Tausend Archen - Johannes Siegmund - E-Book

Tausend Archen E-Book

Johannes Siegmund

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Beschreibung

Konfrontiert mit Fluchtbewegungen gerät Europa in Panik. Es schickt Militär an die Grenzen, organisiert EU-Austritte, schleift liberale Demokratien und macht sich von autoritären Staaten erpressbar. Seit 100 Jahren ist rassistische Flüchtlingspolitik das zentrale Einfallstor für rechtsextreme Gewalt und ebnet den Weg für Autoritarismus und Faschismus. Doch Fluchtbewegungen müssten nicht unweigerlich zu einem Rechtsruck führen. Sie sind auch politische Bewegungen, die für radikale Solidarität einstehen. Die Flüchtenden bleiben inmitten gewaltvoller Krisen handlungsfähig und kämpfen gegen Lager, Abschiebungen, Rassismus und Grenzen. Seit den 1990er Jahren werden diese Proteste der Refugees und Sans-Papiers dabei von Millionen von Menschen unterstützt. Denn jenseits von neoliberalem Weitertorkeln und faschistischem Hass gibt es eine dritte politische Option: das mutige Einstehen für eine radikal solidarische Welt. Wie können wir die Welt so verändern, dass es keine Grenzen mehr braucht?

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Seitenzahl: 235

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Flucht ist nicht nur Folge von Repression und ein Akt der Verzweiflung. Johannes Siegmund beschreibt Flucht vielmehr als Rückgewinnung von selbstbestimmtem Handeln mit nicht zu unterschätzender politischer Wirkmächtigkeit. Es wird Zeit, den Teufelskreis rassistischer Migrationspolitiken zu durchbrechen und stattdessen gemeinsam mit den Flüchtenden für ein sicheres und gutes Leben für alle zu kämpfen. Denn jenseits von neoliberalem Weitertorkeln und faschistischem Hass gibt es eine dritte politische Option: das mutige Einstehen für eine radikal solidarische Welt.

Johannes Siegmund

TAUSEND ARCHEN

Flucht als politische Handlung

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Für meinen Vater, der sein Leben lang ein Flüchtlingskind geblieben ist.

Einleitung

Erster Teil: Die Vertreibungen der Nationalstaaten

Hannah Arendt und der politische Flüchtling

Flüchtlinge und Staatlinge

Zweiter Teil: Die Vertreibungen des Kapitalismus

Enteignung und Verwüstung

Inseln des Wohlstands im Meer der Gewalt

Kapitalismusflucht

Dritter Teil: Die widerständigen Politiken der Flucht

Arendts Paradoxie

Kämpfe um Bürger:innenschaft

Flucht als Exodus

Feigheit? Abenteuer? Widerstand!

Die konkrete Utopie der Flüchtenden

Dank

Anmerkungen

EINLEITUNG

Konfrontiert mit Fluchtbewegungen gerät Europa in Panik. Regierungsoberhäupter entsenden Panzer an die Grenzen. Rechtsextreme Parteien und Bewegungen gewinnen Wahlen mit Hasskampagnen und Verschwörungserzählungen vom Untergang des weißen Abendlandes. Europa schließt Abkommen mit autoritären Regimen und Milizen und macht sich von ihnen erpressbar. Großbritannien verlässt die EU. Menschenrechte werden ausgehebelt und Flüchtlingsheime attackiert. Zehntausende Menschen werden in der Wüste und im Meer dem Sterben überlassen. Rassistische Flüchtlingspolitiken sind ein Überbietungswettkampf der Grausamkeit, der die liberalen Demokratien Europas in ihren Grundfesten bedroht und Europa in einen neofaschistischen Teufelskreis der Gewalt führt.

Sind Fluchtbewegungen die Sollbruchstelle der europäischen Demokratien?

Sie müssten es nicht sein. Fluchtbewegungen haben in den letzten Jahrzehnten auch beeindruckende solidarische Bewegungen ausgelöst. Schon Ende der 1990er Jahre protestierten Hunderttausende in Frankreich, Italien und Deutschland gegen rassistische Flüchtlingspolitiken, unterstützten die Flüchtenden in ihren Forderungen nach Abschaffung der Lager, nach Aufenthaltstiteln und Bewegungsfreiheit. Und die Fluchtbewegung von 2015 lässt sich gemeinsam mit der solidarischen Unterstützung als eine der größten sozialen Bewegungen verstehen, die es in Deutschland je gab. Als der Staat von der Ankunft der Flüchtenden überfordert war, sprangen unzählige Menschen ein, leisteten Fluchthilfe, organisierten Lebensgrundlagen, gründeten Netzwerke und NGOs. Viele Flüchtende und ihre Unterstützer:innen sind bis heute durch enge Beziehungen verbunden.

Sicherlich war die Willkommenskultur auch durch paternalistischen Humanitarismus geprägt und kreiste mitunter narzisstisch um das Selbstbild der Europäer:innen. Trotzdem war sie eine politische Bewegung: Gemeinsam mit den Märschen und Protesten der Flüchtenden öffnete sie Debatten über die Grenzen von Demokratie und Menschenrechten, über Rassismus, Fluchtgründe und globale Ungleichheit.

Die Fluchtbewegungen ließen sich nicht einfach paternalistisch weglächeln oder technokratisch verwalten. Schließlich legten sie fundamentale politische Widersprüche offen: Wie kann es sein, dass ein Kontinent, der sich mit der Einhaltung von Menschenrechten und Demokratie brüstet, Zehntausende Menschen an seinen Grenzen sterben lässt? Die Fluchtbewegungen durchlöcherten die sozial-liberale Fassade Europas. Die Bausubstanz, die darunter sichtbar wurde, stammte noch aus Zeiten von Imperialismus und Faschismus und war dementsprechend kaputt. Gemeinsam machten die Fluchtbewegungen und ihre Unterstützer:innen klar, dass eine Kernsanierung notwendig wäre.

Damit reihten sie sich in eine Welle antirassistischer, queer-feministischer und ökologischer Protestbewegungen ein, die die Krisendekade der 2010er Jahre prägten. Die verschiedenen Protestbewegungen wie Ni una Menos, MeToo, Black Lives Matter und Fridays for Future suchten nach Antworten auf die Vielfachkrise und begannen, Gewalt zu thematisieren und Verantwortung einzufordern. Eva von Redecker bündelte all diese Ausformungen als »Revolution für das Leben«.1

Wie diese Proteste waren auch die Fluchtbewegungen auf einer alltäglichen Ebene äußerst wirksam, denn sie verschoben die Sensibilität für Gewalt, experimentierten mit neuen Lebensformen und Beziehungsweisen, adressierten Rassismus und Sexismus. Auf einer strukturellen Ebene scheiterten sie jedoch krachend. Ihre radikalen politischen Forderungen nach einer Abschaffung von Polizei und Grenzen, dem Aufbruch in eine neue Geschlechterordnung und einer sozial-ökologischen Transformation verpufften. Obwohl große Teile der Medien und Parteipolitik in den Hochphasen mit den Bewegungen Solidarität bekundeten, hatte letztlich keine Partei den Mut, ihnen treu zu bleiben.2 Sobald sich die Massenproteste verliefen und die Gegenbewegungen zurückschlugen, knickten die Parteien ein. Das Ausbleiben von strukturellem Wandel und institutioneller Unterstützung ließ die Bewegungen schnell ausbrennen, noch verstärkt durch die aufkommende Covid-Pandemie. Übrig blieb eine gefährliche Leerstelle.

Die Krisen hatten den europäischen Gesellschaften den drohenden gesellschaftlichen Kollaps vor Augen geführt. Die Bewegungen hatten schonungslos aufgezeigt, dass Transformationen im revolutionären Maßstab notwendig sind, um von der Sorgearbeit über globale Gerechtigkeit, Sexismus und Rassismus bis zum Klima eine lebenswerte Zukunft für alle möglich zu machen. Sie hatten die neoliberale und sozialdemokratische Verwaltung auflaufen lassen, die auf wirtschaftliche Desaster mit einem Geldregen für Banken aus Hunderten von Milliarden Euro reagierte. Vor diesem Hintergrund machten die Protestierenden klar: Wenn strukturelle Veränderungen ausblieben, würden sich die Krisen häufen und in einen langsamen Zusammenbruch münden. Der Gipfel des kapitalistischen Wachstums sei überschritten, und nun drohten sozialer Abstieg, Verteilungskämpfe und Kriege.

Die Bewegungen konnten sich dabei nicht nur auf wissenschaftliche Evidenz stützen, sondern auch auf die kollektive Krisenerfahrung. Im ständigen Ausnahmezustand war deutlich geworden, dass die vermeintliche Normalität nicht politisch neutral war, sondern sich auf gewaltvolle Strukturen der Enteignung und Ausbeutung stützte. Die Bewegungen hatten die westliche Lebensweise offensiv in Frage gestellt, von der rohen Bürgerlichkeit gegenüber Flüchtenden bis hin zum SUV und Fernstreckenflug. Die Antwort folgte prompt. Als die Bewegungen die mediale Aufmerksamkeit verloren, folgten gewaltige Gegenbewegungen.

Gestützt von einem sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit radikalisierenden Konservatismus stellte die extreme Rechte die Problemlage auf den Kopf. Mit perfider Umkehr von Täter:innen und Opfern erklärten sie, die (alten, männlichen, weißen) Europäer seien nicht das Problem, sondern vielmehr die schuldlosen Opfer all der Krisen. Verantwortung und Schuld lägen bei den anderen. Sie raunten Verschwörungserzählungen, während ihre Slogans ein Zurück zur chauvinistischen Normalität forderten. Grenzschließungen wurden zum Allheilmittel erklärt und die Restauration der Gewaltverhältnisse zwischen Geschlechtern, races und Klassen zum politischen Programm. Die Parteien der Mitte sprangen ebenso wie ein Großteil der Medien brav über ihre Stöckchen und bliesen jede Provokation zu einem Skandal auf.

Heute scheint es so, als müssten sich linke Kräfte zurückziehen und vor den Schlägertrupps schützen, die durch die Straßen ebenso wie durch Social Media ziehen. Themen wie Flucht, Rassismus, Sexismus oder Ökologie werden zunehmend als spalterische Identitätspolitiken diffamiert.

In jedem Fall aber sollen sie hintangestellt werden, um erst einmal die Demokratie zu retten und den Status quo gegen die Angriffe von rechts zu verteidigen. Mit Verweis auf die Zwischenkriegszeit werden Brandmauern und Volksfronten gegen einen neuen Faschismus gefordert. Doch das ist zu kurz gedacht. Brandmauern genügen nicht. Die Feuer müssen bekämpft werden. Es reicht nicht zur Mäßigung aufzurufen, den Rechten ein Zugeständnis nach dem anderen zu machen und auf ein Revival der zombiehaft weitertorkelnden Ideologien von Neoliberalismus und Sozialdemokratie zu hoffen. Die Rechte wird so lange erstarken, bis sie mit glaubwürdigen Alternativen konfrontiert wird.

Rosa Luxemburg brachte die Krisenzeit des Ersten Weltkriegs auf die Formel »Sozialismus oder Barbarei«. Europa steht heute vor einer ähnlichen Entscheidung. Die Situation verlangt mutige Antworten auf die multiple Krise. Wie diese umfassenden Transformationen aussehen könnten, haben die radikal solidarischen Bewegungen und ihre Unterstützer:innen sowohl praktisch erprobt als auch durchdacht und aufgeschrieben. Es gibt einen breiten Kanon der Transformation, der über die Geschlechterverhältnisse von Antirassismus über Finanz- und Wirtschaftssysteme bis hin zu Staaten und internationaler Gemeinschaft mögliche Wege in eine bessere Welt aufzeigt.

In diesen kritischen Kanon reiht sich dieses Buch ein und stellt dabei zwei Grundfragen: Was sind Fluchtbewegungen? Und warum sind sie widerständige politische Bewegungen?

Die Frage nach den Flüchtenden ist die Gretchenfrage Europas geworden. An ihr soll sich entscheiden, was Europa ist:3 ein politisches Projekt, das Gleichheit, Freiheit und Solidarität verwirklicht und auf einen ewigen Frieden4 zielt, oder eine rassistische und nationalistische Maschinerie des Ausschlusses und der Ausbeutung. Sobald die Europäer:innen mit Fluchtbewegungen konfrontiert werden, denken sie fieberhaft über sich selbst nach.5 Der Ausweg aus dieser Selbstbespiegelung liegt darin, die Perspektive zu wechseln und sich an den Fluchtbewegungen mit ihren radikal solidarischen Politiken zu orientieren. Dieses Buch ist eine Einladung, diesen Ausweg gemeinsam weiter zu erkunden und zu beschreiten.

ERSTER TEIL: DIE VERTREIBUNGEN DER NATIONALSTAATEN

Hannah Arendt und der politische Flüchtling

In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das 1951 in den USA erschien, beschrieb Hannah Arendt den Flüchtling als eine entscheidende politische Figur. Die Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit stellen nach Arendt aus zwei Gründen eine neue Kategorie Vertriebener dar.6 Zum einen treten sie in Massen auf und werden allein deshalb zum ersten Mal zu einem zentralen Problem nationaler und internationaler Politik. Die Vertreibung von Minderheiten und Bevölkerungen erreicht am Ende des Zweiten Weltkriegs ihren traurigen Höhepunkt. In einer Weltbevölkerung von 2,3 Milliarden gibt es 175 Millionen Flüchtlinge, das sind 7,6 Prozent aller Menschen.7 Zum anderen werden die Flüchtlinge nicht ausgestoßen, weil sie etwas verbrochen, an Rebellionen oder Putschversuchen teilgenommen oder radikale politische Ansichten vertreten hätten. Während die Exilant:innen des 19. Jahrhunderts oftmals vor Revolutionen oder Konterrevolutionen flüchteten und auf Asyl hofften, werden die Flüchtlinge des 20. Jahrhunderts vertrieben, weil in den rassistisch gereinigten Nationalstaaten kein Platz für sie ist.

Für den Historiker Michael Marrus zeichnet sich das gesamte 20. Jahrhundert durch Massenflucht aus. Er grenzt die Flüchtlinge von den Vagabund:innen der Frühen Neuzeit ab und hält fest, dass es bis weit ins 19. Jahrhundert gar keinen allgemeinen Ausdruck für Flüchtlinge gab. Das Wort »Refugiés« bezog sich nur auf die aus Frankreich geflohenen Hugenott:innen des 17. Jahrhunderts.8 Der Begriff Flüchtling wird erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts in internationalen Verträgen erwähnt und im Alltag verwendet.

Wie Arendt geht Marrus davon aus, dass Fluchtbewegungen vor der Moderne kein Problem internationaler Politik darstellten. Erst mit der Entstehung von Nationalstaaten und ihren bürokratisch-rassistischen Maschinerien aus Staatsbürger:innenschaften, Volkszählungen, Ausweisen9 und Nationalkulturen10 brauchte es einen Begriff, der all diejenigen umfasste, die aus dieser neuen nationalen Ordnung der Welt herausgestoßen werden. Erst als das kälteste aller kalten Ungeheuer, wie Nietzsche den modernen Staat nannte, die Kontrolle über die nun massenhaften Bevölkerungen übernahm, wurden die Flüchtlinge zum politischen Problem auf nationaler wie internationaler Ebene. Der Nationalstaat setzte sich erst im 20. Jahrhundert gegenüber den Imperien durch, auch wenn sich in Frankreich und England schon seit dem 17. Jahrhundert relativ starke Staaten herausgebildet hatten.11 Mit dem Zerfall des osmanischen, österreichischen und russischen Reiches und der langsam einsetzenden Dekolonisierung wurde das Paradigma des Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem des Nationalstaats überschrieben.12

Das Ideal klar abgegrenzter Staaten mit homogenen Bevölkerungen und die Härte der entstehenden bürokratischen und rassistischen Staatsmaschinerien prägten die Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts entscheidend. Der moderne Flüchtling war deshalb Nationalismusflüchtling und damit das Negativ de:r Staatsbürger:in. Er floh vor dem Ausschluss aus nationalistischen und rassistischen Staaten.

Der Zerfall der Reiche und die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten zeitigten noch eine zweite entscheidende Konsequenz: Abermillionen von Menschen waren bis Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa geflohen und hatten in den (ehemaligen) Kolonien und an den Frontiers Zuflucht gefunden. Der Imperialismus war dementsprechend immer auch ein Ventil zum Abbau der sozialen und politischen Spannungen innerhalb Europas gewesen. Die europäischen Mutterländer nutzten die Kolonien, um ihre ökonomischen, politischen und sozialen Probleme auf die kolonialisierten Gesellschaften abzuwälzen und lagerten interne Problemlagen durch Deportationen, Landraub, Gewalt und Sklaverei in die Kolonien aus. Pauperisierte, Vagabund:innen, Prostituierte, Kleinkriminelle und all die anderen Unerwünschten waren bis ins 20. Jahrhundert regelmäßig an die Frontiers verschifft worden. Dieses imperiale System der Auslagerung von Problemen fiel genau in dem Moment in sich zusammen, in dem es zu massenhaften Vertreibungen innerhalb der zerbrechenden Reiche kam.13

Europas Flüchtlinge

Der Zerfall des osmanischen Reiches, des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn und des russischen Zarenreiches im Zuge des Ersten Weltkriegs hinterließ eine diverse Bevölkerung, die sich nur schwer in Nationalstaaten fassen ließ. Die Bevölkerungen der im Osten nach westlichem Vorbild neu gegründeten Staaten glichen einem Flickenteppich aus Minderheiten. Wurden diese Minderheiten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg noch durch Verträge geschützt und aus dem Ausland unterstützt, setzte sich in den 1920er Jahren zunehmend eine Politik der Denaturalisierung dieser Minderheiten durch: Die Staaten begannen große Teile ihrer eigenen Bevölkerung zu entrechten und entzogen ihnen schließlich die Staatsbürger:innenschaft. So wurden aus Minderheiten Staatenlose, die nirgendwo mehr Aufnahme fanden und deren Vaterländer die Internierungslager wurden, wie Arendt mit bitterer Ironie anmerkte.14

Die Minderheiten und Staatenlosen, die während der Nationalstaatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg ins Nirgendwo fielen und mittels diplomatischer Arbeit verteilt worden waren, wurden dann schon in den 1930er Jahren von den Faschismusflüchtlingen abgelöst. Zudem wurde die Masse der denaturalisierten Minderheiten durch die Bürgerkriegs- und Weltkriegsflüchtlinge ständig erneuert, sodass Europa jahrzehntelang von Millionen von Vertriebenen durchwandert wurde.

Minderheiten – Staatenlose – Jüd:innen: Arendt beschreibt in ihrer Geschichte der Zwischenkriegszeit, wie sich die Schlinge aus Rassismus und Nationalismus innerhalb weniger Jahre zuzog. Nationalistischer Ausschluss und imperialistischer Furor verengten sich schließlich im Faschismus in der Verfolgung der Jüd:innen. Sie sind die paradigmatischen Flüchtlinge für Hannah Arendt, da sie eine Gemeinschaft ohne Staat waren und damit exemplarisch für die Denaturalisierten und Staatenlosen der Moderne standen.

Nachdem die Reiche zerfallen waren, scheiterten die Nationalstaaten daran, ihre Bürger:innen zu schützen. Arendt deutet die rassistische Verfolgung und den Ausschluss von Minderheiten als beginnenden Staatszerfall, als einen Prozess der nationalistischen Selbstzerfleischung ganzer Gesellschaften. Ihr Kapitel zur Flucht aus dem Totalitarismus-Buch heißt dementsprechend »Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte«.15

Imperialismus und Nationalismus weichten die staatlichen Institutionen auf, Kriege zersplitterten sie, und schließlich wurden sie vom Faschismus zerstört. Den Gewaltausbruch bis zum Untergang der Welt, den Europa jahrhundertelang kolonial exportiert hatte, wiederholte es mit Faschismus und Weltkriegen in den Mutterländern. Rassistische Flüchtlingspolitiken verbanden den kolonialen Rassismus mit dem Antisemitismus und führten vom Imperialismus in den Faschismus. Arendt zeichnet dies anhand von drei entscheidenden modernen Macht- und Gewalttechniken nach: Bürokratie, Rassismus und Humanitarismus.

Bürokratie

Möglichkeitsbedingung für die Vertreibung von Minderheiten waren die modernen Verwaltungsapparate der Nationalstaaten. Die bürokratischen Apparate waren im 19. Jahrhundert gewaltig angewachsen, und ihre Instrumente zur Kontrolle der mittlerweile massenhaften Bevölkerungen wurden beständig verfeinert und ausgeweitet. Personalausweise wurden in Europa in vielen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg eingeführt, und Identitätskontrollen nahmen in der Zwischenkriegszeit stetig zu. Einerseits sollten die neuen Grenz- und Passregelungen die Aus- und Einreise potenziell feindlicher Personen überprüfen, andererseits sollte die Zu- und Abwanderung »dringend benötigter Menschen« reguliert werden.16 Bürokratie und Rassismus fallen zusammen im Identifizierungswahn des Ausweisens, das schnell wortwörtlich zu einer Ausweisung führen kann. In der modernen Bürokratie hängen die Rechte und damit fast die Gesamtexistenz der Staatsbürger:innen an ihrem Aufenthaltsstatus, und ein Verlust desselben ist beinahe gleichbedeutend mit einem Namens- und Identitätsverlust.17

Herkunft, Glaube und Tradition werden in der Moderne nicht durch ein universales Mensch-Sein oder durch formale Rechte ersetzt, sondern durch nationale Identitäten. Wer sich dagegen wehrt oder schlicht durchs Raster der Nationalstaatsbildung fällt, muss fliehen, wird eingesperrt oder ermordet. Die Tragik des Mensch-Werdens in Zeiten des bürokratischen Nationalstaats hat Bertolt Brecht ironisch auf den Punkt gebracht:

»Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.«18

Rassismus

Die Grausamkeit der verwalteten Ausschlüsse wurde durch eine Hochkonjunktur des Rassismus ermöglicht. Der Ausschluss und die Ermordung von Millionen von Menschen forderten zur Rechtfertigung nicht nur lose Erklärungen, sondern umfassende Ideologien, systematisch und strategisch aufgebaute Weltbilder aus rassistischen Argumentationen, deren Konsequenzen von institutionellen Machtapparaten gestützt und durchgesetzt wurden. Rassismus ist als Überbegriff zu verstehen, unter dem unterschiedliche Strömungen wie Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus gegen Schwarze und People of Colour vergleichbar werden.19

Die Stärke von Arendts Rassismusanalyse liegt darin, dass sie Kontinuitäten zwischen unterschiedlichen Konjunkturen des Rassismus sichtbar macht. Die Diskriminierung und Ermordung der Staatenlosen konnte auf eine Vielzahl von historischen Rassismen, nationalistischen, imperialistischen, antisemitischen Ausschlüssen, von populistischen Gewaltaufrufen und Diffamierungen bis hin zu ausgeklügelten Lehrmeinungen zurückgreifen. Die rassistischen Genozide und Massenmorde des Faschismus konnten sich auf Techniken und Ideologien des Mordens und der Unterdrückung stützen, die in den Kolonien erprobt und erfunden worden waren: In den (ehemaligen) Kolonien wurden rassistische Gesetze, Institutionen und Kulturen des Ausschlusses durchgesetzt, die den Faschismus in Europa inspirierten. In der Phase des Imperialismus erfanden die Europäer:innen Konzentrationslager und führten Vernichtungskriege und Völkermorde durch.

Gleichzeitig war der Antisemitismus mit Hilfe von Massenmedien, Verschwörungstheorien, Evolutionstheorie und Eugenetik von der Praxis unregelmäßig wiederkehrender Pogrome zu einer systematischen Ideologie und Regierungstechnologie der Bevölkerungskontrolle entfaltet worden. In den Vertreibungen europäischer Minderheiten wurden demnach Elemente des Anti-Schwarzen-Rassismus mit Antisemitismus verbunden.

Auf Grundlage beider Ideologien wurden Minderheiten, mit denen die Mehrheitsgesellschaften zum Teil jahrhundertelang zusammengelebt hatten und die oft vollständig assimiliert waren, identifiziert und ausgestoßen. Rassismus durchdrang die bürokratischen Hierarchisierungen ebenso wie die Alltagskultur. Er drückte sich von nüchtern und streng wissenschaftlich bis hin zu pöbelnd aus, wie in Julius Streichers Stürmer. Diskriminierung, Enteignung, Ausschluss und Verfolgung wurden durch Ideologie, Verwaltungsstrukturen, Alltagshandlungen und Pogrome immer tiefer in der modernen Kultur verankert.

In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erschufen sich die Rassist:innen laut Arendt damit genau die Untermenschen, die sie herbeifantasiert hatten. Die jüdischen Flüchtlinge wurden so lange gequält, erniedrigt, enteignet und vertrieben, bis sie auf ihrer Flucht oder Deportation schließlich tatsächlich wie Untermenschen erschienen.

Entscheidend ist auch eine weitere Beobachtung Arendts: Die deutschen Jüd:innen wurden genau in dem Moment zur Zielscheibe des Hasses, als jüdische Kultur und Religion für einen großen Teil an Bedeutung verloren hatte. Es war also weniger ihre tatsächliche Andersheit oder Fremdheit, sondern vielmehr eine nie da gewesene Verschmelzung von Kulturen in der Moderne, die dem Rassismus zur Macht verhalf. Die kulturellen Angleichungen der Moderne befeuerten den Rassismus. Rassismus wird demnach gerade nicht durch soziale, kulturelle und religiöse Unterschiede, sondern durch ihre Auflösung hervorgerufen. Die Minderheiten waren potenziell jedermann und wurden gerade deshalb rassistisch zu Anderen erklärt und verfolgt.20

Arendts Bedeutung für die Rassismustheorie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie selbst in rassistischen Denkstrukturen gefangen blieb und mithin grundlegende rassistische Motive bestärkte und verbreitete.21 Ihre phänomenologischen Erklärungsversuche des Rassismus gegen Schwarze sind diffamierend und inakzeptabel. Die Urszene des Anti-Schwarzen-Rassismus findet Arendt in der Begegnung der Kolonisator:innen mit den Schwarzen.22 Durch die Augen der weißen beschreibt sie Afrika als einen überbevölkerten Kontinent, auf dem Schatten lebten, die weder Mensch noch Tier seien, geschichtslose Mischwesen ohne Zukunft. Die Weltlosigkeit der »wirklichen Rassen« in Afrika und Australien ist für Arendt eine Tatsache, die nicht hinterfragt wird.23

Ausgehend von Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis steht die rassistische Mischung aus Angst und Begehren der Europäer:innen im Vordergrund ihrer Analysen. Arendt folgt damit dem rassistischen Blick der imperialen Kolonisator:innen. Die Kolonisierten kommen nicht zur Sprache. Arendts Phänomenologie der ersten Begegnung beschreibt eine einseitige gewaltvolle Vereinnahmung. Diese »Massenpsychologie des Farbentraumas«24 naturalisiert die Unterschiede, deren Entstehung sie eigentlich erklären sollte.

Humanitarismus

Die Flüchtlingspolitiken der Zwischenkriegszeit sind gleichzeitig durch eine Hochkonjunktur des Humanitarismus geprägt. Auch wenn der Humanitarismus seine Vorläufer in den proto-menschenrechtlichen Diskursen der Stoa, der Wohltätigkeit in Islam und Judentum und der Nächstenliebe im Christentum hat, ist er als modernes Phänomen eng verbunden mit der Entstehung von Nationalstaaten, Kapitalismus und bürgerlichen Gesellschaften. Der Humanitarismus kommt dort zum Einsatz, wo die staatlichen Strukturen versagen und sich ein Abgrund aus Leid, Not und massenhaftem Sterben auftut. Der Zustand des Humanitären, der reinen Menschlichkeit ohne Schutz durch den Staat, ist der Schatten einer nationalstaatlich geordneten Welt. Der Humanitarismuszustand tut sich überall dort auf, wo die modernen Staaten und Institutionen scheitern, sich zurückziehen und die Menschen entweder ungeschützt zurücklassen oder sie direkt attackieren. Er ist der Zustand des Menschen nach dem Untergang seiner Welt.

Der Humanitarismus liefert die Antwort auf die transnationalen und internationalen Abgründe, in die all diejenigen fallen, die aus den staatlichen und kapitalistischen Ordnungen gestoßen werden. Die Urszene des Humanitarismus ist das unerträgliche Leid der Anderen, das von den Betrachter:innen nicht hingenommen werden kann und den unbändigen Drang entfesselt, etwas dagegen zu tun. Oft sind es die Not oder das Sterben von Kindern und Frauen, mit dem der Humanitarismus das Stakkato der Aufmerksamkeitsökonomie zwischen all den Bildern von Konsum, Gewalt und Erotik durchbrechen kann. Leidende Kinder sind in ihrer Mischung aus Unschuld und Hilflosigkeit die idealen Figuren für die Kampagnen des Humanitarismus. Die Unbedingtheit dieser Szenen ruft nach einer direkten Einmischung: Es ist moralisch verwerflich, nicht sofort zu handeln.

Zwei Strategien der Mobilisierung bieten sich dem Humanitarismus: Zum einen kann er auf eine Ethik des Mitgefühls hoffen, Spenden einwerben und Wohltätigkeit anregen. Zum anderen kann er auf die Durchsetzung der Menschenrechte pochen. Die Mittel, die von verschiedenen Organisationen eingesetzt oder gefordert werden, um Mitleid zu erregen und Menschenrechte durchzusetzen, reichen von militärischen Einsätzen und Kriegen bis hin zum Ausbau von Infrastruktur, der Errichtung von Unterkünften und Notfallversorgung.

Arendt betonte die wachsende Bedeutsamkeit des Humanitarismus in den internationalen Beziehungen. Ihre Kritik an Menschenrechts- und Mitleidsdiskursen richtete sich primär gegen die ungleichen Machtverhältnisse, auf denen der Humanitarismus beruht. Wenn er die Beziehungen zu einem Verhältnis von Opfern und Retter:innen degradiert, geht die spezifische zwischenmenschliche Distanz verloren, in der Politik möglich ist. Mitleid springt zwischen maximaler Nähe und Distanz hin und her und kann kein solidarisches Verhältnis unter Gleichen aufbauen. Die »Alles oder Nichts«-Diskurse des Mitleids fordern unbedingte und sofortige Taten ein und können deshalb keine politischen Aushandlungsprozesse sein. Zudem produzieren Mitleidsdiskurse sehr starke Hierarchien, denn zwischen Rettenden und Opfern sind die Machtverhältnisse klar verteilt. Die einen handeln, die anderen nicht. Die einen sind freiwillig dort, die anderen nicht. Die einen machen Erfahrungen, die anderen kämpfen um ihr Leben. Es kann darin kaum Begegnungen auf Augenhöhe geben.

Auch den zweiten Strang des Humanitarismus, die Menschenrechte, sieht Arendt kritisch und bemängelt vor allem ihre Zahnlosigkeit.

»Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied.«25

Es fehlt den Menschenrechten laut Arendt demnach an schlagkräftigen Institutionen, um sie durchsetzen zu können. Die Menschenrechte versagten genau dann, wenn sie gebraucht würden. Diese Unzuverlässigkeit führt Arendt zu der philosophischen Frage nach dem Grund, auf dem Menschenrechte überhaupt stehen. Seit den Vertragstheorien der Frühen Neuzeit und den Deklarationen der Moderne verstehen sich Menschen als Besitzer:innen von Rechten. Rechte sind durch Verträge und Erklärungen institutionalisierte Sicherheitsmechanismen, die Menschen wie unsichtbare Kokons umgeben, sie in der Gegenwart schützen und ihre Zukunft gestaltbar machen. Rechte werden als eine Art unveräußerliches Eigentum der Menschen erklärt, bleiben jedoch letztlich von den Institutionen abhängig, die für ihre Durchsetzung eintreten. Menschenrechte stehen damit immer auf tönernen Füßen. Bürger:innenrechte gründen zumindest auf der Macht eines Staates. Die Staatenlosen verlieren diese aber gerade durch die Denaturalisierungen. Jenseits der Bürger:innenrechte bleibt ihnen dann nur die Berufung auf Menschenrechte, die traditionell in Gott oder der menschlichen Natur begründet werden. Doch sowohl Gott als auch die menschliche Natur lassen sich zwar überall und jederzeit herbeizitieren, besitzen aber keine exekutive Macht. In der Zwischenkriegszeit standen hinter den Menschenrechten keine wirkmächtigen Institutionen mit Gerichten, Diplomat:innen und Exekutivorganen und konnten so nur selten durchgesetzt werden. Die entrechteten Staatenlosen verkörpern für Arendt deshalb die Ohnmacht der Menschenrechte.

Das Recht, Rechte zu haben

Arendt konstatiert, es gebe nur ein einziges Menschenrecht, und das bestehe darin, »einer politisch organisierten Gemeinschaft anzugehören«, was gleichbedeutend sei damit, »in einem Beziehungssystem zu leben, wo man nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt wird«.26 Das Recht, Mensch zu sein, bestehe darin, in einem pluralistischen Zusammenschluss von Menschen anerkannt zu werden und eine eigenständige Position mit Handlungsmacht einnehmen zu können. Nur die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft biete Schutz. Dementsprechend finde »der Raub der Menschenrechte dadurch statt, dass einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird, durch den allein seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit.«27 Das einzige Menschenrecht besteht demnach in Arendts bekannter Tautologie »Recht, Rechte zu haben«, was bedeutet, eine würdevolle, anerkannte Position in einem Gemeinwesen zu besetzen.

Ein Mensch ohne Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft sei kein Mensch, sondern vielmehr wie ein Tier, biologisches Leben, ohne all das, was das Mensch-Sein ausmache. Schonungslos stellt sie fest, dass Rechtlose keine gleichwertige Stimme, die gehört würde, besäßen und ihre Äußerungen wie die Laute eines Tieres wahrgenommen würden, das nur noch um Nahrung, Schlafplätze, Sicherheit und letztlich ums Überleben bettele. Ohne die Einbettung in eine politische Gemeinschaft drohten die Staatenlosen nicht nur spezifische Rechte wie das Wahlrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verlieren, sondern ihre Zugehörigkeit zur Menschheit überhaupt. Sie würden zu abstrakten Menschen und verlören mit ihren konkreten Bezügen zur geteilten Welt am Ende ihre Existenz.

Appelle an universelle Rechte wie Gast-, Asyl- und Menschenrechte und die Hoffnung auf Mitleid und Barmherzigkeit stellten sich gegen die Gewalt faschistischer Staaten als ohnmächtige Mittel heraus. Es blieb nur die internationale Gemeinschaft, um den Abgrund, der sich auftat, zumindest notdürftig zu überbrücken.

Das Scheitern der internationalen Gemeinschaft

Die internationale Gemeinschaft der Zwischenkriegszeit verkannte die Bedeutsamkeit der Flüchtlingsproblematik und verpasste die Gelegenheit, die humanitären Bemühungen mit politischen Handlungen zu unterstützen. Das war kein Zufall, denn die Flüchtlingspolitiken selbst untergruben ihre Handlungsmacht ebenso wie die der Staaten. Indem die Staaten einige ihrer Bürger:innen außerhalb des Gesetzes als vogelfrei deklarierten, schwächten sie sich und gleichzeitig die internationalen Beziehungen und erlaubten es chauvinistischen Bewegungen, den Staat zu untergraben.28

In dem Roman Das Totenschiff29 von B. Traven wird die Verantwortungslosigkeit der europäischen Staaten der 1920er Jahre anhand eines amerikanischen Matrosen beschrieben, der seine Papiere verliert und als armer Arbeiter keine neuen bekommt. Er irrt daraufhin als Staatenloser durch Europa, wird immer wieder verhaftet und eingesperrt, um dann in Nacht-und-Nebel-Aktionen von der Polizei über die nächste Grenze geschmuggelt zu werden. Diese illegitimen Rückschiebungen stehen zum einen exemplarisch für einen Staat, der seine eigene Exekutive dazu anhält, gegen die Gesetze zu verstoßen. Zum anderen verdeutlicht die Geschichte aber auch, wie die internationalen Beziehungen an den Staatenlosen zerbrachen. Die europäischen Staaten kämpften einerseits um den Schutz der eigenen Minderheiten in anderen Ländern und versuchten gleichzeitig, illegal Flüchtlinge in andere Staaten abzuschieben, worüber sie sich zerstritten. Die staatliche und die zwischenstaatliche Ordnung wurde durch die Flüchtlingspolitiken demnach schwer erschüttert.

In ihrem Aufsatz »Wir Flüchtlinge« hält Arendt fest: »Die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung ihres schwächsten Mitglieds zuließ.«30 Trotzdem hätte die internationale Gemeinschaft die Spirale der Gewalt zumindest teilweise unterbrechen können, wenn sie die Flüchtlinge in der Welt verteilt hätte. Die Konferenz von Évian 1938 steht exemplarisch für das Scheitern des Völkerbunds, denn hier wurde deutlich, dass kaum ein Land bereit war, Flüchtlinge aufzunehmen.31 Durch die imperialen, kriegstreiberischen Ausweitungen des Dritten Reiches nach Osten war absehbar geworden, dass die Zahl der Flüchtlinge rasant zunehmen würde. Kein europäischer Staat wollte in der sozial und politisch brisanten Situation der 1930er Jahre die Verantwortung für sie übernehmen. Genau das machte eine konzertierte Aktion unmöglich. Der Faschismus konnte sich auf die entsolidarisierende Kraft der Angst verlassen: Die Regierungen der Konferenzteilnehmer:innen wurden von Faschismus, Rassismus und Nationalismus vor sich hergetrieben.

1938 trat auch die St. Louis ihre tödliche Irrfahrt durch den Atlantik an. Knapp tausend Jüd:innen hatten kubanische Visa erworben und flohen auf dem Schiff aus dem Deutschen Reich nach Kuba. Nach der Ankunft wurde das Schiff dort allerdings ebenso abgewiesen wie von den USA und schließlich gezwungen, zurück nach Europa zu fahren. Die Passagiere wurden auf verschiedene europäische Staaten verteilt, und ein großer Anteil von ihnen wurde später durch die Nationalsozialist:innen ermordet.

Vorboten des Faschismus

Die Abschottungspolitik fast aller Länder vergiftete das internationale Klima und befeuerte den Rassismus. Aber auch in der nationalen Politik der einzelnen Länder waren Flüchtlingspolitiken ein Mittel, um den Faschismus weiterzutreiben, und das nicht nur, weil sie die staatliche Macht untergruben. Arendt nennt vier Gründe, warum sie zu Vorboten des Faschismus wurden: Erstens waren die vertriebenen, elenden, wandernden Massen abschreckende Beispiele dafür, was mit denen geschieht, die aus der Einheit des Volkes ausscherten. Damit trugen sie indirekt zur inneren Spaltung der Bevölkerung und zum Erstarken eines völkischen Nationalismus bei. In Abgrenzung zu den verelendeten Flüchtlingen konstituierte sich zweitens ein gewaltbereiter nationalistischer Mob, dessen Führer den Rechtsstaat aus den Angeln hoben. Drittens untermauerten die Flüchtlinge die totalitären Rassenideologien, da sie in ihrer Armut und Erbärmlichkeit wie kriminell, nicht-assimiliert, ungepflegt und wertlos wirkten. Waren die Flüchtlinge aus allen sozialen, politischen und rechtlichen Sphären ausgestoßen, konnte an ihnen viertens die totale Herrschaft in den Lagern praktisch erprobt werden. Hatte man ihnen erst die rechtliche, politische und soziale Einbindung in menschliche Gemeinschaften genommen, erschienen sie in ihrer Weltlosigkeit als »abstrakte Menschenwesen«32 und damit als straflos tötbar.