Unter Kretas Sternen - Haidee Sirtakis - E-Book

Unter Kretas Sternen E-Book

Haidee Sirtakis

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Beschreibung

Eleni, deutsche Tierärztin mit griechischen Wurzeln, betreibt auf Kreta eine mobile Tierklinik und besitzt ein wunderschönes Grundstück direkt am Meer, das sie zu einem Tierasyl gemacht hat. In dieses kleine Paradies platzt ein griechischer Hotelier, der Elenis Grundstück kaufen und Luxushotels bauen will. Er beauftragt die auf Kreta lebende deutsche Anwältin Anika, ihm das Grundstück zu beschaffen – mit allen Mitteln. Anika, selbst in einer unglücklichen Beziehung steckend, zerrt Eleni vor Gericht, doch schon bald ist es mit der Professionalität vorbei, denn Anika entwickelt tiefere Gefühle für Eleni, was ihren Beruf und ihre ganze Existenz in Frage stellt ...

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Haidee Sirtakis

UNTER KRETAS STERNEN

Roman

© 2016édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-199-5

Coverfoto: © alexanderkonsta – Fotolia.com

1

»Was für ein Mensch sind Sie bloß?«

Anika drehte sich mit dem Autoschlüssel in der Hand um und runzelte irritiert die Stirn. »Wie bitte?«

»Was für ein Mensch sind Sie bloß?«, wiederholte die dunkelhaarige Schönheit vor ihr. Ihre stahlblauen Augen blitzten vor Wut. »Können Sie morgens eigentlich noch in den Spiegel schauen?« Sie machte ein verächtliches Geräusch. »Ja, bestimmt. Sie gehen doch sicher über Leichen.«

»Frau Patros . . .« Anika schlug absichtlich einen beschwichtigenden Tonfall ein.

Aber Eleni Patros ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. »Wissen Sie überhaupt, was Sie mir da drin angetan haben, in diesem Gerichtssaal? Rechtsanwältin! Pah! Rechtsverdreherin passt wohl besser!«

»Sie wären besser beraten, wenn Sie sich ebenfalls einen Anwalt genommen hätten oder nehmen würden«, erwiderte Anika reserviert. Es hatte wohl keinen Sinn, sich mit dieser Frau auf ein längeres Gespräch einzulassen.

»Ich bin aber nicht so reich wie Herr Stolakis. Ich kann mir keinen Anwalt leisten«, fauchte Eleni. »Ich drehe für meine Tiere jeden Euro zehnmal um. Die brauchen das mehr als irgendein Rechtsverdreher wie Sie.« Ihr stahlblauer Blick sprühte Anika eisige Funken entgegen. »Aber eines verspreche ich Ihnen. Ich werde kämpfen . . . für mich, mein Haus und meine Tiere. Und wenn das das Letzte ist, was ich tue!«

»Das ist Ihr gutes Recht«, entgegnete Anika, öffnete die Autotür und warf ihren Aktenkoffer auf den Beifahrersitz. »Aber ich sage Ihnen gleich: Ihre Aussichten sind schlecht. Sie haben Ihr Grundstück und Haus illegal erworben. Nächstes Jahr wird dort schon ein Hotel stehen, darauf können Sie sich verlassen. Da wird es keinen Platz mehr für Sie und Ihre Tiere geben.« Entschlossen startete sie den Wagen und fuhr eilig davon.

Auf der Fahrt konnte Anika jedoch nicht so recht abschalten. Eleni Patros’ Worte wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wie kam das, und was hatte das zu bedeuten? Sonst konnte sie sich doch immer problemlos dem nächsten Fall widmen, sobald sie den Gerichtssaal verlassen hatte. Aber diese unwiderstehlichen blauen Augen . . . und dieses Temperament. Mist! Als Rechtsanwältin muss dir so etwas egal sein. Was soll das denn, Anika?, ermahnte sie sich innerlich. Solch sentimentales Getue hat hier keinen Platz. Reiß dich endlich zusammen!

Sie hatte schon mehrmals mit Frau Patros, zusammen mit ihrem Mandanten Alexandros Stolakis, vor Gericht gestanden. Eleni hatte einen enormen Kampfgeist. Das war Anika nicht entgangen. Aber dennoch spürte Anika, dass Eleni langsam die Argumente ausgingen.

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Ja, es war hart, wenn man ein Tierasyl betrieb und dann von dort vertrieben wurde. Aber was sollte sie, Anika, da schon tun? Hätte sie Alexandros Stolakis nicht als Mandanten angenommen, hätte es ein anderer getan. Außerdem hatte Stolakis ihr ja auch geholfen, dass sie hier auf Kreta überhaupt richtig praktizieren und vor allem vor Gericht auftreten konnte. Er hatte ihr damals eine hiesige Rechtsanwaltskanzlei vermittelt, sonst würde sie jetzt wahrscheinlich immer noch mit der griechischen Bürokratie um eine entsprechende Zulassung beim Bezirksgericht kämpfen.

Diese Eleni hatte echt schlechte Karten, sie konnte einem wirklich leidtun. Mit Tierliebe allein gewann man nun mal keine Prozesse, vor allem nicht auf einer griechischen Insel, wo das Wohlergehen von Tieren leider oft keinen so hohen Stellenwert hatte.

Ihr Blick fiel auf die Uhr am Armaturenbrett. Oh, jetzt musste sie sich aber beeilen. Sina, ihre Freundin, würde sowieso schon sauer sein, weil sie so spät nach Hause kam.

Als Anika in die Einfahrt fuhr, hörte sie ihren Hund Joya schon freudig bellen. Joya wollte immer als erstes begrüßt werden und Anika bedauerte es sehr, dass sie manchmal einfach nicht genug Zeit für ihren geliebten Vierbeiner hatte. Auch dieses Mal musste die Begrüßung eher kurz ausfallen, Anika wollte Sina nicht noch einen zusätzlichen Grund geben, auf sie sauer zu sein.

»Wo warst du so lange?«, beschwerte sich Sina denn auch lautstark, als Anika endlich eintraf. »Ich will noch an den Strand«, fuhr sie in mürrischem Ton fort.

Anika atmete tief durch und seufzte innerlich. »Eine Gerichtsverhandlung dauert nun einmal so lange, wie sie dauert. Da kann ich nicht einfach mitten in der Verhandlung davonspazieren. Schließlich muss ich doch unseren Lebensunterhalt verdienen.« Mit einem besänftigenden Blick schaute sie Sina an. »Bitte . . . lass uns nicht streiten«, sagte sie und ging lächelnd auf Sina zu, streichelte ihr über die Wange und küsste sie zärtlich auf den Mund.

Sina stampfte trotzig auf den Boden und kniff ärgerlich die Augen zusammen. »Du vernachlässigst mich. So könnte ich noch auf dumme Gedanken kommen«, meinte sie in schnippischem Tonfall und blickte beleidigt an Anika vorbei.

»Ja, ja, . . . schon gut.« Anika wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Sina zu diskutieren, wenn sie in so einer miesen Stimmung war. Wenn sie es recht betrachtete, hatte es eigentlich nie einen Sinn, mit Sina zu diskutieren, aber diesen Gedanken verdrängte sie lieber ganz schnell wieder. »Du hast ja recht«, seufzte sie müde. »Wir sind nach Kreta gekommen, um den Strand und die Sonne zu genießen.« Du zumindest . . . wie es mir dabei geht, ist dir doch egal, dachte sie sich im Stillen. Denn sie waren auf Sinas ausdrücklichen Wunsch hier. Anika hatte sich diesem Wunsch gebeugt und musste sich nun darum sorgen, dass sie den gemeinsamen Lebensunterhalt irgendwie finanzieren konnte.

Leider hatte es vor einiger Zeit einen schlimmen Unfall gegeben, für den Anika sich bis heute verantwortlich fühlte. Sina hatte anschließend unbedingt ins Warme und ans Meer gewollt, um sich von ihren Verletzungen zu erholen. In der Schule hatte Anika eine deutsch-griechische Schulfreundin gehabt, und sie war von der griechischen Sprache damals sofort begeistert gewesen. Über Jahre hin hatte sie an der Volkshochschule Neugriechisch gelernt und konnte sich zwischenzeitlich ganz gut darin verständigen. Ein Spezialkurs, der sich mit juristischen Fachbegriffen beschäftigte, hatte ihr dann glücklicherweise ermöglicht, hier auf Kreta als Anwältin recht schnell Fuß zu fassen.

»Beeil dich jetzt wenigstens.« Sina blitzte Anika böse an. »Pack deine Sachen und komm endlich«, herrschte sie sie an. »Dann kriegen wir vielleicht noch den Sonnenuntergang mit.« Sie griff nach ihrer Tasche und latschte schmollend zum Auto.

Beim Verlassen des Hauses stolperte Anika fast über Joya, die gerade um die Ecke gelaufen kam. Sie ging in die Knie und streichelte ihr über den Kopf. Das dreifarbige Haarkleid der Collie-Mischlingshündin glitzerte im Sonnenlicht. »Ach du Arme. Du kommst echt viel zu kurz. Ich sollte mir wirklich mehr Zeit für dich nehmen«, flüsterte sie ihr seufzend ins Ohr. Anika rannte noch eben in den Keller, um Joya ihren Lieblingskauknochen zu bringen. »Für dich.«

Joya drückte sich anhänglich gegen Anikas Knie und ließ sich kurz von ihr knuddeln. Dann widmete sie sich ihrem Knochen und zottelte fröhlich schwanzwedelnd davon.

Anika hörte es zweimal hupen. »Ja, ja, . . . ich komm ja schon«, murmelte sie missmutig und beschleunigte ihren Schritt auf dem Weg zum Auto.

Sina zog noch immer eine Schnute. »Die Sonne geht bald unter«, meinte sie vorwurfsvoll. »Mit dem Hund kannst du dich auch nachher noch beschäftigen . . . wenn wir zurück sind«, zischte sie und schüttelte genervt den Kopf.

Anika hätte Joya gern mit an den Strand genommen, aber wenn Sina so mies drauf war wie heute, war das sicher keine gute Idee. Und Sina war in letzter Zeit oft schlecht gelaunt. Um dann die Stimmung wieder etwas aufzuheitern, forderte sie von Anika vollste Aufmerksamkeit. Da war es für Joya besser, wenn sie mit ihrem Lieblingskauknochen zu Hause im großen Garten blieb und so nicht auch noch Sinas Unmut ausgeliefert war.

»Ich will jetzt endlich zum Strand und den Sonnenuntergang genießen!«, sagte Sina in trotzigem Ton und war wieder einmal die Ungeduld in Person.

»Menschenskinder . . . Die Sonne geht doch jeden Tag unter . . . und auch wieder auf«, erwiderte Anika, von einem plötzlichen Widerspruchsgeist getrieben.

Sina schaute Anika irritiert an. »Tssss«, meinte sie und stieß einen schlechtgelaunten Seufzer aus.

2

Anika verließ das Haus am nächsten Morgen völlig unausgeschlafen. Da Sina keiner Arbeit nachging, hatte sie kein Verständnis für die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung. Meist schlief sie bis mittags und verbrachte den Rest des Tages am Strand. Nach einem wunderschönen Sonnenuntergang hatte sie Anika noch die halbe Nacht wachgehalten und ausgiebigen Sex von ihr verlangt. Müde war sie kein bisschen gewesen, da sie sich ja den ganzen Tag hatte ausruhen können.

Im Grunde genommen wusste Anika, dass sie Sina Grenzen hätte setzen müssen, denn sie lebten hier auf Kreta allein von Anikas Einkommen, also musste Anika fit sein, um ihren Job als Rechtsanwältin gewissenhaft erledigen zu können. Das hätte Sina eigentlich auch verstehen müssen. Tat sie aber nicht.

Anika hatte sich vorgenommen, noch einmal mit Eleni Patros zu sprechen. Ihr Mandant hatte ihr einen gewissen Verhandlungsspielraum gegeben und sie wollte versuchen, sich mit Eleni vielleicht doch noch außergerichtlich zu einigen.

Seit gestern hatte sie immer wieder diese bezaubernden Augen vor sich gesehen, diese Leidenschaft und dieses Feuer in Elenis Blick. Eleni würde nicht so einfach aufgeben, und das könnte vor Gericht richtig unangenehm werden. Ein harter Brocken . . . diese Eleni, dachte Anika. Aber vielleicht gab es ja doch noch eine andere Lösung, die für alle Parteien akzeptabel sein würde. Anika hatte damals in Hamburg eine Zusatzausbildung als Mediatorin gemacht. Ihr waren Verhandlungsergebnisse, mit denen alle Beteiligten gut leben konnten, am liebsten. Nun wollte sie also ihre diesbezüglichen Fähigkeiten einsetzen und versuchen, mit Frau Patros vielleicht doch noch ein gutes Resultat zu erzielen.

Eleni Patros’ Haus stand ganz für sich allein auf einer kleinen Anhöhe. Anika stieg aus ihrem Auto und ging ein paar Schritte. Was für eine Aussicht! Ein echter Traum. Mit großen Augen schweifte ihr Blick über das türkisfarbene Meer, das im Sonnenlicht wie Juwelen glitzerte. Hier würde es bestimmt vielen Touristen gut gefallen. Eine Goldgrube für Alexandros Stolakis. Der ideale Ort für ein Hotel.

Sie ging weiter über den Kiesplatz und näherte sich dem Haus. Lautes Hundegebell ertönte. Vor dem Eingangstor blieb sie stehen und blickte sich nochmals um.

Im zweiten Stock des Hauses öffnete sich ein Fenster. Frau Patros stand dort, mit zwei Topfdeckeln bewaffnet, die sie mehrmals kräftig gegeneinanderschlug. Die Vierbeiner verstummten und beruhigten sich augenblicklich.

Anika schaute verblüfft zu ihr hoch. »Die Rasselbande haben Sie aber gut im Griff«, meinte sie und lächelte.

»Was wollen Sie denn hier?«, stöhnte Eleni. Ihr Blick schoss zu Anika herunter und hinterließ auf Anikas Haut ein eigenartiges Kribbeln.

»Mit Ihnen reden. Vielleicht finden wir ja doch noch eine passende Lösung«, sagte Anika in freundlichem Ton.

Frau Patros kniff ärgerlich die Augen zusammen. »Will Ihr Mandant etwa aufgeben?«, fragte sie angriffslustig. »Baut er sein Hotel woanders?« Ihre Augen blitzten Anika zornig an.

Anika verzog traurig die Mundwinkel, während sie ihren Blick noch einmal über das traumhafte Panorama schweifen ließ. »Wohl kaum«, seufzte sie entschuldigend.

»Dann vergessen Sie es.« Eleni winkte ab. »Je länger sich die Sache hinzieht, desto mehr verdienen Sie doch schlussendlich auch, oder? Sie sollten also mit dem bisherigen Werdegang ganz zufrieden sein.« Abschätzig, ja beinahe verächtlich musterte sie Anika von oben herab.

Bin ich aber nicht, dachte Anika und holte tief Luft. »Frau Patros . . .«, versuchte sie es geduldig noch einmal. »Seien Sie doch vernünftig. Mein Mandant hat mir einen gewissen Verhandlungsspielraum gegeben. Ich könnte Ihnen ein wirklich großzügiges Angebot unterbreiten.«

Elenis eisblaue Augen blitzten Anika wütend an. »Machen Sie einen Abflug!«, fauchte sie. Laut knallend flog das Fenster zu.

Was für eine Frau, dachte Anika. Aber leider mehr Temperament als Verstand. Wenn sie doch nur mit mir reden würde, seufzte sie innerlich und drehte sich einmal um die eigene Achse. Sie würde wohl ihren Mandanten anrufen und ihm mitteilen müssen, dass die Vergleichsverhandlungen gescheitert waren.

Anika hatte den ganzen Tag in der Kanzlei zu tun. Sie musste alle anfallenden Arbeiten selbst erledigen, da sie hier einen Ein-Frau-Betrieb führte. Damit es Sina und ihr finanziell an nichts fehlte, hatte sie bewusst darauf verzichtet, eine Sekretärin einzustellen.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Immer öfters erwischte sie sich dabei, wie sie gedanklich abschweifte. Diese Eleni und diese wunderschönen Augen wollten ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. So sehr sie sich auch bemühte, nicht an sie zu denken, es half nichts. Anika raufte sich genervt die Haare. Immer wieder sah sie den Glanz, die Leidenschaft und das Feuer dieses Blickes vor sich aufblitzen.

Kurz vor Mitternacht löschte Anika endlich das Licht und verließ müde die Kanzlei. Seit Mitte Nachmittag regnete es schon in Strömen. Sie hielt sich ihren Aktenkoffer zum Schutz über den Kopf und rannte zum Auto. Durch ein Gässchen sah sie, wie das Meer wild vor sich hin tobte und furchteinflößende Geräusche von sich gab. Was für eine Weltuntergangsstimmung, dachte sie. Nichts wie nach Hause.

In der Dunkelheit quietschten die Scheibenwischer auf Hochtouren über die Frontschutzscheibe. Ihr war kalt und ihre alte Kiste brauchte immer eine gefühlte Ewigkeit, bis sie das kleinste bisschen Wärme produzierte. Ungeduldig versuchte sie, in diesem Unwetter auch nur irgendetwas auf der Straße erkennen zu können.

Was ist das denn? Ein Jeep stand einsam am Straßenrand. Langsam fuhr sie an ihm vorbei. Keine Menschenseele zu sehen. Komisch. Sie schüttelte den Kopf und fuhr weiter.

Auf einmal entdeckte sie im Dunkeln eine Menschengestalt, die rechts an der Straße entlanglief. Sie fuhr langsamer, wollte gerade anhalten, drehte sich nach rechts und blickte direkt in Eleni Patros’ kristallklare Augen. Für einen Moment saß sie stocksteif hinter dem Lenkrad und hielt überrascht den Atem an. Dann kurbelte sie eilig das Fenster hinunter, so dass der Regen nur so hereinprasselte. »Gehört Ihnen der Jeep? Hatten Sie eine Panne?«, fragte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Eleni rollte genervt mit den Augen. »Sie sind wirklich die Intelligenz in Person«, knurrte sie völlig durchnässt. Dann stieß sie einen Seufzer aus. »Wie haben Sie das nur erraten?«, fragte sie spöttisch und schüttelte den Kopf.

Anika bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Diese Frau hatte das genauso gut drauf wie Sina. »Steigen Sie ein«, bot sie trotzdem an. »Ich fahre Sie nach Hause.«

Elenis Mundwinkel zuckten. »Wieso sollte ich ausgerechnet bei Ihnen einsteigen?«, fragte sie entnervt.

Anika verzog das Gesicht und zuckte gespielt gleichgültig die Schultern. »Hm . . . Gute Frage«, meinte sie und blickte zur Frontschutzscheibe hinaus. Dann wandte sie sich wieder Eleni zu. »Vielleicht, weil es gerade wie aus Kübeln schüttet und Sie schon völlig durchnässt sind.« Sie lächelte einladend und nickte. »Geben Sie sich einen Ruck. Ich beiße wirklich nicht. In zehn Minuten sind Sie zu Hause und können sich morgen in aller Ruhe um Ihr Auto kümmern.«

Frau Patros blickte zweifelnd zum Himmel hoch, als suchte sie dort nach Rat. »Okay«, murmelte sie schließlich. »In Anbetracht der Situation . . .«, seufzte sie und stieg ziemlich widerwillig bei Anika ein.

Im Auto herrschte eisiges Schweigen. Die Sekunden kamen Anika wie Minuten vor, die Situation war ihr mehr als unangenehm. »Sie sprechen aber gut Griechisch«, kam ihr das Erstbeste, was ihr einfallen wollte, über die Lippen – wohl in der Hoffnung, mit Eleni über irgendein unverfängliches Thema reden zu können, damit diese belastende Stille endlich ein Ende hätte.

Eleni strich sich müde mit der Hand übers Gesicht und starrte stur geradeaus. »Ich bin zweisprachig aufgewachsen«, antwortete sie barsch und erstickte damit jegliches Gespräch im Keim.

Anika schauderte es. Das kann ja heiter werden. Ganz offensichtlich will sich Eleni nicht mit mir unterhalten, dachte sie und konzentrierte sich erneut auf den Straßenverkehr.

Sie waren kaum ein paar Minuten gefahren, da schrie es neben Anika unvermittelt auf: »Stopp. Anhalten!«

Anika erschrak fürchterlich und drückte geistesgegenwärtig auf die Bremse. Beide wurden recht unsanft nach vorn geschleudert.

»Haben Sie das denn nicht gesehen?« Eleni schaute Anika mit strafendem Blick an.

Anika zuckte die Schultern und blickte suchend um sich. »Wie? Wo? Was denn?«, fragte sie reichlich verunsichert.

»Den Hund natürlich.« Sie starrte Anika prüfend an und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wo?«, fragte Anika ganz aufgeregt und blickte nach links und rechts.

Eleni zeigte mit der Hand nach hinten. »Da . . . im Straßengraben.«

Anika riss die Augen weit auf. »Und jetzt?«, fragte sie und starrte Eleni etwas hilflos an.

»Warten Sie hier«, befahl Eleni energisch, öffnete eilig die Autotür und wandte sich noch kurz zu Anika um. »Ich schaue erstmal in Ruhe allein nach. Zu zweit könnten wir das Tier zu sehr verunsichern.«

»Okay . . .«, murmelte Anika und stellte den Motor ab. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie sich Eleni langsam dem Hund näherte, der nun fast panisch versuchte aufzustehen. Doch er schaffte es nicht, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich erschöpft im Graben liegen. Anika schloss die Augen. Sie fühlte einen ihr bis dahin unbekannten Schmerz in sich. Der Anblick dieses Tieres war für sie einfach nur schrecklich und ging ihr durch Mark und Bein. Das arme Tier war sicherlich schwer verletzt. Bestimmt wäre es am liebsten geflüchtet, schaffte es aber aus eigener Kraft nicht. Ob Eleni helfen kann?, dachte Anika und beobachtete die beiden still, während ihr Adrenalinspiegel weiter in die Höhe schoss.

Eleni kniete sich behutsam neben den Hund und ließ ihn zuerst einmal an ihrer Hand schnuppern. Eine gefühlte Ewigkeit verharrte sie wortlos neben ihm und bewegte sich kaum. Dann streichelte sie ihm sanft den Hals entlang und kraulte ihn schließlich zärtlich hinter dem Ohr. Er ließ dies widerstandslos geschehen. Vorsichtig begann Eleni, seine Gliedmaßen auf Verletzungen abzutasten.

Anika betrachtete das Geschehen weiterhin, sehr interessiert und ganz still, im Rückspiegel. Sie hielt inne, als sich nun auf ihrer Haut ein eigenartiges Prickeln ausbreitete. Langsam drehte sie sich im Fahrersitz um und blickte zur Heckscheibe hinaus. Es wurde ihr ganz warm ums Herz, als sie sah, wie der Hund allmählich Vertrauen zu Eleni fasste. Völlig in Gedanken versunken zuckte sie zusammen, als sie bemerkte, dass Eleni aufgestanden war und jetzt direkt aufs Auto und somit auf sie zumarschiert kam.

»Haben Sie eine Decke?«, fragte Eleni mit aufgeregter Stimme und wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht.

»Nein. Wozu denn?« Anika starrte Eleni fragend an.

»Der Hund ist verletzt und kann nicht mehr aufstehen . . . nicht mehr gehen.« Eleni strich sich müde durchs Haar und entdeckte auf dem Rücksitz einen Mantel.

Reflexartig griff Anika nach ihm. »Nehmen Sie ihn ruhig. Kann ich irgendwie helfen?«, fragte sie und löste rasch ihren Sicherheitsgurt.

Eleni starrte Anika mit leicht irritiertem Blick an. »Äh . . . Ja. Kommen Sie mit . . . ganz ruhig und mit etwas Abstand, bitte.«

Anika stieg aus dem Auto, schloss ganz leise die Tür und näherte sich mit Eleni zusammen dem verletzten Tier.

Eleni gab Anika ein paar Anweisungen. Innerhalb kürzester Zeit war nun auch Anika bis auf die Haut nass. Der Regen prasselte nur so auf die drei herunter. Gemeinsam legten sie den verletzten Hund auf den Mantel. Geduldig ließ der Vierbeiner alles über sich ergehen und sich ins Auto tragen. Eleni setzte sich vorsichtig zu ihm auf die Rückbank und streichelte ihm sanft über den Kopf. Anika startete den Motor, schaute kurz in den Rückspiegel und fuhr in Richtung Elenis Haus los.

»Was ist denn mit dem Hund?«, wagte Anika nach einer Weile leise zu fragen und blickte erneut in den Rückspiegel. Sie spürte durchaus, wie angespannt Eleni war.

»Er hat eine offene Wunde an der Pfote und wahrscheinlich ein gebrochenes Hinterbein«, meinte Eleni und streichelte dem Hund, der vor Erschöpfung ganz ruhig und teilnahmslos neben ihr lag, sanft über den Rücken. »Und höchstwahrscheinlich ist sie – es ist eine Hündin – hochträchtig«, seufzte sie erschöpft und strich sich durchs Haar.

Anika blickte in den Rückspiegel und sah, wie Eleni nervös an ihrer Unterlippe knabberte, während sich Denkfalten auf ihrer Stirn abzeichneten. Dann blickte Anika wieder auf die Straße zurück. »Was ist? Was geht Ihnen durch den Kopf?«, fragte sie, und ihre Blicke trafen erneut für einen raschen Moment aufeinander.

»Ich überlege.« Eleni verzog die Lippen und strich sich über die Schläfen. »Verflixt . . . Wie mach ich das nur«, murmelte sie vor sich hin.

Anika hob fragend die Augenbrauen. »Was denn?«

»Wie bringe ich den Hund bloß ins Haus . . . in Sicherheit . . . an all den anderen Tieren vorbei?« Sie betrachtete die Hündin, eine große innere Anspannung stand Eleni ins Gesicht geschrieben. »Die Hündin ist groß und wiegt mindestens vierzig Kilo . . . wenn nicht sogar mehr.«

Anika schenkte Eleni ein beruhigendes Lächeln im Rückspiegel. »Selbstverständlich werde ich Ihnen helfen. Gemeinsam schaffen wir das schon«, meinte sie zuversichtlich.

«Sie? Ausgerechnet Sie wollen mir helfen?«, krächzte Eleni verblüfft nach vorn. »Tssss . . . Doch bestimmt nur deshalb, damit Sie bei mir zu Hause für Stolakis herumschnüffeln können!«, fauchte sie ziemlich wütend.

»Ich bitte Sie«, sagte Anika energisch und stieß genervt einen Seufzer aus.

»Hm . . . Hm . . .« Auf Elenis Stirn zeichneten sich nachdenkliche Falten ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete ein paar Mal tief durch.

»Ich werde Herrn Stolakis hiervon nichts erzählen. Versprochen«, sagte Anika herzlich, blickte erneut im Spiegel zu Eleni nach hinten und schenkte ihr ein warmes Lächeln.

Eleni presste die Lippen zusammen. »Wieso sollte ich Ihnen glauben? Ausgerechnet Ihnen? Sie sind alles andere als meine Freundin. Sie wollen mich aus meinem Haus vertreiben . . . mich und meine Tiere«, zischte sie giftig.

»So, das reicht«, sagte Anika in scharfem Ton und blitzte Eleni wütend durch den Spiegel an. »Wir haben ein verletztes Tier . . . und wenn Ihnen der Hund nicht egal ist, so ist jetzt Schluss mit stur sein und Sie lassen sich von mir helfen«, sagte sie entschieden und warf Eleni einen strafenden Blick zu.

»Ähm . . . Äh . . . Verflixt!« Eleni verzog die Lippen, da ihr so langsam die Argumente ausgingen und starrte verstimmt zum Fenster hinaus.

Anika fuhr auf den Kiesplatz, direkt vor Elenis Haus. Die Hunde im Garten bekamen natürlich ihre Ankunft mit, stürmten aufs Tor zu und begrüßten die beiden mit lautem Gebell.

»Warten Sie hier«, sagte Eleni zu Anika, stieg aus und rief einmal laut ›Ruhe‹. Wie auf Kommando verstummten die Hunde und schauten sie nur noch freudig erregt und schwanzwedelnd an. Eleni war hier offensichtlich ganz klar die Chefin. Sie öffnete das Tor, sagte irgendetwas zu ihren Fellnasen und verschwand für einen kurzen Moment im Haus.

Nachdem sie die Hunde vom Garten in großzügigen Gehegen und teils im Haus untergebracht hatte, half ihr Anika, die verletzte Hündin aus dem Auto zu heben und vorsichtig ins Haus zu tragen. Gemeinsam legten sie sie in der Küche auf eine gepolsterte Decke und rieben sie, ohne die offene Wunde zu berühren, mit einem Tuch sanft trocken. Das arme Tier war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Körper. Geduldig ließ es aber alles über sich ergehen und blickte immer wieder hoffnungsvoll zu Anika und Eleni auf.

Eleni begann, den Hund genauer zu untersuchen. Anika verfolgte das Geschehen interessiert und unterstützte Eleni bei Bedarf auf ihre Anweisung hin. Eleni schien genau zu wissen, was zu tun war. Jeder Handgriff saß, und in Anikas Augen verarztete sie die Hündin einfach perfekt.

Anika setzte sich neben Eleni auf den Boden und beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus. Sie spürte, dass Eleni – Frau Patros – sie irgendwie faszinierte. Eleni hatte sie – aus noch unerklärlichen Gründen – in ihren Bann gezogen. Aber das durfte sie auf keinen Fall zulassen! Anika war schlussendlich in einer festen Beziehung mit Sina. Was hatte also eine solche Gefühlsanwandlung hier zu suchen? Noch nie in ihrem ganzen Leben war Anika etwas Ähnliches wie jetzt passiert und sie fühlte sich verunsichert, während sie gleichzeitig ein wahnsinnig schlechtes Gewissen plagte.

Eleni schien eine sehr facettenreiche Frau zu sein. Vor Gericht gab sie sich stets als Kämpferin. Das hatte Anika im Gerichtssaal und auch sonst schon mehrmals zu spüren bekommen. Aber sie konnte offenbar auch unglaublich gefühlvoll sein. Denn gerade jetzt kümmerte sie sich mit größter Vorsicht und einfach nur rührend um das verletzte Tier. Diese gefühlsbetonte Seite hatte Anika bis jetzt noch nie bei Eleni zu sehen und zu spüren bekommen und sie musste sich eingestehen, dass sie sowohl die eine als auch die andere Seite an ihr unwiderstehlich fand. Diese gefühlsbetonte Seite ließ sie angenehm erschauern, wobei sich gleichzeitig eine eigenartige Hitze in ihr ausbreitete.

Es machte den Anschein, als könnte Eleni bei Tieren Gefühle viel besser zulassen und zeigen als bei Menschen. Überhaupt hatte Anika den Eindruck, dass Eleni mit Vierbeinern generell mehr anfangen konnte als mit Zweibeinern. Menschen gegenüber hatte Anika Eleni bis jetzt eigentlich fast nur kratzbürstig und abweisend erlebt. Was hat Eleni Patros nur erlebt, dass ihr Tiere lieber sind als Menschen? Wieso ist sie Menschen gegenüber so distanziert?, fragte sie sich innerlich und hielt den Kopf leicht schräg. Was steckt hinter dieser abweisenden Fassade? Dann winkte sie ab. Ach Anika . . . vergiss es! Überleg doch mal logisch . . . wie solltest du in einem Gerichtssaal auch eine andere Seite von einem Menschen kennenlernen können . . . und dazu noch in so einer speziellen Konstellation . . .

Sie versuchte, ihrem Gedankenkarussell zu entkommen und räusperte sich: »Sie machen das ja richtig professionell«, meinte sie nach einer Weile ehrlich beeindruckt und lächelte Eleni zögerlich – beinahe schon verlegen – an.

Eleni erwiderte vorsichtig Anikas Lächeln, und ihre Blicke verweilten einen langen Moment ineinander.

Um Elenis Mundwinkel zuckte es leicht. Abrupt löste sie sich von Anikas tiefbraunen Augen und starrte wieder auf die Hündin. Dann zuckte sie gespielt nachlässig die Schultern. »Ach . . . Ich mache doch nur meinen Job. Ich bin von Beruf Tierärztin«, sagte sie tonlos und tastete das Bein des Hundes ab.

Anika verzog das Gesicht, während ihre Augen zwei Nummern größer wurden. »Sie sind Tierärztin?«, fragte sie überrascht. Dann schluckte sie und hielt kurz inne. »In den Akten und vor Gericht ist immer nur von einer fanatischen, sentimentalen und durchgeknallten Tierschützerin die Rede«, sagte sie, während sie ihren Blick verlegen durchs Zimmer und schließlich zu Boden schweifen ließ.

Eleni strich sich über die Schläfen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann kümmerte sie sich weiter um das verletzte Bein der Hündin. »Das ist ja wieder einmal typisch«, fauchte sie wütend und atmete tief durch. »Etwas anderes kann man hier auf Kreta ja auch nicht erwarten, wenn es um Tiere geht«, knurrte sie, griff in eine Kiste und suchte nach einem Verband.

Anika presste betreten die Lippen zusammen. So ein Käse! Jetzt ist sie schon wieder auf hundertachtzig . . . Nervös strich sie sich durchs Haar. »Suchen Sie das hier?«, fragte sie, als sie eine Verbandsrolle entdeckt hatte und hielt sie Eleni lächelnd entgegen.

»Danke«, murmelte Eleni, griff nach dem Verband und berührte dabei zufällig Anikas Fingerspitzen.

Anika erstarrte. Ohne es zu wollen genoss sie diese sanfte, wenn auch leider nur sehr kurze Berührung. Augenblicklich durchströmten sanfte Stromschläge jede Zelle ihres Körpers, und das Dauerkribbeln auf ihrer Haut wollte gar kein Ende mehr nehmen. Aber solche Empfindungen hatten hier wirklich nichts zu suchen. Jedenfalls nicht für Anika, denn sie war schlussendlich in einer festen Beziehung.

Sie räusperte sich verlegen und beobachtete, wie Eleni mit weicher Stimme zu der verletzten Hündin sprach und zärtlich über ihr schwarzes Köpfchen streichelte. Und wieder wurde Anika von einer Wärme durchflutet, die ihr Herz sanft umhüllte. Für einen Moment schloss sie die Augen und gab sich diesem intensiven und schönen Gefühl ganz hin, nahm es genießerisch in sich auf. Das alles kam ihr wie ein Traum vor.

Eleni blickte in Anikas leicht verschleierten Blick. »Wenn man hier für die Tiere etwas mehr tut, als ihnen nur Wasser und Futter hinzustellen, so ist man gleich eine fanatische, sentimentale und durchgeknallte Tierschützerin«, murmelte sie, während sie traurig den Kopf schüttelte. »Dabei ist es doch das Normalste der Welt . . .« Sie stieß einen lauten Seufzer aus. ». . . sich um ein verletztes Tier zu kümmern. Oder etwa nicht?« Sie durchbohrte Anika fast mit ihren Blicken.

Elenis Frage und dazu ihr feuriger Blick rissen Anika abrupt aus ihrer Traumwelt und auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie räusperte sich. »Natürlich hilft man einem Tier in Not«, sagte sie entschieden. Eine Sekunde später fühlte sie sich nicht mehr ganz so wohl in ihrer Haut und wurde reichlich nervös. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen, und ihre Hände wurden feucht.

Wie zu erwarten, folgte Elenis Bumerang auch sogleich. Ihre Augen verwandelten sich in wütende Schlitze. »Hm . . . interessant. Aber Sie sind es doch, die mich und meine Tiere von hier weghaben wollen«, entgegnete sie und presste energisch die Lippen zusammen. Schnell wischte sie sich mit der Hand über die Augen und wandte sich abrupt von Anika ab.

Anika schluckte mehrmals, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Elenis Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Ganz im Gegenteil. Sie brannten sich tief in ihr ein. Mist, ich habe doch geahnt, dass sie mir so etwas an den Kopf knallen würde . . . und das Schlimmste daran ist, dass Sie obendrein noch recht hat.

»Puh . . . äh . . .« Anika raufte sich verlegen die Haare und musste erst einmal nach den richtigen Worten suchen. Beschämt schaute sie zu Boden. »Aber ich würde sicher nie ein verletztes Tier im Stich lassen«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, obwohl sie sich völlig bewusst war, dass sie damit nur ihre Hilflosigkeit überspielen wollte. Ihr war durchaus klar, dass Eleni irgendwo recht hatte. Eine Sache ließ sich schlussendlich immer aus mehreren Perspektiven betrachten und beurteilen.

Eleni atmete einige Male tief durch. »Aber die Existenz eines Menschen vernichten . . . Das können Sie . . . hm? Davor haben Sie keine Skrupel?«, brauste sie auf.

Die Hündin versuchte aufzustehen. Eleni hielt sie jedoch sanft zurück und streichelte ihr über den Kopf. »Ruhig . . . ganz ruhig . . . Es wird alles gut«, sagte sie mit weicher Stimme zu ihr.

Anika erschauderte. Heiß und kalt wurde ihr. Wahnsinn . . . Mit Tieren ist sie so unglaublich liebevoll und fürsorglich. Wieso nur ist sie zu Menschen so ruppig? Und mich scheint sie ja wirklich überhaupt nicht zu mögen . . . Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte innerlich den Kopf. Ach Anika . . . Warum sollte Eleni gerade dich mögen? Ausgerechnet dich. Du bist die Frau, die ihr Leben zerstören will . . . sagte ihre innere Stimme und Anika fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube verpasst bekommen. Langsam aber sicher bereute sie es, dieses verflixte Stolakis-Mandat je angenommen zu haben und war über sich selbst sehr verärgert. »Ich will doch niemanden vernichten«, protestierte sie schwach, während sie das Bein der Hündin behutsam festhielt.

»Was glauben Sie denn, was Sie zusammen mit Stolakis gerade tun?«, fragte Eleni zornig und warf Anika einen düsteren Blick zu.

Anika starrte Eleni mit offenem Mund an. Sie schluckte und blickte sich hilflos im Raum um. Es fehlten ihr die Worte. Aber wahrscheinlich wäre jetzt eh jedes gesprochene Wort ein falsches und somit eines zu viel gewesen. In einer Ecke entdeckte sie drei Kätzchen, die friedlich aneinandergeschmiegt schliefen. Auf einem Sofa lagen vier Katzenbabys, die ebenfalls aneinandergekuschelt vor sich hindösten. Auf verschiedenen Kissen verteilt lagen etliche Hunde. Die einen schliefen entspannt, während andere aufmerksam beobachteten, wie sich Eleni um den Neuankömmling kümmerte.

»Zerstöre ich wirklich Ihre Existenz?«, fragte Anika, während ihr Blick nochmals durch den Raum und zu den Tieren schweifte. Was für eine bescheuerte Frage, Anika, tadelte sie sich innerlich.

Eleni stieß einen langen Seufzer aus. »Wie würden Sie es denn formulieren?« Fragend blickte sie zu Anika hoch. Ihre Augen funkelten Anika wild entgegen.

Anika räusperte sich verlegen. Sie musste sich krampfhaft von diesem Blick losreißen, der sie schon wieder – trotz der ihr entgegenblitzenden Funken – in seinen Bann zog. Endlich schaffte sie es, sich zu lösen und starrte nun das verletzte Bein der Hündin an.

»Wie lange sind Sie eigentlich schon auf Kreta?«, fragte Eleni nun in etwas ruhigerem Ton.

Anika strich sich nervös durchs Haar und zuckte mit den Schultern. »Ungefähr ein Jahr.« Befangen blickte sie zu Boden. Am liebsten wäre sie tief in Elenis Blick eingetaucht und hätte sich nie wieder von ihm gelöst. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Solche Gedanken durfte sie nicht haben. Nein, das durfte einfach nicht sein.

Eleni wandte sich wieder der Hündin zu. »Ich lebe seit fünf Jahren auf Kreta und habe schon so einiges mitgemacht und lernen müssen. Aber natürlich bin ich nicht so eine pickfeine Rechtsanwältin wie Sie«, sagte sie in leicht abschätzigem Ton.

Anika hob irritiert die Augenbrauen. »Was soll das denn bitteschön heißen?« Leicht pikiert schaute sie Eleni an. Sie fühlte sich angegriffen und wenn sie etwas hasste, dann den Umstand, dass man sie einfach in eine Schublade steckte, ohne sie wirklich zu kennen. »Das ist nun einmal mein Beruf. So wie Ihrer Tierärztin ist«, meinte sie um Beherrschung ringend.

»Aber Sie sind es, die mich vernichten will. Schon vergessen?«, knurrte Eleni zurück.

Anika stieß einen Seufzer aus. »Ich mache doch nur meinen Job. Ich habe einen Auftrag und versuche, das Beste für meinen Mandanten zu erreichen. Was ist denn daran falsch?«, fragte sie etwas entnervt. Dieses elendige Mandat, schoss es ihr durch den Kopf. Hätte ich das nur nie angenommen . . .

Eleni zog verärgert die Stirn in Falten. »Was daran falsch ist? Gehen Sie wirklich für einen skrupellosen Mandanten über Leichen?« Durchdringend schaute sie Anika an, und Elenis Blick verharrte einen langen Moment auf ihr.

Anika wurde langsam richtig wütend, ihre Augen verwandelten sich in schmale Schlitze. »Was heißt denn hier über Leichen gehen? Und wieso skrupellos?«

Eleni schüttelte ob solcher Naivität ungläubig den Kopf. »Man merkt, dass Sie noch nicht lange auf der Insel sind. Auf Kreta ist vieles anders, und ganz besonders in diesem Bezirk hier. Mit dem, was Sie in Deutschland unter Rechtsverständnis verstehen, werden Sie hier sicherlich nicht weit kommen«, seufzte sie. Ihr Blick wurde weicher, schon fast mitfühlend. »Hier herrschen andere . . . eigene Gesetze«, sagte sie matt.

Anika lief es bei Elenis Worten eiskalt den Rücken hinunter. Fragen und Gedanken schossen ihr ungebeten durch den Kopf. Sie dachte an das vergangene Jahr. Mit Sina hatte sie sich schon so oft gestritten. Damals hatten sie beide gedacht, dass sie hier auf Kreta ein neues Leben beginnen und wieder zueinanderfinden würden. Aber nichts von all dem war eingetroffen. Und jetzt? Jetzt musste sie ihren Job als Rechtsanwältin an einem Ort ausüben, an welchem sie womöglich mit ihrem Rechtsverständnis nicht weit kommen würde und unter Umständen all ihre Prinzipien über Bord werfen musste. Sie blickte zu Eleni hinüber. Allen Streitigkeiten zum Trotz fühlte sie sich Eleni in diesem Moment dennoch nahe und sehr zu ihr hingezogen. Wieder durchflutete sie dieses sanfte Prickeln, und ihr wurde plötzlich ganz heiß . . . fast wie ein Fieberschub. Erklären konnte sie sich dieses Gefühl allerdings nicht wirklich. Tief in ihrem Innersten verspürte sie jedoch den Wunsch, Eleni besser kennenzulernen.

»Was hat Sie denn nach Kreta verschlagen?«, fragte Anika nach einer Weile, um die Stille zu überbrücken und die Unterhaltung fortzusetzen.

Eleni stieß einen Seufzer aus und schaute kurz zu Anika hoch. »Das wollen Sie doch nicht ernsthaft wissen«, meinte sie etwas abfällig.

»Doch, möchte ich!«, entgegnete Anika trotzig und streichelte der Hündin liebevoll über den Kopf.

»Ich will nicht darüber reden. Schließlich kennen wir uns kaum, und Sie sind immer noch meine Gegenspielerin. Schon vergessen?«, entgegnete Eleni bissig.

Eleni hatte der Hündin die Wunde ausgewaschen, sie desinfiziert und ihr die verletzte Pfote eingebunden. Zuvor hatte sie ihr etwas zur Beruhigung und gegen die Schmerzen verabreicht. Sie nahm sich vor, morgen früh gleich das Bein zu röntgen. Für den Moment war sie einfach nur zufrieden, dass die Hündin zunächst versorgt und etwas zur Ruhe gekommen war und sie ihr die Schmerzen etwas hatte nehmen können. Zärtlich streichelte sie ihr erneut über den samtigen Kopf. Das Tier war so erschöpft, dass es ein paar Minuten später einschlief und leise vor sich hin schnarchte. Eleni erhob sich und setzte sich neben Anika auf einen Stuhl.

»Oh . . . Sie sind ja . . .«, kam es ihr über die Lippen. Besorgt schaute sie Anika an, dann sich. ». . . wie ich völlig durchnässt. Sie können mein Badezimmer benützen. Ich gebe Ihnen ein Handtuch und ein paar Kleider von mir«, sagte sie mit etwas verlegenem Gesicht.

Anika war erneut wie gefesselt von diesen zauberhaften Augen und versank in ihnen. Sie stand wie unter Strom, und eine unbeschreibliche Hitze dehnte sich in ihr aus.

Eleni erwiderte Anikas Blick und tauchte ebenso in ihre Augen ein. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie mit weicher Stimme.

Anika zuckte ertappt zusammen. Diese weiche Stimme, diese Sanftheit . . . so plötzlich und so unerwartet. Ihr Blick schweifte durch den Raum, dann zu Boden. »Wie? Was? Ähm . . . alles gut. Ich . . . ich muss jetzt gehen«, stotterte sie und blickte auf die Uhr. »Es ist schon spät . . . zu spät. Ich muss nach Hause.« Sie sprang hoch und verließ fast schon fluchtartig Elenis Haus, setzte sich in ihren Kombi und fuhr mit Vollgas davon.

Zuhause angekommen öffnete sie leise das Gartentor. Joya hörte Anika und kam gleich freudig auf sie zugerannt. Anika bückte sich, umarmte sie und streichelte ihr über das weiche Fell. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein. Sina hat dich tatsächlich hier draußen im Regen vergessen, dachte sie und spürte, wie es in ihr anfing zu brodeln. Bei Eleni würde so etwas bestimmt nicht passieren . . . Sie stieß einen schweren Seufzer aus und öffnete die Haustür.

Inzwischen war es schon weit nach Mitternacht, und im Haus war es dunkel. Anika ging hinein, betätigte den Lichtschalter und betrat die Küche. Dort gab sie Joya ein Schweineohr, öffnete den Kühlschrank und aß selbst eine Kleinigkeit. Dann ging sie die Treppe hoch und warf einen Blick ins Schlafzimmer. Sina schien friedlich zu schlummern. Anika wusste nicht, woran es lag, aber irgendwie zog es sie heute Nacht so gar nicht zu Sina ins gemeinsame Bett.

Leise schloss sie die Tür hinter sich und ging wieder nach unten. Dann griff sie nach ihrem Mobiltelefon und warf einen Blick darauf. Kein Anruf von Sina, keine Kurzmitteilung. Es schien fast so, als ob Sina sich überhaupt keine Gedanken gemacht hatte, warum Anika nicht schon längst nach Hause gekommen war. Ob sie ihr Fehlen überhaupt bemerkt hatte? Seelenruhig schien sie in ihrem Bett zu schlafen. Anika erledigte ihre Abendtoilette und legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa. Joyas Körbchen zog sie ganz nah zu sich und streichelte ihren geliebten Vierbeiner, der das Ganze sehr genoss. Ach . . . es wäre so schön, wenn Sina ein bisschen tierlieber wäre, dachte sie und träumte vor sich hin. So wie Eleni . . . Eleni Patros.

So träumte sie weiter und erschrak ziemlich heftig, als ihr plötzlich klarwurde, dass sich dieser Wunsch einfach so heimlich in ihren Kopf geschlichen hatte. Auf einmal war Eleni vor ihrem inneren Auge erschienen, gerade so, als würde sie jetzt vor ihr stehen und ihr ein zärtliches Lächeln schenken. Anika schüttelte entsetzt den Kopf über sich selbst. Vergiss diese Eleni . . . Du gehörst zu Sina!

3

»Wieso schläfst du denn hier unten?«, fauchte am nächsten Morgen unvermittelt eine Stimme.

Anika spürte einen eisigen Schauer, der sie blitzschnell vom Sofa hochschießen ließ. Unsanft wurde sie aus ihrem Traum gerissen und musste sich zuerst einmal sammeln, um zu erkennen, wo sie eigentlich genau war. Verdutzt strich sie sich durchs Haar. »Ich . . . ich wollte dich gestern Nacht nicht wecken. Ich . . . ich dachte, es ist besser, wenn ich auf dem Sofa übernachte«, antwortete sie Sina verwirrt und schüttelte sich schlaftrunken.

Sina warf Anika einen strafenden Blick zu. »Tssss . . . und das ist alles?«, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen.

Anika nickte und merkte, dass sie noch nicht wieder ganz bei Sinnen war. Was war das denn? Was habe ich da bloß geträumt? Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder Elenis wunderschöne Augen, die verführerisch und voller Verlangen in ihre eintauchten und sie sah Elenis Fingerspitzen, die zärtlich über ihre Haut streichelten. Verdammt, was hat das zu bedeuten? Nein, bitte nur das nicht, flehte sie innerlich, stand auf und ging ins Badezimmer. Dort drehte sie den Wasserhahn auf und spritzte sich erst einmal eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Ungläubig starrte sie sich im Spiegel lange an. Was ist bloß aus uns geworden, Sina? Warum behandelst du mich immer so lieblos?

Frisch geduscht setzte sie sich etwas später mit ihren halblangen, noch nassen blonden Haaren an den Tisch. An den leeren Frühstückstisch wohlgemerkt. Sina hatte nur für sich Kaffee gekocht und auch nur für sich zwei Brötchen aufgebacken. Fragend blickte Anika Sina an.

Sina verzog missmutig das Gesicht. »Schau mich doch nicht so vorwurfsvoll an. Ich wusste nicht, ob du auch etwas essen willst«, meinte sie schnippisch und biss herzhaft in ihr Brötchen.

Anika atmete tief ein und aus. »Es wäre nett gewesen, wenn du mich wenigstens gefragt hättest«, sagte sie und verzog verstimmt die Lippen.

»Ach, jetzt mach nicht so ein Drama. Du hast doch eine Kaffeemaschine in deiner Kanzlei, und die Bäckerei ist auch gleich um die Ecke. So schnell wirst du schon nicht verhungern«, sagte sie trocken, während sie ausgiebig den blutroten Nagellack auf ihren Fingernägeln begutachtete.

Anika schüttelte ungläubig den Kopf und stieß einen genervten Seufzer aus. Habe ich das gerade richtig gehört? Sie war einfach nur sprachlos, wusste nicht, ob sie wütend oder traurig sein sollte. Wir haben uns doch mal so innig geliebt . . . früher. Und was ist daraus geworden? Warum bekomme ich fast nur noch deine Kaltschnäuzigkeit zu spüren?

»Apropos . . . ich treffe mich gleich mit Rebekka. Wir machen heute eine Inselrundfahrt«, verkündete Sina gut gelaunt und trank genüsslich einen Schluck Kaffee.

Anika schluckte. »Schön für euch«, meinte sie und kniff sich ungläubig in den Arm. Doch, auch das habe ich richtig gehört. Sina hat das genau so gesagt . . . und mit welch einer Selbstverständlichkeit. Sie nickte, stand auf und griff nach ihrem Aktenkoffer. »Alles klar. Na dann . . . Ich wünsche euch einen schönen Tag. Du weißt ja, wo du mich findest.« Diese Schuldgefühle . . . diese verflixten Schuldgefühle. Jeden Tag plagen sie mich und machen mir zu schaffen. Warum nur musste das damals passieren? Sie strich sich durchs Haar. Aber muss ich mir deswegen wirklich alles von Sina gefallen lassen?

Sina schaute nur kurz zu Anika hoch, nickte und wandte sich dann wieder singend ihren perfekt-manikürten Fingernägeln zu.

Anika wollte Sina eigentlich noch einen Kuss geben. Doch sie konnte sich nicht so richtig dazu durchringen. Statt auf den Mund küsste sie sie deshalb nur auf die Stirn, aber Sina schien das gar nicht zu merken, geschweige denn zu stören. Jedenfalls protestierte sie nicht. Ausnahmsweise nicht. Protestieren war nämlich eine von Sinas Lieblingsbeschäftigungen geworden.