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Zeitgeschichtliche Analyse des Terrorismus der 70er Jahre am Beispiel von RAF/BR Warum sind bewaffnete Gruppen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland und die Roten Brigaden (BR) in Italien eigentlich gescheitert? Dieser provokanten Frage geht Kai Berke in seiner umfangreichen Arbeit nach und widerlegt die beiden Gruppen anhand ihrer eigenen revolutionären Rhetorik. Er nimmt die Aktionsformen der Terroristen unter die Lupe, erklärt deren Entwicklung hin "bewaffneten Autismus" und bettet seine Analysen in einen sozialhistorischen Kontext ein. Heraus gekommen ist ein unterhaltsames Standardwerk zum Terrorismus in Deutschland und Italien.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2016
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I M P R E S S U M
Terrorismus in Deutschland und Italien
Theorie und Praxis der RAG und der Roten Brigaden
von Kai Berke
© 2016/Kai Berke
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Kai Berke
Am Steven 1
23569 Lübeck
ISBN: 9783960284024
Verlag: GD Publishing
Dieses Buch, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden.
Einleitung5
Untergrund und Revolution- Die Arbeit von Marisa Elena ROSSI6
Abgrenzung des Untersuchungszeitraums8
Zum Aufbau der Arbeit9
Zur Begriffsverwendung10
Die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung in Deutschland und Italien14
A: DEUTSCHLAND14
Die Entwicklung bis 196814
B: ITALIEN29
Konklusion46
GRÜNDE FÜR DIE ISOLATION DER ARBEITERAUTONOMIE UND DER BR47
Exkurs: Die Autonomia von 197750
Die Politik der linken Parteien und der Gewerkschaften in den 70‘er Jahren51
C: Vergleich der Entwicklungen in Deutschland und Italien57
DIE THEORIE DER RAF UND DER BR IM VERGLEICH61
Revolutionstheorie61
Vom Aufbau der Roten Armee zum antiimperialistischen Kampf: Die Rote Armee Fraktion66
Konklusion77
Vom Metropolenkollektiv zum „Angriff auf das Herz des Staates“: Die Theorie der BR78
Konklusion87
Gründe für die Isolation in der Theorie von RAF und BR88
Die Praxis der RAF und der BR92
A: Quantitative Darstellung der Aktionen der RAF und der BR92
B: Von der Volksaufklärung zum bewaffneten Autismus: Die Aktionen der RAF95
C: Von der bewaffneten Propaganda zur Strategie der Vernichtung: Die Aktionen der BR100
D: Zur Strategie des bewaffneten Kampfes106
E: Zusammenfassung zur Praxis der Rote Armee Fraktion und der Brigate Rosse116
Zur Organisationsstruktur der RAF und der BR121
A: Grundlegende Merkmale der Organisationsstruktur121
B: Von der Stadtguerilla zum zellengesteuerten Einsatzkommando: die Organisation der RAF122
C: Von den bewaffneten Arbeiterkernen zur „Kämpfenden Kommunistischen Partei“: die Organisation der BR123
D: Zur sozialen Zusammensetzung von RAF und BR126
E: Zusammenfassung und Vergleich127
Kapitel 5: Die Reaktionen auf den bewaffneten Kampf in Deutschland und Italien130
A: DEUTSCHLAND130
Konklusion138
B: ITALIEN138
C: Vergleich der staatlichen Reaktionen auf die RAF und die BR145
ERGEBNIS148
Epilog152
Epilog153
Von der antiimperialistischen Front zur Auflösung- Der Abgesang der RAF153
Exkurs: Vom Nutzen der Anschläge155
Spaltungen und Isolation- Das Ende der Brigate Rosse157
Literaturliste161
Zeitungs- und Zeitschriftenartikel166
ein Bruchstück politischer Geschichte ist (...)
Sie kann nicht im Gerichtssaal geschrieben werden.
In vielen Staaten Westeuropas entstanden Ende der 60‘er Jahre Bewegungen, deren Ziel die Veränderung der herrschenden Gesellschaft war. Aus ihnen entstanden verschiedene Gruppen, die aus ganz unterschiedlichen Motiven einen gewaltsamen- besser: bewaffneten- Weg einschlugen. Der Versuch, eine bessere Gesellschaft mit Mitteln der Gewalt schaffen zu wollen, ist gescheitert und niemand kann sagen, dass das Kapitel im strafrechtlichen Sinne nicht äußerst gründlich aufgearbeitet wurde. Diese Arbeit soll zu einer politischen oder politikwissenschaftlichen Aufarbeitung beitragen.
Für diese Arbeit wurden mit der deutschen Rote Armee Fraktion (RAF) und den italienischen Brigate Rosse (BR) zwei Organisationen ausgewählt, die trotz aller Unterschiede doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten haben, die einen Vergleich ermöglichen. Grob können bewaffnete, nichtstaatliche Gruppen in zwei Kategorien unterteilt werden: Befreiungsbewegungen mit vorrangig nationalistischen Zielsetzungen und Gruppen mit dem Ziel einer sozialen Umwälzung. Zur ersten Kategorie gehören neben ETA und IRA auch verschiedene palästinensische Gruppen und Befreiungsbewegungen des Trikonts, zur zweiten RAF und BR.
RAF und BR traten zudem in Ländern auf, die aufgrund ihrer faschistischen Vergangenheit und ihrer nachfolgenden kapitalistischen Entwicklung unter christdemokratischer Vorherrschaft vergleichbar sind. Die politische und ökonomische Entwicklung von Deutschland und Italien weist zahlreiche Parallelen auf, wie im ersten Kapitel auch zu sehen sein wird.
Worin liegt nun die Motivation, ein soziales Phänomen zu untersuchen, zu dem ganze Bibliotheken an Literatur existieren? Aus der Anzahl der Publikationen zu einem Thema lässt sich eben nicht schließen, dass dieses Thema in allen Details erforscht ist- das wird besonders deutlich beim Terrorismus der 70‘er Jahre. Schon bei einer flüchtigen Übersicht über das Literaturangebot stellt man fest, dass sich der ganz überwiegende Teil mit den Ursachen der Entstehung von bewaffneten Gruppen beschäftigt.
Sehr viel seltener stößt man auf Arbeiten, die sich über das phrasenhafte Bekenntnis zur „wehrhaften Demokratie“ hinaus mit der Frage nach dem Scheitern des bewaffneten Kampfes befassen. Deshalb soll das Augenmerk meines Vergleichs zwischen der RAF und den BR nicht auf der Frage nach dem „Wie konnte das passieren?“ liegen sondern auf der Frage „Warum ist der „bewaffnete Kampf“ gescheitert?“. Bei meinen Recherchen bin ich auf genau eine Arbeit gestoßen, die in einem systematischen Vergleich zwischen diesen beiden Gruppen der Frage nachgeht, woran RAF und BR letztlich gescheitert sind. Marisa Elena ROSSI versucht in ihrer Dissertation hauptsächlich mit Methoden der empirischen Sozialforschung nachzuweisen, dass der „springende Punkt“ die Illegalität ist, aus der die Gruppen operieren müssen.
ROSSI versucht, die beiden Organisationen auf zwei Ebenen zu analysieren: Nach einer historisch- qualitativen Analyse der Theorie und Praxis werden im zweiten, empirischen Teil Gründe für die Entstehung, das Fortbestehen und die Auflösung der Gruppen gesucht. Ansatz und Inhalt dieser Studie sind aus verschiedenen Gründen zu kritisieren.
Neben der sehr dünnen Kontextualisierung, die unterschlägt, dass der Terrorismus der RAF und der BR eben genau in dieser historischen Konstellation entstehen (und auch wieder verschwinden) konnte, ist der laxe Umgang mit historischen Details sehr ärgerlich. So wird behauptet, bei der Baader- Befreiungsaktion der RAF 1970 hätte es einen Toten gegeben, was eben sowenig stimmt wie die Behauptungen, die RAF habe zur Geldbeschaffung in der Frühphase bis 1972 Entführungen durchgeführt oder sie habe den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenckmann erschossen.
Neben solchen Details begeht ROSSI aber auch methodische Fehler: So entgeht ihr die theoretische Entwicklung der RAF, weil sie auf eine Längsschnittanalyse verzichtet und sich statt dessen vorwiegend auf eine Schrift Horst Mahlers bezieht, die – im Gefängnis ohne Rücksprache mit der Gruppe geschrieben- die Meinung eines Einzelnen, aber zu keiner Zeit den Diskussionsstand innerhalb der RAF geschweige denn deren Praxis darstellte. Konnte sie auch nicht, denn die Verhaftung Mahlers in der Frühphase der RAF verhindert, dass er in seinen Schriften die Entwicklung der Gruppe abbilden kann. Es ist ein grundsätzliches Dilemma, dass sich diejenigen Autoren, die sich auch mit der Theorie der RAF auseinandersetzen, meist an Mahlers Text abarbeiten, weil aus ihm all die griffigen Zitate stammen, mit denen man die RAF moralisch diskreditieren konnte, weil sie die größte Angriffsfläche bieten.
Der empirische Teil krankt an der- wie ROSSI z.T. einräumt- sehr fragwürdigen Datenerhebung. Alle Aussagen über die soziale Zusammensetzung einer im Untergrund operierenden Gruppe können nur Aussagen über die erreichbaren Mitglieder, die Gefängnisinsassen, sein und damit über die Frage, wer sich am leichtesten hat erwischen lassen.
Darüber hinaus gelten die Daten für jeweils alle klandestinen Gruppen eines Landes; kann man der Argumentation bezüglich der Hegemonie der untersuchten Gruppen für die RAF in Deutschland vielleicht noch folgen, so ist die Subsumtion aller linksradikalen Aktionen von einigen Hundert verschiedenen Gruppen auf das Konto der Brigate Rosse schlicht unseriös. Dass trotzdem einige Ergebnisse der empirischen Untersuchung evident sind, sagt m.E. noch nichts über die Zuverlässigkeit der Methode aus. Für diese Arbeit ist daraus der Schluss zu ziehen, dass Methoden der empirischen Sozialforschung für den Untersuchungsgegenstand ungeeignet sind.
Ein weiteres Manko der Arbeit ROSSIs ist das Fehlen eines klar abgegrenzten Untersuchungszeitraums. Da in dieser Arbeit Gründe für das Scheitern des Terrorismus gesucht werden, erscheint es zweckmäßig, den Untersuchungszeitraum auch auf die Zeit bis zum Scheitern zu begrenzen. Es gibt gute Gründe, die Niederlage in strategischer Hinsicht an den Entführungsfällen Schleyer bzw. Moro festzumachen. Bei der RAF könnte man die „politische Phase“ auch schon als mit der Festnahme der Kerngruppe 1972 abgeschlossen betrachten. Da sich die zweite Generation bis zur Schleyer- Entführung aber noch insofern zum Staat in Beziehung setzte, dass sie die „Machtfrage“ stellte, soll die Existenz einer strategischen Perspektive für den Zeitraum bis Herbst 1977 angenommen werden. Machtfrage bedeutet hier nicht Umsturz der staatlichen Ordnung sondern die Möglichkeit, den Staat gewaltsam zu einer Handlung zu zwingen, um eine Perspektive von Gegenmacht zu eröffnen, wie Lutz Taufer es auf einem Kongress in Zürich bezeichnete. Insofern stellt die Praxis der dritten Generation einen klaren Bruch dar, denn hinter dem taktischen Ziel der Anschläge ab 1977 ist ein Bezug zu einem strategischen Gesamtziel nicht mehr zu erkennen. Zudem ist diese Phase gekennzeichnet durch die vollständige Isolation von jeglichem politischen Diskurs.
Quasi alle Revolutionstheorien betonen das enge Verhältnis, das zwischen Avantgarde und der Bevölkerung herrschen müsse. Das Scheitern des bewaffneten Kampfes hängt also mit der Isolation von dem revolutionären Subjekt zusammen. Das ist in komprimierter Form die leitende These dieser Arbeit und wirft die Frage auf, wie und auf welchen Ebenen die Isolation von den „Volksmassen“ entsteht.
Ich gehe- wie Rossi- davon aus, dass es sich bei RAF und BR um Organisationen im soziologischen Sinne handelt, die auf der Mikroebene dem Einfluss von Individuen und auf der Makroebene den Einflüssen der Umwelt unterliegen. Im Zentrum der Arbeit stehen jedoch die Organisationen selbst, die ich anhand der Kriterien Theorie, Praxis und Organisationsstruktur miteinander vergleichen werde.
Eingerahmt werden diese Kapitel durch zwei Analysen zur Makroebene. Einleitend werde ich eine gründliche Kontextualisierung des bewaffneten Kampfes vornehmen, also historische und strukturelle Entwicklungen aufzeigen, die zum bewaffneten Kampf führten und aufzeigen, wie diese sich verändert haben und so zum Untergang- also zur Isolation vom revolutionären Subjekt- von RAF und BR beigetragen haben.
Im letzten Kapitel beschäftige ich mich dann mit den bewussten Reaktionen der Umwelt auf den bewaffneten Kampf. Dabei werden insbesondere die gesetzgeberischen Aktivitäten, aber auch die Reaktionen der (medialen) Öffentlichkeit dargestellt und bewertet. Am Ende jedes Kapitels werden die wichtigsten Erkenntnisse in Hinblick auf die Fragestellung noch einmal zusammengefasst.
Da der Untersuchungszeitraum nicht den kompletten Zeitraum des Bestehens von RAF und BR umfasst, wird in einem Epilog der Vollständigkeit halber das Ende des bewaffneten Kampfes kurz zusammengefasst.
Wenn ich auf eine Untersuchung der Mikroebene weitgehend verzichte, so deshalb, weil es dabei überwiegend um „Analysen von Terroristen statt Analysen des Terrorismus“ geht, also um die Frage, warum sich Menschen für diesen Weg entschieden haben. Diese Frage steht aber gerade nicht im Vordergrund dieser Arbeit. Für die Darstellung und Bewertung solcher „Karrieren“ verweise ich auf das reichhaltige Literaturangebot zu diesem Thema.
Zur Einleitung in eine Arbeit über die RAF und die BR gehört auch der Versuch, das Thema beim Namen zu nennen. Es ergibt sich das Problem, dass es viele normativ aufgeladene Begriffe für das soziale Phänomen der 70‘er Jahre gibt, um das es hier gehen soll. Wenn ich die in weiten Teilen der medialen Öffentlichkeit gängigen Begriffe „Anarchismus“ und „Terrorismus“ sparsam verwende, so verfolge ich damit kein „gegenpropagandistisches“ Ziel sondern halte diese Begriffe schlicht für sprachlich ungenau und untauglich, die Theorie und Praxis der RAF und der Roten Brigaden zu beschreiben. Wenn hier natürlich auch keine annähernd vollständige Diskursanalyse gegeben werden kann, soll doch auf den politischen Nutzen solcher Begriffe kurz eingegangen werden.
Die Bezeichnung „Anarchist“ für Mitglieder der RAF, die sich auf die knapp 20 Jahre lange Episode der „Propaganda der Tat“ in der langen Geschichte des Anarchismus bezieht, dient der doppelten Diffamierung; zum einen der gewaltverneinenden Ziele eines libertären Sozialismus, zum anderen der RAF- Mitglieder als „Bombenwerfer“.
Der Begriff „Terrorismus“ unterstellt der RAF wie den BR eine willkürliche Anwendung von Gewalt, was in Italien zusätzlich die Grenzen zwischen der Gewalt linker Gruppen und dem Terror rechter Gruppen verwischen soll. Terror muss auch potentiell den Unschuldigen treffen können, um Angst zu erzeugen, während Lenin z. B. den gezielten Einsatz von Gewalt propagiert hat, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen. Die Anwendung von ungezielter, willkürlicher Gewalt (Terror) hätte für linke Stadtguerillas keinerlei strategischen Wert, da sie i.d.R. eher den Ruf nach einem starken Staat befördert. Deshalb war es gerade nicht so, dass nach Schleyer oder Moro „als nächstes der Gemüsehändler an der Ecke“ zur Zielscheibe von Anschläge hätte werden können.
Die genannten Merkmale des Terrors träfen eher auf verschiedene Reaktionen der staatlichen Instanzen zu, wie großflächig durchgeführte Hausdurchsuchungen oder die mediale Jagd auf so genannte Sympathisanten. Um genau diese Klippen des ideologischen Sprachgebrauchs zu umschiffen, verwende ich weder den Begriff „Terrorismus“ noch „Staatsterrorismus“. Stattdessen ziehe ich die Begriffe „bewaffneter Kampf“ als Ausdruck des charakteristischen Unterscheidungsmerkmals im politischen Kampf und „Stadtguerilla“ als Bezeichnung eines neuen Organisationskonzeptes politischer Betätigung vor.
Ein anderes Problem bringt die Verwendung des Begriffes „Staat“ mit sich, da man Gefahr laufen könnte, den oberflächlichen Staatsbegriff beispielsweise der RAF zu übernehmen. Wenn in dieser Arbeit der Begriff Staat verwendet wird, so sind damit in der Regel die drei staatlichen Gewalten einer repräsentativen Demokratie Legislative, Exekutive und Judikative in ihrer Realisierung in Parlament, Regierung und den Gerichten gemeint, die sich in der Beziehung zum bewaffneten Kampf kaum voneinander unterschieden. Um eine Reduzierung des Staates auf seine repressiven Elemente zu vermeiden, beginne ich die Arbeit mit einer differenzierteren Darstellung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Italien und trenne diese Darstellung von den unmittelbaren Reaktionen auf RAF und BR, die im 5. Kapitel thematisiert werden.
In der Tat spielte sich die Auseinandersetzung auch vorrangig zwischen den klandestinen Gruppen und den staatlichen Instanzen ab, während die Bevölkerung eher Zuschauer als Akteur des Geschehens war und in der überwältigenden Mehrheit kein Interesse an einer revolutionären Umgestaltung hatte.
Die Abschnitte, die sich mit Italien befassen, sind i.d.R. ausführlicher, da die dortige Entwicklung nicht immer als bekannt vorausgesetzt werden kann. Da zu den BR auch erheblich weniger Literatur zugänglich ist als zur RAF, sei an dieser Stelle dem Hamburger Institut für Sozialforschung, der Stuttgarter Dokumentationsstelle für unkonventionelle Literatur und dem autonomen Berliner Archiv „Papiertiger“ für ihre freundliche Unterstützung gedankt.
Kapitel 1
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Die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung in Deutschland und Italien
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In diesem Kapitel soll geklärt werden, in welcher historischen Situation RAF und BR entstanden sind und wie die Veränderung bestimmter Faktoren die Isolation der bewaffneten Organisationen vom revolutionären Subjekt begünstigt haben könnte.
Auch wenn man sich hüten muss, Klischees zu reproduzieren, sollen zunächst einige längerfristig wirksame Wertorientierungen der Deutschen genannt werden, da sie sich von den Traditionen in Italien eklatant unterscheiden. SONTHEIMER benennt verschiedene Traditionen, die v.a. auf die Zeit des Biedermeier und des Wilhelminismus zurückgehen.
Für diese Arbeit interessant sind die etatistische und die unpolitische Tradition. Erstere bezeichnet die Idee des Staates als „Verkörperung des Allgemeininteresses“, die sich im 19. Jh. als Resultat der Nichtexistenz eines deutschen Nationalstaates stärker herausbildete. Als Garant für Uniformität, Sicherheit und Ordnung wurde der Staat höher eingeschätzt als Individualität oder das Eintreten für partikulare Interessen. Diese Tradition wurde in der Adenauer- Ära angesprochen, um die Bevölkerung emotional an den neuen Staat zu binden.
Die unpolitische Tradition steht mit der etatistischen in Zusammenhang, denn wo das eigene Wohl einem allmächtigen Staat überlassen wird, ist das Interesse des Einzelnen an der Gestaltung von Politik gering. Der unpolitische Untertanengeist aus der wilhelminischen Zeit ist in dem Roman „Der Untertan“ von Heinrich MANN treffend beschrieben. Nach der NS- Ära manifestierte sich diese Tradition in dem Wunsch vieler Deutscher, mit Politik nie mehr etwas zu tun haben zu wollen.
Diese Ausführungen lassen es nicht verwunderlich erscheinen, dass der Eigenanteil der deutschen Bevölkerung an dem Ende des Nazi- Regimes 1945 als marginal zu bezeichnen ist. Neben dem mutigen, aber ineffektiven Widerstand der Kommunisten, der nach der Teilung Deutschlands zudem tabuisiert wurde, gab es kaum nennenswerten bewaffneten Widerstand, der als demokratisch oder fortschrittlich zu bezeichnen wäre. So mag es kaum verwundern, dass für viele, die sich mehr oder minder gut mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatten, der 8. Mai 1945 ein Tag der Niederlage und Schmach und weniger ein Tag der Befreiung war. Verschiedene Umfragen zwischen November 1945 und August 1947, in denen immerhin die Hälfte der Bevölkerung befand, der Nationalsozialismus sei an sich eine gute Sache, die nur schlecht umgesetzt worden sei, bestätigen diesen Eindruck. Es ist festzuhalten, dass es keine parteiübergreifende, verbindende Widerstandstradition und keinen antifaschistischen Gründungskonsens gab. Angesichts dessen ist es wenig verwunderlich, dass in der 1949 gegründeten Bundesrepublik viele Beamte und Richter des Nazi- Regimes wieder auf ihrem Posten zu finden waren. Dieses Kontinuitätsproblem verstärkte in den 60‘er Jahren die Angst vor einer Wiederkehr des Faschismus.
Der beginnende Kalte Krieg und die Entwicklung in der SBZ bewegte die westlichen Alliierten dazu, den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau ihrer Besatzungszonen zu vereinheitlichen und zu forcieren. Skeptisch zeigten sie sich besonders gegenüber der positiven Besetzung des Begriffes Sozialismus im Gegensatz zur negativen Bewertung der Weimarer Parteien- Demokratie, die ihren deutlichsten Ausdruck in dem „Ahlener Programm“ der neugegründeten CDU vom Februar 1947 hatte. Bei dieser Grundstimmung wäre eine hegemoniale Stellung der SPD als einziger Massenpartei der Weimarer Republik und mit dem Etikett nicht nur gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt sondern auch während der Zeit des 3. Reiches Widerstand geleistet zu haben, zu erwarten gewesen. Doch gerade im verlustreichen Widerstand ist auch ein Grund für die Paralysierung der Arbeiterbewegung und ihre schwindende Integrationskraft nach dem Krieg zu sehen.
Die erste Bundestagswahl 1949 fand unter dem Eindruck eines polarisierten Wahlkampfes zwischen Vertretern einer „Sozialen Marktwirtschaft“ und Befürwortern der Wirtschaftsplanung statt und wurde vom bürgerlichen Block unter Führung der CDU gewonnen. Maßgeblichen Anteil daran hatte die Unterstützung der westlichen Alliierten und v.a. der USA, die die BRD wegen ihrer geostrategischen Bedeutung und Frontstellung gegen den Ostblock unter keinen Umständen verlieren wollten und deshalb die CDU u.a. mit den Wiederaufbauhilfen aus dem Marshall- Plan unterstützten.
Die 14 Jahre dauernde Kanzlerschaft Adenauers ist außenpolitisch gekennzeichnet durch die strikte Einbindung Deutschlands in die westliche Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft. Innenpolitisch wurden unter der Prämisse des Antikommunismus kritische Diskussionen weitgehend vermieden. Pünktlich zu den Wahlterminen konnte der Antikommunismus durch Ereignisse wie die Volksaufstände in der DDR (1953) und Ungarn (1956) als vereinheitlichende Ideologie wiederaufbereitet werden. Der rasante Wirtschaftsaufschwung brachte zudem weiten Teilen der Bevölkerung einen relativen Wohlstand, auch wenn die Einkommensschere zwischen Selbständigen und Lohnabhängigen immer größer wurde.
Die Adenauer- Ära ist gekennzeichnet durch die oben beschriebenen Geisteshaltungen, d. h. das Vertrauen in einen Staatsapparat, in den man sich nicht einmischt und die Fixierung auf materiellen Wohlstand. Das Gemeinschaftsgefühl wurde durch einen strikten Antikommunismus gespendet.
Die herbe Niederlage bei der Wahl 1957, bei der die CDU die absolute Mehrheit der Mandate errang, beschleunigte bei der SPD eine grundlegende Umorientierung weg vom traditionalistischen Marxismus hin zu einem „ethischen Grundwertesozialismus“, der sich 1959 in dem neuen Godesberger Programm widerspiegelte.
Wirtschaftspolitisch befand sich die SPD mit ihren Ideen der Wirtschaftsplanung nach der beschriebenen kurzen Phase ab 1948 im Abseits. Weder im Frankfurter Wirtschaftsrat, noch in der Verfassungsgebenden Versammlung, noch nach den Bundestagswahlen konnte sie Verbündete außerhalb des Arbeitermilieus finden. Unter dem Druck der überaus erfolgreichen und populären Wirtschaftspolitik Erhards bekannte sich dann schließlich auch die SPD in ihrem neuen Grundsatzprogramm von Godesberg (1959) zur Sozialen Marktwirtschaft. Da die KPD bereits 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten worden war, bestand über die Grundzüge deutscher Wirtschaftspolitik somit weitgehender Konsens zwischen den Parteien.
Die Umsetzung des neuen Programms erfolgte ab 1960 unter der Federführung von Herbert Wehner, Willy Brandt und Fritz Erler in der „Politik der Gemeinsamkeit“. Zunächst auf die Außenpolitik beschränkt, bot Kanzlerkandidat Willy Brandt der Regierung im Bundestagswahlkampf 1961 auch auf innenpolitischen Feldern, wie der Gesundheits-, Verkehrs-, Bau- und Bildungspolitik eine gemeinsame Bestandsaufnahme an. Nach den starken Zugewinnen der SPD warb diese weiter verstärkt um Zustimmung aus breiteren Teilen der Bevölkerung und begann in sogenannten „großen Gesprächen“ einen Dialog mit Unternehmern und Vertretern der katholischen Kirche. Schon 1960 war zum Beweis der Glaubwürdigkeit der neuen Politik die Unterstützung des SDS eingestellt worden, was im November 1961 durch einen Unvereinbarkeitsbeschluss auch formalisiert wurde.
Bis 1965 verhielt sich die SPD in der Opposition staatstragend, und es wurde nur selten scharfe Kritik an der Bundesregierung geübt. Dies war zwar oft auch nicht nötig, denn gerade in der Endphase von Adenauers Kanzlerschaft tobten in der CDU heftige Machtkämpfe, so dass die SPD eigentlich nur abwarten und eigene Geschlossenheit zeigen musste, um Regierungsfähigkeit zu beweisen. Andererseits zeigten sich während der Spiegel- Affäre 1962 auch die Grenzen solchen Verhaltens, denn in dieser schwersten Regierungskrise seit Bestehen der Bundesrepublik verhielt sich die SPD so neutral, dass die Presse quasi die Rolle der Opposition übernahm und sich so erstmals eine Verlagerung der Opposition in den außerparlamentarischen Raum andeutete.
Für große Teile der neuen Mittelschichten wurde die SPD als kompetente „Partei der optimistischen Technokratie“ Mitte der 60‘er Jahre zwar wählbar und regierungsfähig, ließ aber durch das Fehlen einer werteorientierten Perspektive und das technokratische Notstandsgekungel in der Großen Koalition ab 1966 einen politischen Freiraum, in dem sich die Außerparlamentarische Opposition (APO) schließlich ausbreitete und der erst in der kurzen Reformphase der Brandt- Ära wieder abgedeckt wurde.
Die Autorität des Bundeskanzlers Erhard nahm mit der schweren Rezession 1966 rapide ab, obwohl er im Jahr zuvor noch einen überzeugenden Wahlsieg eingefahren hatte. Doch die FDP, die nicht mit Erhard in den Abgrund der Meinungsumfragen und Landtagswahlniederlagen gezogen werden wollte, trat im November 1966 aus der Regierung aus, die nun keine Mehrheit im Bundestag mehr hatte. Krisenstimmung und Erinnerungen an Weimar kamen zusätzlich durch die Erfolge der neuen, rechtsextremen NPD bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern auf, bei denen sie mit dumpfer Propaganda gegen die „abgewirtschafteten Alt- Parteien“ aus dem Stand 7,9 % bzw. 7,4 % der Stimmen erhielten. Bis zu ihrem Scheitern bei den Bundestagswahlen 1969 gelangen der NPD noch einige spektakuläre Wahlerfolge. Unter dem Druck der Verhältnisse fanden sich schließlich CDU und SPD zur Großen Koalition zusammen und wählten am 1. Dezember ’66 das ehemalige NSDAP- Mitglied Kurt- Georg Kiesinger zum Bundeskanzler.
Die Große Koalition konnte am Ende der Legislaturperiode auf eine durchaus ansehnliche Bilanz verweisen. So wurden im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik die Kriegsopferrenten, das Arbeitslosengeld und die Sozialrenten spürbar erhöht und das Arbeitsförderungsgesetz, das Lohnfortzahlungsgesetz sowie eine Verbesserung des Kündigungsschutzes verabschiedet, im Bereich der Bildungspolitik die Grundlagen für das BAföG geschaffen und im Bereich der Justiz das Strafrecht reformiert. Den Spielraum für die Finanzierung dieser Vorhaben hatte die Regierung durch die schnelle Bewältigung ihrer wichtigsten Aufgabe erhalten: nach der „hausgemachten“ Rezession von 1966 die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen. Die diesbezüglichen Maßnahmen sind von den Mitarbeitern Kiesingers SCHMOECKEL und KAISER ausführlich dargestellt.
Trotz des relativen Erfolges der Großen Koalition in vielen Sachgebieten gab es von Beginn an harte Kritik (besonders) aus intellektuellen Kreisen an der Quasi- Ausschaltung der parlamentarischen Opposition unter einem Kanzler, dessen Rolle während der NS- Zeit zumindest fragwürdig erscheinen konnte.
Die Entwicklung der Außerparlamentarischen Opposition lässt sich weder auf einzelne Ursachen zurückführen, noch ist ihre Entstehung exakt zu terminieren. Thematisch bestimmend waren auf außenpolitischem Terrain neben dem Vietnamkrieg der USA und der Kritik am Regime des Schah von Persien der innenpolitische Streit um die Notstandsgesetzgebung. Weiterer Protest richtete sich gegen das Meinungsmonopol des Springer- Verlags, der mit seiner Hetze gegen die studentische und außerparlamentarische Bewegung maßgeblich zur Eskalation beigetragen haben dürfte.
Schon diese Themenauswahl deutet an, dass sich im Laufe der 60‘er Jahre ein Wertewandel bei Teilen der Bevölkerung vollzieht, der die materielle Sicherheit in den Hintergrund geraten lässt und nun neue Themen wie Demokratisierung, Partizipation und Solidarität aufbringt.
Seit 1955 gab es in der Bundesrepublik einen Streit darum, ob das Grundgesetz hinreichend Gewähr für die gesetzliche Bewältigung eines Krisen- oder Verteidigungsfalles bieten konnte. Strittig war dabei insbesondere die Frage, inwieweit alliierte Vorbehaltsrechte durch den Deutschlandvertrag von 1955 und die Verabschiedung der Wehrverfassung 1956 bereits abgelöst waren und inwieweit eine mögliche Krisensituation einer eigenen Gesetzgebung einschließlich einer Grundgesetzänderung bedürfe.