütend ich auf die ganze Welt bin. Das ist alles so gemein. So unfair!«

»Ja, ist es.« Hanna nickte verständnisvoll. »Egal, was du damit meinst, ich bin überzeugt, es stimmt.«

»Allerdings stimmt es!« Emilia versuchte offensichtlich, sich zu beherrschen, und genauso offensichtlich hatte das wenig Aussicht auf Erfolg. »Mein ehemaliger Chef, dieser Idiot, hat all meine Träume wie Seifenblasen platzen lassen, von einem Tag auf den anderen. Und ich konnte nichts dagegen tun.« Aufseufzend fuhr sie sich über die Augen. »Ich bin es so leid, von den Ämtern abhängig zu sein.«

»Darüber kannst du dich ganz bestimmt mit einigen der Teilnehmer an diesem Seminar austauschen. Denen geht es genauso«, sagte Hanna.

»Du willst unbedingt, dass ich bleibe, hm?« Für einen Moment wirkte Emilia fast belustigt.

»Da widerspreche ich nicht.« Hanna lächelte sie an. »Ich möchte dir helfen, und das kann ich nicht, wenn du gehst.«

»Helfen, ja. Helfen.« Erneut seufzte Emilia auf. »Ich habe das Gefühl, mir kann keiner helfen. Immer und immer wieder muss ich beim Jobcenter antraben. Doch die haben keinen Job für mich. Ich fühle mich so gedemütigt und schikaniert.«

»Zu Recht«, nickte Hanna mitfühlend. »Das ist kein menschenwürdiges Dasein. Deshalb würde ich dich gern darin unterstützen, das möglichst bald zu beenden.«

»Ich bin am Ende meiner Kräfte.« Emilia sank in sich zusammen und saß wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl. »Ich kann einfach nicht mehr.«

Tröstend strich Hanna über ihre Hand. »Und deshalb willst du nach Hause gehen. Du denkst, du hältst das nicht durch.«

Schwach nickte Emilia. »Lass mich gehen«, murmelte sie leise. »Das bringt doch alles nichts.«

»Wenn man das glaubt, versucht man es gar nicht erst. Und dann«, Hanna versuchte Emilia anzusehen, die ihrem Blick jedoch auswich, »bringt es wirklich nichts. Da gebe ich dir recht.«

Erstaunt hob Emilia nun den Blick. »Du lässt mich gehen?«

»Ungern«, sagte Hanna. »Mir wäre es lieber, du würdest es versuchen. Denn ich glaube, dass du dann etwas aus diesem Seminar mitnehmen könntest.« Sie atmete tief durch. »Aber ich bin keine Sklaventreiberin. Das liegt mir wirklich gar nicht.« Sie lachte leicht. »Ich möchte nicht das Gefühl haben, dass du mich mit einer Peitsche in der Hand vor dir siehst.«

Ein leises Lächeln schlich sich in Emilias Mundwinkel. »Das tue ich nicht. Ich sehe, dass du«, sie schluckte, »mir helfen willst.«

»Es freut mich, dass du das siehst.« Mit fragendem Gesichtsausdruck beugte Hanna sich vor. »Aber trotzdem kann ich dich nicht zum Bleiben überreden?«

»Ich muss. Wenn du es sagst.« Emilia verzog das Gesicht. »Das Amt hat seine Klauen in mich geschlagen, und entweder ich füge mich, oder sie reißen mir das Herz raus.«

Langsam lehnte Hanna sich zurück und betrachtete Emilia nachdenklich, die sie nun nicht mehr anschaute, sondern auf den Boden starrte. Sie spürte ihre Qual geradezu körperlich. Und sie wusste auch noch ganz genau, wie sich das anfühlte.

»Wie schade, dass du solche Magenbeschwerden hast«, sagte sie plötzlich. »Deshalb kannst du leider nicht am Seminar teilnehmen. Dir ist so übel geworden, dass ich dich nach Hause schicken musste. Das werde ich dem Amt so mitteilen.«

Völlig perplex blickte Emilia hoch und starrte sie an. »Echt jetzt? Ist das dein Ernst?«

»Tja, so leid es mir tut und so gern du am Seminar teilnehmen würdest, aber deine Gesundheit geht vor«, bestätigte Hanna, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ganz abgesehen davon, dass ich nicht möchte, dass der Teppich gereinigt werden muss, weil du dich . . . hm . . . nicht gut gefühlt hast. Das sind vermeidbare Kosten. So was hören Ämter immer gern.« Nun konnte sie das Zucken ihrer Mundwinkel doch nicht mehr unterdrücken.

Zögernd stand Emilia auf. »Muss ich da noch . . . irgendwas unterschreiben oder so?«

»Nein.« Hanna lächelte zu ihr hoch. »Dafür bist du viel zu krank. Ich mache das schon.«

Auch Emilia begann nun vorsichtig zu lächeln. »Danke«, sagte sie. »Du bist echt okay.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann wischte sie ihre anscheinend feucht gewordenen Hände an ihrer Hose ab und hielt Hanna die Hand hin. »Dann . . . Adiós.«

»Adiós«, wiederholte Hanna und sah Emilia in die Augen. »Gute Besserung. Und«, sie lächelte leicht, »versuch dich nicht immer so schnell aufzuregen. Falls ich dir das noch mit auf den Weg geben darf.«

Da war ein Flackern, das ihr antwortete, aber als ob Emilia es bemerkt hätte, aber nicht wollte, dass Hanna es bemerkte, drehte sie sich schnell um und ging davon.

Hanna verweilte an Ort und Stelle und schaute ihr hinterher, während sie ein eigenartiges Kribbeln auf der Haut spürte. Emilia . . . was für ein schöner Name, dachte sie. Und was für wunderschöne Augen sie hat . . .

Mit Gewalt riss sie sich zusammen. Was ist denn mit mir los? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Bringt mich so eine entzückende Spanierin gleich ganz durcheinander?

Natürlich konnte sie das nicht bestreiten. So etwas wie entzückende Spanierin wäre ihr gar nicht eingefallen, wenn es nicht so gewesen wäre.

Sie griff an die Räder ihres Rollstuhls und begab sich in den Seminarraum zurück. Die wenn auch nur leichte körperliche Anstrengung tat ihr gut.

»Alle wieder da?«, fragte sie in die Runde, nachdem sie wieder an ihren Platz gerollt war. »War der Kaffee gut?«

Zustimmendes Gemurmel, Stühlerücken, ein paar Huster. Das hörte sich so an, als könnte das Seminar weitergehen. Und der größte Störfaktor war ja auch verschwunden.

»Dann lasst uns fortfahren.« Aufmunternd hob sie die Hände. »Und zwar in Zweiergruppen. Wollen wir doch mal sehen, wer wen am besten provozieren kann.« Sie lächelte. »Aber denkt daran, es ist eine Übung. Ich werde von einer Gruppe zur anderen fahren und euch dabei unterstützen.«

Wie immer dauerte es ein bisschen, bis die Paare sich gefunden hatten, dann begann die Arbeit, für die dieses Seminar gedacht war.

Schade, dass Emilia nicht mehr da ist, dachte Hanna, während sie im Seminarraum herumfuhr, beobachtete, erklärte, half. Sie hätte hier so viel lernen können.

War das der einzige Grund, warum sie Emilia vermisste? Obwohl sie ihn schon so oft durchgeführt hatte, merkte sie, dass dieser Kurs sie enorme Konzentration kostete. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften.

Vergiss diese Emilia. Mehr als einmal rief sie sich selbst zur Ordnung. Da ist nichts, und da wird auch nie etwas sein.

Aber wie konnte ein Mensch nur so schöne Augen haben? Es war geradezu, als ob sie Hanna verfolgten. In wessen Augen sie auch immer sah, schon nach kurzer Zeit schienen sie sich in Emilias zu verwandeln. Das brachte sie schon fast in peinliche Situationen.

Muss das sein? Du wirst sie nie mehr wiedersehen. Innerlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus und fragte sich, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war. Vielleicht hätte sie darauf bestehen sollen, dass Emilia blieb.

Aber dann wäre sie sich wirklich wie eine Sklaventreiberin vorgekommen. Es hätte nicht nur sie selbst unglücklich gemacht, sondern auch Emilia.

Und das war das Letzte, was sie wollte.

2

»Herzlichen Glückwunsch!« Olivia hob ihr Glas Rotwein und prostete Hanna fröhlich zu. »Zum Wohl, Geburtstagskind.«

Lächelnd ließ Hanna die Gläser mit ihr klirren. »Vielen Dank. Somit . . .«, scherzte sie, »bin ich also wieder ein Jahr älter und ein Jahr näher an der Rente.«

»Die du als Selbstständige gar nicht hast«, gab Olivia zurück. »Also stimmt der Spruch in deinem Fall nicht. Und außerdem«, sie schüttelte den Kopf, »ist dreiunddreißig ja nun wirklich noch kein Alter, um an die Rente zu denken. Aber«, sie nahm noch einen Schluck Wein und hob dann einen Zeigefinger, »es wäre vielleicht langsam mal Zeit, an etwas anderes zu denken.«

Hanna lehnte sich nach hinten in den Stuhl und schaute Olivia leicht verunsichert an. »Was meinst du damit?«

»Weißt du nicht?« Verschmitzt zwinkerte Olivia ihr zu. »Fehlt hier nicht jemand, um mit dir deinen Geburtstag zu feiern? Ich meine, klar, ich als deine beste Freundin bin da, aber reicht dir das?«

»Das reicht mir vollkommen.« Hanna nickte bestätigend. »Ich vermisse nichts.«

»Ach nein?« Ungläubig schüttelte Olivia den Kopf. »Das kannst du mir nicht erzählen.«

»Olivia . . .« Mit einem schief verzogenen Mundwinkel schaute Hanna sie an. »Du weißt doch genau, wie das letztes Mal in die Hose gegangen ist. Das ist einfach sehr, sehr schwierig mit meinem Flitzer hier.« Sie klopfte leicht auf die Armlehnen ihres Rollstuhls. »Und mit allem, was damit zusammenhängt.«

»Fändest du es nicht schön, wenn du dich wieder einmal verlieben könntest?« So leicht ließ Olivia nicht von diesem Thema ab.

Hanna verdrehte die Augen. Der Duft der Lasagne, die vor ihr stand, stieg ihr verführerisch in die Nase. Bei ihrem Lieblingsitaliener gab es wirklich nichts Besseres. Für sie jedenfalls nicht. »Ob ich das schön fände?« Leicht bitter lachte sie auf. »Denkst du, das hängt von mir ab?«

»Natürlich tut es das.« Eifrig beugte Olivia sich vor. »Von nichts kommt nichts. Du versuchst es ja gar nicht.« Sie biss herzhaft ein Stück von ihrer Pizza ab. »Wenn ich diese Pizza nicht bestellt hätte, könnte ich sie nicht essen.« Sie kaute genüsslich.

»Du kannst doch eine Pizza nicht mit . . .«, Hanna hob tadelnd die Augenbrauen, »einer Frau vergleichen.«

»Kann ich nicht?« Olivia antwortete mit vollen Backen. »Und warum nicht?«

»Weil eine Frau keine Pizza ist«, bekräftigte Hanna kopfschüttelnd. »Man kann sie nicht bestellen, und man kann sie auch nicht einfach so verspeisen. Da gehört ein bisschen mehr dazu.«

Das schien Olivia für eine kurze Minute nachdenklich zu machen. »Leider kann ich nicht zaubern«, seufzte sie dann. »Sonst würde ich dir einfach eine Frau hier an den Tisch zaubern. Sie aus dem Nichts erscheinen lassen.« Sie grinste ein bisschen. »Was würdest du dann sagen?«

Hanna lachte. »Die Frage ist wohl eher: Was würde sie sagen?«

»Och, mal angenommen, sie wäre einverstanden«, spann Olivia ihr Garn weiter. »Also von ihrer Seite her wäre alles okay. Wäre es das für dich dann auch?«

»Was soll die Fragerei?« Langsam wurde Hanna misstrauisch. »Führst du irgendwas im Schilde?«

»Nein, nein.« Olivia stürzte sich auf ein riesiges Stück Pizza und verschlang es, als wäre sie eine Python, die für Monate im Voraus essen müsste. »Ich führe doch nichts im Schilde. Was sollte ich denn im Schilde führen? Ich doch nicht.« Sie war kaum zu verstehen, weil sie mal wieder mit vollem Mund sprach.

Das machte Hanna noch misstrauischer. »Olivia?« Sie blickte ihre Freundin fragend an.

»Wie geht’s denn Ben so?«, fragte Olivia ganz unerwartet zurück.

»Ben?« Hanna runzelte die Stirn. »Ich denke, gut. Bis jetzt hat er sich noch nicht über seinen Urlaub beschwert.« Ihr Gesichtsausdruck wurde weich. »Den hat er sich auch verdient. Manchmal wüsste ich wirklich nicht, was ich ohne ihn tun sollte. Er hilft mir im Alltag sehr. Ich kann ja vieles allein, aber so ein Hund ist . . . wie ein Geschenk. Ein Geburtstagsgeschenk«, fügte sie etwas schmunzelnd hinzu und nahm einen Schluck Wein. »Und mehr als meine Fellnase brauche ich auch nicht.«

»Bist du da so sicher?« Etwas unzufrieden stocherte Olivia mit der Gabel auf ihrem Teller herum. »Natürlich ist so ein Hund etwas Großartiges. Er ist ja auch lieb und nett. In vielen Dingen vielleicht sogar unersetzlich, aber . . .«, sie schaute Hanna geradezu zärtlich an, »auf Dauer wird er dir nicht alles geben können, wonach du dich sehnst.« Ihre Stimme klang so sanft, als wollte sie Hanna daran erinnern, was sie verpasste.

»Er gibt mir jedenfalls mehr als einige der . . .«, Hanna holte tief Luft, »Damen, die ich gekannt habe. Und die ganz schnell das Weite gesucht haben, weil sie nicht mit meinem Rollstuhl oder generell mit meiner Behinderung zurechtkamen.«

Etwas schuldbewusst verzog Olivia das Gesicht. »Daran wollte ich dich nicht gerade an deinem Geburtstag erinnern.«

»Mach dir keinen Kopf. Das war ich ja nun selbst, die mich daran erinnert hat.« Hanna seufzte.

»Wie kann ich dich denn wieder aufmuntern?« Olivia ließ ihren Blick suchend umherschweifen. »Wie wäre es mit der knackigen Bedienung da? Eine rassige Italienerin.« Sie grinste süffisant. »Soll ich sie mal herrufen?«

»Und was dann?«, fragte Hanna, musste aber schwer gegen ein Zucken ihrer Mundwinkel ankämpfen. »Ich glaube nicht, dass sie lesbisch ist.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, behauptete Olivia und setzte schon dazu an, der Bedienung zu winken.

»Hörst du wohl auf!« Hanna griff nach ihrem Handgelenk und hielt es fest. »Du bist ja wohl nicht ganz bei Trost.«

»Ich finde, du bist nicht ganz bei Trost«, gab Olivia frech zurück. »Willst dich an deinem dreiunddreißigsten Geburtstag schon aufs Altenteil zurückziehen, und von der Liebe willst du gar nichts mehr wissen.«

»Warum wohl?« Hanna rollte die Augen. »Was habe ich davon, wenn ich auf etwas hoffe, das doch nie eintreten wird? Dann sich lieber mit den Realitäten arrangieren. Das ist gesünder.«

»Weißt du, was gesund ist?«, hielt Olivia dagegen. »Umarmungen sind gesund. Berührungen sind gesund. Streicheln ist gesund. Dazu gibt es sogar wissenschaftliche Untersuchungen, die das bestätigen.«

»Klasse.« Hanna lachte trocken auf. »Und das kann man einfach so im Versandkatalog bestellen, oder was? Ein paar Streicheleinheiten bitte. Am besten gleich ein Dutzend pro Tag.« Sie schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß, das ist nett von dir gemeint, Olivia, aber so funktioniert das nicht. Dafür braucht man einen Menschen. Einen lebenden Menschen. Und am besten sollte man sich mögen.«

»So was kann ja noch kommen«, behauptete Olivia. »Wenn man sich erst einmal kennengelernt hat.«

Nachdenklich ließ Hanna ihr Messer über die Lasagne streichen. »Das ist leichter gesagt als getan. Denn das wäre der nächste Punkt. Wo lerne ich so jemand kennen?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Auf dem Ball für einsame Herzen für Rollifahrerinnen?«

»Gibt es bestimmt.« Olivia legte eine Hand überlegend ans Kinn. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Muss mal recherchieren, wo so etwas stattfindet.«

»Untersteh dich.« Hanna hob drohend ihre Gabel und stach sie gespielt in Olivias Richtung. »Das fehlte mir noch.«

»Ja, das fehlt dir wirklich.« Auch Hannas theatralischer Angriff hielt Olivia nicht davon ab, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

»Nein, mir fehlt gar nichts.« Strafend blickte Hanna sie an. »Wann begreifst du das endlich? Ich habe meinen Beruf, meine Seminare, viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, mit denen ich mich beschäftigen muss. Sie kommen zu mir, damit ich ihnen dabei helfe, ihre Probleme zu lösen. Das füllt meine Tage und noch meine halben Nächte aus, wenn ich ein neues Seminar vorbereite. Ich habe gar keine Zeit für –«

Auf einmal brach sie ab. Die rassige Italienerin, von der Olivia eben gesprochen hatte, war in ihr Blickfeld geraten. Eine Südländerin. Fast unvermeidlich erinnerte diese Südländerin sie an eine andere Südländerin. Italienerin, Spanierin – kein so großer Unterschied.

»Hallo?« Ungeduldig und auch etwas amüsiert schnippte Olivia mit den Fingern vor ihrem Gesicht. »Bist du noch da?«

»Ja. Ja, natürlich.« Hanna räusperte sich.

»Sie gefällt dir also doch«, stellte Olivia zufrieden grinsend fest.

»Nein, sie . . . sie hat mich nur an jemanden erinnert.« Geradezu desinteressiert winkte Hanna ab. »Eine Teilnehmerin. Nichts Wichtiges.«

»Ah . . . Nichts Wichtiges«, wiederholte Olivia gedehnt.

»Du interpretierst da viel zu viel hinein.« Ärgerlich blitzte Hanna sie an. »Ich musste sie nach Hause schicken, weil sie Magenschmerzen hatte. Deshalb erinnere ich mich an sie. Normalerweise schicke ich niemanden nach Hause.«

»Das wundert mich wirklich«, stimmte Olivia ihr überrascht zu. »Ging es ihr denn so schlecht?«

»Ja, es ging ihr . . . ziemlich schlecht.« Obwohl ihre Lasagne mittlerweile schon fast kalt geworden war, stocherte Hanna nun darin herum und tat so, als würde sie nichts mehr interessieren als die Reste ihres Essens. »Ich wollte sie überreden, trotzdem dazubleiben, aber . . . nun ja . . . ich hatte keine andere Wahl. Das Seminar musste ja weitergehen.«

»Und die Bedienung hat dich an sie erinnert?«, hakte Olivia nach.

»Hm.« Eigentlich wollte Hanna darüber keine Auskunft geben, aber sie wusste, dass Olivia keine Ruhe geben würde. »Sie . . . sie sehen sich ein bisschen ähnlich. Sie ist Spanierin.«

»Soso. Du hast also jetzt dein Faible für rassige Südländerinnen entdeckt?« Es sah fast so aus, als würde Olivia sich genüsslich über die Lippen fahren. »Wenigstens etwas.«

»Nicht etwas«, wehrte Hanna sich heftig. »Gar nichts! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Sie war eine Teilnehmerin. Sie war noch nicht einmal eine Stunde im Seminar. Den Rest des Tages habe ich mit den anderen Teilnehmern verbracht. Da war sie überhaupt nicht mehr dabei.«

»Wie schade«, sagte Olivia. »Vielleicht hätte sonst etwas aus euch werden können.«

»Du spinnst wirklich.« Beinah etwas wild schüttelte Hanna den Kopf. »Ich fange doch nichts mit einer Teilnehmerin an!«

»Warum nicht?«, fragte Olivia. »Frau ist Frau, oder nicht?«

Hanna beugte sich vor und sah Olivia so an, als würde sie an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln. »Frag doch mal meine Auftraggeber, was die davon halten.«

»Die müssen es ja nicht erfahren«, entgegnete Olivia ungerührt. »So was ist doch Privatsache.«

»Oh Mann . . . Olivia . . .« Hanna stöhnte auf. »Wie weit würdest du denn noch gehen, um mich zu verkuppeln?«

»Tja . . .« Olivia schien zu überlegen. »Da gibt es so das eine oder andere, was ich mir vorstellen könnte.«

Hanna lachte. »Vorstellen kannst du dir, was du willst, aber du wirst mich nicht dazu bringen.«

»Das käme auf einen Versuch an«, erwiderte Olivia rätselhaft. »Wenn es nicht die Kellnerin sein soll, was nehmen wir denn dann zum Dessert?« Sie griff nach der Karte und schaute hinein.

Ehrlich gesagt war Hanna ganz froh, dass für einen Moment Ruhe war. Sie bestellten ein Tiramisu für zwei, weil sie wussten, dass die Portion so mächtig war, dass keine von ihnen sie allein schaffen würde, und als danach die Rechnung kam, zog Olivia zusammen mit ihrem Portemonnaie einen Briefumschlag aus der Handtasche. »Für dich«, flüsterte sie und zwinkerte Hanna zu.

»Noch ein Geburtstagsgeschenk?«, fragte Hanna überrascht.

»Hmhm.« Olivia nickte. »Aber du bekommst ihn nur, wenn du mir versprichst, ihn erst zu öffnen, wenn du zu Hause bist.«

Verwundert lachte Hanna auf. »Was soll das denn?«

»Versprichst du’s?«, beharrte Olivia auf ihrer Bitte, und ihre Stimme klang eindringlich.