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Ein Neuanfang. Weit weg von zu Hause - am Rande der Appalachen. Ein Geist der Vergangenheit. Attraktiv und verwegen. Als Mia's Mutter bei einer Straßenschießerei in Memphis ums Leben kommt, beschließt sie, diesen dunklen Ort und damit ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Sie nimmt das Angebot ihres Onkels an, zu ihm in die Appalachen in North Carolina zu ziehen, wo er mit seinen erwachsenen Kindern lebt. Mia erhofft sich, in der Natur und in der Abgeschiedenheit wieder zu sich finden zu können. Doch North Carolina scheint nicht so ruhig, wie gedacht, denn ihr Cousin Fynn ist NASCAR-Fahrer. Schon bald entscheidet das Schicksal, dass Mia Fynns Teamkollegen Weston kennenlernt. Weston, dessen Babysitterin sie als Teenagerin gewesen ist und dessen Karriere ihn ebenfalls nach North Carolina verschlagen hat. Weston, der plötzlich kein kleiner Junge mehr ist, sondern verdammt attraktiv.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorwort:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
News
Meine Planung
Meine Bücher
Impressum
Ich stehe in dem leeren Haus und sehe mich ein letztes Mal um. Jetzt, wo keine Möbel mehr in den Zimmern stehen, fällt auf, wie alt der Holzdielenboden wirklich ist.
An manchen Stellen fehlt die Lackierung und das Holz ist ausgeblichen – doch das ist nun nicht mehr mein Problem.
Ich habe einen willigen Käufer für das alte Schätzchen gefunden. Meine Eltern würden sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, für welchen Spottpreis ihr eigens erbautes Haus an einen Fremden übergegangen ist.
Doch ich habe keine andere Wahl. Auch, wenn all meine Erinnerungen in diesen Wänden stecken.
Mein allererster Schritt, mein erstes Wort, mein erstes Lachen, mein erster Liebeskummer, die Krankheit von Dad und sein qualvoller Tod. Genauso wie ein geplatzter Heiratsantrag, weil ich es nicht übers Herz bringen konnte, meine Mum in diesem großen Haus alleine zu lassen.
Meine Mum, die vor fünf Wochen am helllichten Tag vor einem Einkaufsladen erschossen wurde.
Eine Straßenschießerei, die nicht ihr galt, sondern irgendwelchen Drogendealern.
Die Kugel traf sie in den Hinterkopf. Sie hat ihren Tod nicht kommen sehen. Das ist diese einzige, winzige Kleinigkeit, die mich daran beruhigt.
Sie hatte keine Angst.
Sie hatte keine schlechten Gedanken. Vermutlich hat sie darüber nachgedacht, was sie zum Mittagessen machen wird.
Und doch ist ihr Tod vollkommen sinnfrei.
Seit diesem Tag ist mein Leben ein einziges Trauerspiel.
Seit diesem Tag fühle ich mich leer und kraftlos.
Und je länger ich mich in diesem Haus aufhalte – in diesem Haus, in dem es nun unendlich still ist, desto mehr habe ich das Gefühl, dass diese Abwärtsspirale mich nie wieder loslassen wird.
Das Einzige, was mich zu Beginn über Wasser gehalten hat, waren die organisatorischen Dinge, die der Tod eines geliebten Menschen mit sich bringt.
Welche Art von Beerdigung möchte man? Welcher Friedhof soll es sein? Welche Blumen? Welcher Song?
Alles, als würde man eine Party planen, dabei ist es bloß der Schlussakt eines Auf-Nimmer-Wiedersehens, welches ein großes Loch in einem hinterlässt.
Und als all das vorbei war und ich den Tag der Tage überstanden hatte, konnte ich mich kaum noch aus dem Bett erheben.
Immer wieder ging die Sonne unter und wieder auf, ohne dass ich wusste, wie der Tag draußen wohl aussehen mag.
Fünf Tage habe ich nicht geduscht und nicht gegessen. Nur getrunken, um mich irgendwie am Leben zu halten, obwohl ich mir nicht einmal sicher war, ob ich das wirklich will.
Meine Freundinnen haben mich pausenlos angerufen, genauso wie meine Großeltern, doch ich habe es so lange ignoriert, bis der Akku von meinem Handy leer war und endlich Ruhe einkehrte.
Vermeintliche Ruhe, denn meine Freundin Amber hat sich mit einem Brecheisen Zugang über die Kellertür im Garten verschafft und mir wortwörtlich den Arsch aufgerissen.
Gegen sie hat niemand eine Chance.
Wenn sie sich etwas in dem Kopf setzt, ist es, als würde ein Bergochse dich bespringen.
Du musst spuren – ob du willst oder nicht.
Sie hat mich unter die Dusche geschleift und das kalte Wasser angestellt. Wir haben uns förmlich unter dem eisigen Wasserstrahl geprügelt, doch sie hat mich so lange an Ort und Stelle gehalten, bis mein Verstand wieder da war und ich mich langsam aus meinem Kokon geschält habe.
Dann hat sie meine Großeltern kontaktiert, denn unabhängig davon, dass sie wissen wollten, wie es mir geht, hatten sie noch eine besondere Nachricht für mich.
Diese Nachricht liegt nun im Sinne von 50.000 Dollar auf meinem Sparkonto, denn sie hatten für meine Mum ein Sparbuch angelegt, welches sie erben sollte.
Stattdessen haben sie mir nun das Geld überlassen, um mir damit irgendwelche Träume zu erfüllen, die ich nicht habe.
Viele Nächte sind vergangen, in denen ich darüber nachgedacht habe, was ich nun mit dem Geld anfangen soll und ob mir irgendwas Materielles dabei helfen könnte, meinen Schmerz zu vergessen.
Aber das Einzige, was mir helfen könnte, wäre eine Zeitmaschine, mit der ich das furchtbare Ereignis ungeschehen machen könnte.
Irgendwann kamen mir wieder die Worte von Mums Bruder in den Sinn. Mein Onkel Clayton ist natürlich ebenfalls auf ihrer Beerdigung gewesen und er hat mir angeboten, zu ihm und seinen Kindern in die Appalachen zu kommen, wenn ich mal etwas Abstand bräuchte.
Und nun habe ich mich nicht nur für ein wenig Abstand entschieden, sondern für einen Neuanfang.
Einen Neuanfang in North Carolina.
In der Natur, in den Appalachen. In Frieden und Stille.
Keine abgasverseuchte Stadt mit Straßenbanden und Obdachlosen an jeder Ecke.
Keine Stadt, die mich jeden Tag daran erinnert, dass meine Mum elendig auf ihren Straßen gestorben ist.
Kein Haus, welches mich daran erinnert, dass ich hier ganz alleine bin.
Ich habe meinen Job in der Finanzbuchhaltung hingeschmissen.
Ich habe all meine Versicherungen gekündigt.
Ich habe alle Möbel verkauft oder verschenkt und das, was niemand mehr haben wollte, ist auf dem Sperrmüll gelandet.
Ich habe alle Anziehsachen aussortiert und habe sie den Obdachlosen, die in der kleinen Stadt direkt zwei Straßen weiter immer herumlungern, überlassen.
Mehr als nur eine gute Tat, um meine Karmapunkte aufzuwerten.
Ein gutes Karma, welches ich bei einem Neuanfang gut gebrauchen kann.
Die Vibration meines Handys reißt mich aus den Gedanken.
Happy Birthday, Sweetheart. Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt und dass NC dir helfen wird, wieder du selbst zu sein. I love you, Amber.
Tja, happy Birthday Mia.
Alles Gute zu deinem 35. Geburtstag, von dem ich immer dachte, dass ich vielleicht in einem eigenen Haus sitze – mit einem Ehemann und Kindern.
Von dem ich dachte, dass ich meine Eltern zu Kaffee und Kuchen erwarte und sie mit ihren Enkelkindern im Garten spielen.
Doch das Leben ist unberechenbar. Und statt vollkommen erfüllt von eben jenem zu sein, bin ich ganz allein.
Auch, wenn meine Großeltern noch da sind – doch anhand ihres Alters gemessen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich die Einzige bin, die noch übrig bleibt.
Mein allerletzter Blick bleibt auf dem Türrahmen im Durchgang zum Flur hängen, auf dem zahlreiche Markierungen und Zahlen stehen.
An diesem Türrahmen haben meine Eltern dauernd gemessen, wie groß ich schon geworden bin.
Mit vierzehn Jahren haben wir damit aufgehört, weil ich darauf keine Lust mehr hatte.
Ich krame in meiner Handtasche und finde einen Edding. Ein letztes Mal stelle ich mich an den Rahmen und ziehe
einen kleinen Strich direkt über meinen Kopf.
Time to say Goodbye, schreibe ich darüber.
Denn jetzt bin ich erwachsen und muss mit all dem, was mein Herz belastet, allein zurechtkommen.
Ich schalte das Licht im Flur aus und trete auf die Veranda. Ich verschließe die Tür und werfe den Schlüssel in den Briefkasten, ohne zu zögern.
Denn ansonsten komme ich hier nie weg.
Obwohl es mitten in der Nacht ist, ist es immer noch heiß in Memphis. Im Sommer kühlt die Temperatur kaum runter und direkt klebt das dünne Top an meinem Rücken.
Ich lade die letzte Tasche in den Kofferraum des dunkelroten Nissan Altima, der meiner Mum gehörte.
Dieser Wagen ist das Einzige, was mir von ihr bleibt und ich hoffe, er wird mich sicher an mein Ziel bringen.
Elf Stunden Fahrt liegen vor mir.
Elf Stunden, in denen ich wieder viel zu viel Zeit zum Nachdenken habe.
Aber das ist in Ordnung.
Ich habe mich mittlerweile damit angefreundet, dass ich meine Gedanken nicht kontrollieren kann und sie sich sowie so immer wieder verselbstständigen.
Ich kann nur hoffen, dass die ganzen neuen Eindrücke in North Carolina mir dabei helfen, alles ein wenig zu vergessen.
Am Horizont geht die Sonne auf und taucht meine Umgebung in ein leichtes orangenes Licht. Laue Luft strömt durch den Fensterschlitz und das Gezwitscher der Vögel dringt an meine Ohren.
Sechs Stunden Fahrt liegen hinter mir und damit etwas mehr als die Hälfte der Strecke. Ich verlasse den Interstate Highway und fahre in das Zentrum von Indianapolis, denn langsam aber sicher brauche ich eine Pause. Nicht nur, dass mir der verdammte Hintern wehtut – meine Augen machen auch schlapp. Ein bisschen Koffein und etwas für den Magen sollten hoffentlich gegen meine Müdigkeit ankämpfen.
Die Straßen in Indianapolis sind noch verlassen. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, außer ein paar Tankstellen. Fast bin ich versucht, mir ein pappiges Sandwich an der Tankstelle zu kaufen, als ich ein offenes Café entdecke – Sun&Moon Café – 24 Stunden geöffnet.
Ich fahre durch die schmale Einfahrt zum Gästeparkplatz, welcher hinter dem Café liegt. Als ich aussteige, strecke ich mich ausgiebig und mein Rücken gibt knackende Geräusche von sich.
Ein Hoch auf meine Fünfunddreißig, bei der selbst eine entspannte Autofahrt anstrengend ist.
Aber in der all der Zeit habe ich auch den Sport schleifen lassen. Damals bin ich in den frühen Morgenstunden immer am Ufer des Mississippi River entlanggejoggt – zig Kilometer und wieder zurück. Doch auch dafür habe ich die Muße verloren, obwohl das mein absolutes Lieblingshobby gewesen ist.
Das Laufen hat mir immer dabei geholfen, meinen Kopf freizubekommen und mich fit für den Tag zu fühlen. In Graham County werde ich versuchen, dieses Hobby wieder aufzunehmen.
Eine neue Strecke, eine neue Herausforderung – gerade
deswegen, weil ich dort sicherlich über Stock und Stein laufen muss.
Durch den Hintereingang betrete ich das Café und eine altmodische Türglocke kündigt meinen Besuch an.
Außer ein Mitvierziger, der in seinem Blaumann an einem Tisch in der Ecke seinen Kaffee schlürft und einer Bediensteten, die gerade die Kaffeebohnen in dem Vollautomaten nachfüllt, ist niemand zugegen. Leise Countrymusik dringt aus den in die Jahre gekommenen Lautsprechern, welche von einem leichten Knistern untermalt wird.
Ich lasse mich auf die dicke, rotgepolsterte Lederbank am Fenster sinken und schließe einen Moment die Augen.
Ich zucke zusammen, als harsch neben mir auf dem Tisch eine Tasse abgestellt wird und die Servicekraft diese mit dampfendem Kaffee füllt.
Mir läuft förmlich das Wasser im Mund zusammen. Meine Venen schreien danach, das Koffein in einem Zuge in mich hineinzuschütten.
„Frühstück?“, fragt sie und lässt dabei eine Kaugummiblase vor ihrem Mund platzen.
Kein Hallo, kein Guten Morgen. Aber ehrlicherweise bin ich auch viel zu müde dafür, um mich darüber jetzt aufzuregen.
„Gerne..“, antworte ich also genauso knapp.
„Senorfrühstück oder das Veggietastic?“, hakt sie genervt nach und lässt die nächste Blase laut platzen.
„Sie müssen mir schon sagen, was im jeweiligen Menü enthalten ist..“, werde ich nun etwas gereizter.
„Steht da oben.“ Ohne von ihrem Notizblock aufzusehen, zeigt sie hinter sich zu der Anzeigetafel direkt über der Kasse.
Am liebsten würde ich ihr jetzt entgegenschreien, dass ich nicht lesen kann – denn woher will sie das schon wissen? Es ist ihr Job, mir zu sagen, was der Laden hier anbietet. Wer hat sich gedacht, diese Person in einem Bereich arbeiten zu lassen, in dem sie mit Menschen interagieren muss?
Schnell überfliege ich die Menüs und entscheide mich für das Veggietastic.
„Dazu hätte ich gerne noch einen Orangensaft und einen Latte Macchiato.“ Denn auch, wenn diese dünnflüssige schwarze Brühe mich vorerst davor bewahrt, nicht mit dem Kopf auf die Tischplatte zu knallen und die nächsten zehn Stunden durchzuschlafen, brauche ich einen vernünftigen Kaffee mit Geschmack.
„Nancy ist Autistin.“, ertönt es plötzlich ein paar Tische weiter. Irritiert sehe ich auf und entdecke den Bauarbeiter, der zu mir herüber sieht.
Fragend ziehe ich die Augenbrauen nach oben.
„Die Servicekraft. Sie ist Autistin. Eigentlich ist sie nicht so unfreundlich, aber sie tut sich schwer mit neuen Gästen.“
Verstehend nicke ich und lächle leicht.
Okay, das erklärt einiges, aber woher soll ich das als ortsfremde Person schon wissen?
Ich widme mich wieder meiner Kaffeetasse und nehme einen Schluck. Gott, der Kaffee ist wirklich ekelhaft, aber Hauptsache er entfaltet seine Wirkung.
„Sie kommen nicht von hier, oder?“, ertönt wieder die Stimme des Mannes.
Ich bin gewillt, die Augen zu verdrehen.
Ich habe keine Lust auf eine Unterhaltung.
Ich bin müde.
Ich bin ausgelaugt.
Ich bin traurig.
Ich habe gerade keine Nerven, auch nur irgendwen annähernd kennenzulernen, geschweige denn, irgendwas von meiner Geschichte zu erzählen.
„Nein, nur auf der Durchreise.“
Wieder sehe ich direkt von ihm weg, um ihm zu signalisieren, dass ich an einem längeren Gespräch nicht interessiert bin.
„Wohin soll es denn gehen? Waren Sie schon einmal in Indianapolis?“
Tief atme ich durch. Der arme Kerl kann nichts für meine Situation, aber trotzdem sollte er bemerken, dass das Interesse an einer Unterhaltung doch eher einseitig ist.
„Robbinsville.“
„Wow, North Carolina. Da haben Sie aber noch ein Stück vor sich.“
Glücklicherweise kommt in dem Moment Nancy mit meinem Frühstück.
Tatsächlich sehe ich gerade lieber in ihr stoisches Gesicht, vor dem wieder zahlreiche Kaugummiblasen platzen, als diesem Kerl noch eine einzige Antwort zu geben.
Sie stellt das Avocadotoast mit Spiegelei, veganem Bacon und einer hauseigenen Honigsenfsauce wortlos vor meiner Nase ab, genauso wie die georderten Getränke.
Wieder vermeide ich den Blick in die Richtung des Bauarbeiters und mache mich über das Frühstück her. Ich muss mir ein Stöhnen verkneifen, als ich den ersten Bissen zerkaue, denn im Gegensatz zu der billigen Kaffeeplörre, schmeckt es hervorragend.
Nun steht der Kerl auf, wie ich im Augenwinkel feststelle und mein Puls erhöht sich schlagartig.
Sollte er sich jetzt zu mir an den Tisch setzen, werde ich ihn definitiv verjagen.
„Wir sehen uns Morgen wieder, Nancy.“, ruft er der Servicekraft zu, die nun fröhlich winkt. Diesmal ist er es, der mich keines Blickes mehr würdigt.
Für einen kurzen Moment habe ich ein schlechtes Gewissen,aber mein eigener Frieden ist mir dann doch etwas wichtiger.
Endlich bin ich allein in dem Café – merkwürdigerweise genieße ich diesmal die Stille um mich herum, die von der Countrymusik begleitet wird, obwohl ich doch gerade erst vor eben jener geflüchtet bin.
Kauend beobachte ich das Straßenreinigungsfahrzeug durch die Scheibe und schiebe mir gedankenverloren das nächste Stück hinterher.
Nachdem der Teller leer ist, ziehe ich mein Handy hervor und schreibe Amber eine Nachricht.
Mache gerade eine Pause in Indianapolis. Noch fünf Stunden Fahrt, dann bin ich am Ziel. Ich vermisse dich.
Denn das tue ich wirklich, auch wenn es erst einen Tag her ist, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Die Freundschaft zu ihr und auch einigen anderen hat mich lange hadern lassen, ob ich diesen Schritt gehen soll.
Aber ich bin nicht aus der Welt – ich kann sie besuchen und sie mich.
Ich trinke auch den Rest des Latte Macchiatos aus und lege Nancy zwanzig Dollar auf den Tisch.
Sie ist gerade damit beschäftigt, die verschiedenen Teller in den Regalen nach der Farbe zu ordnen und mein Gefühl sagt mir, dass ich sie jetzt besser nicht stören sollte.
Als ich aus dem Café trete, entdecke ich den Kerl in seinem Blaumann wieder.
Er schleicht um mein Fahrzeug herum und schaut neugierig in jedes einzelne Fenster.
„Hey, was soll denn das?“, rufe ich aufgebracht und stapfe wütend auf ihn zu.
Ertappt fährt er herum und seine Wangen färben sich rot.
„Ich..also..naja. Sie wollten nicht viel erzählen.“
„Was wohl daran liegt, dass Sie ein Fremder sind, dem ich nicht direkt in den ersten Sekunden meine Lebensgeschichte auf die Nase binde!“, antworte ich fassungslos.
„Ich wollte bloß höflich sein und mich unterhalten.“
„Wunderbar – ich aber nicht.“
Ich entriegle das Auto und reiße schwungvoll die Tür auf, ehe ich mich hinter das Lenkrad setze. Eigentlich war mein Plan, mir noch ein wenig die Beine zu vertreten.
Dank dieses neugierigen Spinners will ich aber gerade einfach nur weg.
„Sind Sie auf der Flucht oder so? Was wollen Sie mit dem ganzen Zeug?“
Er deutet mit dem Daumen zu den voll beladenen Rückbänken und sieht mich mit neutraler Miene an, als wäre es ganz normal, eine dahergelaufene Bekanntschaft so etwas zu fragen.
„Sie sollten sich dringend Hilfe suchen. Oder eine Frau.“
Damit lasse ich ihn stehen und fahre von dem Parkplatz herunter. Meine Reifen drehen leicht durch, denn obwohl er nicht gerade gefährlich wirkte, muss ich zugeben, dass mich sein absonderliches Verhalten nervös werden ließ.
Eine Querstraße weiter lasse ich die Fenster herunter und drehe das Radio etwas lauter.
Jetzt heißt es: fünf Stunden noch rumkriegen und dabei wachbleiben.
Graham County steht auf dem blauen Eingangsschild des Countys, an dem ich vorbeifahre.
Vor mir liegt nichts weiter, als die Straße und die pure Natur. Das Sonnenlicht wird durch die zahlreichen Baumkronen abgedämpft und sattes Grün strahlt mir entgegen.
Nach ein paar Metern habe ich freien Blick auf einen imposanten Staudamm. Das Wasser von dort fließt in einen Fluss, der um einen Berg herumfließt. Auch hier ist nichts außer Mutter Erde zu sehen.
Und so, wie sich das Sonnenlicht nun auf der Wasseroberfläche bricht, überkommt mich der Drang, dort hineinzuspringen und mich treiben zu lassen.
Ich merke bereits jetzt, wie ich deutlich ruhiger werde und den Stadtstress hinter mir lasse.
Nicht ein einziges Auto kommt mir entgegen, weshalb ich das Fenster an der Fahrertür noch weiter herunterlasse.
Ich sauge die klare Luft in meine Lungen und lausche den Geräuschen der Natur, die hier viel intensiver sind, als noch vor ein paar Stunden in Indianapolis.
Fröhlich pfeife ich vor mich hin und versuche, diesen Neustart zu akzeptieren, obwohl es tief in meinem Herzen sticht.
Denn es fühlt sich an, wie ein Magnet, der mich mit aller Macht zurück in meine Heimat Memphis ziehen will.
Aber ich habe mir geschworen, dass ich nicht mehr dorthin zurückkehren werde.
Es ist besser so.
Ich habe viel zu große Angst davor, dass Wunden, die gerade beginnen zu heilen, wieder aufgerissen werden und stärker bluten, als jemals zuvor.
Schade, dass ich ab jetzt Amber nicht spontan auf einen Kaffee einladen kann oder wir eine Runde shoppen gehen.
Ich werde herausfinden, was man in North Carolina alles anstellen kann und dann werden wir uns austoben.
Es wird ohnehin für sie viel schöner sein, mich hier zu besuchen – weil es wie Urlaub sein wird.
Das ist es, was ich mir momentan einrede.
Wieder liegt eine lange Landstraße vor mir, mit nichts, außer weiten Feldern und Wiesen.
Die Strecke zieht sich ewig und doch sauge ich wieder ihren Anblick in mir auf und versuche weiter, die Ruhe in mir zu finden und irgendwie ein Gefühl von Ausgeglichenheit zu erlangen.
Das ist jetzt mein Zuhause.
Mein Zuhause.
Zuhause.
Das trichtere ich mir während der Fahrt immer wieder ein.
Es ist ein Neuanfang – egal, wo dieser mich hinführen mag.
Das nächste Schild erscheint – aufgestellt auf zwei Holzsockeln.
Weiß mit blauer Schrift: Robbinsville.
Ich habe mein Ziel so gut wie erreicht.
Erneut mündet die Strecke in ein Waldgebiet, welches schnell wieder abflacht, als auf der linken Seite ein riesiger See auftaucht.
Ich halte am Straßenrand und steige aus, denn der Ausblick sowie Anblick, der sich mir gerade bietet, ist atemberaubend.
Ich frage mich, wieso wir Onkel Clayton hier oben nie besucht haben.
Es könnte wirklich sein, dass das hier ein Ort ist, in den ich mich verlieben werde.
Auf dem See treiben zwei Hausboote.
An der gegenüberliegenden Seeseite reihen sich mehrere gelbe Eigenheime aneinander.
Jedes von ihnen hat einen eigenen Steg, welcher raus auf das Wasser führt.
Das muss das Dorf sein, von dem Clayton gesprochen hat.
Er hat gesagt, dass mir die gelben Häuser auf der Fahrt direkt ins Auge stechen werden und er hatte recht.
Eines davon gehört ihm und direkt überlege ich, ob ich neben dem Laufen auch das Schwimmen für mich entdecken könnte.
Jeden Morgen eine Runde durch den See, bevor das Leben um mich herumerwacht, wäre sicherlich auch wohltuend.
Ich lasse meine Gedanken kreisen, während ich noch einen Moment den See beobachte, doch ich werde abgelenkt, als mehrere Motorengeräusche an mein Ohr dringen.
Ich drehe mich um und sehe die Straße auf und ab, aber immer noch ist weit und breit kein Auto zu sehen.
Wieder ertönen rasante Geräusche und verklingen im Wind.
Ich bin mir sicher, dass sie aus dem Wald von der anderen Straßenseite kommen, weshalb meine Neugier mich über den Asphalt treibt.
Ich schiebe mich durch die engstehenden Bäume und gerate ins Straucheln, als ich eine Wurzel am Boden übersehe.
Stolpernd taumle ich noch ein paar Schritte vorwärts, ehe ich auf der Erde lande und mit den Händen in den Dreck stürze.
Ein stechender Schmerz zieht durch mein Knie, welches ich mir ebenfalls an einer herausragenden Wurzel aufschürfe.
„Super gemacht, Mia.“, murmle ich und setze mich auf meine vier Buchstaben.
Ich klopfe den Dreck von meinen Händen, die auch einige Kratzer abbekommen haben und begutachte mein Knie.
Eine dünne Blutspur läuft an meinem Unterschenkel herunter.
Die Wunde sollte unbedingt gereinigt werden, bevor noch irgendwas Schlimmes passiert.
Als Kind ist man ständig hingefallen und hat sich die Knie aufgeschlagen, doch nach einer Horrorstory von meiner Tante vor ungefähr zehn Jahren, die ihren Arm amputiert bekam, wegen einer Wunde an ihrem Ellenbogen, die sie sich an einer Kellerwand zugezogen hatte, bin ich etwas paranoid.
Die Motorengeräusche sind immer noch nicht verklungen und ertönen nun etwas lauter.
Als ich aufblicke, erkenne ich durch die Baumkronen zwei Flutlichter und eine große rotweiße Flagge, mit einem blauen Streifen und dem Wappen von North Carolina, die im Wind weht.
Ich rapple mich wieder auf und gehe etwas vorsichtiger durch den Wald, bis ich an einen Zaun komme, der mir den weiteren Weg versperrt.
Und endlich erkenne ich das Mysterium der lauten Fahrzeuggeräusche, denn mitten in diesem Nirgendwo befindet sich eine Rennstrecke.
Verschiedenfarbige NASCAR-Autos mit bunten Werbungsaufschriften fahren um die Wette und in Sekundenschnelle fahren sie an mir vorbei, kaum habe ich sie mit dem Auge erfasst.
Ich habe schon mal gehört, dass die Appalachen dafür bekannt sein sollen, dass dieser Rennsport betrieben wird, aber ich meine auch zu wissen, dass die größte Rennsportcommunity sich in Daytona Beach befindet.
Irgendwie gefällt es mir, so etwas an einem ruhigen Ort, wie diesem hier zu finden.
Es ist außergewöhnlich.
In Memphis gab es lediglich Rennen mitten auf der Straße. Unschuldige Menschenleben wurden mit hineingezogen.
Definitiv nichts, was man sich gerne ansehen möchte.
Ich schleiche langsam wieder zurück zu meinem Wagen und hoffe inständig, nicht wieder irgendwas auf diesem Waldboden zu übersehen.
Dann fahre ich den Rest der Strecke und umrunde den großen See, ehe ich einen bunten Torbogen passiere, der direkt zu der Siedlung führt, in der mein Onkel mit seinen Kindern lebt.
Kinder, die gar keine Kinder mehr sind, denn Fiona und Fynn müssten mittlerweile um die Mitte Zwanzig sein.
Ich parke vor der Hausnummer 13 und stelle mein Auto direkt hinter dem weißen Chevrolet Silverado meines Onkels ab.
Gerade als ich aus dem Auto aussteige und mich noch einmal ausgiebig strecke, kommt aus dem Garten eine junge Frau durch das seitliche Tor.
Sie trägt blonde Haare in Boblänge sowie sportliche Kleidung. Sie sieht mich nicht, denn sie ist gerade damit beschäftigt, ihre Kopfhörer mit ihrem Smartphone zu verbinden.
„Fiona? Bist du das?“, frage ich sie, denn auch, wenn es bestimmt zehn Jahre her ist, dass ich Claytons Kinder gesehen habe – sie sieht aus, wie immer. Nur erwachsener.
Irritiert blickt sie auf und runzelt die Stirn.
Es dauert einige Sekunden, ehe sich ihr Gesicht aufhellt.
„Oh mein Gott. Mia?“, hakt sie nun ebenfalls nach und kommt auf mich zu.
„Hey Süße. Ist eine Ewigkeit her, was?“, schmunzle ich und sie fällt mir einfach um den Hals.
Es ist ebenso eine Ewigkeit her, dass mich jemand so überschwänglich begrüßt hat.
„Wow, toll siehst du aus. Ich dachte, du würdest später kommen.“ Noch einmal mustert sie mich strahlend.
„Ich bin relativ gut durchgekommen. Und demnach hundemüde.“
„Und was ist mit deinem Bein? Gott, du blutest.“, fällt ihr nun auf.
„Das passiert, wenn man zu neugierig ist und durch fremde Wälder pirscht, aber alles in Ordnung.“
„Okay, also. Ich wollte eigentlich gerade eine Runde laufen gehen. Dad ist mit dem Transporter beim Großmarkt und Fynn beim Training. Sorry, es ist wie immer etwas unorganisiert bei den Hooverts.“, lacht sie peinlich berührt.
„Aber ich zeige dir, wo du dich häuslich einrichten kannst.“
Fiona läuft zurück zum Garten und winkt mich mit sich.
Sofort fällt mir auf, wie gepflegt die Beete und Grünflächen sind. Das war schon immer Onkel Claytons Steckenpferd.
Er hat sich früher immer über meine Mum lustig gemacht, dass in unserem Garten die Pflanzen ständig erneuert werden mussten, weil sie einfach keinen grünen Daumen hatte.
Wir laufen an einer wunderschön angelegten Feuerstelle vorbei sowie einer großen Terrasse.
Kurz bevor man auf den Steg läuft, steht direkt links daneben eine kleine Scheune.
„Die obere Etage der Scheune ist ausgebaut. Wir haben sie für dich hergerichtet. Keine Sorge, wir nutzen die Scheune nur für Gartengeräte. Dich blöken morgens keine Schafe wach.“
Lachend gehen wir die Außentreppe hinauf, ehe Fiona die Tür aufschließt.
Ich werde von einem helleingerichteten, großen Raum empfangen.
„Du hast eine kleine Küchenzeile, mit allem Nötigen, was man so braucht, aber du bist natürlich bei uns im Haus herzlich willkommen. Zu jeder Mahlzeit und natürlich auch für alles andere. Wir dachten nur, dass du sicherlich aus dem Alter raus bist, dir mit irgendwem ein Zimmer zu teilen.“, scherzt sie erneut.
„Danke, es ist wirklich..perfekt.“
Denn perfekt ist auch der Blick durch die doppelflügige Balkontür – direkt auf den großen See.
„So eine verdammte Scheiße!“, fluche ich, während ich zurück in die Box fahre.
Noch einmal schlage ich gegen das Lenkrad, bevor ich aussteige.
„Hey, beruhige dich. Das kann passieren.“, kommt unser Jackman Gale auf mich zu.
Der Jackman ist beim Boxenstopp während des Rennens eigentlich dafür da, den Wagen manuell nach oben zu pumpen, aber während des Trainings ist Gale unser KFZ-Mechaniker.
„Nein, das kann nicht passieren. Schon gar nicht im Training. Guck dir meinen Wagen an.“
Seit zwei Wochen haben wir einen neuen Teamkollegen – Chris.
Er ist aus Daytona Beach hierher gezogen.
Etwas, was niemand von uns versteht.
Denn, wenn ein NASCAR Fahrer irgendwo hin will, dann nach Daytona Beach, wenn er es geschafft hat, sich für das Daytona 500 zu qualifizieren.
Das größte Rennen der NASCAR Cup Series.
Das Rennen ist sozusagen der Super Bowl in unserer Branche.
Wenn man es dort hinschafft und dann auch noch gut abschneidet oder im besten Fall den Pokal nach Hause holt, hat man alles erreicht, was man im Rennsport erreichen kann.
Und seinem Fahrverhalten nach zu urteilen, ist er dort sicherlich aus seinem Team rausgeflogen.
Angeblich ist er mit seiner Freundin nach North Carolina gekommen, weil sie sich beruflich umorientiert hat.
Aber welcher NASCAR Fahrer würde freiwillig das aufgeben, was er hatte oder hätte haben können?
„Sieh dir mein Baby an.“
Alles, was meinen dunkelblauen Ford Mustang betrifft, trifft mich mitten ins Herz.
Ich habe Ewigkeiten auf diesen Wagen gespart, damit ich endlich meiner Leidenschaft nachgehen kann.
Nun hat er hinten eine große Beule, der Scheinwerfer ist zersplittert – selbst der Heckspoiler hat sich an der linken Seite gelöst.
Chris hat eine Kurve zu eng genommen und ist nicht vom Gas gegangen – das Resultat steht vor mir.
Er hat meine komplette hintere Ecke mitgenommen.
Nicht mal seine Hand hat er zur Entschuldigung gehoben, sondern ist einfach weitergefahren.
„Ich schlage vor, du beendest das Training für heute. Und heute Abend sieht der Wagen wieder aus, wie neu.“
Mit seiner öligen Hand klopft Gale mir auf die Schulter, bevor er sich direkt meinem Wagen widmet.
Ich gehe durch das hintere Tor der Garage und laufe über den abgesperrten Bereich.
Einige andere des Teams fahren ebenfalls in ihre Boxen.
Fynns Auto steht in seiner Garage, doch er ist nirgends zu sehen.
Ich laufe auf unsere große Pausenhalle zu, während ich den Lederoverall an seinem Reißverschluss öffne und aus den Ärmeln schlüpfe.
Schon am Morgen ist es echt warm und kaum in dem Synthetikding auszuhalten.
Ich lasse den oberen Teil einfach hinabhängen und betrete oberkörperfrei die Halle.
„Na, Hübscher. Wen willst du denn aufreißen?“, pfeift Fynn, der mit einem Sandwich an einem der Tische sitzt – ebenfalls oberkörperfrei.
„Das Gleiche könnte ich dich auch fragen.“
Kurz zeige ich auf seine Gestalt, bevor ich mir aus dem Snackautomaten ebenfalls ein pappiges Sandwich und eine Coke ziehe.
„Du weißt, dass ich Sofia habe. Ich brauche niemanden aufreißen.“
„Ach, ist es also doch so ernst mit euch?“ Mit einer hochgezogenen Braue sehe ich zu ihm herüber.
„Nein, eigentlich nicht. Aber ich glaube, dass sie das denkt.“
Ich setze mich zu ihm und muss mal wieder über meinen Freund lachen.
Es ist immer das Gleiche mit ihm und den Frauen.
„Hast du ihr gesagt, dass du nichts Festes suchst?“
„Spinnst du? Dann sucht sie sich doch einen anderen. Man, wenn du wüsstest, wie sie das anstellt, wenn sie oben ist. Wirklich perfekt.“, schwärmt er mir vor und beißt herzhaft in das Sandwich.
„Und am Ende bist du wieder der Penner, weil sie sich verliebt und dich mit einer anderen erwischt.“
„Ich mag es nun mal, hier und da zu naschen.“
Heiser lache ich auf.
„Das ist auch in Ordnung, Fynn. Solange du die Karten vor allen Beteiligten offen legst.“, ermahne ich ihn, allerdings mit einem leicht belustigten Unterton.
„Du bist so ein Grandpa, Weston.“, motzt er nun.
„Ich wusste nicht, dass Ehrlichkeit nur ein Attribut von älteren Menschen ist“, ziehe ich ihn auf.
Ich treibe es auch gerne mit verschiedenen Frauen – eben so, wie ich gerade Lust habe.
Aber jede von ihnen weiß, dass ich meistens nur was Lockeres will.
„Ja okay, okay. Ich werde es ihr sagen. Zufrieden?!“
„Denk an das Barbecue heute Abend. Wir beide wissen doch, dass du wieder irgendeine aufreißt und dann gibt’s wieder nur Theater.“
Das Barbecue findet einmal im Jahr mitten auf unserer Rennstrecke statt und entpuppt sich jedes Mal als beste Party, die man in Robbinsville finden kann.
„Habe verstanden, großer Meister. Ich kläre das mit Sofia. Gleich nach dem Training.“, antwortet Fynn ironisch.
Sein Handy klingelt und genervt zieht er es aus seiner Tasche.
„Ich wette, ihr haben die Ohren geklingelt, weil wir über sie
geredet haben. Dann kannst du sie gleich darauf vorbereiten.“
Theatralisch verdreht er die Augen und wirft einen Blick auf den Display.
„Ich muss dich enttäuschen – es ist meine Schwester.“
Siegreich lächelt er, bevor er das Gespräch annimmt.
Währenddessen scrolle ich durch mein eigenes Handy und checke den Trainingsplan für nächste Woche.
Es steht ein Proberennen gegen das Team aus Greensboro an. Sie haben sich ebenfalls qualifiziert, dass Plätze aus ihrem Team für das Daytona 500 vergeben werden – genau wie bei uns. Insgesamt gibt es fünf Plätze zu vergeben.
Wer das sein wird, steht allerdings noch nicht fest.
Ich werde alles dafür tun, dass ich einen Platz bekomme.
Und Fynn hoffentlich auch.
„Okay, scheiße. Ich muss los. Meine Cousine ist da.“, platzt es plötzlich aus Fynn heraus.
„Cousine?“
„Ja, sie ist aus Memphis hierhergekommen und wohnt jetzt bei uns.“
„Und ist sie heiß?“, hake ich nach, was ihn direkt zum Lachen bringt.
„Vielleicht ist sie heiß. Und Fünfunddreißig. Also, vergiss es, Weston.“
Er steht auf und schmeißt seine leere Verpackung in den Müll, bevor er seine restliche Coke leert.
„Warte mal. Fünfunddreißig? Wieso zieht sie dann bei euch ein? Und dann kommt sie auch noch aus Memphis.“
Es ist die gleiche Stadt, in der ich noch vor sieben Jahren gewohnt habe.
Vermutlich verschlägt einen nicht einfach irgendwas an den Rand der Appalachen – es sei denn, man will Ruhe und Abgeschiedenheit, obwohl der Schein hier manchmal trügen kann oder aber man kommt beruflich hierher – wie ich.
„Lange Geschichte, aber ihre Mum ist vor Kurzem gestorben. Ihr Vater ist schon seit einigen Jahren tot und Dad hat ihr angeboten, dass sie herkommen kann, wenn sie einen Neuanfang braucht. Tja, jetzt ist sie hier und ich hab’s total verschwitzt. Es ist schon ewig her, dass ich sie gesehen habe.“
„Wow..das klingt hart.“
Direkt durchfährt mich ein Stich, denn nach wie vor leben meine Eltern in Memphis.
Es ist nun einmal nicht der beste Ort in den USA.
Es ist kriminell.
Schmutzig.
Gefährlich und eben doch mein wahres Zuhause.
Der einzige Grund, weshalb ich mich etwas beruhigt fühle, ist, dass meine Eltern sich aktuell eine Auszeit in der Karibik gönnen.
Sicherlich liegen sie gerade in der Sonne und schlürfen Cocktails aus Kokosnüssen.
„Bring sie doch heute Abend zum Barbecue mit. Wenn ich mir das so anhöre, kann sie sicherlich etwas Spaß gebrauchen.“
Gestresst fährt Fynn sich durch die Haare.
„Komm schon, Wes. Du wirst keine Chance bei einer zehn Jahre älteren Frau haben. Ich weiß nicht einmal, ob sie einen Partner hat.“
„Also erstens, ich meinte nicht diese Art von Spaß, sondern einfach nur, dass sie offensichtlich etwas Ablenkung gebrauchen könnte. Und zweitens, wenn sie einen Partner hätte, wäre sie sicherlich in seinen tröstenden Armen und nicht hunderte Kilometer weit weg von Zuhause, meinst du nicht?“
„Na, schön. Ich werde sie fragen, aber ich kann mir vorstellen, dass sie sich erst einmal von der langen Fahrt erholen muss.“
Fynn hält mir seine Faust hin, gegen die ich meine drücke.
Anschließend verlässt er die Halle. Ich nutze die Gelegenheit, um meine Eltern per Video anzurufen.
Nach dem zweiten Klingeln hebt meine Mum ab und sofort entfährt mit ein lautes Lachen, als sie tatsächlich mit einer Kokosnuss in der Hand auf einer Liege in der Sonne liegt.
„Hallo Schatz. Alles in Ordnung?“
„Ich wollte nur mal sehen, was ihr so macht.“
Meine Mum schwenkt die Kamera herüber und ich sehe, wie Dad mit einer Luftmatratze auf dem Meer treibt.
„Uns geht es hier gut. Dein Dad hat einen furchtbaren Sonnenbrand und trotzdem liegt er ewig auf diesem Plastikding und schläft in der Sonne.“, flucht meine Mum.
„Also alles wie immer, was?“, lache ich.
„Da sagst du was. Sturer alter Bock. Was macht das Training? Müsstest du nicht mittendrin sein?“
„Kleiner Unfall. Gale kümmert sich gerade um den Wagen.“
„Aber dir ist doch nichts passiert, Schatz. Oder?“
„Alles bestens, Mum.“
„Okay, Wes. Ich muss jetzt auflegen. Der Strandyogakurs fängt in zwei Minuten an. Pass auf dich auf.“
„Ihr auch auf euch.“
Lachend laufen Fiona und ich zurück zum Haus.
Anstatt meine Taschen auszupacken, habe ich direkt die Gelegenheit beim Schopf gepackt und bin zusammen mit ihr laufen gegangen.
Wir haben den gesamten See umrundet und waren knapp zwei Stunden unterwegs.
Und trotz der ganzen vergangenen Zeit, in der ich gefühlt eins geworden bin mit meiner Matratze, habe ich nicht schlappgemacht.
Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so glücklich gefühlt habe, wie heute.
Nicht nur, dass ich mein altes Hobby aufgegriffen habe – ich fühle mich direkt ausgeglichener.
So, als wäre der Stress der letzten Wochen von meinen Schultern gefallen.
Diese Runde werde ich am morgigen Tag erneut angehen. Nicht unweit vom Hauseingang entfernt, führt ein Trampelpfad in den Wald hinein, der einen automatisch um den See herumführt. Die Aussicht, die man trotz der ganzen Bäume immer wieder auf das Wasser hatte, war atemberaubend.
Gerade, als wir aus dem Waldstück herauskommen und uns dem Vorgarten nähern, kommt ein roter Mustang röhrend die Einfahrt hinaufgefahren und hält vor den Garagen.
Ein hochgewachsener Mann mit sportlicher Figur, gekleidet in einen Rennanzug, steigt aus dem Wagen.
Ein strahlendweißes Lächeln empfängt mich, als er auf uns zugelaufen kommt.
„Das ist doch nicht etwa dein Bruder, oder?“
„Doch, ist er.“
Es ist wirklich verrückt, wie die Zeit so spielt.
Wie Menschen sich in wenigen Jahren verändern können und plötzlich erwachsen sind.
„Also, trotz unserer Verwandtschaft muss ich sagen –
attraktiver Kerl.“, raune ich Fiona zu, als Fynn vor uns stehen bleibt.
