The Ever King - Die Versuchung des Meeres - LJ Andrews - E-Book

The Ever King - Die Versuchung des Meeres E-Book

LJ Andrews

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Beschreibung

Sie stahlen seine Krone – also stahl er ihre Tochter ...

Allein der Gedanke an Rache ließen Meer-Faekönig Erik seine jahrelange Gefangenschaft überstehen: An dem Mann, der ihm den Vater und seinen Thron nahm. Als die Tochter ebendieses Erzfeinds, Prinzessin Livia, eines Tages unbewusst die Ketten seines Kerkers sprengt, fasst der König einen Entschluss. Er entführt die Tochter seines Gegners, um sie zu einer Schachfigur in seinem bösen Plan zu machen. Doch schon bald wird ihm klar, dass Livia mehr ist als das – und er Gefahr läuft, sein Herz an seine Gefangene zu verlieren …

Mit exklusivem Bonuskapitel!

Enemies-to-Lovers, ein morally grey love interest und faszinierendes Unterwasser-Setting – der Auftakt der Fae-Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin LJ Andrews!
Spice-Level: 3 von 5

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Seitenzahl: 678

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Allein der Gedanke an Rache ließen Meer-Faekönig Erik seine jahrelange Gefangenschaft überstehen: An dem Mann, der ihm den Vater und seinen Thron nahm. Als die Tochter ebendieses Erzfeinds, Prinzessin Livia, eines Tages unbewusst die Ketten seines Kerkers sprengt, fasst der König einen Entschluss. Er entführt die Tochter seines Gegners, um sie zu einer Schachfigur in seinem bösen Plan zu machen. Doch schon bald wird ihm klar, dass Livia mehr ist als das – und er Gefahr läuft, sein Herz an seine Gefangene zu verlieren …

LJ Andrews

The Ever King

Die Versuchung des Meeres

Roman

Deutsch von Maike Claußnitzer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Ever King« bei Victorious Publishing, New York.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by LJ Andrews

All rights reserved.

This edition published by Arrangement with VICTORIOUSPUBLISHINGLLC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2026 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Susanne Kregeloh

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (Damsea, HWWO Stock(2), Julia Raketic, maya parf, Vac(2), Vitalii Gaidukov)

Karte: © Eric Bunnell

SH · Herstellung: fe

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33408-6V001

www.blanvalet.de

Für alle Königinnen, die das schöne schwarze Herz des Bösewichts lieben. Seien wir doch mal ehrlich - sie sind heißer als die Helden.

Anmerkung der Autorin

Willkommen in der dunklen Welt des Ever. Ich hoffe, ihr habt Freude an dem Buch und der tiefgründigen, besitzergreifenden Liebesgeschichte zwischen Livia und Erik. Das ist der Grund für diese Anmerkung: Manche finden vielleicht, dass das Vorgehen unseres moralisch nicht ganz tadellosen Ever-Königs anfangs die Grenze zwischen richtig und, nun ja, brutal überschreitet.

Er ist nicht kuschelig (zumindest nicht, bis wir ein paar äußere Schichten zurückgeschlagen haben), also seid vorgewarnt, dass einige seiner Taten düster und böse sind.

Die Welt des Ever baut auf den Welten meiner Broken Kingdoms-Serie auf und ergänzt unsere Fae-Lover um ein paar hinterlistige Piraten, Knochenschiffe und Seemannslieder. Meine nautisch interessierten Freund*innen bitte ich zu beachten, dass dieses Buch, obwohl ich über den Mantel-und-Degen-Lebensstil recherchiert habe, ein Fantasyroman ist und ich mir mit meinem Ever-Schiff Freiheiten genommen habe, die von dem abweichen, was auf die historischen Schiffe zutrifft, die durch die Karibik gesegelt sind.

Bitte seid euch auch bewusst, dass in diesem Buch, obwohl die Serie unabhängig von den Broken Kingdoms zu lesen ist, einige Figuren auftreten, die als unabsichtliche Spoiler für bestimmte Enthüllungen in Band 1 und 2 der Broken Kingdoms-Serie gelten können.

Für diejenigen Leser*innen, die hier nach dem Finale der Broken Kingdoms zu uns stoßen: willkommen in der Welt unter den Wellen. The Ever King spielt ungefähr zwanzig Jahre nach den Ereignissen in Band 6, Dance of Kings and Thieves, der Broken Kingdoms. Wer Bescheid weiß, weiß Bescheid.

Der kleine Erik ist groß geworden. Nun ist er stärker denn je zurück – und er will Rache.

Jetzt aber willkommen im Ever.

Prolog Jene Nacht

Das Ende musste geändert werden.

Das Mädchen verbrachte den ganzen Nachmittag damit, Zeilen mit seinem Rabenfederkiel durchzustreichen und dann neue, bessere Worte hinzuzufügen, um sie dem Jungen im Dunkeln vorzulesen. Eine Geschichte von einer Schlange, die sich mit einem Singvogel anfreundete. Eine Geschichte, in der sie für immer glücklich und zufrieden lebten, denn in der Version des Mädchens fraß die Schlange den Vogel niemals.

Lange nachdem der Mond seinen höchsten Punkt am Nachthimmel erreicht hatte, schlüpfte das Mädchen vom Dachboden der Kampffestung unweit des Ufers. Tief geduckt nutzte sie die hohen Schachtelhalme als Deckung, bis sie sich zu dem alten Steinturm vorgearbeitet hatte. Das Dach war eingestürzt, und es war eigentlich kein richtiger Turm mehr, aber die Wände waren so dick wie zwei Männer, die Seite an Seite standen.

Im Fundament waren ein paar Öffnungen mit Eisenstäben vergittert. Im Geiste zählte das Mädchen sechs vergitterte Fenster und ging dann schließlich vor der letzten Zelle in die Hocke.

»Blutsänger«, flüsterte sie. Seit dem Ende der Schlacht hatte sie geübt, nur so laut zu raunen, dass der Junge drinnen sie hörte, aber dass die Wachen, die am Rand der Einfriedung entlangstapften, es für nicht mehr als das Zischen eines Waldgeschöpfs halten würden.

Fünf Atemzüge, zehn, dann erschienen Augen, so rot wie ein Sonnenuntergang bei Sturm, in den Schatten.

Er war ein Furcht einflößender Junge. Nur ein paar Umläufe älter als sie, aber er hatte im Krieg gekämpft. Er hatte ein Schwert gegen die Krieger ihres Volks erhoben. Ein Junge, an dessen Haut noch getrocknetes Blut klebte.

Ihr Herz zog sich zusammen, aus einer seltsamen Angst heraus, die sie nicht verstand. Das hier war vielleicht die letzte Nacht, in der sie den Jungen sah; sie musste etwas daraus machen.

»Die Gerichtsverhandlungen beginnen bei Sonnenaufgang«, sagte der Junge, seine Stimme trocken wie brüchiges Stroh. »Geh besser, kleine Prinzessin.«

»Aber ich habe etwas für dich, und ich muss die Geschichte zu Ende bringen.« Aus dem Beutel, den sie über der Schulter trug, zog sie ein kleines Buch, das in abgenutztes Leder gebunden war. Mit Tinte waren die schwarzen Silhouetten eines Vogels und einer Schlange auf den Einband gezeichnet. »Willst du das Ende hören?«

Der Junge schwieg eine Weile. Dann setzte er sich langsam, die untergeschlagenen Beine unter seinem schlaksigen Körper, auf die feuchte Erde.

Das Mädchen las die markierten letzten Seiten mit dem neuen, gefälligen Ende vor. Der Singvogel und die Schlange wurden trotz aller Unterschiede Freunde. Keine Lügen, keine List, keine Finten. Jedes Wort führte sie näher an die Gitterstäbe heran, bis ihr Kopf am kalten Eisen lehnte und eine Hand durch den Zwischenraum hinabhing, als würde sie nach dem Jungen drinnen greifen.

»Sie spielten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang«, las sie vor und kniff die Augen zusammen, um ihre unordentliche Schrift zu entziffern. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

Ein Lächeln huschte über ihre Züge, als sie das Buch zuschlug und den Jungen ansah.

Er saß jetzt zurückgelehnt auf seinen Handflächen, die Beine ausgestreckt, die nackten Knöchel gekreuzt. »Sind wir das, Prinzessin? Eine Schlange und ein Singvogel?«

Ihr Lächeln wurde breiter. Er verstand, worum es eigentlich ging. »Ich glaube ja, und sie waren trotzdem Freunde. Deshalb kannst du morgen vor Gericht sagen … Na ja, du kannst sagen, dass wir nicht mehr kämpfen werden. Meine Leute werden dich hierbleiben lassen.«

Kein Blut mehr. Keine Albträume. Das Mädchen konnte kein Blutvergießen durch Hass und Krieg mehr ertragen.

Als der Junge still blieb, griff sie noch einmal in ihren Beutel und zog die Schnur hervor. An ihrem Ende hing ein Silberanhänger. Um ihn zu kaufen, hatte sie ihre letzte Kupfermünze ausgegeben. Ein Silberanhänger, der eine Schwalbe im Flug zeigte.

»Hier.« Sie hielt die selbst gemachte Halskette durch die Gitterstäbe und ließ sie fallen. »Ich dachte, sie erinnert dich vielleicht an die Geschichte.«

Plötzlich war der Abstand zwischen ihnen ein Segen. Noch näher, und der Junge hätte womöglich die leichte Röte in ihren Wangen gesehen. Er hätte vielleicht bemerkt, dass die Hoffnung, die sie in den Anhänger setzte, weniger die war, dass er sich an die Geschichte erinnern würde, sondern vielmehr die, dass er sie im Gedächtnis behalten würde.

Mit langsamen Bewegungen griff der Junge nach dem Anhänger. Sein schmutziger Daumen strich über die Flügel. »Morgen wird man mich fortschicken oder ich werde die Götter begrüßen, Singvogel.«

Der Magen sackte ihr in die Kniekehlen, und etwas Warmes wie verschütteter Tee durchströmte ihr Inneres. Singvogel. Sie mochte den Spitznamen.

»So ist das eben, wenn man einen Krieg verliert.« Die Lippen des Jungen zuckten, als er sich die Kette umhängte. »Das lässt sich nicht verhindern.«

Ihr Herzrasen beruhigte sich. Sie ließ das Kinn sinken. So viele Hoffnungen sie sich auch machte, sie war nicht töricht. Sie wusste, dass das Einzige, was den Hals des Jungen retten konnte, die Tatsache war, dass er eben wirklich noch ein Junge war. Wäre er ein Mann gewesen, hätte er seinen Kopf verloren. Er hatte gegen ihr Volk gekämpft; er hasste es.

So, wie die Schlange aus der Geschichte die Vögel in den Bäumen um ihrer Freiheit am Himmel willen hasste.

Es kümmerte sie nicht. Ein Gefühl ganz tief in ihr zog sie zu dem Jungen hin. Sie hatte gehofft, dass auch er sich vielleicht zu ihr hingezogen fühlte.

Die Hoffnung schwand. Gewiss, er war jung, aber er war immer ihr erklärter Feind gewesen. Verbannt und verboten.

Sie blinzelte und griff noch einmal in den pelzgefütterten Beutel. »Ich weiß, dass das hier deinem Volk wichtig ist. Ich dachte, du willst es vielleicht noch einmal sehen.«

Vorsichtig umfasste das Mädchen den goldenen Talisman, der wie eine dünne Scheibe geformt war. Er war abgenutzt, sichtlich alt und zerbrechlich. Ein leichtes Vibrieren seltsamer Reste von Magie ging von den rauen Rändern aus. Wenn ihr Vater je erfuhr, dass sie das Schmuckstück aus der Kassette stibitzt hatte, würde er sie wahrscheinlich für eine Woche in ihr Zimmer verbannen.

Das Mondlicht glänzte auf der sonderbaren Rune in der Mitte der Münze. Der Junge im Schatten schnappte nach Luft. Sie glaubte nicht, dass er es absichtlich getan hatte.

Zum ersten Mal, seit sie begonnen hatte, ihm vorzulesen, kletterte der Junge die steinerne Wand herauf und schloss die Hände um die Gitterstäbe. Das Rot seiner Augen wurde dunkel wie Blut. Sein Lächeln war jetzt anders. Breit genug, dass sie die leichte Spitze seines Eckzahns sehen konnte, fast wie der Reißzahn eines Wolfs, nur nicht so lang.

Dieses Lächeln ließ ihr einen Schauder über die Arme laufen.

»Tust du mir einen Gefallen, Singvogel?«

»Welchen?«

Der Junge wies mit einem Nicken auf die Scheibe. »Das war ein Geschenk von meinem Vater. Pass für mich darauf auf, ja? Ich komme eines Tages zurück, um es mir zu holen, und dann darfst du mir noch mehr Geschichten erzählen. Versprochen?«

Sie ignorierte die Gänsehaut auf ihren Armen und flüsterte: »Versprochen.«

Als in der Nähe Schritte in schweren Stiefeln zu hören waren, warf das Mädchen einen letzten Blick auf den Jungen in der Dunkelheit. Er hielt den silbernen Vogelanhänger hoch und grinste noch einmal dieses wölfische Grinsen, bevor sie zwischen die Schachtelhalme davonrannte.

Ihr Puls raste so sehr, dass es wehtat, als sie zum Langhaus zurückeilte. Ihr Blick war unverwandt auf die Scheibe in ihren Händen gerichtet; sie sah die Wurzel gar nicht, die aus dem Boden hervorbrach. Der dicke Bogen ließ das Mädchen mit einer Zehenspitze hängenbleiben und bäuchlings auf dem Boden landen.

Sie hustete und kämpfte sich auf die Knie. Als sie nach unten sah, verkrampften sich ihre Eingeweide wie verknotete Stricke.

»O nein.«

Die Scheibe, die sie noch vor wenigen Augenblicken zu beschützen versprochen hatte, war unter ihren Körper gefallen. Jetzt lag das schimmernde Gold in drei gezackten Stücken auf der Erde. Tränen ließen ihr alles vor den Augen verschwimmen, als sie die Bruchstücke aufsammelte und Versprechen in die Nacht schluchzte, dass sie alles wieder in Ordnung bringen würde, dass sie heil machen würde, was zerbrochen war.

Vielleicht war es die Verzweiflung, die sie daran hinderte, zu bemerken, dass die seltsame Rune, die eben noch in die Oberfläche der Scheibe geritzt gewesen war, sich jetzt in die glatte Haut unterhalb ihrer Armbeuge eingebrannt hatte.

Je mehr sie im Laufe der Zeit über die Bösartigkeit der Meerfae erfuhr, desto stärker betrachtete sie jene Nacht in der Rückschau als beschämendes Geheimnis. Sie erfand Geschichten über die Narbe an ihrem Arm, ein ungeschicktes Stolpern die gepflasterten Stufen im Garten hinab. Sie hatte das Versprechen des Jungen, wieder zu ihr zu kommen, vergessen.

Das Mädchen sah ihn irgendwann so, wie alle anderen es taten: als Feind.

Hätte das Mädchen sich doch nur in jener Nacht von den Zellen ferngehalten. Vielleicht hätte sie dann nicht ihre ganze Welt aus den Fugen geraten lassen.

1 Der Singvogel

Blutgeruch lag in der Luft. Fahles Sonnenlicht hatte sich noch kaum durch die aschgrauen Seenebel an der Küste gekämpft, aber dieser durchdringende Gestank füllte bei jedem Atemzug meine Lunge.

Ich zog die dicken, gewebten Vorhänge beiseite, um zu sehen, ob es am Fuße des Turms meiner Familie zu irgendeinem blutigen Todesfall gekommen war. Auf den ungepflasterten Wegen, die durch die Festung aus Holz und Stein führten, die wir jeden Sommer zwei Wochen lang unser Zuhause nannten, wimmelte es von lärmenden Händlern und Höflingen, die sich auf das Fest vorbereiteten.

Keine Knochen. Kein Fleisch. Kein Blut.

Ich ließ den Vorhang zurücksinken. Mein Daumen zeichnete die Rosen und Raben nach, die auf den Stoff gestickt waren – Symbole für unsere Nachtvolkclans in den nördlichen Reichen. Die östlichen, südlichen und westlichen Reiche mussten ihre eigenen einzigartigen Symbole haben.

Ich verlor verdammt noch mal den Verstand. Brutale Albträume von Schlangen, die kleine Vögel fraßen, erfüllten meinen Schlaf. Jetzt nahm ich Blut und Tod aus den Träumen mit in die Realität. Vielleicht lag es daran, dass das Blutrote Fest an das Ende des Krieges erinnerte. Oder vielleicht daran, dass das Fest das zehnte war, seit unsere Feinde, die Meerfae, unter den Wellen eingeschlossen worden waren.

Mit jedem Sommer, der verging, wurden die Träume, die mich heimsuchten, lebendiger, wie ein Albtraum im Wachen. Das lang zurückliegende Versprechen eines schlaksigen, in eine Zelle gesperrten Jungen war zu einem Gift in meinem Verstand geworden, zu einem endlosen Bild monströser Schlangen, die sich Nacht für Nacht aus dem Meer erhoben.

Ich war eine Närrin. Seit der Große Krieg zu Ende gegangen war, hatte es kein einziges noch so leises Gerücht über die Meerfae gegeben. In diesem Sommer würde das nicht anders sein.

Um meine Anspannung zu lindern, öffnete ich eine Schublade in einem Tisch neben meinem Bett. Darin lagen die drei Teile dessen, was einmal der Runentalisman gewesen war. Seit die Scheibe zerbrochen war, waren die Stücke immer brüchiger geworden, als würden sie sich in nichts als Sand am Ufer zurückverwandeln. Sie hatten kaum noch eine Form.

Ich schob die Schublade schwungvoll wieder zu, stieg zurück in das breite Bett und zog mir die schwere Felldecke über den Kopf. Allein konnte ich mich dem Rasen meines unruhigen Pulses hingeben, dem feuchten Schweiß auf meinen Handflächen, dem nervösen Zittern in meinen Adern.

Die Festung war so gebaut, dass sie allen vier Königshäusern der Faereiche Unterkunft bot. Für die Meerleute waren wir alle Erdfae, aber in Wirklichkeit gehörten wir Clans mit unterschiedlichen magischen Fähigkeiten und Talenten an.

Alle Clans hatten im Großen Krieg gemeinsam gekämpft, um im Krieg gegen dunkle Wildwut – wie mein Clan die Magie nannte – und das Volk des Ever-Königreichs, die Meerfae, den Frieden zu erringen. Sein Volk. Das Fest diente dazu, den Sieg zu feiern, und bot mir zugleich die Gelegenheit, während der Tage voller Kampfspiele, Bogenschießen, rauschender Bälle und zu viel süßem Bier alle zu treffen, die ich liebte. Ich kam einfach nicht dahinter, warum dieser Sommer sich so … anders anfühlte.

»Livia!« Ein lautes Klopfen an der dicken Tür aus Eichenholz ließ fast die Deckenbalken über mir erzittern. »Du wirst gebraucht und bist doch nirgends zu finden. Mir ist deine Abwesenheit zuerst aufgefallen, falls du dich je gefragt haben solltest, wer dich am meisten schätzt.«

Es musste schrecklich spät am Vormittag sein, wenn diesmal Jonas derjenige war, den man schickte, um mich zu holen.

Ein strategischer Schachzug. Gut gespielt. Seine lose Zunge war Charme und Waffe zugleich. Er wusste sie geschickt einzusetzen.

»Frauenleiden«, rief ich und dämpfte meine Stimme durch das Kissen. »Du gehst besser wieder.«

»Der Herausforderung fühle ich mich gewachsen.« Eine Pause, dann ertönte mehrfach ein Klicken des Schlosses, und die Tür schwang auf.

Ich schoss im Bett hoch und runzelte die Stirn. »Jonas Eriksson, ich habe dich davor gewarnt, meine Schlösser zu knacken.«

Jonas schenkte mir das spitzbübische Grinsen, das an seinem Hof zu viele Herzen gewann. »Ich erinnere mich sehr wohl, dass du einmal gesagt hast, es sei mir verboten, das zu tun, und habe einfach vergessen, es mir zu Herzen zu nehmen.«

Dreckskerl.

Hochgewachsen und breitschultrig wie er war, füllte Jonas den Türdurchgang aus. Schon als Kind immer in Bewegung und als Mann sogar noch unermüdlicher, war sein Körper für den Kampf geschaffen, aber immer noch geschmeidig genug, um wie ein Dieb in der Nacht zwischen den Schatten hindurchzuschlüpfen.

Sein Geschick, was Schlösser und enge Räume betraf, wäre verstörend gewesen, wäre er mir unheimlich gewesen. Doch die Wahrheit war, dass Jonas und sein Zwillingsbruder Sander einfach nichts gegen ihre Neigung ausrichten konnten, herumzuschleichen. Sie waren von einem ziemlich gerissenen Königspaar aufgezogen worden. König und Königin hatten sich beide selbst gelegentlich als Diebe betätigt.

Jonas ging zu dem hohen Fenster und riss die schweren Vorhänge auf. Ich blinzelte, als das Sonnenlicht schlagartig ins Zimmer fiel und ihm ein Windstoß folgte, der mehr eingebildetes Blut und einen neuen Hauch von Seeluft mit sich trug.

Jonas wirbelte herum, sah mich an und stemmte die Hände in die Hüften, während er selbstgefällig lächelte.

»Zufrieden mit dir?« Ich kratzte mir durch das wilde Gewirr meiner Zöpfe hindurch die Kopfhaut.

»Ausgesprochen.« Als älterer der Zwillingsprinzen aus dem Osten verleitete Jonas mit seinen leuchtend grünen Augen und seinem verschlagenen Grinsen zwischen den dunklen Bartstoppeln an seinem Kinn mehr als eine Dame dazu, sich in seine Gemächer zu schleichen. Wenn sie gewusst hätten, dass unter all seinen Ränken und seinem Witz auch noch ein gutes, loyales Herz steckte, hätten sie ihn nie in Frieden gelassen. »Aufstehen. Die Kutschen fahren gleich ab.«

Götter, wie lange hatte ich geschlafen?

»Beeil dich, Liv. Ich meine es nur gut, aber du wirst eine Weile brauchen, um dich vorzeigbar zu machen. Du siehst aus, als hätte eine Ziege dich verschluckt und dann mit ihrer Scheiße wieder ausgeschieden.«

»Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du alles andere als charmant bist?«

»Viele Male. Du hast immer noch unrecht.« Jonas setzte ein Knie auf das Fußende meines Betts. »Du wirkst bedrückt, Livie. Sag mir, was dir zu schaffen macht.«

»Mir macht gar nichts zu schaffen – außer dir.«

»Du kränkst mich.« Er presste eine Hand auf das Emblem eines von Schatten umgebenen Schwerts, das in seine dunkle Tunika eingestickt war. Das Wappen seines Hofs. Jonas’ Miene wurde ernster, als er mich musterte, bis ich unter meiner Steppdecke verschwinden wollte, um seinem prüfenden Blick zu entgehen. »Im Ernst – geht es dir gut?«

Meine Schultern sanken herab. Ein Nachteil von Freundschaften, die man schon in früher Kindheit geschlossen hatte, war, dass man alles Verräterische und jedes noch so kleine Zucken im Gesicht des anderen wahrnahm. Wir kannten unsere Stärken und Schwächen. Unsere Ängste.

Ich ließ mich in meine Kissen sinken, die Augen fest auf die Deckenbalken gerichtet. »Letzte Nacht hatte ich wieder den Traum.«

»Ach, verdammt.« Jonas warf die drei Messer beiseite, die er in Scheiden an seinem Gürtel trug, zog seine Stiefel aus und stieg in mein Bett. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Der Idiot lehnte sich ans hölzerne Kopfteil, schlug die Knöchel übereinander, breitete einen Arm aus und winkte mich an seine Seite.

Ich rührte mich nicht.

Jonas zog die Augenbrauen hoch und schnipste mit den Fingern. »Wenn es sein muss, warte ich den ganzen verdammten Vormittag, Livie. Das weißt du.«

»Du bist wunderbar erbärmlich.«

Jonas lachte leise. Ich gab nach und schmiegte mich an seine Seite. Er hielt den Arm fest und beschützend um meine Schultern gelegt.

Einen Moment lang schwiegen wir. An meiner Wange spürte ich das Grollen in seiner Brust, als er mit tiefer Stimme sagte: »Ich weiß, dass mit dem Fest viele Erinnerungen einhergehen, und ich weiß auch, dass diese Meeresschurken mit vielen Drohungen gegen deinen Daj und deine Familie abgezogen sind, aber sie kommen niemals zurück. Und wenn doch, dann wäre es mir eine Ehre, dem alten Blutsänger den Kopf sauber abzuschlagen.«

Ich lächelte und schlang die Arme um seine Taille. Nur meine Freunde wussten von den Träumen, die ich seit Ende des Krieges immer wieder hatte. Wenn die Schlange in meinen Träumen mich holen kam, wenn sie ihre Kiefer aufsperrte und mich in einem Stück verschlang, dann wusste ich irgendwie sogar im Schlaf, dass sie von Erik Blutsänger geschickt wurde.

Dem Ever-König.

Er gab Valen Ferus, dem König des Nachtvolks, die Schuld am Tod seines Vaters.

Es stimmte: Mein Vater hatte König Thorvald aus dem Ever getötet, einen Umlauf, bevor ich geboren worden war. Aber er hatte einen verdammt guten Grund gehabt, es zu tun.

Erik war während der Kriege ein Junge gewesen, dem nichts als Drohungen und unerreichbare Verheißungen zu Gebote gestanden hatten.

Ich wusste das alles und konnte doch das belastende Gefühl nicht abschütteln, dass etwas Schreckliches am Horizont aufzog. Als wäre der Frieden ein zerbrechliches Stück Eis und als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich Risse darin bildeten.

»So.« Jonas schlang seinen anderen Arm um mich, ließ sich ein bisschen weiter gegen das Kopfteil sinken und lehnte seine bartstoppelige Wange an meine Stirn. »Lenken wir dich ab, ja? Du kennst doch Lady Freydis …«

»Jonas, ich schwöre bei den Göttern, wenn du weiterredest …«

»Nein, hör zu. Etwas ist passiert, und ich werde nicht schlau daraus.«

Ich seufzte. »Na gut. Was ist passiert?«

»Als wir gestern Abend in der Festung eingetroffen sind, war alles wie immer. Sander hat sich gleich abgesondert, um seine Nase in irgendwelche Bücher zu stecken. Und ich hatte schon beim Fest des letzten Umlaufs ganz reizende Pläne mit Freydis geschmiedet, also war es keine Überraschung, sie in meinem Zimmer zu finden.«

Ich verdrehte die Augen, grinste aber. Irgendetwas schien Jonas wirklich zu verwirren. Wenn er auch nur ein bisschen Verstand hatte, würde er schon noch dahinterkommen, dass Freydis sich nur für seinen Titel interessierte, genau wie sein Interesse ihrem Körper und nicht ihrem Herzen galt.

»Was ist passiert?«, fragte ich und zwickte ihn in die Seite. »Hat sie schon eine Krone verlangt?«

»Ganz und gar nicht«, sagte er. »Weißt du, sie war nicht allein. Ingrid Nilsdotter war bei ihr.«

Ich riss die Augen auf. »Das ist nicht dein Ernst.«

»O doch, mein voller Ernst. Jetzt komme ich zu meiner Frage, denn irgendwann waren wir in einer Stellung, in der wir …«

»Bei den Göttern, hör auf!« Ich stieß ihn von mir und sprang aus dem Bett.

»Was?« Jonas sah mich mit offenem Mund an. »Ich dachte, du wolltest mir helfen. Freydis hat diese Sache mit ihren Beinen gemacht, und dann hat Ingrid …«

»Kein Wort mehr, Jonas, sonst schneide ich dir die Zunge heraus.« Ich eilte zu meinem Schrank und riss die bemalte Tür auf. Hektisch wühlte ich in Kleidern, Tuniken und Hosen herum. Alles war mir recht, um mich vor diesem Dummkopf und seinen wüsten Liebschaften mit Hofdamen in Sicherheit zu bringen. Hinter dem Wandschirm balancierte ich auf einem Bein, während ich in eine schwarze Hose schlüpfte. »Geh zu Sander und rede mit ihm darüber. Also wirklich – was hat dich geritten, auch nur anzunehmen, ich würde wissen wollen …«

Meine Worte brachen ab, als sein Lachen mich dazu verlockte, hinter dem Wandschirm hervorzuspähen.

Jonas lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit einem selbstgefälligen Grinsen in seinem hübschen Gesicht zurück. »Nein, hör nicht auf damit, dich anzuziehen. Du warst auf einem so guten Weg.«

Ich biss die Zähne zusammen und warf ihm einen meiner Halbstiefel an den Kopf. »Du hast das alles nur gesagt, um mich aus dem Bett zu holen.«

»Ich halte immer Wort, und ich habe versprochen, dass du gleich unten bei uns sein würdest. Stell meine Methoden nicht infrage, wenn sie funktionieren. Besonders an wichtigen Tagen wie diesem.« Jonas ließ sich vom Bett gleiten und hob mein zierliches Silberdiadem hoch, das wie eine Blütenranke geformt war. »Hast du vergessen, dass die neuen Rave-Offiziere heute Morgen angekommen sind, um unsere Eltern zum Rat zu begleiten? Also auch Aleksi. Erinnerst du dich an ihn? Soweit ich weiß, habt ihr euch als Cousin und Cousine sehr lieb, aber vielleicht hat sich das ja in den sechs Monaten, die er fort war, geändert.«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Aleksi war für mich eher wie ein zweiter Bruder. Er hatte sich seinen Offiziersrang im Rave-Heer verdient und war für den letzten halben Umlauf zur Ausbildung in den schneebedeckten Bergen des Nordens stationiert gewesen.

»Ich habe ihn nicht vergessen, du arroganter Kerl.« Ich hatte mich auf diesen Augenblick, in dem wir alle wieder zusammen sein konnten, gefreut, aber ein einziger Traum hatte mich in Besorgnis gestürzt und mich von der Rave-Karawane abgelenkt, die kam, um die Könige und Königinnen zu ihrem jährlichen Rat zu eskortieren.

Ich beeilte mich mit dem Ankleiden, spülte mir rasch den Mund aus und griff dann auf Jonas’ Hilfe zurück, meine Zöpfe in Ordnung zu bringen.

Es dauerte nur ein Viertel eines Glockenschlags, bis ich mein Schlafzimmer verließ, meinen Dolch aus schwarzem Stahl am Gürtel und einen Arm bei Jonas eingehakt.

»Ich verneige mich vor dir, mein Freund«, sagte ich zu ihm, als wir die Wendeltreppe erreichten, die in den großen Saal der Festung führte. »Das war eine deiner besseren Lügen, um mir Beine zu machen.«

Grinsend gab er mir einen Kuss auf die Hand. »Ach, Livie. Wer sagt denn, dass es eine Lüge war?«

2 Der Singvogel

Auf der Festung wimmelte es von Schneidern und Schneiderinnen, die Höflinge, Hofdamen und Adlige Kleider, edle Jacken und Wämser für den morgigen Maskenball anprobieren ließen. Dienstboten und Krieger stiegen die Treppen zu den vier Ecktürmen hinauf, um sicherzustellen, dass die Herrscher jedes einzelnen Reichs wohlversorgt waren.

Während es im Turm des Nachtvolk-Clans ruhig und gesittet zuging, war aus dem zweiten Turm, der zu den östlichen Reichen gehörte, immer viel mehr Lärm in der ganzen Festung zu hören.

»Quält Sander eure Leute?«, fragte ich Jonas, als wir den lichten großen Saal durchquerten. Schön wie sein Bruder und genauso gerissen, verkörperte Jonas’ Zwillingsbruder die ernste Seite des Paars. Wo Jonas ausgelassen feierte, beobachtete Sander. Wenn Jonas nach jeder Feier mit einer neuen Geliebten ins Bett fiel, blieb Sander bei uns: seinen Freunden, seiner Familie, seinen Vertrauten.

Jonas spähte zum Turm seiner Familie hinüber und lachte. »Nein, ich glaube, jemand hat meinen Daj mit ›Majestät‹ oder einem anderen königlichen Kosenamen angeredet; jetzt brechen alle Höllen los.«

Ich lachte, aber es konnte tatsächlich wahr sein. Genau wie meine Eltern hatten alle Könige und Königinnen unserer Reiche Kriege um ihre Titel geführt. Nicht alle waren in das Leben in einem Königshaus hineingeboren worden, und der Vater der Zwillinge wollte nicht als König, sondern weitaus lieber für seine Vergangenheit als Intrigant und Dieb in Erinnerung bleiben.

»Da sind sie ja. Wie es aussieht, wird Aleksi umschwärmt. Götter, sieh dir diesen Dreckskerl an.« Jonas schürzte missbilligend die Lippen. »Er ist wohlanständig und stocksteif zu uns zurückgekehrt.«

Vor den offenen Toren waren unsere Familien unweit einer Karawane aus schwarzen Kutschen versammelt, umstanden von unseren Rave-Kriegern. Aleksi, der in seine dunkle, silberbesetzte Rave-Uniform gekleidet war, wurde von den Königsfamilien der Nachtvolk-Clans mit Umarmungen, Gesäusel und Lob überschüttet.

Ich lachte leise, als mein Cousin höflich lächelte, aber vor Verlegenheit die Hände ausschüttelte. Sein Kinn war glatt rasiert und das dichte kastanienbraune Haar in der Mitte seines Kopfes zurückgeflochten. Seine goldenen Augen und seine Lippen waren mit Kajal umrandet.

»Er ist stocksteif, ja, aber du weißt doch, wie er sich fühlt, wenn er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.«

Jonas schnaufte. »Erzähl mir ja nicht, dass Aleksi nicht heimlich davon träumt, ein großer Held zu werden. Er behält es nur für sich.«

Wir gingen schneller und bahnten uns einen Weg durch die Festvorbereitungen. Mein Blick war auf meinen Cousin und meine Familie gerichtet. Aleksis Fae-Ohren liefen spitzer zu als meine, aber nur, weil ich eine Halb-Fae war. Ich lächelte, als ich meine Mutter entdeckte, ihre Zöpfe schimmerten hell wie Eis. Sie schlang die Arme um seine Schultern und zog ihn eng an sich.

Elise Ferus war eine Fae-Königin, aber Sterbliche von Geburt. Ihr Leben war wie das der Fae verlängert worden, als sie sich einem Wildwutzauber unterzogen hatte, sobald sie das Ehegelöbnis mit meinem Vater abgelegt hatte.

Jonas reckte den Hals. »Verdammt. Sieh nur zum Himmel. Wir geraten noch in einen Sturm, wenn wir nicht bald in die Bucht kommen.«

Die Flügel der hölzernen Tore waren weit geöffnet und ließen das Glitzern von Sonnenlicht auf dem dunklen Wasser erkennen. Ich folgte Jonas’ Blick zum zerklüfteten Ufer. Düstere Wolken zogen unablässig am Horizont auf. Fast so, als würden sie auf einen Auslöser warten, um die Wut des Sturms vor unsere Tür zu bringen. Angst wollte von mir Besitz ergreifen, mich überzeugen, dass die Furcht, die ich vorhin verspürt hatte, eine dunkle Vorahnung gewesen war, dass etwas bevorstand.

Nicht weit von der Küste entfernt durchschnitt ein dunkler Streifen die Meeresoberfläche. Eine Strömung, in der das Wasser anders war und in der das Meer auf der Stelle Wellen schlug, die nie ans Ufer brandeten. Der Schlund, eine Barriere zwischen meinem Volk und den Fae des Meeres.

Die meisten Leute achteten während des Fests kaum darauf, aber ich konnte nie den Blick davon wenden. Fast so, als wartete die Anspannung in meiner Brust darauf, dass die mit Schutzzaubern belegten Barrieren des Schlundes sich auflösen und ein Strom von Meerfae sich daraus ergießen würden.

Noch ein vergiftender Gedanke, den die Versprechen, die mir ein Junge in einer Gefängniszelle gegeben hatte, weiterschwelen ließen.

Der Schlund war versiegelt. Ungestört wie eh und je.

Atme. Konzentrier dich. Nichts war anders als sonst. Die Festung war gut bewacht. Rave-Krieger patrouillierten auf den Wachtürmen und an den äußeren Toren. Gelächter, ob nun von Dienern oder Adligen, tönte nach wie vor durch die Gänge. Der Schlund war da, das Zeichen einer anderen Welt, die unter den Fluten weggesperrt war.

Nichts hatte sich geändert. Es würde sich auch nicht ändern.

»Wir haben reichlich Zeit, zuzusehen, wie du dich am Ufer betrinkst. Komm, da sind die anderen.« Ich führte uns zu einem Zeltdach aus Leinwand, unter dem die Erben aller Reiche sich vor der Morgenhitze versteckten.

Sander Erikssons dunkelgrüne Augen sahen von den vergilbten Seiten eines ledergebundenen Buches auf. Die gleichen Augen wie bei seinem Bruder, aber von noch mehr Hinterlist erfüllt. »Livie. Was für eine Geschichte hat Jonas erzählt, um dich zu holen?«

»Das willst du gar nicht wissen.« Ich ließ Jonas’ Arm los und stellte mich neben Mira, die Prinzessin der südlichen Regionen.

Sie schob das Diadem in Form ausgebreiteter Rabenschwingen zurecht, das in ihr dunkles Haar eingeflochten war, und warf mir einen gereizten Blick zu. »Sorg dafür, dass dieses Ungeheuer von mir ablässt.«

Rorik, mein jüngerer Bruder, schwang immer wieder ein Holzschwert und traf ständig Miras Hüften oder Oberschenkel, als stünde eine grimmige Feindin vor ihm. Er war erst neun und klein für sein Alter, aber er ahmte in aller Deutlichkeit Schlachtenlärm nach, während unsichtbare Eindringlinge grausige Tode starben.

Sander schlug sein Buch zu und schob es in seine hintere Hosentasche, bevor er Rorik auf seine Schultern hob. »Willst du Rave werden, Ror?«

Rorik grinste. »Bei den Höllen, ja!«

Ich griff nach dem spitz zulaufenden Ende seines Ohrs und ließ es zurückschnellen. »Was hat Maj über solche Ausdrücke gesagt?«

»Verpetz mich nicht, Livie, dann erfährt sie es gar nicht.«

Jonas brüllte vor Lachen und klatschte den kleinen Prinzen ab. »Leck mich am Arsch, Ror, wann bist du so ein Klugscheißer geworden?«

Ich warf Jonas einen gequälten Blick zu, als mein Bruder das Wort »Arsch« mindestens dreimal wiederholte. So klein Rorik auch war, er war äußerst willensstark und vergötterte die Rave, vor allem Aleksi. Mein Bruder hatte die gleichen dunklen Augen wie unser Vater, aber helleres Haar, als ob die Blässe unserer Mutter bei ihm durchzuschlagen versuchte.

»Aleksi sieht aus, als ob er gleich seine Eingeweide auskotzt.« Jonas versetzte seinem Bruder einen Rippenstoß mit dem Ellenbogen. »Ich wette zehn Goldpenge, dass er nach allem, was seine Vorgesetzten ihm in den Bergen zugemutet haben, gleich spuckt.«

Sander hielt Roriks Beine fest und musterte meinen Cousin stumm, während dieser auf seine befehlshabenden Krieger zuging. »Die Wette nehme ich an.«

Mira verdrehte die Augen und murmelte: »Mit euch beiden ist es doch immer dasselbe.«

Ich biss mir auf die Lippen. Die Zwillingsprinzen ließen sich einfach nicht davon abhalten, Intrigen zu spinnen und hinterhältige Abmachungen zu treffen. Das Ränkeschmieden lag ihnen im Blut.

»Gleich geht es bei ihm los.« Jonas packte Sanders Unterarm und starrte zu Aleksi. »Da wird er … Verdammt.«

Aleksi schritt mit einem unvergleichlichen Selbstbewusstsein die Befehlshaber aller Rave-Einheiten ab und verabschiedete sich von jedem einzelnen. Jonas hatte allen Grund gehabt, die Wette vorzuschlagen. So gebieterisch Aleksi auch wirken mochte, er verabscheute die Aufmerksamkeit, die sein Rang ihm bei Hofe einbrachte. Als Prinz und jetzt auch noch als Rave-Offizier spürte er bestimmt ein nervöses Kribbeln, als alle Blicke auf ihm ruhten, während er die Reihe seiner Mitkrieger abschritt.

Jonas presste sich eine Faust vor den Mund, als Aleksi sich ohne jedes Straucheln umdrehte, um seine Väter zu begrüßen – meine Onkel Sol und Thor.

Sander streckte eine Hand aus, kaum dass Aleksi beide seiner Väter umarmt hatte, ohne zu stolpern. Jonas fluchte und schmetterte zehn Münzen auf die Handfläche seines Bruders.

Ein Horn ertönte von einem der Wachtürme.

»Endlich«, murmelte Jonas.

»Es würde deiner Mutter das Herz brechen, wenn sie wüsste, wie verzweifelt du sie loswerden willst«, flüsterte ich.

»Wie kannst du es wagen«, sagte er gekränkt. »Meine Mutter ist das Licht meines Herzens. Aber ich habe Pläne für dieses Fest, und es gibt gewisse Dinge, die eine Mutter nicht erfahren sollte, wenn es um ihren Sohn geht.«

»Er hat sich nie davon erholt, dass Maj ihn vor ein paar Monaten mit einer seiner Übungspartnerinnen auf frischer Tat ertappt hat«, sagte Sander mit gesenkter Stimme.

Jonas wurde blass. »Es war furchtbar. Ich konnte ihr wochenlang nicht in die Augen sehen.«

Rave-Krieger scharten sich um die Kutschen. Sander hob Rorik von seinen Schultern und schloss sich Jonas an. Die beiden ließen uns stehen, um sich von ihrer Familie zu verabschieden; Mira ging zu ihrer. Ich nahm meinen Bruder ungeachtet seines Protests an die Hand und zog ihn mit zu unserem Clan.

Unsere Leute, die Nachtvolk-Fae, verfügten über die Göttergabe, die Erde zu kontrollieren, während die östlichen Reiche, so auch Jonas und Sander, die listenreiche Magie von Körper und Geist einsetzten. Miras Leute beherrschten die südlichen und westlichen Randgebiete, in denen die Fae das Schicksal beeinflussen, ihre Gestalt ändern oder mit Zauberei und Illusionen auf den Verstand einwirken konnten.

Mein Blick schweifte zu meiner Mutter und meinem Vater.

Die Wellen des tintenschwarzen Haars meines Vaters waren gebändigt, und an den Seiten war es aus seinem Gesicht zurückgeflochten, sodass die Spitzen seiner Ohren freilagen. Er flüsterte meiner Mutter etwas zu, die mit ihrem eishellen Haar und ihren kristallgleichen Augen in völligem Gegensatz zu ihm stand. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen über das, was er gesagt hatte, zu verbergen.

Beide waren brutale Krieger, aber so zärtlich und liebevoll zueinander, dass einem davon übel werden konnte. Wenn ich je die Liebe fand, dann – so hatte ich immer heimlich gebetet – hoffentlich eine, die wie ihre war.

»Aleksi!«, brüllte Rorik schon, bevor er nach unseren Eltern rief.

Aleksi grinste und drängte sich durch die Menge direkt auf uns zu.

Vor Aufregung entrang sich ein kleiner, heiserer Aufschrei meiner Kehle, als ich die Arme so eng um seinen Hals schloss, als wollte ich ihn erwürgen. Er umfasste meine Taille und drückte fest zu.

»Du darfst mich nicht wieder sechs Monate lang mit Jonas’ kurzer Aufmerksamkeitsspanne alleinlassen.«

Aleksi lachte und deutete auf seine neue Uniform, zu der auch ein Sachs gehörte. »Na, was meinst du?«

Ich umfasste sein starkes Gesicht mit beiden Händen. »Du siehst arrogant, anmaßend und langweilig aus.«

Aleksis Lachen grollte tief in seiner Brust, bevor er mich an sich zog und mein Gesicht in seine Achselhöhle drückte. »Was hast du gerade gesagt? Furcht einflößend? Unfassbar kraftvoll? Cousine, ich verstehe dich nicht; was hast du gesagt?«

Der Winter brachte meinen zwanzigsten Umlauf und damit auch Aleksis einundzwanzigsten. Dennoch lockten wir immer noch unsere kindische Seite aneinander hervor.

»Verdammte Höllen, Aleksi!« Rorik stand der Mund offen. »Du hast ja eine verdammte Hauptmannsklinge!«

Aleksi kniete vor dem Jungen nieder, um ihm den neuen Sachs zu zeigen. Teils hatte ich Angst, dass mein Bruder vor Begeisterung ohnmächtig werden würde; teils machte ich mir Sorgen, dass er, so wie er den Stahl der Klinge streichelte, gleich in Tränen ausbrechen würde.

»Livie.« Meine Mutter berührte mich sanft am Arm. Sie musterte mich einen Atemzug lang, als wüsste sie, dass meine Nacht unruhig gewesen war. Das wusste sie immer. »Geht es dir gut, kleiner Liebling?«

»Ja.« Ich umarmte sie und ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. »Mit der Morgendämmerung war alles vorbei.«

Meine Mutter streichelte meinen Arm, sanft, sodass ich mich geborgen fühlte. Sie hatte getan, was man nur hatte tun können, um die Albträume zu lindern, die ihre Tochter seit Umläufen plagten. Tränke, die Erlaubnis, zwischen ihr und meinem Vater zu schlafen, Schlaflieder, gutes Zureden. Jetzt hielt sie mich einfach an sich gezogen, ließ mich wissen, dass sie immer für mich da war.

Seufzend hob sie das Gesicht dem Himmel entgegen. »Ich hoffe, die morgigen Spiele fallen für euch nicht ins Wasser.«

»Hoffentlich nicht, denn ich werde Alva Tritte gegen ihre dummen Beine verpassen«, sagte Rorik, ließ Aleksi stehen und schwang wieder sein Holzschwert. Alva war die Tochter des Ersten Ritters unseres Vaters und war irgendwie zur Erzrivalin meines Bruders geworden. »Sie sind so lang wie Zweige. Ich wette, ich breche sie mitten durch.«

Ich schnaufte. Rorik führte sein Schwert wieder in ungenauen Hieben gegen seinen unsichtbaren Schurken. Er musste noch viel lernen, bis er irgendwann das schwarze Rüstwams tragen würde wie Aleksi.

»Die Götter mögen mich vor diesem Jungen bewahren«, murmelte meine Mutter leise und schloss dann die Augen. Sie war alles andere als schwach, aber ich hatte den Eindruck, dass ein Sohn wie Rorik jeder Mutter zu viel geworden wäre.

Ganz plötzlich unterbrach Rorik seine imaginäre Schlacht und strahlte, als noch ein Rave herankam. »Stieg!«

Stieg war der Hauptmann meines Vaters und schon an der Seite meiner Eltern gewesen, bevor sie ihr Ehegelöbnis gesprochen hatten, Umläufe vor dem Meereskrieg. Stieg war verlässlich wie die Sonne und hart wie Granit, und ich war mir sicher, dass Rorik nicht von der Krone, für die er geboren war, träumte, sondern von dem Tag, an dem er an Stiegs Seite dienen würde.

Der Hauptmann baute sich vor Rorik auf, ein Grinsen auf seinen kriegsgegerbten Lippen. »Übst du, kleiner Prinz?«

»Immer.«

Stieg lachte leise und zerzauste Roriks Haar. Narben, Runentätowierungen auf den Wangen und der Knochenring, den er in der Nase trug, verliehen dem Hauptmann einen Hauch von Wildheit, aber ein Blick auf das schelmische Funkeln im Stahlgrau seiner Augen verriet seinen wahren Charakter.

»Die Kutschen stehen bereit, meine Königin«, sagte Stieg und neigte respektvoll den Kopf.

Meine Mutter seufzte, und als sie mich ansah, runzelte sie besorgt die Stirn.

Ich hakte mich bei ihr ein. »Maj, es geht mir gut. Fahr schon. Sei uns für ein paar Sonnenaufgänge los.«

Sie legte ihre Hand auf meine, die auf ihrem Arm ruhte. »Zehn Umläufe. Kaum zu glauben, dass du nicht viel älter als Rorik jetzt warst, als all die Kämpfe zu Ende gegangen sind. Das Fest ist in diesem Umlauf ein Markstein dafür, wie weit wir gekommen sind, also fühlt es sich anders an als sonst.«

Meine Haut prickelte. Verspürte sie das gleiche Unbehagen wie ich? Ich schluckte und weigerte mich, in eine Gedankenspirale darüber zu geraten, was es heißen mochte, wenn alle in diesem Umlauf eine gewisse Unruhe empfanden. Höchstwahrscheinlich fühlte ich mich aus den gleichen Gründen seltsam wie meine Mutter. Sehr viel hatte sich verändert, und diese bedeutungsvollen Umläufe sorgten dafür, dass wir an alles zurückdachten, was geschehen war.

Damit hatte es sich.

Dornige Rosen, die um einen Dolch geschlungen waren, und eine Streitaxt waren auf die Tür der Nachtvolkkutsche gemalt, die meine Onkel und meine Eltern zum alljährlichen königlichen Rat bringen würde.

Ratsversammlungen wurden immer im Palast des letzten Königspaars, das gekrönt worden war, abgehalten. Beide waren sehr erpicht darauf, große Zusammenkünfte wie das Blutrote Fest zu meiden, und hießen die verschiedenen Clans in ihrem Palast in den Mittelhügeln zwei Tagesreisen entfernt willkommen.

Dort verschafften sie sich einen Überblick über etwaige Schwierigkeiten in den Reichen, schwelgten wahrscheinlich in Erinnerungen an die Kriege, die sie alle zusammen ausgefochten hatten, und hielten den fortdauernden Frieden in unserer Welt aufrecht.

Meine Mutter zog Rorik und mich in noch eine Umarmung, küsste mich auf die Wange und ihn auf den Kopf. »Liv, schwöre mir, dass du vernünftig bist, auf dich aufpasst und Jonas davon abhältst, dem Osten zehn neue Erben zu bescheren, während wir fort sind.«

»Wie sollte er das machen?«, fragte Rorik.

Maj und ich tauschten einen Blick, lachten und drückten ihn noch etwas länger an uns.

Während sie viel Aufhebens um Rorik und darum machte, dass sie von ihm erwartete, in ihrer Abwesenheit in jeder Hinsicht Stiegs Anweisungen Folge zu leisten, ging ich langsam von hinten auf meinen Vater zu. Niemand überrumpelte ihn je, aber er war von seinem Gespräch mit meinen Onkeln so abgelenkt, dass ich vielleicht doch …

»Hallo, kleiner Liebling.« Mein Vater wandte sich um, als ich noch zwei Schritte entfernt war.

»Bei den Göttern, Daj, ich glaube, deine Wildwut schärft deine Ohren.« Ich verdrehte die Augen und wartete, bis er die Arme ausgebreitet hatte, nur um dann um ihn herumzuschlüpfen, und meinen Onkel Sol zuerst zu umarmen.

Die brüderliche Rivalität zwischen ihnen zu befeuern, lohnte sich voll und ganz, denn mein Vater runzelte die Stirn und sah Sol böse an.

»Onkel«, sagte ich. »Ich habe den Eindruck, dass ich noch gar keine Gelegenheit hatte, mit dir zu sprechen, seit wir angekommen sind.«

Sol war gut aussehend wie mein Vater, aber statt der dunklen Nachtvolkaugen hatte er tiefblaue wie ich. Er gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn. »Weil mein König ein Arsch ist und mich die ganze Zeit über in Beschlag nimmt.«

Ein ersticktes Geräusch von meiner Mutter zog unsere Blicke auf sich. Sie starrte Sol finster an und zeigte mit dem Finger auf Rorik, der, wie vorhin, Arsch flüsterte.

Sol formte mit den Lippen eine rasche Entschuldigung und zwinkerte mir dann zu. »Mädchen, du siehst deiner reizenden Mutter mit jedem Tag ähnlicher. Du hast ein Glück!«

Das Lob war nett gemeint und willkommen, entsprach aber nicht ganz der Wahrheit und war darum nur als eine kleine Spitze gegen meinen Vater gemeint.

Gewiss, meine Mutter war schön, aber die Augen waren das Einzige, was wir gemeinsam hatten. Das Meerblau meiner Augen ähnelte Sols Augenfarbe sogar mehr als ihrer. Meine Haut hatte ein mildes, sattes Braun wie die meines Vaters, und mein Haar einen nachtschwarzen Farbton mit einem Hauch von Rot und einem Anflug von Schwarzblau.

Ich klimperte mit den Wimpern und trat dann auf meinen Onkel Thor zu, um ihn zu umarmen. Ernst und nachdenklich bildete Thor ein gutes Gegengewicht zu dem königlichen Mann an seiner Seite. Ich erinnerte mich gern daran, wie Thor mir Geduld im Kampf beigebracht hatte. Er war fest, entschieden, kraftvoll und bei jedem Schlag listig.

Als ich meinem Vater in die Augen sah, hatte er schon Aleksis Unterarm umfasst und warf mir einen Blick über die Schulter meines Cousins zu. »Ach, bin ich jetzt an der Reihe?«

Ich schlang die Arme um die Taille meines Vaters. Wir hatten eine enge Bindung, und seit ich klein gewesen war, hatte er mich bei jedem Straucheln verlässlich aufgefangen.

Er löste sich von mir, ein Lächeln im Gesicht, als er meine Wangen mit seinen rauen Handflächen umschloss. »Ich habe beschlossen, dich mit uns zum Rat zu nehmen.«

Ich grinste. Er sagte jeden Umlauf dasselbe.

»Valen, das tust du nicht«, rief meine Mutter aus der Kutsche. »Lass sie aus den Augen und lass sie frei sein.«

»Frei, von Dummköpfen aufgelesen zu werden, die nur mit ihren Schwänzen denken«, rief er zurück.

»Bei allen Göttern.« Meine Mutter schloss die Augen und küsste dann Roriks Wangen mit einem mitleidigen Blick. »Kein Wunder, dass er bei solch einer Familie die Dinge sagt, die er sagt.«

»Liv.« Mein Vater legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich beiseite. »Ich will dich nur vorwarnen, ich habe mehr als eine Bitte von …« Er schluckte, als hätte er etwas Saures geschmeckt. »… unseren Adligen um deine Zeit erhalten.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Zeit? Soll das heißen …«

Er runzelte die Stirn. »Sie haben Interesse an einer Verbindung, kleiner Liebling.«

Bei allen Göttern! Töricht, mich von so etwas überrumpeln zu lassen; ich war die Erbin der Nachtvolkclans, der gesamten Regionen im Norden. Man würde von mir erwarten, mir früher oder später einen Geliebten oder Ehemann zu nehmen. Die Wahrheit würgte mich von hinten. Ich war volljährig, doch ich hatte bisher kaum Erfahrung mit … irgendetwas. Ein paar gestohlene Küsse von Jungen aus dem niederen Adel überall in den Königreichen, meist als Mutproben, um Jonas zu beweisen, dass ich nicht prüde war.

Ich war Männern gegenüber nicht mutig, aber Mira war die Einzige, die wusste, wie unerfahren ich in allen Aspekten der Liebe war.

Eine Verbindung. Das klang so … langweilig.

Ich wollte keine Verbindung nur deshalb eingehen, weil es von mir erwartet wurde. Ich wollte Leidenschaft, das Brennen, das mir sagte, dass ich platzen würde, wenn mein Liebster mich nicht bald berührte. Ich wollte Hitze und Unordnung und Besessenheit.

Was, wenn ich mich für einen Partner entschied, nur um herauszufinden, dass wir einander nach fünf Umläufen schon langweilten, ohne dass ich je die Hände eines anderen gespürt hatte?

»Livie.« Mein Vater neigte den Kopf und senkte die Stimme, während die anderen ringsum plauderten. »Du weißt, dass ich nie gegen deinen Willen irgendeine Abmachung treffen würde.«

»Ich weiß.« Ich zwang mich zu einem Lächeln und umfasste eine seiner Hände.

Er küsste meine Hand. »Es verstört mich durchaus, zu wissen, dass ein Haufen unwürdiger Bastarde mit dir hier sein wird, während ich es nicht bin.«

»Mache dir keine Sorgen, Daj. Ich bin von Männern umgeben, die mich überbehüten. Ein falscher Schritt, und jemandem werden Finger fehlen.«

Er schnaufte und zog mich eng an sich. »Vergib mir, aber deine Sicherheit der Obhut von Jonas Eriksson anzuvertrauen, beruhigt mich kein bisschen.«

»Das habe ich gehört! Jetzt habe ich das Gefühl, dir das Gegenteil beweisen zu müssen, indem ich absichtlich etwas in die Wege leite«, ertönte Jonas’ Stimme über den Lärm hinweg von der Kutsche seiner Familie her.

»Siehst du? Du musst dir keine Sorgen machen«, sagte ich und umarmte ihn. »Stieg und ein Großteil der Rave sind bei uns.«

Mein Vater gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich sagte meiner Mutter und meinen Onkeln noch einmal Lebewohl und sah dann zu, wie alle Herrscher über die Fae-Reiche in ihre Kutschen stiegen und die Festung verließen. Rave-Wachen folgten zu Fuß oder zu Pferde.

Während die Anführer der Reiche sich mit ihren Pflichten plagten, würden am Folgetag ihre Erben, die niederen Adligen, Krieger und Höflinge mit Spielen, Bogenschießen, Axtwerfen und Segelregatten um die Buchten der Insel herum feiern, danach, wenn die Sonne unterging, auf dem Maskenball, der mit weiteren Festlichkeiten und Ausschweifungen einherging.

Wachen waren immer in der Nähe. Sogar Jonas und Sander hatten ihnen zugeordnete Leibwächter, aber sie ließen sich kaum blicken, waren sie doch gezwungen, so gerissen wie ihre königlichen Schützlinge zu sein, die sich ständig bemühten, sie abzuhängen. Es war sicher hier; wir konnten die Augen verdrehen und unsere Eltern aufziehen, aber sie würden uns nie völlig ungeschützt zurücklassen.

Als Rorik von Stieg und drei weiteren Rave-Wachen, denen der jüngste Prinz anvertraut war, mitgenommen wurde, trat Jonas mit ausgebreiteten Armen auf uns zu.

»Lasst das Fest beginnen.« Er umfasste Aleksis Unterarm. »Willkommen zurück. Da du doch jetzt darin ausgebildet bist, gewalttätig zu sein: Darf ich die Bitte an dich richten, auf dem Maskenball morgen als mein persönlicher Leibwächter zu dienen? Ich habe das Gefühl, dass ich es nötig haben werde, meine Türen gegen alle Schnüffeleien schützen zu lassen. Lass dich nicht von den Geräuschen, die du vielleicht hörst, in Angst und Schrecken versetzen.«

»Nein«, sagte Aleksi. »Und vielleicht könntest du ja dieses eine Mal tatsächlich auf den Beinen tanzen.«

»Bei den Göttern, wie langweilig. Ich halte mich an meine eigene Art des Tanzens, danke.« Jonas ließ sein Lächeln in sein typisches verschlagenes Grinsen übergehen, das immer ein attraktives Grübchen in seiner Wange erscheinen ließ. Heute Abend würden Jonas’ Ränke gewiss mir gelten, denn er richtete seinen dunklen Blick auf meine Augen. »Hoffentlich können wir jetzt endlich anfangen, auf unsere Art zu feiern?«

»Ist es denn klug, sich so nahe an den Schlund zu wagen, wenn ein Sturm am Horizont aufzieht?« Mira war diejenige, die die Frage stellte, und ich war froh darüber. Mein Herz war ruhelos, ein ständiges Summen ängstlicher Vorahnung, und zum ersten Mal seit Umläufen wollte ich nicht an den Tag denken, an dem die Meerfae hinter den Bannzaubern des Schlundes weggesperrt worden waren.

»Ja«, beharrte Jonas. »Vor allem, da Livie wieder Albträume hat, und von diesem Moment an gibt es während des Blutroten Fests keine Sorgen mehr. Jetzt kommt schon. Lasst uns sehen, ob wir welche von diesen Meersängern finden.«

3 Der Singvogel

Als wir klein gewesen waren, hatten Aleksi und ich ganze Nächte in ausgedehnten Burgen verbracht, die wir draußen in den Gärten gebaut hatten. Meine Wildwut war, wie bei den meisten Fae des Nordens, mit der Erde verbunden. Ich konnte Sträucher dichter wachsen und Blüten leuchtender strahlen lassen, ja sogar ausgelaugte Böden heilen.

Unsere Burgen hatten immer ausgesehen wie etwas aus einem Märchenwald.

Dort hatten wir geduckt um eine Laterne gesessen, und Aleksi hatte mir gruselige Geschichten über die Meersänger und ihre Neigung, uns Landleute um unserer starken Knochen willen zu jagen, erzählt. Er hatte ein Talent für bildreiche Beschreibungen, und ein wenig glaubte ich immer noch, dass jede Klinge und jede Halskette im Besitz der Fae der Tiefsee aus den Knochen ihrer Feinde bestand.

Wenn Jonas und Sander zu Besuch gekommen waren, waren die Geschichten sogar noch düsterer geworden. Ihre Magie war anders als meine helle Wildwut: Sie arbeiteten mit Albträumen und Dunkelheit.

Jeder, der die Zwillingsprinzen nicht kannte, hätte nie erraten, dass sie solch grauenerregende Bilder heraufbeschwören und dann einem Verstand aufdrängen konnten. Eine Angst, die vorher gar nicht existiert hatte, konnte man nie mehr vergessen, wenn sie mit einem fertig waren.

Sobald wir alle in unseren Fähigkeiten reifer geworden waren, setzten wir sie nicht mehr gegeneinander ein, wie wir es als Kinder getan hatten. Also ging die Angst, die wie ein Blutegel an meinem Herzen haftete, nicht auf einen Streich der Zwillinge zurück. Sie war nichts anderes als meine eigene Feigheit.

Ich saß steif auf der Bank des Langboots und wippte mit einem Knie. Mira löste ihr dichtes rotbraunes Haar und ließ den Seewind hindurchstreichen wie die Finger eines zärtlichen Liebhabers. Aleksi und Jonas ruderten. Sie standen unverkennbar in einem unterschwelligen Wettstreit: Immer wieder warfen sie verstohlene Blicke aufeinander und tauchten die Riemen bei jedem Schlag tiefer ein.

Ich verschränkte die Finger auf dem Schoß und behielt das näher kommende Ufer der zerklüfteten Inseln gut im Blick, die die Grenze des Schlundes der Meere markierten.

Manchmal war der Gedanke seltsam, dass sich eine Welt unter den Wellen befand. Ich konnte so viele Texte lesen, wie ich wollte, von Gedichten über Sagas bis hin zu anderen Überlieferungen, aber die Wahrheit war, dass niemand von uns wirklich wusste, was im Ever-Königreich lebte.

War es dort ständig nur nass? Drangen Aale und fette Wale in Meereshöhlen ein, die als Wohnungen dienten?

Schwarze Strömungen brandeten gegen das Boot, als Aleksi und Jonas es vorsichtig in eine Bucht lenkten. Die Angst wog schwer, wie Steine, die sich in meinem Magen türmten, aber ich fühlte mich zum Wasser hingezogen. Eine Faszination, die ich nicht dämpfen konnte. Je stärker ich von der Neugier loszukommen versuchte, desto heftiger wurde der Sog des Meeres. Wie ein dicker Strick um meinen Bauch riss er mich zurück an den Rand zwischen den beiden Welten.

»Raus.« Jonas winkte uns mit beiden Händen zu und griff in eine schwarze Ledertasche, die unter eine der Bänke geschoben war. Daraus zog er eine Flasche mit starkem, bernsteinfarbenem Bier darin. »Heute Abend beginnen wir das Feiern so, wie es sich gehört: mit Honig-Brän.«

Ich hielt mich am kratzigen Tauwerk fest, um mich aus dem Boot und auf die sonnengewärmten Steine zu ziehen. »Nur du würdest dich so nahe am Schlund besaufen.«

»Deshalb sind wir doch hier, Liv«, sagte er. »Bei den Höllen, halb bin ich überzeugt, dass Blutsänger tot ist. Wahrscheinlich von seinen Leuten geköpft, nachdem man ihn zurück ins Meer geworfen hatte.«

Ich ignorierte die Art, wie der Gedanke sich wie eine Dornranke in meine Brust grub. Es wäre das Beste gewesen, wenn der Erbe des Ever wirklich tot und dahin gewesen wäre. Ich lachte, um Jonas – und mir selbst – zu beweisen, dass ich es wirklich so empfand.

Sander entzündete ein Feuer am Ufer. Mira verteilte kleine Rührkuchen mit Karamellsirupfüllung in der Mitte.

»Krasmira Secondar«, jauchzte ich ihren vollen Namen und legte mir ein Küchlein auf die Zunge. »Hast du die etwa aus den Küchenräumen stibitzt, bevor das Fest begonnen hat? Das verstößt gegen die Regeln, meine Freundin.«

Sie schnaufte und kniff die sturmgrauen Augen zusammen. »Ja, ich werde als die bitterböse Prinzessin, die ein bisschen Kuchen gestohlen hat, in die Sagas eingehen.«

Sonnenlicht ergoss sich über den Horizont wie ein Streifen Blut, als die Nacht kam, um den Tag zu verschlingen. Bald genug würden wir alle von Mitgliedern unserer jeweiligen Höfe umschwärmt werden, die um unsere Aufmerksamkeit buhlten. Beim ersten Fest hatten wir einander vermisst und uns davongestohlen, um unter uns die halbe Nacht zu feiern. Nur wir allein.

Seitdem verbrachten wir den ersten Abend immer als Freunde zusammen, fern von Pflichten und Etikette.

Wir tanzten, lachten und zogen Jonas mit seiner Verwirrung auf, wie er nur mit zwei Frauen gleichzeitig in seinem Bett fertigwerden sollte. So, wie er das letzte Brän hinunterstürzte, war ich mir sicher, dass er unsere Neckereien als Herausforderung auffasste, es mit nicht weniger als dreien auf einmal aufzunehmen.

»Jonas, ich flehe dich an, tu es nicht.« Ich lachte; in meinem Kopf drehte sich alles ein wenig in einem lichtlosen Bierrausch. »Du verletzt dich bloß, und wenn du dann festgeklemmt bist, muss dein Vater dich l…losmachen.«

Mira kicherte und ließ den Kopf auf Aleksis Schulter sinken.

Sander grinste hämisch. »Daj würde ihn nicht retten. Er würde ihn beschämen, indem er alle herbeiholt, damit sie ihn angaffen.«

»Dieses ganze Gespräch ist doch zwecklos.« Jonas schürzte die Lippen und rieb sich die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Erstens würde Daj mich nie beschämen; ich bin sein Liebling. Zweitens gibt es keinen Ort in irgendeinem Königreich, an dem ich mich festklemmen oder verletzen würde, wenn ich das tue, worauf ich mich gut verstehe.«

»Ach ja?«, sagte ich. »Und was ist das?«

»Ich glaube, das weißt du, Liv, aber ich würde es dir mit Freuden in allen Einzelheiten beschreiben. Vielleicht lernst du dann das eine oder andere.«

Ich prustete und sprang auf. »Ach, Jonas, eines Tages wird ein furchterregendes Geschöpf dein Herz stehlen, und dann wirst du nicht mehr ein noch aus wissen.«

Er stützte sich auf seine Ellenbogen und schlug die Knöchel übereinander, ein boshaftes Grinsen im Gesicht. »Eine Geliebte für den Rest meiner Tage? Wohl kaum.«

»Apropos Geliebte«, sagte Aleksi, den Blick auf mich gerichtet. »Was hältst du von den Gerüchten, dass mehr als nur ein adliger Dreckskerl an Onkel Valen herangetreten ist, Liv?«

Plötzlich lag das Brän mir quer im Magen. Ich winkte ab, um den Gedanken zu verdrängen. »Ich glaube, wenn die Gerüchte stimmen, dann sind es tapfere Kerle, da sie sich an meinen Vater und nicht an mich wenden.«

»Gut gesprochen, Livie! Zwing sie in die Knie!«, rief Mira. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und quietschte betrunken vor Lachen, als ihr dämmerte, dass sie ihre Worte herausgeschrien hatte.

Sander legte sich in den Sand und schloss die Augen. »Sie sind Narren, wenn sie glauben, dass dein Vater dich ihnen für irgendein politisches Bündnis übergeben würde.«

Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Die Art, wie man von Heiratskandidaten sprach, hatte sich über die Umläufe geändert. In einer anderen Zeit wäre es vielleicht noch üblich gewesen, dass ein Vater das Ehegelöbnis seiner Tochter arrangiert hätte, aber nicht bei meinem Vater.

Als meine Eltern einander kennengelernt hatten, waren sie auf dem Brautpreisball meiner Mutter gewesen. Der König hatte alles arrangiert, um sie für ein strategisches Bündnis zu verschachern, und der Meistbietende wäre der Gewinner gewesen. Mein Vater war nicht einmal im Rennen gewesen; jetzt waren sie Herrscher über ein Reich. Sie waren die Letzten, die ihren Kindern je eine Verbindung aufgezwungen hätten.

Ich hatte wohl immer auf das Brennen in meinem Herzen gewartet, ein Gefühl unstillbaren Begehrens und Verlangens. Ich wollte die Leidenschaft, die ich bei meinen eigenen Leuten sah, und jetzt, in der Rückschau, erkannte ich, dass ich mir wahrscheinlich Gelegenheiten hatte entgehen lassen, mutig zu sein, nichtsnutzig, um nach einer Nacht, die nur dem Vergnügen dienen sollte, atemlos zurückzubleiben.

Das war Jonas’ Art zu denken, aber vielleicht gar nicht einmal so albern. Ich hatte niemandem etwas anderes als Unerfahrenheit zu bieten.

»Vielleicht wirst du nicht gezwungen sein, dir einen Mann zu nehmen«, sagte Jonas mit vor Trunkenheit schleppender Stimme. »Aber wenn besoffene Bastarde anfangen, einer von euch beiden zu nahe zu treten, dann werden sie als Vermisste enden.«

Sein Tonfall war bissig. Sogar betrunken und fast einen Umlauf jünger als ich war Jonas wie ein behütender Bruder, der es nicht gut aufnahm, wenn Männer es nur um unseres Ranges willen auf Mira und mich abgesehen hatten.

Selbst schon berauscht vom Trinken legte Mira einen ihrer schlanken Arme um seinen Hals und gab ihm einen schmatzenden, feuchten Kuss auf die Wange. »Weißt du was? So dumm du an den meisten Tagen auch bist, du hast eines meiner Lieblingsherzen.«

Er schüttelte sie ab, ließ sich in den Sand fallen und summte das unheimliche Lied des Meeres – eines, bei dem sich die Haare auf meinen Armen aufrichteten wie bei einer Furcht einflößenden Erinnerung: »Er ist kein Mann, wir packen an …«

Ich kehrte ihrem Singen, ihrem Gelächter und ihrem trunkenen Austausch von Beleidigungen den Rücken. Meine Schritte waren unsicher, also setzte ich mich, sobald ich den Rand des Wassers erreichte, vorsichtig auf die Kante eines dicken Steins, um zuzusehen, wie die Sonne über dem dunklen Meer verblasste.

Einen Augenblick später setzte Aleksi sich neben mich. »Was denkst du?«

Seufzend ließ ich den Kopf auf seine Schulter sinken. »Viel.«

»Ich habe zwei Ohren.«

»Ich weiß nicht, Aleksi. Etwas fühlt sich anders an. All dieses Gerede über Ehegelöbnisse und Heiratskandidaten … Ich fühle mich, als ob ich vorwärtstaumele, aber nicht wirklich lebe.«

»Wie meinst du das? Du bist die Erbin des Nachtvolks.«

»Ja, weil ich dazu geboren bin. Ich übe mich mit dir und Onkel Thor im Kämpfen, aber was habe ich abgesehen davon, dass ich mich mit der Klinge auskenne, schon geleistet? Ich setze meine Wildwut kaum ein. Ich habe … Na ja, ich habe nicht einmal versucht, Leute außer euch vieren kennenzulernen.«

»Du meinst Männer?«

Hitze ließ mein Gesicht erröten. »Ich meine alles. Ich schaue dich an, von Kopf bis Fuß gut aussehend in deinem neuen Rüstwams, und mir wird klar, dass ich nicht wirklich nach mehr gestrebt habe, als es behaglich zu haben. Sogar Rorik hat den Wunsch, mehr zu sein als das, wozu ihn sein Geburtsrecht macht, dabei ist er erst neun und verrückt.«

Aleksi grinste. »Dann sei tollkühn, Liv. Vergiss auf diesem Fest die Etikette, vergiss die Nervosität. Ich weiß, ich weiß, ich habe gut reden. Aber vielleicht ist das hier dein Bauchgefühl, das dir sagt, dass du mutig sein sollst. Ein bisschen verwegen. Wer weiß, was passieren könnte?«

Ich rammte ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Seltsam, das von dir zu hören, ehrenhafter Rave.«

Aleksi schnaufte spöttisch und lehnte sich auf seine Ellenbogen zurück. »Verbring Monate mit dem Ersten Ritter Halvar und seinen Männern, dann wird dir klar, dass sogar die ehrenhaftesten unserer Krieger schon mehr als leichtsinnig waren.«

Ich grinste. »Vielleicht hast du recht und ich sollte etwas Mutiges tun. Etwas, das für mich ungewöhnlich ist.«