Tarnfahrt - Clive Cussler - E-Book

Tarnfahrt E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Das Philadelphia-Experiment war der vielleicht spektakulärste Test einer neuen Tarntechnologie der USA während des Zweiten Weltkriegs. Dieses Experiment misslang! Zwar gelang es den Wissenschaftlern, einen kompletten Kreuzer verschwinden zu lassen, doch er tauchte nie wieder auf. Nun wird die damals eingesetzte Technologie reaktiviert – mit verheerenden Folgen. Nur Juan Cabrillo kann jetzt noch eine Katastrophe von den Vereinigten Staaten abwenden. Doch wie bekämpft man einen Gegner, den man nicht sieht?

Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Abenteuer von Juan Cabrillo nicht entgehen!

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Autoren

Clive Cussler konnte bereits dreißig aufeinanderfolgende New York Times-Bestseller landen, seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, und ist auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Jack DuBrul studierte an der George-Washington-Universität, Washington, D. C. Kaum hatte er seinen Abschluss in der Tasche, veröffentlichte er seinen ersten Roman. Er lebt mit seiner Frau Debbie in Burlington, Vermont.

Liste der lieferbaren Bücher

Von Clive Cussler im Blanvalet-Taschenbuch (die Dirk-Pitt-Romane):

Eisberg (35601), Das Alexandria-Komplott (35528), Die Ajima-Verschwörung (36089), Schockwelle (35201), Höllenflut (35297), Akte Atlantis (35896), Im Zeichen der Wikinger (36014), Die Troja-Mission (36473), Cyclop (37025), Geheimcode Makaze (37151), Der Fluch des Khan (37210), Polarsturm (37469), Wüstenfeuer (37755)

Von Clive Cussler und Paul Kemprecos im Blanvalet-Taschenbuch (die Kurt-Austin-Romane):

Tödliche Beute (36068), Brennendes Wasser (35683), Das Todeswrack (35274), Killeralgen (36362), Packeis (36617), Höllenschlund (36922), Flammendes Eis (37285), Eiskalte Brandung (37577)

Von Clive Cussler und Graham Brown im Blanvalet-Taschenbuch (die Kurt-Austin-Romane):

Teufelstor (38048), Höllensturm (38297)

Von Clive Cussler und Craig Dirgo im Blanvalet-Taschenbuch (die Juan-Cabrillo-Romane):

Der goldene Buddha (36160), Der Todesschrein (36446)

Von Clive Cussler und Jack DuBrul im Blanvalet-Taschenbuch (die Juan-Cabrillo-Romane):

Todesfracht (36857), Schlangenjagd (36864), Seuchenschiff (37243), Kaperfahrt (37590), Teuflischer Sog (37751), Killerwelle (37818)

Von Clive Cussler und Grant Blackwood im Blanvalet-Taschenbuch (die Fargo-Romane):

Das Gold von Sparta (37683), Das Erbe der Azteken (37949), Das Geheimnis von Shangri La (38069), Das fünfte Grab des Königs (38224)

Von Clive Cussler (die Isaac-Bell-Romane):

Höllenjagd (37057)

Von Clive Cussler und Justin Scott (die Isaac-Bell-Romane):

Sabotage (37684), Blutnetz (37964), Todesrennen (38167), Meeresdonner (38364)

Clive Cussler

& Jack DuBrul

Tarnfahrt

Roman

Aus dem Englischen

von Michael Kubiak

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Mirage«

bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

Oktober 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © 2013 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by

Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Illustration © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung

von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15200-0V002

www.blanvalet.de

PROLOG

VOR DER KÜSTE VON DELAWARE

1. AUGUST 1902

Als das erste Klopfen an seiner Tür von der Rückwand der Kabine als Echo zurückgeworfen wurde, war Kapitän Charles Urquhart bereits hellwach. Nach einem ganzen Leben auf See hatte er die Reflexe einer Katze entwickelt. Beim zweiten Klopfen wusste er dank der Vibrationen, die durch seine Matratze übertragen wurden, dass die Maschinen des Schiffes gestoppt worden waren. Aber das Zischen des Wassers, das am stählernen Rumpf entlangströmte, sagte ihm, dass die Mohican noch nicht langsamer geworden war. Spülwassertrübes Licht sickerte an den Rändern des Vorhangs vor dem einzigen Bullauge des Raums herein. Da das Schiff auf nördlichem Kurs fuhr und seine Kabine auf der Steuerbordseite lag, schätzte Urquhart die Uhrzeit auf neun Uhr abends.

Nach erschöpfenden zwanzig Stunden auf der Brücke, in denen sich der Frachter durch die Nachhut eines für die frühe Hurrikan-Saison ziemlich heftigen Sturms kämpfen musste, hatte er nur eine halbe Stunde geschlafen.

»Ich komme«, rief er und schwang die Beine aus der Koje. Das Deck war nur mit einem dünnen Teppich belegt, so dass er die Kälte der Stahlplatten darunter spüren konnte.

Die Kabinentür schwang knarrend auf, eine Gaslaterne warf einen hellen Lichtkeil auf die Schwelle. Das Schiff besaß zwar einen Stromgenerator, aber die wenigen Lampen, die dieser speiste, waren für die Kommandobrücke reserviert. »Tut mir leid, dass ich Sie störe, Sir«, sagte der Dritte Offizier, ein Waliser namens Jones.

»Was ist los?«, fragte Urquhart, während sich die letzten Schlafreste verflüchtigten. Niemand durfte den Kapitän wecken, es sei denn, ein Notfall war eingetreten. Darum wusste er, dass er auf alles vorbereitet sein musste.

Der Mann zögerte eine Sekunde lang, dann sagte er: »Wir sind nicht sicher. Aber wir brauchen Sie auf der Brücke.« Er hielt wieder inne. »Sir.«

Urquhart schleuderte die Bettdecke beiseite. Er zwängte die Füße in ein Paar Gummistiefel und warf sich einen zerschlissenen Bademantel über die Schultern. Eine griechische Fischermütze vervollständigte seine lächerliche Aufmachung. »Los, gehen wir.«

Die Kommandobrücke befand sich ein Deck über seiner Kabine. Ein Rudergänger stand stumm hinter dem großen Speichenrad aus Eiche, den Blick aber nicht auf den Bug gerichtet, wie es eigentlich hätte sein müssen, sondern zur Tür hin, die auf die kurze Brückennock des Schiffes führte. Urquhart folgte dem Blick, und obgleich seiner Miene nichts anzusehen war, gerieten seine Gedanken in hellen Aufruhr.

In etwa zwei Meilen Entfernung lag ein gespenstischer blauer Schimmer über dem Horizont und löschte die sterbenden Strahlen der untergehenden Sonne aus. Es war nicht das helle Blau eines anhaltenden Wetterleuchtens und auch kein Elmsfeuer, wie der Kapitän auf Anhieb vermutet hatte. Eher wirkte es wie ein intensiveres Blau, aber in einer Schattierung, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

Dann dehnte sich der Lichtsaum aus. Aber nicht wie ein Nebel, der von der Meeresoberfläche aufsteigt, sondern wie das Schlagen eines gigantischen Herzens. Plötzlich befanden sie sich inmitten dieser Lichterscheinung, und es war, als ob die Farbe Substanz hätte, als wäre sie greifbar. Urquhart glaubte das Leuchten geradezu auf seiner Haut zu spüren. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf, und der dichte Haarpelz, der seine Brust und seinen Rücken bedeckte, prickelte so seltsam, als rannten Tausende von Insekten auf seinem Körper herum.

»Käpt’n«, rief der Zweite Offizier klagend und deutete auf die große Kompasskugel, die am Schott über den Fenstern der Kommandobrücke befestigt war. Der Kompass rotierte in seiner mit Öl gefüllten Kapsel wie ein Spielkreisel.

Wie jeder gute Seemann lebte Charles Urquhart nach einer festen Routine, und wenn diese Routine gestört wurde, musste es im Logbuch des Schiffes vermerkt werden. Sein nächster Blick galt daher dem Chronographen an der hinteren Wand über dem Kartentisch, damit er die Uhrzeit dieses seltsamen Phänomens eintragen konnte. Zu seinem Entsetzen deuteten beide Zeiger nach unten.

Jedoch nicht so, als sei es halb sieben, wobei sich der kleine Zeiger auf halbem Weg zur römischen Zahl Sieben hätte befinden müssen, sondern senkrecht abwärts.

Er ging zu der Uhr, um sie zu überprüfen, und löste aus Ungeschick den Schlüssel, mit dem sie regelmäßig aufgezogen wurde, aus der runden Öffnung, in der er ständig steckte. Als stünde er unter dem Einfluss einer größeren Kraft als der Erdanziehung, fiel der Schlüssel herab – allerdings so, als werde er mit großer Wucht zu Boden geschleudert. Dort angekommen, sprang er auch nicht wieder hoch, sondern schien auf dem stählernen Deck kleben zu bleiben. Urquhart bückte sich, um ihn aufzuheben, schaffte es jedoch nicht einmal, einen Fingernagel zwischen Schlüssel und Deck zu zwängen.

Er blickte wieder nach Westen, doch das kobaltblaue Licht reduzierte die Sichtweite auf wenige Dutzend Meter. Er bemerkte, dass die See um das Schiff herum absolut still war. Sie erschien solide, als wäre sie zu einer Eisfläche gefroren, nur blieb sie schwarz wie Anthrazit.

Ein paar Matrosen unten auf dem Hauptdeck entdeckten Urquharts Silhouette in der Türöffnung der Brückennock. Einer formte die Hände vor dem Mund zu einem Schalltrichter und rief: »Was ist das, Käpt’n?«

Die Stimme drang zu ihm, als befände sich der Mann auf dem Grund eines tiefen Brunnenschachts.

Andere Männer erschienen, und Urquhart konnte ihre Unruhe spüren. Er wusste, dass Seeleute notorisch abergläubisch waren. Jeder von ihnen hatte irgendeine Art von Talisman bei sich, einen kleinen Traumfänger, eine Hasenpfote oder irgendwelche Glücksmurmeln. Einmal hatte er mit jemandem auf einem Schiff gedient, der stets ein winziges Glas voll Alkohol mit den Überresten seines abgetrennten kleinen Fingers in der Tasche mit sich trug. Er behauptete, dass er den Finger verloren hatte, sei ein Beweis dafür, dass er Glück brächte. Urquhart hatte ihn nie nach dem Grund gefragt.

Um sie von der seltsamen Erscheinung abzulenken, deutete er auf einige Ketten, die auf der vorderen Ladeluke der Mohican unordentlich herumlagen.

»Sammelt gefälligst die Ketten ein«, sagte Urquhart und zwang sich zu seiner strengsten Kommandostimme, »sonst ist hier gleich der Teufel los.«

Wie der Kapitän des altersschwachen Frachters vermutet hatte, machten sich die vier Männer sofort ans Werk, als wären sie schon froh, überhaupt eine Arbeit ausführen zu können und beschäftigt zu sein. Aber ebenso wie er soeben den Uhrschlüssel nicht hatte aufheben können, konnten auch die kräftigen Matrosen kein einziges Kettenglied bewegen. Hätte jemand die rostige Masse Stahl auf die Luke geschweißt, die Verbindung zwischen Kette und Schiff wäre gewiss nicht enger gewesen.

Urquhart kam gerade der Gedanke, dass sich sein Schiff in einen riesigen Magneten verwandelt hatte, als er den Schrei hörte. Es war ein schmerzerfülltes Heulen, das schriller und schriller wurde und nicht enden wollte.

Der Laut durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag, denn er erkannte die Stimme trotz der Todesqual, von der sie verzerrt wurde, und er wusste sofort, was mit dem Mann geschah.

Der Chefingenieur, ein Schotte, hatte seine Kabine im selben Korridor wie Urquhart. Nur Sekunden nachdem er den Schrei gehört hatte, stürmte der Kapitän bereits durch McTaggerts Tür.

Im Licht der Messingsturmlaterne, die Urquhart seinem Zweiten Offizier aus der Hand gerissen hatte, sah er den halbnackten Schotten auf seiner Koje sitzen, einen Ausdruck namenlosen Grauens im Gesicht. Er schlug sich auf die Brust oder, genauer, auf die große Narbe, die in der Mitte seines linken Brustmuskels verlief. Diese Narbe war ein Andenken an eine Dampfkesselexplosion zwanzig Jahre zuvor. Dahinter befand sich, wie McTaggert gerne prahlte, ein Eisensplitter, den der Schiffskoch, der ihn seinerzeit zusammengeflickt hatte, nicht entfernen konnte.

»Umdrehen, Conner!«, rief Urquhart, obwohl er wusste, dass es zu spät war.

Ein weiterer Schrei drang aus dem weit aufgerissenen Mund des Ingenieurs. Der Laut war so schrill und qualvoll, dass Urquhart sich unwillkürlich krümmte, als würden ihm körperliche Schmerzen zugefügt. Dann platzten Blutbläschen auf Conner McTaggerts Lippen zu einem roten Sprühregen. Die Blicke der Männer trafen sich, und eine stumme Botschaft wanderte zwischen ihnen hin und her. Es war ein Abschiedsgruß.

Der Sprühregen verstärkte sich zu einem Schaumteppich arteriellen Bluts, als der Stahlsplitter in seiner Brust, mit unwiderstehlicher Kraft von den enormen Magnetkräften deckwärts gezogen, durch sein Herz und seine Lunge schnitt. Die Schmerzen, die sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse verzerrten, versiegten schlagartig, und die breite rote Spur, die von seinem Kinn bis auf seine Brust reichte, war das einzige Zeugnis für die letzten grässlichen Sekunden des Mannes.

Einen Augenblick später ertönte ein matschiges, saugendes Geräusch, und der Stahlsplitter prallte klirrend aufs Deck, nachdem er seinen Weg durch McTaggerts Körper genommen hatte.

Urquhart schloss die Kabinentür, ehe ein Angehöriger der Mannschaft den Toten zu Gesicht bekam. Mit aschfahlem Gesicht und zitternden Händen kehrte er auf die Kommandobrücke zurück. Der gespenstische Schimmer lag noch immer auf dem Schiff, während die Männer an Deck ihre Versuche, die Kette wegzuräumen, aufgegeben hatten und dorthin starrten, wo das Leuchten zuerst erschienen war.

Das Meer war weiterhin spiegelglatt, kein Lufthauch bewegte die Takelage des Schiffes. Der Qualm der Heizöfen unter den Dampfkesseln stieg senkrecht in den Himmel und hing wie ein Sargtuch über der Mohican.

Zwanzig Minuten lang war keine Veränderung festzustellen, dann aber, als wäre eine Lampe ausgeschaltet worden, verschwand das Leuchten. Im gleichen Moment kräuselte sich die Meeresoberfläche erneut, Wellen schlugen gegen den Schiffsrumpf, und der Qualm trieb nach achtern, als eine Windböe von Norden über das Schiff wehte. Im Westen, wo die Erscheinung zuerst aufgetaucht war, war nichts zu erkennen als ein schwarzer Himmel, an dem einige verstreute Sterne funkelten. Nichts unterschied diese Nacht von anderen ganz gewöhnlichen Nächten auf See.

Urquhart hatte sich mit seinen restlichen Offizieren in eine Ecke des Ruderhauses zurückgezogen, während sie einen Umweg nach Westen machten, um Ausschau zu halten, ob sich noch ein weiteres Schiff in Reichweite dieser nicht einmal mehr irdisch wirkenden Aura aufgehalten hatte. Er befahl ihnen, Conner McTaggert in seine Schlafdecken einzunähen und seine sterbliche Hülle unauffällig ins Meer gleiten zu lassen. Sie waren nahe genug, um Philadelphia anzulaufen, so dass der Tod des Ingenieurs verheimlicht werden und sein Fehlen, sobald sie den Hafen wieder verließen, damit erklärt werden konnte, dass er heimlich abgeheuert hatte.

Sie fanden keinerlei Hinweis auf die Anwesenheit anderer Schiffe in dieser Region, und nach stundenlanger Suche entschied Urquhart, dass sie nun genug Zeit vergeudet hatten. Dennoch nahm er sich vor, wenn sie Phili erreichten, einen Bericht über den Vorfall anzufertigen – für den Fall, dass auch andere Schiffe von dem seltsamen Effekt in Mitleidenschaft gezogen worden waren. McTaggerts Tod wurde aus dem einfachen Grund geheim gehalten, dass sie andernfalls für Tage oder Wochen aufgehalten werden würden, in denen Aussagen aufgenommen und Untersuchungen durchgeführt wurden.

Wegen des mangelnden Respekts, den er seinem Freund damit zollte, hatte er zwar ein schlechtes Gewissen, aber er war überzeugt, dass McTaggert, der ledig war und keine Familie hatte, Verständnis dafür gehabt hätte.

Wie beabsichtigt, meldete Charles Urquhart den Vorfall der Küstenwache, außerdem wurde seine Geschichte von einer Lokalzeitung aufgegriffen. Der tote Ingenieur fand keine Erwähnung. Ebenso wenig war von einem anderen Schiff die Rede, das ebenfalls von der Erscheinung heimgesucht worden war. Die Mohican konnte ihre Fahrt fortsetzen und erreichte Philadelphia. Dafür war ein anderes Schiff mit seinen fünf Mann Besatzung spurlos verschwunden.

EINS

NORDSIBIRIEN

GEGENWART

Es war die Landschaft einer anderen Welt. Gewaltige schwarze Klippen ragten aus den endlosen glitzernden Schneefeldern. Winde, deren Geheul die vollkommene Stille durchschnitt, trieben die Luftmassen häufig mit mehr als einhundert Stundenkilometern vor sich her. Manchmal war der Himmel so klar, als besäße die Erde gar keine Atmosphäre mehr. Und dann wieder bedeckten Wolken das Land so hartnäckig, dass die Sonne wochenlang nicht zu sehen war.

Es war eine Landschaft, die nicht für eine Besiedlung durch Menschen vorgesehen war. Sogar die widerstandsfähigsten Eingeborenen mieden diesen Ort und lebten weit unten an der Küste in winzigen Dörfern, die sie schnell abbrechen konnten, um zusammenzupacken und den Rentierherden zu folgen.

All dies machte die Region Anfang der 1970er Jahre für die Sowjets zu einem idealen Ort, um dort ein Hochsicherheitsgefängnis zu bauen, ein Gefängnis für die gefährlichsten Kriminellen – die politischen Überzeugungstäter. Gott allein und höchstens eine Handvoll Bürokraten wussten, wie viele arme Seelen hinter den düsteren Betonmauern schon umgekommen waren. Das Gefängnis sollte fünfhundert Männern Platz bieten, und bis zu seiner Schließung in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war ein ständiger Strom neuer Insassen auf der einsamen Straße herangekarrt worden, um diejenigen zu ersetzen, die der Kälte, der Entbehrung und der Brutalität erlegen waren.

Kein Grab erinnerte an diese Männer, lediglich eine Grube, die mit der Asche ihrer sterblichen Überreste gefüllt war. Es war eine sehr große Grube gewesen, die sich nun ein kurzes Stück vom Haupteingang entfernt im Permafrost verbarg.

Zwanzig Jahre lang war die Anlage sich selbst überlassen worden und den Unbilden der Witterung ausgesetzt gewesen, obgleich die berüchtigten Winter Sibiriens dem Bauwerk aus Beton und Stahl nur wenig hatten anhaben können. Als neues Personal zurückkehrte, um das Gefängnis wieder in Betrieb zu nehmen, fanden es die Männer in genau dem Zustand vor, in dem es sich schon befunden hatte, als es stillgelegt wurde: unangreifbar, einbruchsicher und, vor allem, ausbruchsicher.

Ein einsamer mattgrün lackierter Militärtransporter kämpfte sich den gewundenen Weg zum Gefängnis entlang, das im Schatten eines einzelnen Berges stand. Dieser Berg mit seiner nach Norden gerichteten, senkrecht aufragenden Felswand, dem Eismeer zugewandt, das knapp fünfzig Kilometer entfernt war, sah aus, als sei er von einer gigantischen Axt gespalten worden. Die Straße wurde von tiefen Rinnen durchzogen, weil sie sich im Sommer teilweise in einen einzigen sumpfigen Morast verwandelte und dieses zerfurchte Aussehen auch beibehielt, wenn Arbeitskolonnen sie nicht vor Einbruch der Frostperiode glätteten. Schneeverwehungen markierten die Abschnitte, wo die Schneepflüge keine hinreichend breiten Durchfahrten geschaffen hatten.

Kalt und fern hing die Sonne nur knapp über dem Horizont. In wenigen Wochen würde sie endgültig hinter dem Rand der Welt versunken sein, um erst im nächsten Frühling wieder aufzutauchen. Die Temperatur schwankte um minus fünfzehn Grad Celsius.

Der Lastwagen näherte sich den grauen, abweisenden Festungsmauern des Gefängnisses, dessen vier Wachtürme wie Minarette in den Winterhimmel stachen. Ein mit einer Krone aus Klingendraht gesicherter Maschendrahtzaun umgab als äußerer Schutzring die gesamte Anlage, die knapp einen Hektar groß war. Ein kleines Wachhaus stand innerhalb des Zauns auf der rechten Seite der Zufahrtsstraße. Zwischen dem Wachhaus und dem Gefängnisgebäude parkte ein schneeweiß lackierter buckliger Schwerlasthubschrauber.

Erst als der Lastwagen zum Stillstand gekommen war, wagte sich ein Wächter, zum Schutz vor der Kälte dick vermummt, aus der kleinen geheizten Hütte. Er wusste, dass der Transporter erwartet wurde, konnte jedoch den Fahrer und den Beifahrer durch die Windschutzscheibe nicht erkennen. Die AK-74, die modernisierte Version der ehrwürdigen AK-47 Mikhail Kalaschnikows, hatte er sich mit dem Gurt griffbereit über die Schulter gehängt.

Mit einem Handzeichen forderte er den Fahrer auf, aus dem Führerhaus auszusteigen.

Mit einem schicksalsergebenen Achselzucken öffnete der Fahrer die Tür und schwang sich aus dem Sitz. Die Sohlen seiner Stiefel knirschten im festgebackenen Schnee.

»Wo ist Dmitri?«, fragte der Wächter.

»Wer ist Dmitri?«, antwortete der Fahrer mit einer Gegenfrage.

Es war ein Test. Die regulären Fahrer des Gefangenentransporters hießen Vasily und Anton.

Der Fahrer fuhr fort: »Wenn du Anton oder Sasha meinst« – das war Vasilys Spitzname – »Antons Frau hat ihr Baby bekommen, schon wieder ein Junge, und Sasha liegt mit Lungenentzündung auf der Nase.«

Der Wächter nickte, und sein anfängliches Unbehagen beim Erscheinen fremder Besucher vor den Toren des geheimen Gefängnisses schwand dahin. Offenbar gehörten sie zur gleichen Einheit wie die reguläre Lkw-Besatzung. »Zeig mir deine Papiere und sag deinem Beifahrer, er soll aussteigen und sich ebenfalls ausweisen.«

Sekunden später war die dienstliche Neugier des Wächters befriedigt. Er schob die Maschinenpistole weiter nach hinten auf den Rücken und schloss das Tor auf. Dann schob er den Türflügel nach draußen, begleitet vom Klirren der Ziehharmonikarollen Stacheldraht, die um den Torrahmen geflochten waren.

Eine weiße Abgaswolke wallte aus dem Auspuff, als der Fahrer aufs Gaspedal trat und den Transporter durch das Tor und unter einem offenen Fallgitter hindurch auf den zentralen Gefängnishof lenkte, um den die vier Blocks des Gefängnisses angeordnet waren. Einige Treppen führten zur Eingangstür, die eher zu einem Banktresor gepasst hätte als zu einem Gebäude. Zwei Wächter in weißen Tarnanzügen sicherten die Tür. Der Lastwagen fuhr einen engen Bogen und setzte dann langsam zu den Männern zurück. Als einer der Männer der Meinung war, dass der Wagen ausreichend nahe herangekommen war, hob er eine Hand. Der Fahrer bremste. Um dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein Häftling den Lastwagen stahl, vorzubeugen, war es verboten, den Motor laufen zu lassen. Daher unterbrach er die Zündung und verstaute den Zündschlüssel in einer Tasche seiner Kombination.

Mit einem anderen Schlüssel an einem anderen Schlüsselring öffnete er die Hecktüren. Die beiden Wächter hatten ihre Maschinenpistolen an den Schultern hängen, als die Türen knarrend aufschwangen.

Im Innern befand sich ein einziger Gefangener, an Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich an den Boden gekettet. Er trug blaue Gefängniskleidung, um die arktische Kälte abzuhalten. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte er kurz geschorenes dunkles Haar, aber in Wirklichkeit war sein Kopf kahl rasiert. Es waren die zahlreichen verschlungenen Tätowierungen, die den Eindruck erweckten, er hätte Haare auf dem Kopf. Die Tätowierungen zogen sich über seinen Hals hinab und verschwanden im V-Ausschnitt seines Gefängnishemdes. Er war kein ausgesprochen großer Mann, aber in seinen eisblauen Augen lag ein ungezähmter Glanz, der ihn gefährlich erscheinen ließ.

»So, mein Freund«, sagte der Fahrer mit spöttischer Heiterkeit, »willkommen zu Hause.« Sein Tonfall wurde drohend. »Wenn du Ärger machst, stirbst du auf der Stelle.«

Der Gefangene sagte nichts, aber die Wildheit seines Blicks nahm schlagartig ab, als hätte er seine Wut mittels eines inneren Reglers gedrosselt. Er nickte ein Mal – zum Zeichen, dass er kooperationsbereit war.

Der Fahrer kletterte in den Transporter und schloss die Kette auf, die den Gefangenen an den Boden des fensterlosen Lastwagens fesselte. Der Fahrer stieg rückwärts aus, und der Gefangene folgte ihm schlurfend. Er zuckte zusammen, als er aus dem Wagen sprang und auf dem Erdboden landete. Während der letzten sechs qualvollen Stunden hatte er reglos in der gleichen Haltung verharrt. Der Umzug war nicht vollständig vollzogen, bevor er von den Fesseln, die er trug, befreit wäre, daher stiegen alle vier Männer die Treppe hinauf und betraten das Gefängnis.

Die Betonsteinwände der Ankunftshalle waren in einem tristen Grün gestrichen, wie man es in allen sowjetischen Gefängnissen antreffen konnte. Der Fußboden bestand aus nacktem Beton, und die Decke war drei Meter hoch. In diesem Raum war es nur wenig wärmer als draußen, aber wenigstens wehte kein Wind. Rechts neben der Tür stand ein Gitterkäfig. Darin hielten sich zwei weitere Männer auf. Sie trugen keine Uniformen, sondern waren ähnlich gekleidet wie der Gefangene.

Beide waren von massiger Statur, maßen mindestens eins fünfundneunzig und hatten Hände wie Schmiedehämmer und Oberarm- und Brustmuskeln, die den Stoff ihrer T-Shirts spannten. Ebenso wie bei dem Neuankömmling waren ihre Hälse mit Gefängnistätowierungen bedeckt. Auf der Stirn trug einer der beiden die Tätowierung eines Stacheldrahts, der darauf hinwies, dass er zu Lebenslänglich ohne Chance auf eine bedingte Strafaussetzung verurteilt worden war.

Der neue Gefangene wurde in den Käfigraum geschoben. Einer der bewaffneten Wächter reichte seinem Kollegen seine Maschinenpistole und nahm ein Paar Fesseln von einem Haken über einem kahlen Schreibtisch. Zusammen mit dem Fahrer betraten sie den Käfig und schlossen die Gittertür. Das Schloss schnappte automatisch zu.

»Da habt ihr uns aber einen ziemlich hässlichen Fisch gebracht«, sagte der Lebenslängliche. »Wir hatten uns etwas Hübscheres erhofft.«

»Bettler dürfen nicht wählerisch sein, Marko«, meinte der Gefängniswärter zu ihm. »Und bei dir bleiben sie sowieso nicht allzu lange hübsch.«

Der massige Mann zuckte die Achseln, als stimmte er dieser Feststellung zu. »Lass mal sehen, wo du überall gewesen bist, Fischlein. Zieh dein Hemd aus.«

Tätowierungen bedeuteten innerhalb des russischen Strafvollzugs so viel wie ein Lebenslauf. Sie verrieten, wie viele Jahre jemand inhaftiert war, welche Verbrechen er begangen hatte, für wen er draußen gearbeitet hatte und lieferten auch noch alle möglichen anderen Informationen. Eine Katzentätowierung bedeutete, dass ihr Träger ein Dieb gewesen war, und wenn sein Körper von mehreren Katzenbildern verziert wurde, war das ein Hinweis darauf, dass er zu einer Bande gehört hatte. Ein Kreuz auf der Brust, gewöhnlich unter Zwang gestochen, wies den Träger als Sklaven aus.

Der Fahrer blickte zum Gefangenenwärter, der diese Abweichung von der vorgeschriebenen Prozedur mit einem Nicken billigte, und fuhr fort, indem er die Fußeisen und die Handfesseln öffnete. Als der Gefangene frei war, stand er da wie eine Statue und löste für keinen Moment den Blick von Marko, dem Lebenslänglichen, der an der Spitze der Gefängnishierarchie stand und den Wärtern die Arbeit abnahm, indem er das Gefängnis leitete.

»Zieh dein Hemd aus, sonst wirst du den Raum nicht lebend verlassen«, wiederholte Marko seine Aufforderung.

Falls der Gefangene dadurch eingeschüchtert wurde, dass ihm innerhalb von zwei Minuten zum zweiten Mal mit dem Tod gedroht wurde, zeigte er es jedenfalls nicht. Weder rührte er sich etwa zehn Sekunden lang, noch zuckte er auch nur mit einer Wimper. Dann, langsam und sorgfältig, als hätte er sich freiwillig dazu entschlossen, öffnete er den Reißverschluss seiner dünnen Jacke und knöpfte mit lässigen Bewegungen sein Hemd auf.

Kein Kreuz zierte seine Brust, obwohl fast die gesamte Hautfläche mit Gefängnistinte dekoriert war.

Marko stieß sich von der Wand ab und sagte: »Mal sehen, was wir da haben.«

Der Gefangene, Iwan Karnow – der im Laufe der Jahre viele Namen gehabt hatte und dessen augenblicklicher Name, wenn man seine eher südländischen als slawischen Gesichtszüge betrachtete, sicherlich ebenfalls ein Alias war –, wusste genau, was nun kommen würde. Er kannte die Gefängniskultur, verstand jede versteckte Anspielung und jede verborgene Bedeutung. Er wusste, dass die nächsten Sekunden darüber entschieden, wie er seine Zeit in dieser Institution verbringen würde.

Marko überragte Karnow, als er von hinten an ihn herantrat, und der Knoblauchgestank, der seiner Haut trotz der herrschenden eisigen Kälte entströmte, wirkte betäubend.

Iwan Karnow ging die Prozedur im Kopf durch, achtete auf Positionen und Gesten, konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf Markos Helfer. Als sich dessen Augen nahezu unmerklich weiteten, wirbelte Karnow herum und packte Markos Handgelenk, einen Sekundenbruchteil bevor er seine mächtige Faust mit der Wucht eines Vorschlaghammers in Karnows Niere rammen konnte und diese dabei sicherlich zerrissen hätte. Als Nächstes kam Karnows Knie hoch, während er Markos Arm nach unten drückte. Die beiden Knochen, Speiche und Elle, zerbrachen beim Auftreffen, und ihre zersplitterten Enden bohrten sich durch die Haut, als der Unterarm in der Mitte durchknickte.

Karnow war bereits in Bewegung, ehe Markos Nervensystem den schweren Schaden seinem Gehirn melden konnte. Mit zwei Schritten hatte er den Raum durchquert und rammte die Stirn gegen die Nase des anderen Gefangenen. Der Winkel war auf Grund der Körpergröße des Mannes zwar nicht optimal, aber die Nase wurde dennoch zertrümmert.

Bei einem Zweikampf erzielte diese Taktik eine wichtige Reaktion. Ganz gleich, wie groß oder stark der auf diese Weise Überrumpelte sein mochte, seine Augen begannen sofort heftig zu tränen. Und für die nächsten Sekunden war der Mann so gut wie blind.

Markos schmerzerfülltes Heulen füllte den Raum, als sein Geist endlich auf den Schmerz reagierte.

Karnow bearbeitete die Nase des zweiten Mannes. Rechts, links, rechts, und dann hämmerte er eine Handkante gegen den Hals des Misshandelten, bewirkte, dass die Muskeln im Schock kontrahierten und die Halsschlagader abklemmten. Vorübergehend von der Zufuhr frischen Blutes abgeschnitten, stellte das Gehirn augenblicklich seine Tätigkeit ein, und der Mann brach zusammen.

Verstrichene Zeit: vier Sekunden.

Mehr als genug für den Fahrer und den Gefangenenwärter, um zu reagieren. Der Fahrer war einen Schritt zurückgetreten, während der Wärter sich näherte, eine Hand auf dem schwarz lackierten Schlagstock, der in einem Ring an seinem Uniformgürtel steckte. Der Wärter konzentrierte sich darauf, ihn in einer fließenden Bewegung herauszuziehen, und wusste, dass er im Vorteil war, sobald er die Waffe uneingeschränkt einsetzen konnte.

Es war jedoch ein Fehler, darauf zu vertrauen, dass eine Waffe allein bereits einen Vorteil bedeutete, ehe sie eingesetzt wurde. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich seinen eigenen Aktivitäten und nicht denen seines Gegners.

Karnow legte eine Hand auf die Spitze des Schlagstocks, ehe er aus dem Haltering befreit werden konnte, und warf sich gegen den Wärter, während dessen Arm sich vor seiner Brust und zwischen den Männern befand. Beide waren athletisch gebaut, und die Kollision ihrer Körper, als sie gegen die Käfigwand prallten, reichte aus, um die Gelenkkugel am oberen Ende des Oberarms aus der Pfanne des Schultergelenks zu hebeln und dabei mehrere Muskelfasern und Sehnen zu zerreißen.

Der Wärter außerhalb des Käfigs hatte die Maschinenpistole im Anschlag und brüllte unzusammenhängende Befehle, war jedoch immer noch geistesgegenwärtig genug, nicht in einen engen, geschlossenen Raum hineinzuschießen, in dem nur einer von fünf Männern eine Bedrohung darstellte.

Karnow drehte sich zum Fahrer um, sah gerade noch, wie acht Pfund Stahlfesseln auf seinen Kopf zurasten, und hatte nicht mehr genug Zeit, um ihnen auszuweichen.

Der Treffer brachte ihn ins Wanken, während Blut aus einer Wunde an seiner Schläfe spritzte, die die scharfkantigen Fesseln gerissen hatten. Der Fahrer stürzte sich auf ihn, ehe er vollends auf dem Fußboden aufschlug, zwar nicht vollkommen bewusstlos, aber auch nicht mehr völlig klar im Kopf. Mit schnellen, geübten Bewegungen fesselte er Karnow an Händen und Füßen.

Karnow stemmte sich schwerfällig vom Boden hoch.

Der Fahrer trat zurück und sagte leise: »Viel Glück da drin, mein Freund. Du wirst es brauchen.«

Der Wärter außerhalb des Käfigs dachte endlich daran, Alarm zu schlagen, und betätigte einen Schalter unter der Schreibtischplatte. Die Sirene rief innerhalb von Sekunden ein halbes Dutzend Männer herbei. Karnow hatte sich mittlerweile auf die Füße gekämpft, aber der herausfordernde Ausdruck, der wie eine Maske auf seinem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden. Er hatte getan, was er hatte tun müssen – sich seine Position verschafft. Er war jemand, mit dem man sich lieber nicht anlegen sollte, aber das galt eher für die anderen Gefangenen, nicht für ihre Wärter. Die ausgekugelte Schulter war lediglich ein Kollateralschaden.

»Ich bin fertig«, sagte er zu den Wärtern, die darauf brannten, ihn durch die Mangel zu drehen. »Ich leiste keinen Widerstand mehr und entschuldige mich für Ihren Mann.«

Der erste Wärter öffnete schließlich die Tür, und trotz Karnows Worten und seiner Passivität kamen die Wärter zu ihrem Vergnügen. Während sie sich auf ihn stürzten und auf ihn einprügelten, war Karnow schon dankbar, dass sie nur ihre Fäuste und nicht auch ihre Schlagstöcke benutzten. Dann trat ein Wärter mit seinem Stahlkappenstiefel gegen Karnows Kopf, und die Schläge wurden sogleich aus seinem Bewusstsein ausgeblendet.

Danach war alle Zeit bedeutungslos, so dass Karnow keine Ahnung hatte, wie viel davon verstrichen war, ehe er wieder zu sich kam. Sein Körper schmerzte von Kopf bis Fuß, was ihm verriet, dass die Männer noch länger auf ihn eingeprügelt haben mussten, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte. Aber das war zu erwarten gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Barmherzigkeit zu den Arbeitsplatzerfordernissen eines Gefangenenwärters in einem Hochsicherheitsgefängnis am Arsch der Welt gehörte.

Seine Zelle war winzig und für ihn kaum groß genug, um sich auf dem eisigen Fußboden vollständig auszustrecken. Die Wände bestanden aus rohen Betonsteinen, und die Tür war eine solide Stahlplatte mit einem Schlitz am unteren Rand – zum Durchschieben der Essensrationen – sowie einem weiteren in Augenhöhe, der der Beobachtung diente.

Er befand sich in Einzelhaft.

Perfekt, dachte er.

Er war noch immer an den Füßen gefesselt, und in ihrer Verwirrung schien den Wärtern entgangen zu sein, dass er auch noch immer die Handschellen trug, die er bereits während des Transports getragen hatte.

Perfekt, dachte er abermals und grinste.

In ihrem Zorn und Bemühen, den Gefangenen zu bestrafen, hatten die Wärter außerdem versäumt, die vorgeschriebene Durchsuchung vorzunehmen, sonst hätten sie ihm wahrscheinlich seine Beinprothese abgenommen.

Großartig. Jetzt wusste er, dass er es geschafft hatte.

Juan Cabrillo war in seinem bisherigen Leben aus mehr als einem Gefängnis ausgebrochen, aber dies war das erste Mal, dass er in ein Gefängnis eingebrochen war.

Der einzige Zweck seines spektakulären Auftritts hatte darin bestanden, in Einzelhaft gesteckt zu werden, sobald er angekommen war. Marko und sein Kumpan waren hierfür die geeigneten Ziele gewesen, aber wenn nötig, hätte Cabrillo es auch noch mit den Wärtern aufgenommen. Keiner von ihnen war das, was man als einen anständigen Bürger hätte bezeichnen können, der eine notwendige, aber unangenehme Tätigkeit ausübte. Die Wärter waren handverlesene Kriminelle, die zu einer Privatarmee gehörten, die von Pytor Kenin befehligt wurde, einem Flottenadmiral, der wahrscheinlich die zweitkorrupteste Erscheinung auf dem Planeten war. Cabrillo hatte geplant, die übliche Aufnahmeprozedur im Gefängnis vollständig zu umgehen.

Er berührte die Stelle an seinem Kopf, wo ihn die Stahlfesseln getroffen hatten. Die Blutung war versiegt. Er blickte auf seine Brust. Die Tätowierungen sahen echt aus, obgleich sie erst eine Woche zuvor in mehreren vierstündigen Sitzungen an Bord der Oregon auf die Haut aufgebracht worden waren. Kevin Nixon, ein ehemaliger in Hollywood beschäftigter Spezialeffektkünstler, der die Bilder mit einer Spezialtinte auf die Haut zeichnete, hatte ihn gewarnt, dass die Kunstwerke sehr schnell verblassen würden. Daher hatte Cabrillo alles unternommen, um sofort nach seiner Ankunft in eine Einzelzelle gesperrt zu werden.

Juan krempelte sein Hosenbein hoch und überprüfte das künstliche Bein, das dicht unter seinem Knie befestigt war. Es war weder das naturgetreueste noch das funktionellste Modell in seiner Prothesenkollektion. Diese Prothese war sogar speziell für diese Mission angefertigt worden, damit er so viele Ausrüstungsgegenstände wie möglich ins Gefängnis schmuggeln konnte. Das Bein war ein nahezu vollkommener Zylinder mit nur einer winzigen Einbuchtung, die den Ansatz des Fußgelenks anzeigen sollte. Hätte ihm ein Wärter Fußeisen angelegt, wäre er sofort misstrauisch geworden, aber der Fahrer, der die Fesselung durchgeführt hatte, stand auf Cabrillos Lohnliste für diese Mission. Während des gesamten Transports und der nachfolgenden Ereignisse hatte nur er Cabrillos Beine fixiert, ganz so wie sie es geplant und immer wieder geübt hatten.

Juan betastete abermals seine blutige Schläfe und wünschte sich, sie hätten das Ganze noch ein wenig intensiver geprobt.

Da er den Tagesablauf im Gefängnis nicht kannte, entschied er, dass es wohl am besten sei, eine Weile zu warten, bis er aktiv wurde. Damit gewänne er auch ein wenig Zeit, um sich von den Misshandlungen zu erholen. Der erste Teil der Operation, die Entführung des Transporters mit dem echten Iwan Karnow, war glattgegangen. Die beiden Fahrer und ihr Gefangener lagen gefesselt und geknebelt in einem verlassenen Haus in einer verschlafenen kleinen Hafenstadt, von der es bis zum Gefängnis nicht mehr weit war.

Sobald diese Operation abgeschlossen wäre, würde bei der Verwaltung der Stadt ein entsprechender Telefonanruf eingehen, und Karnow befände sich auf der Weiterreise zu dem, was das Schicksal hier für ihn bereithielt.

Der zweite Teil – sich ins Gefängnis zu schmuggeln – war erwartungsgemäß ebenso glatt verlaufen. Es war vielmehr die dritte Phase, die Cabrillo einiges zu denken gab. Max Hanley, Cabrillos bester Freund und stellvertretender Kommandant ihres Einhundertachtzig-Meter-Frachters und außerdem ein allgemeiner Miesepeter, bezeichnete es als vollkommenen Wahnsinn.

Aber das war es, was die tägliche Routine Juan Cabrillos und seines Teams ausmachte – das Unmögliche aus den richtigen Gründen zu bewerkstelligen. Und für den richtigen Preis.

Und während diese Mission eine persönliche Komponente für Cabrillo enthielt, war er sich keineswegs zu schade, den Rest der fünfundzwanzig Millionen Dollar anzunehmen, die ihnen garantiert worden waren.

Während der nächsten sechsunddreißig eisigen Stunden informierte er sich über den Tagesablauf in der Einzelhaftabteilung. Viel brauchte er sich nicht einzuprägen.

Nach seiner Schätzung war es gegen Mittag, als der Spalt am unteren Türrand geöffnet wurde und ein Stahltablett mit einer Schüssel dünner Brühe und einem Stück Schwarzbrot, so groß und hart wie eine Handgranate, hereingeschoben wurde. Er hatte so viel Zeit zum Essen, wie der Gefängniswärter brauchte, um die anderen Gefangenen in diesem Stockwerk zu versorgen und ihre Toiletteneimer auszuleeren, die ihm die Männer hinausreichten. Den Geräuschen nach zu urteilen, die der Wärter bei seiner trübseligen Arbeit erzeugte, befanden sich noch sechs weitere Gefangene in Einzelhaft. Da keiner der Insassen redete, schloss Cabrillo, dass er sicherlich mit Repressalien rechnen musste, wenn er etwas sagte.

Er schwieg, ignorierte die Mahlzeit und wartete. Eine behaarte Hand griff nach dem Tablett. Der Wärter murmelte: »Wie du willst. Aber das Essen wird nicht besser.« Und der Spalt schloss sich.

Als ihm klar war, dass niemand die Männer in diesem Stockwerk überprüfte – außer bei der einmaligen Essensausgabe am Tag –, machte sich Cabrillo an die Arbeit. Nachdem er sein künstliches Bein abgenommen und den Verschlussdeckel geöffnet hatte, holte er seine Ausrüstungsgegenstände heraus und legte sie um sich herum auf dem Fußboden bereit. Zuerst öffnete er mit einem Schlüssel die Stahlfesseln. Der Schlüssel war eine Kopie des Originals, das der Fahrer des Gefangenentransporters bei sich trug. Nicht mehr bei jedem Schritt ein lautes Klirren zu erzeugen – wie der Geist von Jacob Marley –, das war schon ein großer Segen. Das Hemd und die Jacke wieder anzuziehen, die mit ihm in die Zelle gebracht worden waren, empfand er dann geradezu als paradiesisch. Das Nächste, was er aus dem Bein geholt hatte, waren fast ein Dutzend Tuben mit einer knetgummiartigen Substanz. Dabei handelte es sich um den Schlüssel zum Gelingen der gesamten Operation. Wenn es nicht funktionierte und Mark Murphy und Eric Stone, Cabrillos Spitzentüftler, Mist gebaut hatten, würde dies der kürzeste Gefängnisausbruch der Geschichte werden.

Er schnallte sein künstliches Bein wieder an Ort und Stelle, schraubte eine der Tuben auf und schmierte dicht über dem Fußboden einen kleinen Tropfen des Gels auf die mit Mörtel gefüllte Fuge zwischen zwei Betonsteinen.

Alle möglichen schrecklichen Gedanken zuckten durch Cabrillos Kopf, da das Gel nicht genauso reagierte wie auf der Oregon, als sie damit experimentiert hatten. Aber das Gehirn kann beängstigende Szenarien innerhalb von Sekundenbruchteilen entwickeln. Chemische Reaktionen dauern in der Regel ein wenig länger.

Stone und Murph hatten die chemische Zusammensetzung des Mörtels, der hier benutzt worden war, rekonstruiert, indem sie in Archangelsk Tausende von Geheimdokumenten durchforstet hatten. Dort war die Baufirma, die seinerzeit in den 1970ern die Gefängnisanlage gebaut hatte, ansässig. (In Wahrheit war ein Team der Oregon in die Firmenverwaltung eingebrochen und hatte die Dokumente in drei Nächten gescannt und den Großrechner des Schiffs damit gefüttert, damit er sie übersetzte, und erst danach hatten sich Eric und Mark ans Werk gemacht.)

In weniger als einer Minute hatte die säurehaltige Masse den Mörtel vollständig aufgelöst. Cabrillo schraubte dann eine Röhrensonde auf die Tube, damit er sie in den schmalen Spalt, den er geschaffen hatte, schieben konnte, und presste mehr Gel in die Öffnung, um den restlichen Mörtel auf der anderen Seite des Mauersteins zu entfernen. Als er sicher sein konnte, dass der Spalt vollkommen frei war, schob er den Betonstein in den schmalen Raum zwischen der Zellenwand und der Außenmauer im Parterre des Gefängnisgebäudes. Er blickte in die dunkle Höhlung und sah, dass das nächste Hindernis ein Fertigbetonteil war, das auf einem Zementbett ruhte. Jedes dieser Bauelemente wog an die zehn oder mehr Tonnen.

Das Säuregel würde dieser Masse nicht viel anhaben können, aber das Paket C-4-Plastiksprengstoff dürfte den Job mehr als ausreichend erledigen.

ZWEI

Cabrillo brauchte fast eine ganze Stunde, um aus der bausteingroßen Lücke eine Öffnung zu schaffen, durch die er kriechen konnte. Für den unwahrscheinlichen Fall einer zufälligen Kontrolle durch den Türspion stapelte er die Mauersteine weit genug vor der Öffnung aufeinander, so dass er sich dahinterzwängen konnte. Bei der dürftigen Beleuchtung der Zelle erweckte diese Anordnung die optische Illusion einer soliden Wand.

Als Nächstes nahm er die Wand neben der Zellentür in Angriff. Anstatt mit Hilfe des Säuregels einzelne Steine zu entfernen, löste er, soweit er ihn erreichen konnte, den gesamten Mörtel auf einer Fläche, die wenig größer als sein Körper war, auf. Auch dies war eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass ein Wärter oder der Gefängnisdirektor zu einer Kontrolle erschien. Erst wenn er bereit war, auch den letzten Schritt zu tun, würde er den restlichen Mörtel wegsprengen.

Als vorletztes Hilfsmittel war ein winziger Sender in seinem künstlichen Bein deponiert worden. Sobald er ihn aktivierte und sein Peilsignal die Männer erreichte, die auf dem Schiff warteten, hätte er sechs Minuten Zeit, um den Mann zu holen, den er befreien sollte, die C-4-Ladung zu zünden, die er bereits vorbereitet hatte, und ans Tageslicht zu gelangen.

Yuri Borodin war hier erst seit ein paar Wochen eingekerkert. Obwohl der Mann wie ein Bär aß und, nun, wie ein Russe trank und lediglich alle drei Schaltjahre etwas für seine Fitness tat, war er für einen Fünfundfünfzigjährigen immer noch in ziemlich guter körperlicher Form. Andererseits hätten ihm die Wärter in dieser Zeit übel mitspielen können. Nach allem, was Juan wusste, war es wahrscheinlich, dass er einen gebrochenen und zerstörten Menschen in Yuris Zelle antreffen würde. Oder, noch schlimmer, Yuri war bereits hingerichtet und seine Asche auf den Hügel außerhalb des Gefängniszauns gestreut worden.

Ganz gleich, was er vorfände, Cabrillos Sechs-Minuten-Frist stand jedenfalls unverrückbar und unabänderlich fest.

Er nahm sich den restlichen Mörtel vor, entschlossen dazu, jeden Hauch eines Zweifels beiseitezuschieben. Als er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, angelte er als letztes Hilfsmittel die Dietriche und Lockpicks aus der zur Trickkiste umfunktionierten Beinprothese und suchte sich einen Weg durch die Zellenwand. Nach einem kräftigen Fußtritt krachten die Zementblöcke mit einer aufwirbelnden Staubwolke auf den Fußboden, und Juan hechtete mit dem Kopf voran hindurch.

»Yuri«, raunte er leise, als er drüben auf die Füße kam.

Er befand sich in einem langen Korridor mit mindestens zwanzig Zellentüren. Am fernen Ende konnte er erkennen, wie der Gang in einem Winkel von neunzig Grad abknickte. Dank seines intensiven Studiums der Baupläne wusste er, dass sich dort gleich um die Ecke eine weitere Tür befand und dahinter eine Treppe, die zum ersten Stock des Gefängnisbaus führte. Das Ganze hatte Ähnlichkeit mit dem Zellenblock, in dem Hannibal Lecter gefangen gehalten wurde, nur ohne die gruselige Wand aus Acrylglas.

»Wer ist da?«, fragte genauso leise eine Stimme, die er aus den Jahren ihres engen Kontakts kannte.

Juan ging zu der Tür, hinter der nach seiner Berechnung Yuri gefangen sein musste, und öffnete den Spion. Die Zelle war leer.

»Links von dir«, sagte Yuri.

Juan schob die Klappe vor dem Sichtspalt zur Seite und sah vor sich Admiral Yuri Borodin, den ehemaligen Kommandanten der Marinebasis in Wladiwostok. Es war Borodins Werft gewesen, in der die Oregon neu ausgerüstet und mit ihrem raffinierten Waffensystem versehen wurde, nachdem das ursprüngliche Schiff, ein Frachter, außer Dienst gestellt und nahezu vollständig ausgeschlachtet worden war. Der Einbau ihrer revolutionären magnetohydrodynamischen Maschinen war dann auf einer anderen Werft, die ebenfalls unter dem Befehl Borodins stand, durchgeführt worden. Die Ausführung beider Projekte hatten Gesamtkosten von fast einhundert Millionen Dollar verursacht, aber da Juans Chef bei der CIA grünes Licht zum Umbau der Oregon in das Superschiff, das sie mittlerweile war, gegeben hatte, stellte die Finanzierung keinerlei Problem dar.

Borodins normalerweise bronzebraunes Haar hing schlaff und glanzlos zu beiden Seiten seines offenen Gesichts herab, und seine Haut hatte eine ungesunde gelbliche Farbe. Aber in den dunklen Augen lag noch immer das Funkeln des gerissenen Fuchses, der er war. Sie hatten ihn noch nicht gebrochen, noch lange nicht.

Sein Gesicht signalisierte Verwirrung und misstrauische Wachsamkeit, während er den überraschenden Besucher betrachtete, als würde er ihn zwar erkennen, jedoch nicht einordnen können. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, das seine Zähne entblößte. »Chairman Juan Cabrillo«, rief er laut, ehe er seine Stimme wieder zu einem Flüstern herabsenkte. »Warum bin ich nicht im Mindesten überrascht, dich von allen Gefängnissen in allen Städten dieser Welt ausgerechnet in diesem hier anzutreffen?«

»Weil ich ein Bruder im Geiste bin«, sagte Cabrillo mit Ölgötzenmiene.

Borodin griff durch den Beobachtungsschlitz, um mit den Fingerknöcheln über Juans Schädeldecke zu reiben. »Was hast du mit dir angestellt?«

»Ich hab mich für dich schön gemacht.« Mittlerweile machte sich Juan mit den Picks am Türschloss zu schaffen.

»Wer schickt dich?«

»Misha.« Hauptmann Mikhail Kasporow war Borodins langjähriger Helfer und Adjutant.

»Gott segne den Jungen.« Plötzlich kam ihm ein düsterer Gedanke. »Um mich zu retten oder zu töten?«

Juan schaute von dem Schloss hoch, das er fast geöffnet hatte. »Ist deine Paranoia mittlerweile so schlimm? Um dich zu retten natürlich, du Idiot.«

»Ah, er ist wirklich ein guter Junge. Und was meine Paranoia angeht – ein Blick auf meine derzeitige Umgebung sollte dir klarmachen, dass ich nicht paranoid genug war. Was gibt’s Neues, mein Freund?«

»Mal sehen. Der Bürgerkrieg im Sudan neigt sich dem Ende zu. Die Dodgers haben keinen anständigen Werfer mehr. Und ich glaube, dass die eine Hälfte der Kardashian-Familie nur ans Heiraten denkt, während sich die andere Hälfte dauernd scheiden lässt. Oh, und schon wieder einmal hast du es geschafft, den Falschen zu verärgern.«

Auf seinem rücksichtslosen Aufstieg zur Macht innerhalb der russischen Marine, unterstützt von rechts stehenden politischen Kumpanen, hatte der launenhafte Admiral Pytor Kenin eine Spur der Zerstörung hinterlassen – ruinierte Karrieren und, in einem Fall, den ungeklärten Tod eines Rivalen. Nun, da er einer der jüngsten Flottenadmirale in der wechselvollen Geschichte des Landes war, kamen vermehrt Gerüchte auf, dass er in Kürze, von Wladimir Putin gefördert, in die Politik gehen wolle.

Yuri Borodin war zu einem der Gegner Kenins geworden und hatte eine zu starke Position innerhalb des Generalstabs, um einfach nur entlassen zu werden, war dann aber schließlich auf Grund fadenscheiniger Anschuldigungen verhaftet und bis zu seinem Gerichtsverfahren ins Gefängnis gesteckt worden – ein Verfahren, dessen Beginn er höchstwahrscheinlich nicht erleben würde. Eine von Kenin kontrollierte Privatfirma betrieb das Gefängnis im Auftrag der Regierung als eine halb amtliche, halb private Kooperative ähnlich der Organisationen, die den Oligarchen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zum Aufstieg verholfen hatten. Es wäre ein Leichtes, seine Ermordung zu arrangieren und auch durchzuführen, nachdem sich die anfängliche öffentliche Erregung über seine Verhaftung gelegt hätte.

Dass Borodin korrupt war, war ein offenes Geheimnis, aber ihn allein zur Rechenschaft zu ziehen war genauso, als würde man einen einzigen Konsumenten in einem überfüllten Drogenclub verhaften. Korruption im russischen Militär gehörte genauso zur Kultur des Landes wie kratzige Uniformen und schlechte Verpflegung.

»Und das alles tust du aus reiner Herzensgüte?«

»Natürlich«, sagte Cabrillo. »Und für ein Zehntel deines Vermögens.«

»Bah. Misha ist ein guter Junge, aber anständig verhandeln kann er nicht. Für das, was ich mit dieser überdimensionierten Schute gemacht habe, liebst du mich wie einen Bruder. Wir hatten schöne Zeiten, du und ich, während die Männer in meiner Werft dein Kätzchen in eine Löwin verwandelten. Allein aus Respekt für dieses Andenken solltest du mich retten, ohne irgendeine weitere Forderung zu stellen.«

Juan konterte: »Ich hätte das Doppelte verlangen können, und Mikhail hätte es bezahlt, weil nicht einmal er die Nummern deiner sämtlichen Schweizer Bankkonten kennt.« Damit drehte er die Picks und ließ das Schloss aufschnappen.

Das Erste, was Yuri Borodin tat, war, Cabrillo zu umarmen und auf beide Wangen zu küssen. »Du bist ein Heiliger in Menschengestalt.«

»Bleib mir vom Leibe, du verrückter Russe«, sagte Juan mit dem Anflug eines Lächelns, während er sich aus Yuris Umarmung befreite. »Wir sind noch nicht aus dem Schneider.«

Borodin wurde ernst. »Wir müssen über vieles reden. Der Zeitpunkt meiner Verhaftung war kein Zufall.«

»Aber nicht jetzt. Gehen wir.«

Sie krochen in Cabrillos Zelle zurück. Juan griff nach dem Minisender, stellte im Geiste eine Zeitschaltuhr ein und setzte beide in Gang. Dann zündete er den Sprengstoff, den er vorher ein gutes Stück von seinem Kaninchenloch entfernt an die Außenmauer des Gefängnisgebäudes geklebt hatte. Der Explosionsknall wurde durch die innen liegenden Betonsteine zwar gedämpft, aber die Erschütterung war dennoch in jedem Winkel der weitläufigen Anlage zu spüren. Die Wachen würden sofort ihre vorgeschriebenen Positionen besetzen.

Juan tauchte in den engen Raum zwischen Innenwand und Außenmauer des Gefängnisses ein. Dort wandte er sich zu Borodin um. »Ganz gleich, was geschieht, bleib in meiner Nähe.«

Yuri nickte grimmig. Seine übliche Lässigkeit war einer echten Sorge für sein weiteres Schicksal gewichen.

Sie bewegten sich durch den engen Raum und mussten sich an Rohrleitungen vorbeizwängen, die aus dem Boden ragten. Sie gehörten zum passiven Ammoniakkühlsystem, das dafür sorgte, dass die vom Gefängnis produzierte geringe Wärme den Permafrost, auf dem es erbaut war, nicht zum Auftauen brachte. Die Luft war mehr und mehr mit dem stechenden Brandgeruch des Sprengstoffs gesättigt, je näher sie der Bresche in der Außenmauer kamen.

Das C-4 hatte ein zerfranstes Loch mit dem Durchmesser eines Gullydeckels in die Betonplatte gesprengt. Betonbrocken knirschten unter seinen Füßen, als Cabrillo sich durch die Öffnung schlängelte. Auf der anderen Seite gelangte er in einen Graben, der den gesamten Gefängnisbau umgab. Dieser freie Raum diente als eine Art thermaler Puffer, um auch hier die vom Gebäude abgestrahlte Wärme daran zu hindern, den gefrorenen Untergrund aufzuweichen.

Vier Meter über ihren Köpfen tarnten Stahlplatten den Graben, so dass er von oben nicht zu erkennen war. Dutzende von Löchern waren durch die Platten gebohrt worden, damit die Luft ungehindert zirkulieren konnte. Gestützt wurden sie durch ein stählernes Gerüst. Schnee verstopfte einige dieser Löcher und rieselte infolge der Explosion stellenweise in den Graben hinab.

»Komm schon«, rief Juan über den Lärm einer auf- und absteigenden Sirene hinweg. Sie entfernten sich im Laufschritt von dem Loch in der Mauer, da die Explosion von den Wächtern in den Türmen sicherlich beobachtet worden war. Es war, als bewegten sie sich durch ein Labyrinth. Sie mussten sich verrenken und sich um unzählige Stützen und Verstrebungen herumwinden, aus denen das Tragegerüst bestand. Und dennoch wäre sicherlich nur ein professioneller Schlangenmensch schneller vorangekommen als diese beiden Ausbrecher. Sobald sie um eine Gebäudeecke gebogen waren, ging Cabrillo noch ein paar Schritte und begann dann aufwärts zu klettern. Der Stahl war so kalt, dass es sich für sie anfühlte, als würden sie sich die Hände versengen. Die Deckplatten waren von oben mit Schrauben an den Streben des Stahlgerüsts befestigt. Der Inhalt einer letzten Tube konzentrierter Säure, die Stahl auflösen konnte, fraß sich durch die verrosteten Schraubenmuttern und Gewindebolzen.

Cabrillos sechs Minuten waren fast aufgebraucht. Jetzt nahm er eine Position ein, in der er die Deckplatte unter Einsatz von Rücken und Beinen nach oben stemmen und vom Gerüst lösen konnte.

»Denk daran, bleib bei mir, und wir kommen heil hinaus«, warnte er Yuri abermals. »Die Hälfte von dem, was hier abläuft, ist reine Show.«

Er spannte die Schultern an, um zu testen, wie stark der Widerstand der Platte nach so vielen Jahrzehnten war, und zu seiner Überraschung gab die perforierte Stahlplatte mit einem leisen Klirren nach, ehe er seine gesamte Kraft einsetzen konnte.

Die Gefängnissirene heulte auf, aber über ihrem an- und abschwellenden Ton war das unverwechselbare Flappen der Rotorflügel eines Helikopters zu hören, der sich mit hohem Tempo näherte.

Die Zeitschaltuhr in seinem Kopf sprang auf null, und Cabrillo wuchtete die Stahlplatte zur Seite. Er kletterte nach oben und hinaus auf die Erde. Dabei wusste er genau, dass sich seine blaue Gefängniskluft deutlich von dem tiefen Schnee abhob, der sich ringsum in hohen Verwehungen abgelagert hatte. Ein aufmerksamer Wächter würde ihn sofort bemerken, aber er verließ sich ganz auf den menschlichen Instinkt, der sie davor bewahrte, entdeckt zu werden. Die Wachen müssten eigentlich den herannahenden Hubschrauber beobachten.

Er konnte den Helikopter außerhalb des Sicherheitszauns ausmachen. Er glich einem olivfarbenen Insekt, das ständig größer wurde, ehe er es als einen plumpen Kamow Ka-26 identifizierte. Mit ihren beiden Hauptrotoren, die auf dem Rumpf übereinander angeordnet waren und sich in entgegengesetzten Richtungen drehten, brauchte die Maschine keinen Heckrotor an einem langen ausladenden Heckausleger. Damit sah der Sechs-Personen-Heli wie ein fliegender Möbelwagen mit zwei stummelartigen Höhenrudern an der hinteren Stoßstange aus.

Sekunden später tauchte Yuri neben ihm auf, und beide Männer pressten sich mit dem Rücken gegen die glatte Mauer des Gefängnisbaus.

Nun, da er näher herangekommen war, erkannte Juan auch die beiden kleinen Tragflächen, die dicht hinter der Pilotentür am Rumpf des Helikopters befestigt worden waren.

Ein nervöser Wachmann feuerte mit seiner Kalaschnikow eine lange Salve ab, obgleich sich der Helikopter noch außerhalb der Schussweite befand. Als Antwort verließ eine einzelne Rakete eines der Winglets und raste auf den äußeren Zaun zu, während ein schweres Maschinengewehr auf der gegenüberliegenden Seite mit lautem Rattern zum Leben erwachte und eine Flammenzunge ausspuckte, die an der Cockpitkanzel entlangleckte. Patronenhülsen so groß wie Zigarrenhüllen regneten von der Waffe herab, während gleichzeitig der frisch gefallene Schnee zwischen dem Gebäude und dem Schutzzaun von einem Bleischauer aufgewühlt wurde.

»Renn!«, brüllte Juan in diesem Augenblick durch den ohrenbetäubenden Lärm.

Zu Yuris namenlosem Erstaunen stürmte Cabrillo mitten in den vom Maschinengewehr entfesselten Mahlstrom, als wäre er ein Angehöriger der leichten Brigade, der bei Balaklawa die russischen Kanonen mit bloßer Hand angreifen wollte.

»Ganz gleich, was geschieht, folge mir«, hatte der Mann gesagt, der sich auch »der Chairman« nannte, und zu seiner großen Verwunderung stieß Yuri einen lauten Schrei aus, der beim Lärm der Sirene, des Hubschraubers und des immer noch hämmernden Maschinengewehrs ungehört verhallte, und rannte hinter seinem Freund her.

Die Rakete schlug vor dem Zaun ein und schleuderte noch mehr Schnee und gefrorene Erdbrocken hoch. Borodin rechnete damit, jeden Moment niedergestreckt zu werden, während rings um ihn Schneefontänen aufwirbelten, in die Höhe geschleudert von Projektilen, deren singenden und pfeifenden Vorbeiflug er in seiner Erregung noch nicht hatte hören können.

Dann spürte er einen leichten Schlag unter seinem linken Fuß. Er war nicht stark genug, um ihn zu Boden stürzen zu lassen, aber er brachte ihn ins Stolpern. Es war der Beweis, den er brauchte, um zu begreifen, dass er gegen die enorme Menge von Kugeln, die sich aus dem Maschinengewehr des Hubschraubers ergossen, nicht immun war. Denn in Wahrheit gab es keine Kugeln. Der Kamow feuerte Platzpatronen, und die Schneefontänen, die eine drei Meter hohe Dunstschicht erzeugten, stammten von kleinen Sprengladungen, die Cabrillos Team höchstwahrscheinlich verteilt hatte. Die Männer mochten sie während des letzten Schneesturms einfach über den Zaun geworfen haben.

Aber ihr Glück konnte nicht ewig dauern. Projektile aus den Maschinengewehren der Männer in den Wachtürmen folgten ihnen und machten sich durch Überschallknalllaute dicht neben ihren Köpfen bemerkbar. Borodin wünschte sich, Cabrillo wäre nicht so weich. Hätte er diese Flucht geplant, hätten die ersten Raketen des Kamows die erhöhten Positionen der Wachen ausradiert. Aber Juan war nun einmal anders. Obgleich Söldner und genauso hart wie jeder andere in diesem Gewerbe, verabscheute er doch jegliches Töten, wenn es nicht unbedingt nötig war, selbst wenn er damit sein eigenes Leben aufs Spiel setzte. Juan kannte diese Männer nicht. Er wusste auch nicht, dass sie zu Kenins Privatarmee gehörten und mehr für ihre Loyalität zum Admiral als zu Mütterchen Russland bezahlt wurden. Sie trugen die Uniformen ihres Vaterlandes, aber sie waren nicht weniger Söldner als Cabrillo selbst.

Während mehr und mehr echte Kugeln den Untergrund aufwühlten, schafften es Cabrillo und Borodin über das freie Feld, ohne dass einer von ihnen getroffen wurde. Die Rakete hatte einen Abschnitt des Zauns unweit eines seiner Stützpfähle zerrissen und eine Lücke geschaffen, die zwar so groß war, dass sie beide hindurchrennen konnten, sie jedoch zwang, nach links zu schwenken, um dem Knäuel tödlichen Klingendrahts auszuweichen, das sich mitten in der Lücke auftürmte.

Nachdem sie den Schießstand verlassen und sich dem Hubschrauber weiter genähert hatten, sahen sie, dass auf jeder Seite des Kamows Seile aus der Kabine heraushingen, die lang genug waren, so dass sie über den Boden schleiften.

Juan führte sie zu diesen Seilen und fand schnell die Schlinge für seinen Fuß und eine weitere für eine Hand. »Häng dich dran«, rief er über das Rattern der Rotoren und der Maschinengewehre hinweg.

Der Abwind des Choppers hatte mindestens Sturmstärke.

Der Pilot musste gesehen haben, wie die beiden Männer ihre Plätze einnahmen, denn kaum hatte Yuri einen Schuh durch eine der Schlingen geschoben und seine Hand durch eine andere, da hatte er auch schon das Gefühl, sein Magen verlasse seinen Körper durch die Sohlen seiner Füße.

Der Kamow stieg auf, ließ die Männer wie Uhrpendel hin und her schwingen, als der feste Boden gut dreißig Meter unter ihnen wegsackte. Während der Hubschrauber Tempo aufnahm, attackierte der Wind ihre Körper mit Nadelstichen, die ihre Haut taub werden ließen und die Augen in Wasserfälle verwandelten.

Borodin hatte Mühe, an dem sich windenden, flatternden Seil Halt zu finden, und betete, dass Cabrillos Plan eine baldige Landung vorsah, so dass sie sich in eine gemütliche warme Kabine – und da er Juans Stil kannte – mit einer guten Flasche Brandy verkriechen konnten. Er hatte keine Ahnung, wie lange er durchhalten würde, aber als er auf den Schnee und die Felsen hinabblickte, die unter ihm vorbeirasten, wusste er, dass seine Kraft für den Rest seines Lebens ausreichen würde, denn ein Absturz wäre sein sicherer Tod.

Der Chopper donnerte nach Osten und tiefer in die Berge hinein. Dabei flog der Pilot so niedrig, wie es mit den beiden Männern, die unter dem dreirädrigen Landefahrwerk baumelten, nur möglich war. Jedes Absinken und Aufsteigen und jeder Schwenk schüttelte die Körper der beiden Männer bis auf die Knochen durch. Die Dämmerung senkte sich auf die Landschaft herab, aber der Pilot schaltete keinen Landescheinwerfer ein. Borodin vermutete, dass er über ungewöhnliche Nachtsichtfähigkeiten verfügte, um seine Maschine derart tollkühn durch diese engen und völlig fremden Schluchten zu lenken.

Nach einer Ewigkeit von zehn eisigen Minuten veränderte sich der Lärm der Rotoren, als sie sich einem kleinen Kiefernwäldchen näherten, das sich in den Schutz einer steilen Felswand duckte. Endlich landeten sie. Borodin würde den Chairman wegen dieses qualvollen Flugs verfluchen, aber erst, nachdem er aufgehört hätte, vor Kälte zu zittern.

Der Helikopter sank tiefer und tiefer, bis beide Männer aus den Schlingen aussteigen und sich unter dem Abwind der rasenden Rotoren ducken konnten. Borodin erwartete, dass der Kamow den Sinkflug fortsetzen und landen werde, aber stattdessen nahm der Motorenlärm der Maschine eher noch zu, und das wenig ansehnliche Fluggerät schoss abermals nach Osten davon und ließ die beiden Männer einsam in einer Eiswüste zurück. Er wusste, dass beide innerhalb der nächsten Stunde an Unterkühlung sterben würden, wenn nicht sogar noch eher. Er wusste aber auch, dass Juan Cabrillo noch nicht alles aus seiner Trickkiste hervorgezaubert hatte.

Borodin deutete in die Richtung, in die sich der Hubschrauber entfernt hatte, um kurz darauf hinter einem zerklüfteten Hügel zu verschwinden. »Ein Lockvogel, nicht wahr?«

Juan wechselte vom Russischen – einer der vier Sprachen, die er beherrschte – in seine Muttersprache, sagte jedoch in einem Englisch mit übertriebenem russischem Akzent: »Lockvogel, da.«

»Was ist mit dem Piloten? Wird ihm nichts passieren?«

»Warum sollte es? Er sitzt hinter einer Konsole an Bord der Oregon.«

Juan erfreute sich an der Bandbreite von Emotionen, die über Yuris windgepeitschtes Gesicht huschten, als er diese Information verarbeitete. Unverständnis verwandelte sich in Begreifen, und dann folgte das Entsetzen beim Durchspielen der verschiedenen Möglichkeiten. Am Ende aber stellte sich Entrüstung über die potentiellen Folgen ein.

»Du meinst, während wir an Bergen vorbeigeflogen sind und stellenweise beinahe Bodenberührung hatten, gab es keinen Piloten? Hätte er uns töten können, während er warm und sicher in deinem Schiff hockte?«

Juan konnte nicht anders, als ihn noch ein wenig mehr zu necken. »Mein Pilot, Gomez Adams, so genannt wegen einer kurzen Affäre, die er mit einer Frau hatte, die fast genauso aussah wie Carolyn Jones, die originale Morticia, hatte weniger als eine Woche Zeit, um zu üben, den Kamow fernzusteuern, nachdem wir ihn gekauft und die Fernbedienungskontrollen eingebaut haben.«

»Du bist übergeschnappt.«

»Total«, pflichtete ihm Juan grinsend bei. »Komm jetzt weiter.«

Er ging ein kurzes Stück voraus in den Wald, wo Cabrillos Team eine weitere Überraschung vorbereitet hatte. Es war ein mattweiß lackiertes Lynx-Rave-RE-800R-Schneemobil, das perfekt mit der winterlichen Umgebung verschmolz. Mit seinen breiten Laufketten und doppelten Skikufen war es die geeignete Maschine, um arktisches Terrain zu überqueren. Daneben stand eine große Tasche, die Helme und Schneeanzüge enthielt – ein Helm war batteriegespeist, der andere konnte an das Stromnetz des Lynx angeschlossen werden – sowie Thermostiefel und Thermohandschuhe.

»Zieh das an. Vor dem Gefängnis stand ein Helikopter. Damit werden sie uns bald auf den Fersen sein.«

Während sie sich anzogen, sagte Yuri: »Deshalb haben wir die Richtung nicht geändert, als wir losgeflogen sind. Du wolltest, dass sie den Kamow verfolgen.«

»Und während sie nach Osten fliegen und einen leeren Chopper verfolgen, bewegen wir uns nach Norden, wo die Oregon auf uns wartet.«

»Wie lange?«

Juan schwang ein Bein über den Sattelsitz des Motorschlittens und schaltete den 800-Kubikzentimeter-Rotax-Motor ein. Über dem Summen des Zweitakters antwortete er: »Etwa eine Stunde.«

Er stöpselte eine Schnur, die von seinem Helm herabhing, in ein Satellitentelefon, das sich bei der Ausrüstung befunden hatte.

»Hier ist Edmond Dantès.« Sein Codename erinnerte an den berühmten Gefangenen, der in Alexandre Dumas’ Meisterwerk Der Graf von Monte Christo aus einem Gefängnis fliehen konnte, in dem er eine lebenslängliche Strafe hatte absitzen sollen. »Wir konnten das Chateau d’If verlassen.«

»Edmond«, erklang Max Hanleys glückliche Antwort. »Bist du bereit, den Schatz zu suchen und dich zu rächen?«

»Der Schatz wird auf ein Nummernkonto überwiesen, sobald wir an Bord zurückgekehrt sind. Rache habe ich niemals im Sinn gehabt.«

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Max und verzichtete auf jeden weiteren Versuch, so zu tun, als hätte er sich keine Sorgen um Juans Sicherheit gemacht.

»Bisher problemlos. Die Knallbomben haben besser funktioniert, als wir gehofft haben, und Gomez hätte diesen Chopper durch ein Nadelöhr lenken können, wenn es nötig gewesen wäre.«

»Der Lautsprecher hier im Operationszentrum ist eingeschaltet, Chef«, meinte George Adams in seinem gedehnten Texas-Slang. »Ich hab’s gehört und denke nicht daran, Ihnen zu widersprechen.«

Juan konnte sich sehr gut vorstellen, wie sich der attraktive Texaner mit seinem herabhängenden Revolverschwingerschnurrbart auf seinem Platz halb rechts hinter dem Kommandosessel in der Mitte des Nervenzentrums der Oregon