Tarzan am Main - Wilhelm Genazino - E-Book

Tarzan am Main E-Book

Wilhelm Genazino

4,4

Beschreibung

Wer Deutschland sehen will, fährt nach Berlin oder München, auch an den Rhein. Aber liegt das wirkliche Deutschland nicht ganz woanders? Dort, wo man keine Stadtrundfahrten macht? Vielleicht sogar in einer Fußgängerunterführung in Frankfurt am Main? Wilhelm Genazino hat sich auf den Weg gemacht, die unansehnliche, aber wirkliche Mitte Deutschlands zu erkunden: Einkaufsstraßen und Vororte, Katzen in Schaufenstern, nächtlich knabbernde Mäuse in der U-Bahn und alkoholbedürftige Menschen an grauen Kiosken. Zugleich rekonstruiert er voller Witz den eigenen Weg durch Frankfurt - als stiller Beobachter einer gewöhnlichen Stadt, die exotischer ist als die Ferne, die inzwischen jeder kennt.

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Hanser E-Book

Wilhelm Genazino

Tarzan am Main

Spaziergänge in der MitteDeutschlands

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24265-4

© 2013 Carl Hanser Verlag München

Satz im Verlag

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In der Rohrbach-Straße geht ein nach Sandelholz duftender Inder an mir vorbei. Ihm folgt ein junger Mann, der sich während des Gehens mit einem kleinen Kamm den Oberlippenbart kämmt. Beide beobachten ein paar Schüler an einer Straßenbahn-Haltestelle. Einer von ihnen hat eine Freundin dabei und knutscht sie, zwei andere ohne Freundin schauen dabei zu und werden verlegen. Ich biege ab in die Rotlint-Straße und schaue von außen in das etwas tiefer gelegene Schaufenster eines Cafés. Einige Gäste haben ihre Mäntel und Jacken zusammengeknüllt und auf freien Stühlen abgelegt. Diese merkwürdigen, meist dunkelfarbigen Knäuel und Klumpen sehen von außen aus wie verhüllte Lebewesen, so dass der Raum momentweise anmutet wie ein Café für entkommene Pelztiere. Manchmal sitzt auch mein Freund Walter in diesem Café. In seiner winzigen Wohnung in der Vogelsberg-Straße fällt oft die Heizung aus, und weil er es müde ist, sich mit Monteuren auseinanderzusetzen, ist er dazu übergegangen, mit Mantel, Mütze und Schal zu arbeiten. Er sagt, im Mantel habe er das Gefühl, von allem weit entfernt zu sein, besonders von sich selbst. Außerdem gefällt es ihm, im Mantel an das Fenster zu treten und eine Bekannte auf der Straße zu grüßen, zum Beispiel Elvira, die nicht weit von hier wohnt, übrigens ebenfalls in einer bescheidenen Wohnung. Elvira absolviert eine schwierige, lang andauernde Tanzausbildung; sie passt zu ihr, denn auch Elvira ist schwierig und hat Sonderwünsche, die ihr das Leben zusätzlich erschweren. Ich schaue das unglaublich flackernde Neonlicht in der Änderungsschneiderei Pasqualetto an. Wie jeden Tag sind Herr und Frau Pasqualetto über ihre Nähmaschinen gebeugt. Über ihnen zuckt das Licht mehrerer defekter Neonröhren. Manchmal wirkt es wie ein aufkommendes Gewitter, aber Herr und Frau Pasqualetto arbeiten ungerührt Tag für Tag. Weil mir der kleine Spaziergang geglückt erscheint, werde ich mir ein Stück Torte kaufen. Im Winkel von nahezu neunzig Grad gehe ich auf eine Bäckerei zu. Ich sage, dass ich ein Stück Schokoladentorte wünsche, und sehe der Verkäuferin dabei zu, wie sie sich einen Pappdeckel für das Stück Torte zurechtlegt. Da fragt mich die Verkäuferin, ob sie das Tortenstück auf den Pappdeckel legen darf oder ob es aufgestellt bleiben muss. Eine derartig einfühlsame Frage habe ich in einer Bäckerei noch nie gehört. Ich habe nicht einmal gewusst, dass eine solche Frage überhaupt gestellt werden kann. Deswegen weiß ich auch keine Antwort, jedenfalls nicht so schnell. Ich gebe einen ausweichenden Laut von mir, den die Verkäuferin offenbar so auslegt, dass ich vielleicht nur aus Scheu nicht sagen will, dass ich ein aufgestelltes Stück Torte bevorzuge. Ich schweige und bewundere die zahlreichen Handgriffe, die nötig sind, ein Stück Torte von einer Kuchenplatte zu lösen und es aufrecht und ohne irgendwelche Schäden auf einen Pappdeckel zu heben und das Ganze dann auch noch in ein Stück Papier einzuschlagen.

Wer in einem Flugzeug sitzt und sich langsam der Stadt Frankfurt am Main nähert, wird Opfer einer harmlosen Blendung. Etwa fünfzehn Minuten dauert der Sinkflug, und er spielt sich über schier endlosen Häusermeeren ab. In der Mitte des Panoramas erhebt sich machtvoll eine Wand von Hochhäusern, die zusammengewachsen scheinen. Wer die Geographie nicht kennt, hält den riesigen Teppich von bebautem Gelände für Teile von Frankfurt, das seit langer Zeit damit leben muss, dass sie für die amerikanischste Stadt Deutschlands gehalten wird. Aber die Stewardess hat unzweideutig erklärt: Wir nähern uns Frankfurt am Main. Nur der Ortskundige weiß, dass der Stadtrand im Osten nicht Frankfurt ist, sondern Offenbach und Hanau, und er weiß (je nachdem, aus welcher Richtung wir anfliegen), dass der Rand im Westen ebenfalls nicht Frankfurt ist, sondern Wiesbaden. Ähnlich täuschend sind die Verhältnisse im Süden und Norden; im Süden sehen wir die Ausläufer von Viernheim, Lampertheim und Darmstadt, im Norden die Ränder von Bad Homburg. Die Lösung ist einfach: Von oben erkennen wir die Stadtgrenzen nicht. Tatsächlich sieht der Ballungsraum Rhein-Main von oben aus wie eine einzige Monsterstadt. Wer nach der Landung das Gefühl einer Enttäuschung nicht los wird, muss sich, je mehr sich der Stadtkern nähert, auf weitere Desillusionierungen einstellen.

Das Stadtzentrum von Frankfurt kann man in zwanzig Minuten durchqueren. Dabei weiß man nicht recht, ob man das Bankenviertel zum Zentrum zählen soll oder nicht. Das Problem ist: Das Bankenviertel beeindruckt nur von oben. Zwischen den Türmen selber ist nichts los. Sie stehen blank nebeneinander, vor den Eingängen befinden sich sauber gefegte Kleinplätze, wir sehen Pförtner und anderes Bewachungspersonal. Von der Europäischen Zentralbank zur Commerzbank braucht der Fußgänger zwei Minuten. Von der Commerzbank zur Deka-Bank sind es sechs Minuten. Von der Deka-Bank zur Deutschen Bank reichen drei Minuten. Touristen sieht man hier nicht, worüber sich niemand wundert. Der Grund ist banal: Es gibt hier nichts zu sehen, wovon man später erzählen könnte. Es sei denn, der Tourist kommt ein bisschen vom Weg ab und lässt sich – jenseits der Weserstraße in Richtung Hauptbahnhof – in das nur ein paar Meter daneben liegende Rotlicht-Viertel hineintreiben.

Aber das Rotlicht-Viertel ist nicht mehr, was es früher war. Im Grunde ist das Wort Rotlicht-Viertel eine Übertreibung aus alten Zeiten. Man findet das Wort nur noch in ahnungslosen Stadtführern, verfasst von ahnungslosen Leuten, die nie hier waren. In den siebziger Jahren, als noch niemand das Wort Bankenviertel kannte, war das noch anders. Damals gab es hier zahllose heruntergekommene Altbauten. Die Erdgeschosse waren leergeräumt für Stehbordelle, weil die sogenannte Straßenprostitution eigentlich verboten war. Freilich hielt sich niemand an dieses Verbot. Huren standen in großer Zahl an den Straßenecken oder fuhren in silbrigen Coupés im Viertel umher, um die sowieso schon schnelle Geschlechtlichkeit noch schneller im Auto zu erledigen und der Scham fast spurlos zu entkommen.

Ich erinnere mich gut an diese Jahre, als besorgte Stimmen die Banken davor warnten, in diesem Milieu zu bauen. Die Leute stellten sich tatsächlich vor, dass der Ruf der Banken durch das Hintertreppenmilieu Schaden nehmen könnte. Das Gegenteil trat ein. Über Jahre hin hatten sich die Stadtväter den Kopf zerbrochen, wie man den Sumpf des Bahnhofsviertels trockenlegen könne – ohne Erfolg. Es musste buchstäblich die alles beiseiteräumende Expansion der Banken eintreten, um das Beischlafgewerbe mehr und mehr in die Schranken zu weisen. Da und dort gibt es zwar immer noch kleine Bordelle. Manchmal huscht eine Prostituierte über die Straße, um sich im Obstladen gegenüber ein paar Orangen zu kaufen – aber sonst ist das Viertel nahezu aseptisch geworden. Auf den Plätzen vor den Banken warten keine Prostituierten. Sextouristen verirren sich nicht mehr in diese Gegend. Die Portiers vor den Drehtüren der Banken werden nicht als Sehenswürdigkeiten empfunden. Insofern muss man sagen: Die Gegend wird zwar von Jahr zu Jahr sauberer, aber attraktiv ist sie nicht mehr. In den siebziger und achtziger Jahren fluteten Nachmittag für Nachmittag tausende von unruhigen Männern durch die Straßen. Sie schauten in hunderte von Zimmern, ehe sie sich endlich für eine Dame entschieden. Dieser stundenlange innere Aufschub war das eigentliche »Erlebnis«. Vorbei! Die Zeiten, als das Bahnhofsviertel mit Hamburger oder Amsterdamer Verhältnissen verglichen wurde, sind nicht mehr.

Man muss anerkennen, dass Frankfurt in den vergangenen zwanzig Jahren eine Art Bedeutungsverlust hat verkraften müssen. Der Beginn der Verschiebung lässt sich datieren: Es war (ist) der Herbst 1989, das Datum der deutschen Wiedervereinigung. Von diesem Zeitpunkt an haben sich die Gewichte verlagert. Bis zur Wiedervereinigung war Frankfurt ein auffälliger Glanzpunkt im kleinen Westdeutschland. Sein Standort war zentraleuropäisch und wurde auch so wahrgenommen. Als die Bundesbahn, zusammen mit den französischen Eisenbahnen, eine neue Schnellbahnverbindung Frankfurt-Paris einrichtete, erschien Frankfurt plötzlich gleichrangig mit Paris. Nicht wenige Beobachter rieben sich die Augen. Trotzdem war die Aufwertung in Ordnung. Natürlich konnte Frankfurt nicht mit den Pariser Reizen konkurrieren, aber diese Konkurrenz war auch nicht gemeint. Sondern diese: Frankfurt beeindruckte den Rest der Republik mit seiner furchteinflößenden wirtschaftlichen Potenz. Man konnte jetzt in den Zeitungen lesen, dass der Frankfurter Kulturetat höher war als der Pariser Etat. Die Wiedervereinigung hat diesen Taumel beendet. Die Blicke richten sich heute nach Berlin. Nach Berlin kommt lange nichts. Jetzt läuft Frankfurt in seinem zu groß geratenen Anzug herum und will nicht recht wahrhaben, dass es heimlich herabgestuft wurde und dass es diese Rückstufung nicht mehr aufholen kann, auch wenn das Label »Bankenstadt« immer noch glitzert und prunkt. Aber die Bankenstadt hat keinen Appeal. Es kommt niemand in das Viertel, um Herrn Kopper beim Aussteigen aus seinem Mercedes anzustaunen.

Und plötzlich ist auch spürbar, dass die Einbetonierung der Stadt deren Lebensqualität mindert. Es gibt – zum Beispiel – im inneren Stadtgebiet nur einen einzigen größeren Park, den Grüneburgpark. Die anderen, kleineren Parks sind tagsüber bis auf den letzten Platz von Müttern mit Kleinkindern in Beschlag genommen, so dass sich auch hier die Enge abbildet – und, auch in den »Grünanlagen«, das Problem des Lärms. Im Sommer strömen nicht nur die Mütter herbei, sondern noch viel mehr junge Leute, die Fußball, Handball und Federball spielen wollen, natürlich mit dauernder Musikbeschallung. Dazwischen breiten sich große ausländische Familien aus, die auf Wolldecken lagern und ihr Sonntagspicknick genießen wollen. Oft rollt der Ball der Fußballspieler zu dicht am Gurkensalat vorbei oder trifft den mit keiner Attacke rechnenden Rücken einer griechischen Mutter. Das ist der Verdruss der Enge, der am Ende bei den Leuten ankommt und sich dort nicht weiter auflöst. Selbst ich, der ich nur lesen will und mit dem Randplatz auf einer Bank zufrieden bin, nehme Anstoß an zu vielen freilaufenden Hunden, an zu vielen vorbeikeuchenden Joggern, an zu vielen rücksichtslosen Radfahrern, an zu vielen schreienden Kindern mit ihren lärmenden Spielzeugen. An eigentlich stillen Sonntagen sieht der Güntersburgpark aus wie eine einzige große Bedürfnisanstalt. Und es ist keine Lösung in Sicht. Die Stadt kann den Platzmangel nicht wegzaubern, man muss sich arrangieren – oder sich in die S-Bahn setzen und in den Taunus verschwinden. Leider tritt die Enge auch an anderen, markanteren Stellen hervor und führt zu wenig charmanten Ergebnissen. So löblich es war, neben dem Museum für moderne Kunst eine weitere Kunsthalle zu bauen, so unbefriedigend ist die städtebauliche Einlösung. Ich spreche von der Schirn Kunsthalle auf dem Römerberg. Der Platzmangel wurde von den Stadtvätern vermeintlich kühn geleugnet. Es gab (es gibt) für ein so mächtiges neues Projekt wie eine Kunsthalle dort effektiv keinen Platz. Von drei Seiten wird der Raum eingegrenzt: Vom Römerberg und seiner historischen Bausubstanz, von einem Geviert mit Überresten römischer Badeanlagen von cirka 75 – 110 n. Chr. und vom Dom und dem Domplatz. Genau in diesen schmalen, langgezogenen Kegel hat der Architekt den ebenso langen Bau der Schirn hineingezwängt. Der Hauptraum der Schirn ist nicht einmal so breit wie ein Gleis auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. An Sonntagen stehen die Besucher hier so dicht nebeneinander wie Kauflustige beim Beginn des Sommer-Schluss-Verkaufs. Von der einstigen Idee der Kunsthalle, dass sie den Besuchern genügend Raum anbieten muss, ist hier so gut wie nichts übriggeblieben.

Frankfurt hätte sich an anderen, ebenso eng gebauten Städten ein Beispiel nehmen sollen, zum Beispiel an Bern. Dort hatte man den Mut, das neue Paul-Klee-Zentrum nicht auch noch in die enge Stadt hineinzustopfen, sondern nach außerhalb zu verlagern. Dort sieht es nicht unbedingt verlockend aus, es ist für Fremde auch nicht leicht zu erreichen, aber ringsum ist Platz. Diesen Mut hatten die Frankfurter nicht, jedenfalls noch nicht. Es ist nicht so, dass man die Mutlosigkeit nicht verstehen könnte. Denn in welchen Stadtteil hätte man eine Kunsthalle bauen können? Etwa nach Heddernheim, Bonames oder Sossenheim? Sagen wir es rundheraus: Es gibt keinen halbwegs ansehnlichen Vorort, den die Stadtväter mit einer Kunsthalle hätten beglücken können. Gibt es für Menschen ein paar Orte, die weder überfüllt noch durch zuviel Gestank, Lärm oder Hässlichkeit unmöglich geworden sind? In den neunziger Jahren sprach der Schriftsteller Bodo Kirchhoff in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen diesen Satz aus: »Übermenschliche Kräfte scheinen nötig, um sich in einer Stadt wie Frankfurt seine Heimat zu schaffen.« Ich gebe zu, dass ich in früheren Jahren solche Töne ebenfalls angeschlagen habe. Inzwischen bin ich zurückhaltender. Es ist möglich, in der Stadt ein paar persönliche Winkel zu finden und diesen im individuellen Bewusstsein die Gestalt von individuellen Orten zu geben. Ich war zum Beispiel beglückt, als ich die Karmelitergasse fand. Sie ist deswegen außerordentlich, weil sie wohl die einzige Gasse ist, die direkt aus dem Stadtgebiet an die Stadtseite des Mainufers führt. Die Gasse scheint ein Geheimtip zu sein. Ich habe, so oft ich die Gasse entlangging, keinen Menschen getroffen, der ebenfalls hier unterwegs war.

Die meisten Personen, die mich kennen, wundern sich, dass ich in Frankfurt lebe. Ich gehe nicht mehr auf dieses Erstaunen ein, weil es auf zu komplizierten und gleichzeitig banalen Voraussetzungen beruht. Eine der häufigsten dieser (falschen) Voraussetzungen besteht in dem Urteil, Frankfurt sei hässlich, abstoßend, ordinär, spießig, kurz: ungenießbar. Das Vorbild solcher Verurteilungen sind lupenrein »schöne« Städte wie etwa Zürich, Salzburg oder Straßburg. In diesen tadellosen Städten herrscht der Schein einer architektonischen Monokultur, in deren Massenkompatibilität ich nicht leben möchte. Wer Frankfurt für ungenießbar hält, hat nicht verstanden (oder: nicht hinnehmen können), dass die Dynamik des Kapitals eine Macht ausstrahlt, die selber längst ästhetische Formen angenommen hat. Diesen Schritt mögen nicht viele nachvollziehen, was ich für einen Glücksfall halte. Dieser Schritt lässt sich so beschreiben: Interessant ist, wenn man beobachten kann, wie sich unter dem Einfluss der Kapitalanhäufung die Gestalt des Urbanen fortlaufend verändert und gleichzeitig seinen inneren Kern immer mehr festigt. Dafür ein Beispiel. Die Commerzbank hat beschlossen, dass sie in Zukunft ein »moderneres« Erscheinungsbild haben möchte. Also lässt sie ihren »alten« Hauptsitz, ein neunstöckiges Haus in der Taunusanlage, demnächst abreißen, um auf demselben Grund ihr neues Domizil aufzubauen. Das heißt: Eine Bank ist über die Jahre derart kapitalstark geworden, dass ihr äußeres Bild zu diesem Reichtum plötzlich nicht mehr passt und verändert werden muss. Diese Anpassung ähnelt dem Verhalten jeden Spießers, der vom Volkswagen zu Mercedes wechselt, wenn ihm seine Brieftasche diesen Schritt erlaubt oder nahelegt. Der Neubau der Bank wird die Stadt nicht »verständlicher« machen. Die Selbstgefälligkeit des kapitalistischen Wachstums steht im Konflikt zur Erwartung der Menschen, dass etwas durch seinen Erfolg immer angenehmer und »schöner« wird. Man muss die kühle Sachlichkeit eines Max Weber oder eines Georg Simmel in Anspruch nehmen, um die Karriere des Reichtums nicht mit unangemessenen Erwartungen zu diskriminieren. Einfacher ausgedrückt: Die Dynamik des Kapitals ist nicht darauf fixiert, dass sie gefällt.

Der Dauerkonflikt zwischen Entwicklung und Anschauung ist echt, das heißt: er kann nicht beendet werden. Zum einen gefällt sich die Stadt in ihrer hausbackenen Eppelwoi-Seligkeit, zum anderen will sie als Mainhattan gelten. Man muss annehmen, dass Menschen, die derlei Verschmelzungen angemessen finden, noch nie in New York gewesen sind. Egal! Es ist immer schön, mit etwas Bedeutsamerem gleichgesetzt zu werden. Am schönsten wäre, überhaupt nicht mehr verglichen zu werden. Würde man in seiner Skurilität anerkannt sein, dann könnten auch die lebhaftesten Widersprüche angestaunt werden, und niemand wäre darüber verstimmt, wenn an Frankfurt die Welthaltigkeit und das Handwerker-Image gleichzeitig betont werden.

Ich vergesse nicht, wie es war, als ich Anfang der siebziger Jahre nach Frankfurt kam – natürlich aus beruflichen Gründen wie fast alle, die sich in Frankfurt ansiedeln. Und auf Menschen traf, die, genau wie ich selbst, allesamt Provinzler waren, die ihre Heimat verlassen hatten, um Anschluss »nach oben« zu finden. Erst später habe ich verstanden, dass sich in diesem merkwürdigen Zusammentreffen vieler, ein wenig scheuer Neubürger etwas sehr Frankfurt-Typisches ausdrückte: Die Stadt war und ist bis zur Grenze ihrer Belastbarkeit offen für Fremde und Flüchtlinge aller Art, was ihr oft angekreidet wird; freilich nicht von den Zugewanderten selbst, die die Herbergs-Atmosphäre der Stadt zu schätzen wissen. Vielsprachigkeit und Übernationalität verhindern, dass die dickflüssige lokale Eppelwoi-Welt dominant wird. Stattdessen kann man beobachten, dass auf den Holzbänken der Sachsenhäuser Kneipen inzwischen Deutsch sprechende Amerikaner, Japaner und Koreaner Platz genommen haben und austesten, ob der Eppelwoi vielleicht auch ihr Hausgetränk werden könnte. Das erfreut die Lokalpatrioten; auf den Gedanken, dass sie, die Einheimischen, inzwischen selbst die Exoten geworden sind, können sie (oder dürfen sie) nicht kommen.