Täuschland - Achim Koch - E-Book

Täuschland E-Book

Achim Koch

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Beschreibung

In Täuschberg, einem verlassenen Dorf in der ehemaligen DDR, tritt Timo seine erste Stelle an. Hier soll er eine Gruppe Geflüchteter unterbringen und bei der Integration begleiten. Das Dorf ist umgeben von dichtem Wald – für Timo eine neue, unheimliche Welt. Die Bewohner des Nachbarorts Täuschenbach hingegen verehren den Wald und feiern dort alte Bräuche. Timo ist fasziniert von ihrer Naturverbundenheit und will alles verstehen. Er akzeptiert ihre Lebensweise, auch wenn sie alles Fremde ablehnen. Als die Geflüchteten ihr Dorf bezogen haben, beobachtet er zufrieden, wie zwischen Täuschberg und Täuschenbach dennoch erste Kontakte geknüpft und Waren getauscht werden. Aber es kommt auch zu Konflikten, die Timo bald nicht mehr verharmlosen kann, und er muss entscheiden, ob er es mit einer Gruppe schrulliger Heimatschützer zu tun hat oder mit völkisch gesinnten Rassisten.

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Seitenzahl: 303

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Achim Koch

Täuschland

   

Achim Koch: Täuschland

© schruf & stipetic 2023

www.schruf-stipetic.de

© 2023 Achim Koch

Satz, Layout und Covergestaltung: JBC

ISBN 978-3-944359-88-5

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der schruf & stipetic GbR

Inhalt

Zitat

Der Beginn

Die Menarchenfeier

Tage mit Marie-Lou

Im Bus

Der Wald

Die Ankunft

Der Heilige Hain

Mittsommer

Der Verdacht

Der Fehu-Stein

Im Bus

Der Konflikt

Die Tag-Nacht-Gleiche

Vor den Raunächten

Der Beginn

Über den Autor

Time is but the stream I go a-fishing in. I drink at it but while I drink I see the sandy bottom and detect how shallow it is. Its thin current slides away, but eternity remains.

Henry David Thoreau: Walden

Der Beginn

Die Fenster des Busses waren beschlagen. Timo sah matt sein Spiegelbild, während er mit dem länglichen Donnerkeil spielte, den er an einem Lederband um den Hals trug. Einige Millionen Jahre alt angeblich. Ein Fossil. Es fühlte sich weich an, wie ein polierter Handschmeichler. Ein Glücksbringer.

Er hatte das Fossil als Weihnachtsgeschenk bekommen, zusammen mit einer Urkunde und mit dem Lederband. Der Donnerkeil war viel länger als gedacht, acht Zentimeter etwa, dunkelbraun mit kleinen gelben Einsprengseln, die Spitze stumpf. Die Einfassung sah keltisch aus, und es waren Schlangen eingraviert. Oder Würmer. Sie verdrehten sich ineinander. Laut Zertifikat war der Donnerkeil hundertfünfzig Millionen Jahre alt. Von seinen Eltern hatte Timo sich ein sechzehnstündiges Musikdownload von Wagners Ring des Nibelungen gewünscht.

Wie jedes Jahr hatte sein Vater kurz vor Weihnachten eine mächtige Nordmanntanne gekauft und im Wohnzimmer aufgestellt.

»Warum kappt man nicht einfach die Spitze eines lebenden Baums?«, hatte Timo gefragt, aber keine Antwort erhalten.

Seine Mutter hatte wie immer die Tanne geschmückt. Zu den roten Kerzen hatte sie in diesem Jahr Fliegenpilze dekoriert. Eine Hunderterpackung von Aldi. Deko-Pilze aus China.

»Der Fliegenpilz ist das Licht«, hatte Timo leise zu ihr gesagt. Vielleicht zu leise.

»Ziehst du dir Heiligabend was anderes an, Timo? Nicht diesen Pulli. Du hast im Schrank ein frisches Oberhemd.«

»Magst du den Pulli nicht?«

»Ich kann ihn dir auch mal waschen, mein Junge.«

»Lass mal. Ich zieh dann das Hemd an.«

Es war weiß und gebügelt. Er hatte ihr den Gefallen getan, und auch seine Eltern hatten sich wie jedes Jahr am Heiligabend umgezogen. Sein Vater in einem dunklen Anzug mit grauer Krawatte. Seine Mutter in ihrem Festtagskostüm. Immer die gleiche Kleidung. Solange Timo zurückdenken konnte. Doch zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ihm Weihnachten wieder gefallen. Tanne, Fichte, Kiefer, Mistelzweig, Stechpalme, immergrün, ewiges Leben, und das in einer Jahreszeit, in der es draußen kühl und kahl war und früh dämmrig wurde. Schon am Nachmittag brannten in der Wohnung Kerzen, und das kleine Räuchermännchen aus dem Erzgebirge paffte Tannenharz. Traditionelle Weihnachtsdüfte aus Crottendorf. Es war die Zeit, in der man es sich zu Hause gemütlich machte, und die Zeit der Symbole: Sterne, Kometen, Engel, Glocken, Kugeln und auch Fliegenpilze. Das Datum selbst war ein Symbol. Früher hatte er Weihnachten mit Freunden gefeiert. Party. Inzwischen hatte sich etwas geändert.

Sie hatten jetzt die Autobahn verlassen und fuhren auf der Landstraße durch kleine Waldflächen. Plantagenbau. Tannen, die im gleichen Abstand zueinander wuchsen. Baumsoldaten. Timo fragte sich, wie sie wohl miteinander kommunizierten. Wenn sie dazu tatsächlich in der Lage waren, dann in Militärsprache. Nur das Wesentliche. Kurze Informationen. Oder schliefen sie? Konnten sie auch träumen? Solche Fragen gingen ihm in der letzten Zeit durch den Kopf. Weit vor ihnen wurde es gebirgig. Am Horizont lag der Täuschenwald, ihr Ziel.

Im Bus hatten alle in den hinteren Sitzreihen Platz genommen. Die meisten waren sofort nach der Abfahrt eingenickt. Die Kinder lagen entspannt auf dem Schoß ihrer Eltern, schmiegten sich an sie oder vergruben den Kopf an deren Hälsen. Ein Ukrainer, der Artem hieß, und einige andere waren noch wach, schauten schlaftrunken vor sich hin oder starrten in die verschneite Landschaft, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Körper bewegten sich gemeinsam, wenn der Bus über kleine Unebenheiten fuhr oder in eine Kurve.

Auch Timo hatte sich im Laufe der Fahrt etwas weiter nach hinten gesetzt. Der Fahrer rauchte noch immer, hatte aber inzwischen das Seitenfenster einen Spalt geöffnet. Die Musik hatte er auf Timos Bitte hin etwas leiser gestellt, und durch das laute Motorengeräusch hörte man sie nur noch schwach. Aber es war eindeutig Karel Gott. Stille Nacht. Tischa notsch oder so ähnlich. Timo kannte die Sprache nicht.

Vor dem Einsteigen hatte der Fahrer die Taschen und Koffer achtlos in den Gepäckraum geworfen, bis Timo sich durchgerungen und ihn zur Rede gestellt hatte. Der Mann hatte ihn nicht verstanden und ihn nur sprachlos angestarrt. Timo hatte ihn dann etwas zögerlich und dennoch sehr unfreundlich zur Seite geschoben, um selbst das Gepäck zu verladen. Die anderen waren davon etwas überrascht, hatten stumm zugesehen, bis einer von ihnen half.

Vor Kurzem noch hätte Timo sich das mit dem Gepäck gefallen lassen und nicht eingegriffen. Doch diese Zeit war jetzt vorbei. Er wusste nicht einmal, wie der Busfahrer hieß. Dennoch, kein guter Start der Reise. Ohnehin war es schwierig gewesen, einen Bus zu finden, einen Reisebus für fünfundzwanzig Personen. Das Budget für das neue Jahr war noch nicht freigegeben. Am Ende hatte sich das Büro für einen tschechischen Unternehmer und diesen alten Setra entschieden, einen zweifarbigen Bus, wahrscheinlich aus den neunziger Jahren, in verblichenem Blau und Rot. Die orange-braun gestreiften Polster an den Kopfstützen waren abgewetzt und schmutzig.

Hinter sich hörte Timo lautes Stöhnen. Daniel aus Mali. Er schlief. Die Geschichte von Daniel kannte er ein wenig. Seine Frau streichelte ihm die Hand. Timo musste sich nicht um ihn kümmern.

Endlich hatte es aufgehört zu schneien. Draußen sah alles sauber aus. Gereinigt, harmlos, unberührt. Auf einem kahlen, weißen Hügel erkannte er die ausladende Esche wieder, die ihm hier schon oft aufgefallen war, weil sie so viel Platz einnahm und eine perfekte Form hatte. Sie war zwanzig, vielleicht sogar dreißig Meter hoch, die blattlosen Zweige angezuckert. Der mächtige Baum wirkte gegen den hellen Himmel filigran und verletzlich, aber nicht fremd. Er passte in diese weiße Landschaft, als würde er im Zentrum der Welt stehen, dachte Timo und suchte dann noch nach einem Wort dafür. Unumrückbar, fiel ihm ein, auch wenn es das Wort wahrscheinlich gar nicht gab. Und dann noch: unbeeindruckbar. Denn seit Kurzem hielt er Pflanzen wie Tiere für lebende Wesen, die sich Meter für Meter in den Boden getastet hatten, sich festkrallten und all das und nur das aus ihm sogen, was für ihr Wachstum und den Erhalt ihres Lebens wichtig war. Dieser Baum lebte an seinem festen Standort, seit vielen Jahrzehnten schon.

Timo schaute sich noch einmal im Bus um. Wirklich eine Zumutung. Die orangenen Vorhänge fehlten entweder ganz oder baumelten halb abgerissen in ihren Schienen. Die Aschenbecher fehlten in den Halterungen. Die meisten Armlehnen hingen schlaff herunter oder ließen sich nicht mehr bewegen. Der Boden war klebrig und verschmutzt. Er hätte sich die Reifen ansehen sollen, doch beim Einsteigen hatte er nicht daran gedacht. Der Fahrer hatte alle gedrängt. Er mochte seine Fahrgäste nicht. Das war Timo klar.

Tatsächlich Karel Gott. Aus den Lautsprechern hörte man das Biene-Maja-Lied.

Den Wagner hatten sie Heiligabend wieder ausgestellt. Sein Vater fand ihn zu bombastisch für den Anlass. Das Vorspiel zum Rheingold hatte vielleicht noch gepasst, und auch das Weia! Waga! Woge du Welle! aus der ersten Szene hatten sie sich noch angehört. Doch bei Garstig glatter glitschriger Glimmer! hatten sie abgestellt. Musik sollte eher friedlich klingen in dieser Zeit der Besonnenheit, hatte seine Mutter gemeint. Aber auch sonst hörten sie eigentlich nie Musik. Seine Eltern achteten sehr auf Ruhe und Eintracht. Und überhaupt – sie wollten auf keinen Fall etwas anderes als immer schon.

Timo setzte sich die Kopfhörer auf und versuchte, noch einmal in den Wagner reinzuhören: Hoiho! Hoiho! Hau ein! Hau ein! aus Siegfried. Doch auch hier passte es irgendwie nicht. Nicht heute. Wo und wann würde diese Musik wohl überhaupt passen, fragte er sich. Wagners Musik würde ihm auch nicht helfen, seine Nachbarn besser zu verstehen. Er hatte sich zu viel von diesen Musikdramen versprochen.

Still, still, still. Weil’s Kindlein schlafen will. Karel Gott passte. Irgendwie. Er würde am nächsten Tag das Büro anrufen und sich über diesen Billigbus beschweren. Noch nie seit seiner Anstellung hatte er etwas kritisiert. Aber das musste jetzt mal sein. Man würde es ihm nach allem, was er erlebt hatte, nicht übelnehmen.

Sie hatten ihn ja in den höchsten Tönen gelobt, als er einen Tag vor Weihnachten im Büro vorbeigeschaut hatte. Alles, was er erreicht hatte, hatten sie ihm nicht zugetraut. Die Verhandlungen, die Renovierungen, seine detaillierte Buchhaltung, seine Erfolge bei der Integration, seine Bemühungen, das Verhältnis zu den Nachbarn zu entspannen. Vor allem das hatte ihm niemand zugetraut. Überhaupt nicht. Und er sich auch nicht.

Nach seiner Masterarbeit über Integration und Inklusion und einer anschließenden Fortbildung zum Integrationscoach oder besser Integrationspiloten war es sein erster fester Arbeitsvertrag gewesen. Erfahrungen hatte er nur in einigen Praktika gesammelt. Dann hatte er die richtige Stelle gefunden und auch gleich die volle Verantwortung übernehmen müssen. Mit allen nur vorstellbaren Risiken. Ein Sprung ins kalte Wasser. Mutig und notwendig, wenn er in seinem Beruf etwas erreichen wollte, hatte sein Vater gesagt. Auch wenn Timo eigentlich nicht wusste, was genau das sein könnte.

»Die Diakonie ist mehr als zufrieden mit Ihnen, Herr Hornung.«

Ein Präsentkorb mit selbst gebackenen Keksen, Tannenzweigen, einem Marzipan-Jesus in der Krippe und einer Flasche Augustus Rex Haselnuss. Nutella mit vierzig Prozent Alkohol, dachte Timo. Er schenkte jedem im Büro ein Glas Marmelade aus dem Täuschenwald. Danach war er mit dem Zug nach Hamburg und von dort zu seinen Eltern nach Lüneburg gefahren. Mit dem Korb. Den Jesus hatte er auf der Fahrt vernascht. Für seine Eltern hatte er Geschenke aus Täuschberg dabei: ein Glas Bio-Honig und ein Glas Brombeer-Kirsch-Marmelade.

Zu Weihnachten hatte er sich ein vegetarisches Essen gewünscht. Keinen Rehrücken mehr. Gar keine Tiere mehr. Nie mehr. Danach hatten sie die Flasche geöffnet und lange an den gefüllten Gläsern gerochen. Haselnuss-Nougat. Die Kerzen waren langsam heruntergebrannt.

»Wusstet ihr, dass Fliegenpilze am Fuß von Kiefern und Birken wachsen?«

»Giftiges Zeug, Timo«, sagte sein Vater nach einer Weile.

»Woher weißt du das?«, fragte Timo.

»Na ja«, murmelte sein Vater.

»Ich meine, hast du damit irgendwelche Erfahrungen?«

»Nun lass mal, Timo«, hatte seine Mutter unterbrochen.

Sie hatten sich weniger zu sagen als früher. Aber vielleicht war es ja immer schon so gewesen.

Sonnenstrahlen drangen durch die Wolkendecke und wurden von den Schneekristallen reflektiert. Weit im Westen riss der Himmel hellblau auf. Wellen auf der Landstraße erschütterten den Bus. Wieder stöhnte Daniel. Sein Sohn schlief weiter. David hieß er. Wie König David. Wie seine Geschwister hatte sich der Junge wohl an den unruhigen Schlaf seines Vaters gewöhnt.

Einige andere erwachten, sahen sich irritiert um. Dann nickten sie wieder ein. Reisen waren sie gewöhnt. Vor allem die Afrikaner. Sie hatten viele Tausend Kilometer hinter sich. Zu Fuß, auf wackeligen Lkw-Pritschen und engen Rücksitzen von Motorrädern, sogar auf schwankenden Kamelen und schließlich auf dem Wasser.

Als Timo zum ersten Mal diese Strecke gefahren war, wäre er am liebsten umgekehrt, denn eigentlich hatte er niemals auf dem Land arbeiten wollen. Lieber in Hamburg oder Berlin, wo Marie-Lou wohnte. Immer noch.

Kurz vor Weihnachten hatten sie sich getrennt. Schriftlich. Sie hatte sich getrennt. Tatsächlich hatten sie eine unterschiedliche Haltung zu allem gehabt, vor allem dazu, dass man im Leben eine Position einnehmen, dass man zu etwas und zueinanderstehen sollte und man eine feste Überzeugung brauchte, die es zu verteidigen galt. Das alles wusste Timo jetzt, doch er konnte es noch nicht zu Ende denken.

Er hatte noch ein Weihnachtsgeschenk von ihr erhalten. Mit der Post. Ohne Nachricht. Eine Büchersendung. Thoreau. Walden. Das Buch hatte er noch nicht angefangen, sondern nur die Inhaltsangabe überflogen. Einsamkeit, las er dort und Wintertiere. Marie-Lou konnte sich vorstellen, dass er jetzt viel las. Was sonst, wenn es dunkel wurde?

Nach seiner ersten Fahrt damals, vorbei an der Esche, vor fast einem Jahr, hatte er einen zweimonatigen Kurzvertrag erhalten. Seinen ersten Vertrag. Einen festen Arbeitsvertrag sollte er erst bekommen, wenn er ein Ergebnis vorweisen konnte. Eine Kooperationsvereinbarung mit dem Landrat. Das war das Ziel gewesen.

»Es geht um ein Dorf«, hatte der Bezirksvorstand der Diakonie am Telefon gesagt. »Es heißt Täuschberg und liegt im äußersten Südosten. Oder genauer gesagt, im Länderdreieck Deutschland-Polen-Tschechien. Ganz hinten in der Ecke sozusagen. Also so richtig in der Ecke. Direkt an der offenen Grenze. Danach kommt nichts mehr. Und davor eigentlich auch nichts.«

»Wie, nichts?«, hatte Timo gefragt.

»Nichts eben. Und das Dorf steht leer. Alle weg … Äh, nee, warten Sie, eine alte Frau lebt da wohl noch. Aber sonst, nee, sonst sind alle weggezogen. Keine Erwerbsmöglichkeiten mehr für junge Leute und so. Verstehen Sie? Die Älteren sind verstorben. Wollen Sie dahin?«

»Nein«, hatte Timo spontan geantwortet und dabei unsicher gelacht. Doch dann ließ es ihm keine Ruhe.

Es war sein erstes passendes Arbeitsangebot, und nach einer Stunde hatte er noch einmal angerufen. Er wollte es sich zumindest einmal ansehen, mietete gleich am nächsten Tag einen Wagen und fuhr nach Täuschberg. Zum ersten Mal vorbei an der großen Esche, die er damals kaum beachtet hatte. Eine endlose Fahrt, so war es ihm vorgekommen.

Nachdem er endlich das Dorf Täuschenbach passiert hatte, führte ihn ein unberührter zweispuriger Plattenweg fast zwei Kilometer durch eine verschneite Waldschlucht. Auf den Zweigen der Fichten oder Tannen lag dicker Schnee und drückte sie so weit hinunter, dass sie gegen seine Windschutzscheibe schlugen und der Schnee ihm immer wieder die Sicht nahm. Meist konnte er den Weg ohnehin nicht gut erkennen. Manche Platten hatten sich gesenkt oder waren durch Wurzeln hochgedrückt worden. Ständig musste er Unebenheiten umfahren. Langsam wurde er unsicher, ob er sich noch auf dem richtigen Weg befand. Kein Hinweisschild. Das GPS setzte auch aus. Kein Empfang. Vielleicht war er schon in Tschechien oder Polen angekommen?

Plötzlich eine scharfe Rechtskurve, in der er überraschend einen fast blinden, runden Verkehrsspiegel erkannte. Rot-weiß umkränzt. Nach der Kurve eine leicht ansteigende, bucklige Dorfstraße, an der hinter Vorgärten verlassene Häuser im grellweißen Schnee vor sich hindämmerten und auf den endgültigen Verfall warteten. Langsam rollte Timo die Straße hinauf, hörte, wie die Räder durch den Schnee knirschten, und hatte keine Lust auszusteigen.

Die meisten Fenster waren mit Holz vernagelt worden. Doch viele der gelblichen Holzplatten hatten sich aufgewölbt, hingen schief vor den Fenstern oder lagen davor.

Im Gegensatz zu den anderen war eines der Häuser in einem eher nüchternen Stil gebaut. Es stand ohne Vorgarten direkt an der Straße. Hier parkte er.

Graubrauner Putz, am Fundament abgeplatzt. Ausgehöhlte Fugen zwischen den Steinen. Sand war daraus auf den Boden gerieselt, kleine Sandgebirge im Schnee direkt vor der Mauer. Fensterläden aus hellblauem Holz, geschlossen. Abgeblätterte Farbschichten. Das Regenrohr vom Rost fast schon zerfressen. Treppen von rechts und links zum hölzernen Vorbau. Eisengeländer. Hochparterre. Wie eine kleine Aussichtsplattform oder eine überdachte Terrasse direkt an der Straße.

Timo stieg aus. Es war absolut still, fast gespenstisch. Er klatschte in die Hände. Der Hall verlor sich im Schnee. Dann stieg er zu dem Vorbau des Hauses hinauf und rüttelte am Geländer. Es war gut verankert. Das Vordach wurde von verwitterten Balken gehalten, in die Schnitzereien eingebracht worden waren.

Blumen vielleicht. Warum hatte man sich bei einem so nüchternen Gebäude so viel Mühe gegeben, etwas Schönes zu schaffen? Lose Fliesen auf dem Boden vor der Eingangstür. Sternmuster. Eine massive Haustür, verschlossen, mit weiß gestrichenen Kassetten. Auch darin feine Schnitzereien. Überall Schnitzereien.

Er stieg wieder hinab zur Straße. Vielleicht war es das ehemalige Amtsgebäude, für einen Ortsvorsteher. Eine Krankenstation oder die Polizeistation. Rechts daneben sah er ein kleines offenes Buswartehäuschen. Rissiger Beton, löchriges Blechdach. Die Sitzbank war zusammengebrochen. Voll Müll. Verwelkte Blätter vom letzten Jahr oder von den Jahren davor. Nirgends ein Fahrplan. Für wen auch?

Das Haus auf der anderen Straßenseite musste ein Gasthaus gewesen sein. An einer Kette hing noch schief ein Schild mit einer alten, bräunlichen Bier-Reklame über der vernagelten Eingangstür. Landskron entzifferte er. Die Brauerei kannte er nicht. Rechts daneben stand im verwahrlosten Vorgarten eines Hauses ein leerer, blauer Kiosk mit einem überstehenden Flachdach. Er sah aus wie ein auf den Kopf gestellter Pyramidenstumpf. Die Scheiben waren trübe und schmutzig, aber nicht zerschlagen.

Langsam stapfte Timo durch den Schnee die Straße hinauf. Nirgends ein Mensch. The Last Man on Earth. Er hatte solche Filme schon immer gemocht. Jetzt war er, Timo Hornung, der letzte Mensch auf der Erde, der Letzte, der wusste, wie man früher gelebt, was man gehört und gelesen, welche Sprachen man gesprochen hatte. Das gesamte menschliche Erbe lastete nun auf seinen Schultern. Eine Katastrophe hatte sich ereignet. Alle anderen waren gestorben. Was sie gebaut hatten, existierte noch. Würde er je wieder Menschen treffen? Wie würde er sich verhalten? Wäre er lieber weiterhin allein? Weil man sich allein nicht mit anderen auseinandersetzen musste. Keine Konflikte, Streits, Einigungen, neue Kontroversen, Kompromisse …

Er könnte vielleicht Geschmack an diesem gottverlassenen Dorf finden. Hier wäre er zumindest einige Monate unabhängig. Niemand würde ihm Vorschriften machen. Er würde seine eigenen Regeln erfinden. Das erste Mal in seinem Leben! Er würde abseits jeglicher Zivilisation nur für sich selbst verantwortlich sein. Es gäbe nur ihn und die Natur.

Die Straße führte am oberen Dorfausgang über einen unbefestigten Weg in den dunklen Wald hinein. Hinter Büschen entdeckte er mehrere Trabbi-Garagen, graubraun und mit Moos bewachsen. Jedes Garagentor sah anders aus, manche waren einmal Türen großer Wohnzimmerschränke gewesen, mit Scheiben aus braun getöntem Fensterglas, geriffelt, Messingbeschläge. Aus dem Wald hörte er leises Rauschen. Ein Bach, gar nicht weit entfernt und nicht zugefroren. Timo zählte dreizehn verwaiste Häuser. Ein ausgestorbenes Dorf.

Das gleichbleibende Motorgeräusch des Busses machte nun auch Timo müde. Der Fahrer musste nicht schalten. Er fuhr in immer gleicher Geschwindigkeit die Straße entlang.

Raunächte. So nannte man die ungewöhnlichen Nächte zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag, in denen die Percht erschien und Tiere sogar sprechen konnten. Morgen würden die Raunächte enden. Sechster Januar. Die letzte Tiefnacht. Viel Rauch. Eine Schwellenzeit, aber auch die Zeit der Dämonen und die Zeit der Inventur. Das Jahresrad drehte sich wieder der Sonne zu, langsam.

Es würde noch mehr Schnee geben. Vielleicht viel mehr. Irgendwann fror dann auch die Täusche zu, der Bach, der ins Tal floss. Die Natur hielt Winterschlaf. Nein, sie schlief nie. Auch die Baumsoldaten nicht. Teile der Natur ruhten sich aus, sammelten Kraft. Alles war schon wieder bereit, nur etwas eingepudert. Immer wieder passierte es Timo, dass er Natur nur von außen betrachtete. Es war eher eine schlechte Angewohnheit, denn es gab in der Natur kein Zentrum. Natur war sie selbst, eine endlose, materielle Welt bis weit ins Universum, bis ins Unendliche, bis in die Ewigkeit. Und er befand sich irgendwann irgendwo mittendrin, eher irgendwo am Rand. Es gab keine Umwelt, denn dann hielten sich die Menschen ja für das Zentrum der Welt. Diese Sicht war anmaßend und nur entstanden, weil wir denken konnten. Und weil wir glaubten, wir seien die Einzigen. Der Beginn allen Übels.

Der Fahrtwind erfasste eine Gruppe niedriger Fichten am Straßenrand. Keine Tannen. Der Pulverschnee auf den Ästen wehte lose davon. Neben der Straße Tierspuren im Schnee. Wahrscheinlich von einem Hasen. Fruchtbarkeitssymbol.

Bei ihm im Täuschenwald wurde nicht gejagt. Die Leute hatten vor Jahren ein Verbot durchgesetzt. Dort lebten viele Hasen, aber auch Fasane, Füchse, Rehe, Wildschweine. Sogar Wölfe lebten dort. Seit mehr als vierzig Jahren gab es nicht einmal einen Förster. Einsparung, hatte man gesagt. Der Wald war unberührt und sich selbst überlassen, an manchen Stellen so undurchdringlich, wie man es sich kaum vorstellen konnte. Wege waren nicht markiert, und wenn sie noch zu ahnen waren, dann oft versperrt durch umgestürzte Bäume, die schon über Jahre hinweg vor sich hin faulten, durchzogen von Pilzen. Überall sah man totes Holz, in dem es lebte. Manche der abgestorbenen Bäume hielten sich schief an Nachbarbäumen. Manche waren dann doch irgendwann auf den Boden gekippt, kaum noch als Bäume zu erkennen und auf dem Weg, zu dem zurückzukehren, aus dem sie entstanden waren.

Der Täuschenwald war pure Natur im Streit um Licht, unangetastet, sich selbst überlassen. Der Wald verweste und schuf gleichzeitig Neues aus sich heraus. Ein autonomes Werden und Vergehen nach eigenen Gesetzen. Er gehörte nur sich.

Und rein rechtlich auch Timos Dorf, Täuschberg. Viertausend Hektar. Seit der Bodenreform in der DDR. Und auch heute noch. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs.

Langsam verschwand die stolze Esche hinter Bäumen und Hügeln. Als er sie zum ersten Mal bewusst gesehen hatte, wusste er noch nicht, dass es eine Esche war. Er konnte Eschen nicht von Buchen oder Eichen unterscheiden, wusste nicht, wie eine Lärche aussah, kannte nicht den Unterschied zwischen Tannen und Fichten, Linden oder Erlen.

An Eschen hatte man guten Netzempfang.

Im Anschluss an diese erste Fahrt nach Täuschberg damals hatte das Einstellungsgespräch stattgefunden. Es war etwas ungewöhnlich verlaufen, weil so etwas wie eine harte Verhandlung gar nicht vorgesehen war. Es ging ja um Timos ersten richtigen Arbeitsvertrag, und er dachte immer, man müsse um jedes Detail ringen. Dann aber merkte er schnell, dass er sich als Einziger beworben hatte. Die Fragen waren beliebig gewesen, keine Kontroversen.

Ein kleiner Büroraum in der Diakonie mit einem laut summenden Ventilator in einem Computer. Timo hatte direkt vor dem Schreibtisch gesessen. Der Personalverantwortliche der Diakonie war nur wenige Jahre älter als er und hatte etwas lustlos in seinen Unterlagen geblättert. Vielleicht hatte sein mangelndes Interesse an diesem Gespräch daran gelegen, dass die Diakonie Timo zunächst einen recht unwichtigen Vertrag für zwei Monate anbot.

Timo legte seinen Lebenslauf und einige Zeugnisse vor. Der Mann schwieg und raschelte manchmal mit den Papieren. In die Stille hinein verwies Timo etwas ungeschickt auf seinen Studienschwerpunkt, die Inklusion, sprach über erlernte Strategien zum Selbstmanagement und über Projektmanagement. Immer noch reagierte der Angestellte der Diakonie nicht. Deswegen ging Timo kurz auf die Bedeutung der Corporate Social Responsibility ein.

»Sie haben ja den Master und auch einige einschlägige Erfahrungen in diversen Praxisfeldern sammeln können«, murmelte der andere vor sich hin, und Timo nickte zustimmend.

»Und haben Sie andere Bewerbungen laufen?«

Der Mann hörte gar nicht auf Timos ungenaue Antwort, blätterte stumm weiter, und Timo wartete einen Moment. Dann erwähnte er die Bedeutung der Ethik als Teil der Social Responsibility.

»Ja, klar«, sagte sein Gegenüber. »Sind Sie eigentlich in der Kirche?«

»Wieso?«

»Das ist hier die Diakonie.«

Timo wartete.

»Das ist natürlich keine Voraussetzung für diesen Vertrag. Aber wir teilen ein jüdisch-christlich geprägtes Wertesystem, Herr Hornung.«

»Getauft und konfirmiert«, antwortete Timo.

»Und kennen Sie noch Ihren Konfirmationsspruch?«

Was sollte das jetzt? Ein christlicher Bewerbungstest?

Er dachte kurz nach. Eigentlich konnte er sich Sinnsprüche und Zitate immer ganz gut merken. Dem Unersättlichen in jeglichem Genuss, wird selbst das Glück zum Überfluss. Oder: Egal wie weit der Weg ist, man muss den ersten Schritt tun (Mao Tsedong). Dann fiel es ihm ein: »Ich weiß, mein Gott, dass du das Herz prüfst …«

Er suchte nach dem zweiten Teil des Spruchs. Es war zehn Jahre her. Der Mann blickte ihn lange und abwartend an.

»Prüfest«, sagte er dann plötzlich. »Prüfest. Und weiter?«

Nichts.

»Und Aufrichtigkeit ist dir angenehm«, beendete der Angestellte den Satz mild lächelnd. »War auch mein Spruch. Wissen Sie noch, woher in der Bibel er kommt?«

Auch das hatte Timo vergessen.

»Weiß ich auch nicht mehr«, sagte der andere dann freundlich. »Aus dem hebräischen Teil der Bibel. Irgendwas mit König David ganz bestimmt.«

Timo erhielt den Kurzzeitvertrag. Einfach so. Ohne Konflikt. Nun sollte er mit dem Landrat sprechen und in die Kreisstadt nahe Täuschberg fahren. Sie nannte sich immer noch Kreisstadt. Jetzt sogar Große Kreisstadt. Aber es war die ehemalige Kreisstadt. Kreisreform.

Er mietete sich in einem einfachen Gasthof ein, für neunundvierzig Euro die Nacht und vier Euro für das Frühstück. Die Diakonie zahlte nur wenig für die Reise und die Spesen. Er bezog ein trostloses, kleines Zimmer mit einem Fenster zu einer lauten Kreuzung mit Ampeln, an denen Tag und Nacht Lkw anfuhren. Im Frühstücksraum, der Kneipe des Hotels, saßen Handwerker, die irgendetwas in der Stadt zu erledigen hatten. Timo saß allein an einem Tisch, belegte die weichen Brötchen mit billigem Käse und ausgetrockneter Wurst. Nicht einmal die Bedienung sprach mit ihm. Zwei Tage nach seiner Ankunft erhielt er endlich einen Anruf vom Landratsamt: Ortstermin in Täuschberg um neun Uhr am nächsten Tag.

Ein bitterkalter Morgen. Windstill. Er wartete bei laufendem Motor im Wagen neben den Trabbi-Garagen. Von hier konnte er die Dorfstraße überblicken. Vier Pkw fuhren die holprige Straße herauf und parkten vor dem ehemaligen Amtsgebäude. Als Erster stieg der Landrat aus. Sein massiger Körper bewegte sich mit großer Selbstsicherheit. Danach erschienen fünf weitere Personen in dicken Wintermänteln, Schals und hochgeschlagenen Krägen. Einige mit Fellmützen, alle mit Lederhandschuhen. Nur Timo war falsch angezogen. In einer dünnen Jeansjacke und mit Sneakers schlitterte er zu ihnen die Straße hinunter.

Landrat Dr. Boban, ein Mann Anfang fünfzig mit einer Rotfuchsfellmütze, breiten Ohrenklappen und einem hochroten Gesicht, stellte alle vor: den Dezernenten vom Ordnungsamt, die Integrationsbeauftragte und einen Bauingenieur des Kreises, einen Herrn von einer Immobilienfirma Sybille aus Frankfurt und einen Herrn von einer Immobilienfirma Scholle. Beide waren aus einem silberblauen Range-Rover-SUV mit Cottbuser Kennzeichen gestiegen und trugen Mützen wie Doktor Schiwago. Zuletzt stellte der Landrat Timo vor: »Der Herr von der Diakonie.«

Alle gaben sich die Hand und pusteten den anderen kalten Hauch entgegen. Die beiden Immobilienhändler verteilten Visitenkarten, der Landrat auch.

Boban übernahm die Führung und marschierte mit großen Schritten los.

»Es geht um das Nutzungskonzept«, brüllte er ins leere Dorf. »Deshalb sehen wir uns erst mal an, was hier möglich ist. Ingenieur Behrens wird über die technischen Möglichkeiten Auskunft geben. Fangen wir am Ortseingang bei Haus eins an.«

Sie gingen von einem Haus zum nächsten. Jedes hatte eine Nummer. Die rechte Reihe begann mit Haus eins, dann zwei, drei … Die linke Reihe begann mit Haus sieben. Dann acht, neun …. Als sie den alten Kiosk vor Haus drei erreichten, blieb Boban stehen.

»Da steht ja echt noch Spätverkauf «, donnerte er zu dem Ingenieur hinüber. »Sehen Sie mal. Ein alter Späti. Das glaub ich jetzt nicht.«

Der Ingenieur zuckte nur die Schultern. Er sagte ohnehin wenig, konnte kaum technische Auskünfte geben, betonte aber einmal, dass eine genaue Bauprüfung der Häuser notwendig sei und weder Strom- noch Wasserversorgung garantiert seien. Er sprach in einem rheinischen Dialekt.

»Was ist mit Abwasser und Scheiße?«, fragte der Landrat. Der Ingenieur winkte ab. Einer der Immobilienmänner filmte alles mit seinem Handy. Timo rutschte zitternd hinter den anderen her und hoffte, dass es schnell gehen würde. Doch vor den Trabbi-Garagen bog die Gruppe rechts von der Straße auf einen tief verschneiten Pfad ab. Dort lagen noch drei verlassene Häuser, die Timo bei seinem ersten Besuch nicht entdeckt hatte, weil sie hinter Büschen und Bäumen versteckt waren. Sie näherten sich einem kleinen Friedhof. Man konnte auch im hohen Schnee erkennen, dass er verwahrlost war. Die Mauer war an einigen Stellen eingefallen und einige Grabsteine waren umgestürzt. Im hinteren Teil waren einmal schmale Baumstämme so zusammengestellt und verbunden worden, dass an der Spitze wahrscheinlich eine Glocke angebracht werden konnte. Das kleine Dach darüber war heruntergefallen.

»Was für ein Jammer«, schimpfte Boban über die Gräber hinweg.

Die Gruppe folgte ihm weiter in den Wald hinein. Jedes Geräusch wurde vom Schnee gedämpft. Niemand fragte, warum sie jetzt aus dem Dorf herausspazierten. Der Landrat schritt schweigend voran, wie der Leiter einer Expedition. Er setzte als Erster seine Füße in den frischen Schnee. Timos Ohren schmerzten. Er zitterte vor Kälte, versuchte seine Hände tief in die Taschen seiner viel zu dünnen Hose zu stecken und in die Fußstapfen der anderen zu treten. Vergeblich, in seinen Sneakers taute der Schnee.

Sie liefen durch die weiten Wälder Kanadas, um eines der letzten indigenen Völker zu finden. Timos Ausrüstung war verlorengegangen. Doch für ihn gab es kein Zurück. Solange er das Tempo der anderen hielt, würden sie ihn unterstützen. Sollte er aber Erfrierungen erleiden und zurückfallen, würden sie ihn allein lassen. So erbarmungslos waren die Regeln hier draußen, und er wollte diese Expedition unbedingt überleben.

Plötzlich sah er vor sich auf einer Lichtung ein Haus, von dem eine dünne Rauchfahne aufstieg. Als sie es erreichten, klopfte Boban viel zu heftig an die Tür. Eine kleine Frau mit hochgesteckten grauen Haaren und eingehüllt in viel Wolle öffnete. Sie war schon sehr alt, hatte ein schmales Gesicht und lustige Augen. Boban drückte ihr die Hand.

»Frau Dr. Remmer«, begann er mit einer Stimme, die viel zu aufdringlich für diesen Wald klang. »Wir machen hier einen Ortstermin für ein neues Nutzungskonzept von Täuschberg. Und darüber wollten wir Sie als Heimatschutzbeauftragte und letzte Anwohnerin von Täuschberg jetzt mal informieren. Man kann Sie ja telefonisch nicht erreichen.«

»Ach, ist es jetzt so weit?«, antwortete die alte Frau und lächelte.

»Ja, ja«, dröhnte Boban zurück. »Und hier ist Ihre Einladung ins Rathaus für morgen. Da werden wir dann die verschiedenen Nutzungskonzepte diskutieren.« Er drückte ihr einen Brief in die Hand und zog dann Timo vor die Haustür. »Und das ist übrigens der Vertreter der Diakonie, Herr …«

»Hornung«, stammelte Timo zitternd. »Timo Hornung.«

Sie reichte ihm eine schmale, aber kräftige Hand, viel wärmer als seine.

»Sie sind ja noch jung«, sagte die Frau freundlich und sah ihn mitleidig an. »Und viel zu dünn angezogen.«

»Vierundzwanzig«, antwortete er, und kurz war es so still, wie es in diesem Wald sein sollte.

Timo wunderte sich, dass Boban nur ihn vorgestellt hatte, doch der hatte sich schon auf den Rückweg gemacht und schrie in den Wald: »Ihr verdanken wir hier fast alle unser Leben!« Niemand reagierte. Deswegen schrie er den gleichen Satz noch einmal und noch lauter.

Zehn Minuten später saß jeder wieder in seinem eigenen warmen Auto. Schuhe und Strümpfe legte Timo vor das Heizgebläse.

Am nächsten Tag ging er in der ehemaligen Kreisstadt zum Herren-Friseur, ließ sich seinen blonden Vollbart stutzen und die Haare kürzen. Nach neuster Mode. Fasson nur in diesem Salon. Die Seiten sehr kurz, oben etwas länger, Scheitel, alles nach hinten gekämmt mit ein wenig Gel. Am Ende fand er es eher zu modisch und auch zu brav. Ein HJ-Schnitt, aber die meisten in seinem Alter trugen diese Retro-Frisur. Anschließend kaufte er in einem Secondhand-Laden für einen Euro eine Krawatte, rot, Frottee, Marke Juwel.

Für den Termin verkleidete er sich zu seiner Jeans mit einem blauen Jackett und dem weißen Weihnachtshemd. Der Knoten der Krawatte war so klein, dass er sich nicht mehr bewegen ließ, nachdem er ihn zugezogen hatte. Nach dem Gespräch würde er den Schlips abschneiden.

So jedenfalls erschien er als Erster im Bürgersaal des Rathauses der ehemaligen Kreisstadt. Ein beeindruckender Raum. Holzvertäfelt, sogar die Decke. Farbige Fensterscheiben. Kostbares Parkett. Säulen. Tief hängende Kronleuchter. Wandskulpturen. Und mitten im Saal, ganz unpassend, ein Viereck weißer Resopaltische. Davor zwölf knallrote Plastikklappstühle. Auf den Tischen stand Menschel-Brause, seit 1889, Gurke-Zitrone, und einige Packungen Othello-Kekse lagen daneben.

Die Immobilienmänner bauten einen Beamer auf. Jetzt in dunkelblauen Anzügen, dunkelblauen Hemden, mit dunkelblauen, glänzenden Krawatten mit großen Knoten. Die mussten später nicht abgeschnitten werden. Einer der beiden trug hellbraune Sneakers, der andere hellblaue. An einem Stativ zogen sie eine Leinwand hoch. Ein anderer Mann kam dazu, mit blondgrauem Pferdeschwanz, in gestreiftem Arbeitshemd und Zimmermannshose. Er suchte für die Immobilienmänner eine Steckdose. Sie waren gut vorbereitet.

Frau Dr. Remmer trat ein und blieb unentschieden stehen. Auch die anderen nach ihr wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten, tauschten erste freundliche Worte aus. Timo kannte niemanden und stützte sich mit einer Hand auf einer der wackligen Stuhllehnen ab, bis der Landrat mit rotem Kopf den viel zu großen Raum betrat, auf ihn zusteuerte, ihm viel zu kräftig die Hand schüttelte, eine Visitenkarte überreichte und ihn auf den Klappstuhl drückte.

Jetzt saß er allein an den Tischen. Er nahm eine Packung Othello in die Hand, kein Hinweis zum Aufreißen, also mit den Zähnen. Plötzlich platzte die Packung auf und braune Krümel rieselten auf die weiße Tischplatte. Er schob sie mit der Hand zu einem kleinen Haufen zusammen und las dann demonstrativ und mit übergroßem Interesse die Aufschrift: Die Welt der Kekse. Seit 1906 aus Sachsen-Anhalt. Traditionelle Originalrezeptur. Unverwechselbar. Einzigartig. Vegan. Palmöl und Kakao zertifiziert. Unterwegs mit Keks. Das würde er sich merken. Unterwegs mit Keks.

Die Immobilienmänner klappten ihre Laptops auf. Zwei Frauen kamen noch dazu und setzten sich eilig an den Tisch. Der Landrat begann die Vorstellungsrunde zunächst mit den Gästen, und zum Glück erst einmal mit den Immobilienmännern. Die Namen vergaß Timo sofort wieder. Der von Sybille hatte einen Schnurrbart, der von Scholle keinen.

Sybille sei eine renommierte Firma aus Frankfurt. Allerdings am Main, erklärte Boban. Alle lachten freundlich. Man habe dort umfangreiche Erfahrungen mit der Rettung verlassener Immobilien im In- und Ausland gemacht. Bei Scholle handele es sich um eine Kooperationsfirma aus Cottbus. Boban zögerte und sagte dann gespielt abweisend: »Also aus Brandenburg.« Wieder lachten alle freundlich. Die Firma Scholle sei ein typisches ostdeutsches Immobilien-Start-up, aufstrebend und dabei regional orientiert und eng der Tradition Ostdeutschlands verbunden.

Plötzlich eine Unterbrechung. Zwei Frauen schoben einen rumpelnden Küchenwagen herein. Sie stellten Tassen und Thermoskannen auf die Tische. Dazu Sahne in kleinen Portionspackungen, Schlagfix. Gesund durch das Leben. Vegan immerhin, aber viel Müll. Zucker in Tütchen zum Aufreißen. Keine Löffel. Jetzt nestelten auch die anderen an den Kekspackungen. Das Knistern hallte durch den großen Saal. Boban sprach in das störende Geräusch hinein: »Ja, und der Herr Hornung ist kurzfristig als Fachmann von der Diakonie eingestellt worden, um ebenfalls ein Konzept für Täuschberg zu präsentieren.«

Schließlich stellte er noch den Mann vor, den Timo für den Hausmeister gehalten hatte, ein Herr Nowak, der aber als Vertreter Täuschenbachs, dem Nachbarort von Täuschberg geladen war. Bei Frau Dr. Remmer wiederholte er den Satz, sie alle verdankten ihr das Leben. Ingenieur Behrens und der Dezernent des Ordnungsamts wurden übergangen. Aber die zwei weiteren Frauen wurden vorgestellt. Die unscheinbare Integrationsverantwortliche des Kreises hatte Timo schon bei der Begehung in Täuschberg gesehen. Die andere Frau hieß Sellig-Martenstein und war die Ausländerbeauftragte des Kreises. Sie trug ein wallendes, bunt bedrucktes Gewand und hatte eine angenehme, mollige Stimme. Beide waren Ende dreißig und saßen nebeneinander, doch sie drehten sich immer voneinander weg und sahen sich nie an. Frau Sellig-Martenstein aß allein aus der einzigen Kekspackung, die vor den beiden lag.

»Tagesordnung«, herrschte der Landrat den verschlafenen Dezernenten an.

»Rechtslage, technische Sicherheitslage, Heimatschutz, Konzepte«, las der Dezernent vor und begann ohne Pause mit der Darstellung der Rechtslage. Nach langem Leerstand, nach fehlender Landbebauung und Forstnutzung habe sich für den Kreis die Möglichkeit ergeben, das gesamte Dorf zum Wohle der Gemeinschaft zu vergesellschaften. Dieser Vorgang sei im vergangenen Jahr erfolgreich beendet worden.

»Enteignung also«, schloss der Landrat laut lachend. »Kennen ja noch einige von Ihnen.«

Wieder freundliches Mitgelache.

»Täuschberg gehört jetzt uns«, brüllte Boban in den großen Saal hinein. Frau Dr. Remmer hob die Hand, und er rief ihr beschwichtigend zu: »Natürlich nicht das alte Forsthaus und der Grund von Frau Dr. Remmer.« Dann wandte er sich an den Ingenieur: »Weiter, Behrens.«

Der Mann breitete ohne Hast Zeichnungen, Grundbucheintragungen und vergilbte Akten vor sich aus und starrte zunächst schweigend darauf, als wundere er sich selbst über seine Papiere.

»Behrens! Weiter!«, rief der Landrat.

»Also positiv ist erst mal«, begann der Ingenieur stockend, »dass es bisher keinen Vandalismus gab. Das Dorf kennt ja eigentlich niemand. Es verirren sich kaum Leute nach Täuschberg. Ganz selten mal ein Wanderer.«

Der Mann mit dem Pferdeschwanz unterbrach mit einem Blick zu Frau Dr. Remmer: »Da haben wir alle auch immer aufgepasst.«

Der Ingenieur überging die Bemerkung. »Wesentlich ist die Bausicherheit. Da habe ich einige grundsätzliche Bedenken. Schwamm, Hausbock vielleicht. Es ist ja fast ausschließlich Holz verbaut. Und der Untergrund … da muss man erst mal genauer hinschauen. Die Dächer auch. Und dann die Tür- und Fensterstürze und die Kamine. Aber vor allem gibt es keine Versorgungsleitungen. Strom und Wasser, alles defekt. Dann der Zustand der Dorfstraße, ja, und der Helweg durch den Wald. Man müsste da grundsätzlich sanieren. Und der Wald. Es gibt keinen Förster. Also Gefahr umstürzender Bäume, Erdrutsche und so weiter. Und die Wölfe. Das muss man alles untersuchen. Das kann sich hinziehen. Die verschiedenen Gewerke …«

»Nee, Behrens«, unterbrach der Landrat. »Das zieht sich gar nicht hin. Das hat Priorität. Da will ich schon in, sagen wir mal, zehn Tagen wissen, was los ist. Es sind immerhin Umgebindehäuser. Fast alle. Die stehen doch von selbst. Seit Hunderten von Jahren. Ich hatte einen guten Eindruck. Versorgungsleitungen, klar, das dauert. Aber der Rest muss sofort einzugsfertig gemacht werden.«

Die beiden Immobilienmänner klopften laut auf den Tisch.

»Heimatschutz, Frau Dr. Remmer«, rief der Landrat.