Thekenwelt - Erster Gang Apéritif pour trois - Violet Mascarpone - E-Book

Thekenwelt - Erster Gang Apéritif pour trois E-Book

Violet Mascarpone

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Beschreibung

Die Freunde Tornado und Kai sind geborene Gegensätze und lieben sich, ohne es auszusprechen. Im Grunde stellen sie das ideale Paar dar. Blöd nur, dass beide auf dem devoten Ende der Wippe sitzen. Gemeinsam schlagen die beiden jungen Männer sich durch ihr Leben, das sich zwischen ihrem ärmlichen Wohnviertel und einer nicht ganz so eleganten SM-Bar, namens Schwarze Rose abspielt, in der sie als Thekenkräfte ihr Geld verdienen. Als Tornado den schwerreichen Koch Biscuit Moody kennenlernt, ändert sich das Leben der beiden Freunde schlagartig. Die drei finden sich in einer Beziehung wieder, in welcher der Küchenchef den Ton angibt. Gay BDSM Romance

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Seitenzahl: 432

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Violet Mascarpone

Thekenwelt

Erster Gang

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2013

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover:

Raum: Helle Interior 3D Render, Boris Rabtsewich 123rf.com Gestaltung: O. Kiel art und work/ Violet Mascarpone

1. Auflage

ISBN 978-3-943678-92-5 (print)

Thekenwelt

Es war später Nachmittag und Tornado fegte hektisch über die dreckigen Einlegeteppiche der kleinen Wohnung, deren apartes Muster eine Mischung aus Alkohol, Blut, Urin und Sperma bildete, stolperte fast über ein paar leere Wodkaflaschen und fluchte wütend. Wo war seine Jacke?

Das Klingeln an der Wohnungstür ließ Tornados Mutter, die auf dem Sofa in einen halb komatösen Schlaf gefallen war, mit schwerer Zunge schimpfen. Er öffnete, ohne hinzusehen. Er wusste, es war Kai, der ihn abholte.

Tornado verriegelte seine Zimmertür. Der einzig saubere Ort in der Wohnung sollte genauso bleiben, wie er war.

„Beeil dich, wir sind spät dran!“, trieb der schwarzhaarige Junge ihn an, und Tornado presste die Lippen aufeinander. Verdammt, als ob er das nicht selber wüsste!

Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und sie flogen sechzehn Etagen des schmuddeligen Treppenhauses hinunter. Der altersschwache Fahrstuhl war schon seit Jahren außer Betrieb. Vielleicht war er gar nicht erst angeschlossen worden, als sie das Mietshaus errichtet hatten.

Als sie ins Freie traten, atmeten sie auf. Das Haus übte auf die beiden gleichermaßen eine bedrückende Wirkung aus, die zu vertraut war, um sie noch bewusst wahrzunehmen.

„Und alles klar?“

„Hmm.“ Kais übliche Antwort. Das bisherige Leben hatte die ohnehin ruhige Natur seines Freundes, der zu still und zu sanft war, um hier alleine überleben zu können, fast völlig zum Verstummen gebracht. Einzig Tornado konnte ihm die Worte entlocken, die ansonsten ungesagt in ihm versiegten.

Tornado zog sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und setzte sein gefährliches Gesicht auf. Er schlug zu, wenn es sein musste. Und wenn er gezwungen war, auch sehr oft und sehr hart. Es war Kais Glück, ihn an seiner Seite zu haben, denn in dieser Gegend war es ein nicht zu leugnender Nachteil, schwul zu sein und auch noch so auszusehen. So liefen sie schweigend nebeneinander, die Fäuste in den Taschen geballt, um dem eisigen Wind des frühen Herbstabends zu trotzen.

Das Schild vor dem Eingang des Clubs flackerte vertraut. Die Schwarze Rose war weniger glanzvoll, als ihr Name es versprach. Eine lange Theke, zwanzig Tische, eine kleine Bühne und ein paar abschließbare Zimmer im ersten Stock, deren Benutzung zusätzlich kostete, beschrieben die wesentliche Einrichtung des SM-Lokals. Keines der schicken Sorte, in denen sich schöne Menschen aufwändig kleideten und zur Schau stellten. Hier trafen sich diejenigen, die in der Gegend wohnten, ein Alkoholproblem, aber wenig Geld hatten, um mit teuren Drinks in der Hand auf irgendjemanden zu warten, der ihre geheimen Leidenschaften erfüllte. Paare sah man selten. Im Laufe der Zeit lebte die Schwarze Rose von ihren Stammtrinkern, fröhlichen Perversen und Schaulustigen, die sich hierher verirrten.

Tornado und Kai waren drei Mal die Woche für die Theke verantwortlich. Ihr Chef hieß Sandy, aber wurde allgemein nur Boss genannt. Nicht nur von seinen Angestellten. Er schimpfte vor sich hin, als die beiden die Tür aufschlossen, sah auf und verzog genervt die Mundwinkel. „Dass ihr einmal pünktlich seid, werde ich wohl nicht mehr erleben“, knurrte er, eine Zigarette im Mundwinkel, während er seine Bücher durchsah. „Ihr seid die reinsten Landplagen!“

„Wir öffnen erst in einer Stunde, also stell dich nicht so an“, maulte Tornado zurück, während Kai gleichzeitig beteuerte: „Tut uns echt leid.“

Boss winkte ab. Er mochte die beiden, wie sie wussten. Sie waren zuverlässig, verdammt schnell und er vertraute ihnen blind. Wenn es sein musste, blieben sie länger und nur Tornado bestand regelmäßig auf Überstundenabrechnungen.

„Beschwer dich doch bei der Gewerkschaft für Schwarzarbeiter“, erwiderte Boss dann honigsüß, denn er verstand es, seine Kohle zusammenzuhalten.

Die Tür schwang auf und Huna betrat die Kneipe. Huna war die Köchin und führte die Herrschaft über die wenigen Snacks, die auf der Karte der Schwarzen Rose angeboten wurden.

„Oh, auch schon da!“, flötete Boss ironisch und Huna sah ihn an, als wäre er ein Stück Dreck. Ihre schlechte Laune war legendär. Kaugummi kauend steckte sie sich die Knöpfe ihres Players in die Ohren, der von allen als eine Art ausgelagertes Körperteil der Zwanzigjährigen betrachtet wurde, und schnitt sich von den Geräuschen der Außenwelt ab. Lahm die Hand hebend grüßte sie die beiden Jungen und verzog sich mit träge wippendem Pferdeschwanz in die Küche. Der Rest der Belegschaft, der aus weiteren Perversen bestand, würde bald eintrudeln. Boss’ Voraussetzung, um für ihn zu arbeiten, beinhaltete nicht nur, die miese Bezahlung willig in Kauf zu nehmen, sondern auch eine seinem Club entsprechende Neigung in sich zu tragen. „Wenn ich hier schon nicht die besten Shows oder Sterneküche biete, sollen meine Kunden jedenfalls wissen, dass niemals irgendeine Thekenschlampe hinter ihrem Rücken über sie herzieht oder sie wie Zootiere ansieht.“ Boss war der felsenfesten Überzeugung, als Berufsperverser die bessere Wahl getroffen zu haben, als der überwiegende Teil der Bevölkerung, lebte seine Leidenschaften unbekümmert aus und stand für sich und seine Interessen ein, wenn irgendjemand ihm dumm kam. Das schätzte er auch an Tornado: Seine Thekenkraft war gerade heraus und scherte sich einen Dreck um das Gerede anderer.

Als die beiden ihn um einen Job baten, hatte er sie zunächst für ein zuckersüßes Pärchen gehalten. Der Blonde vermutlich dominant und der Dunkelhaarige … nun ja. Es war offensichtlich. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass weder das eine noch das andere stimmte. Beide waren Bottoms und kein Paar. Innerlich hatte er geseufzt. Der Selbstbewusste würde es schwer haben mit seiner hervorpreschenden, sich widersetzenden Art. Er stellte genau die Art Komplikation dar, die der durchschnittliche Top wenig schätzte.

Kai und Tornado banden sich die Schürzen um die Taillen, checkten ihre Portemonnaies, die sie an langen Ketten an den Fronttaschen befestigten, und begannen mit routinierten Händen die Maschinen vorzubereiten, Zapfhähne zu öffnen, Fässer aus dem Lagerraum zu wuchten und Gläser in Griffweite zu platzieren.

Tornado warf Kai einen raschen Seitenblick zu. Das blaue Auge, das ihm ein Wichser Anfang der Woche verpasst hatte, dem nicht bewusst gewesen war, zu wem Kai gehörte, hatte ein ungesundes Gelb angenommen, das die Feinheit seines Gesichtes kontrastierte. Wäre er weniger hübsch, dann hätte er auch weniger Probleme, dachte Tornado unzufrieden.

Sie hatten sich auf dem Dach des Wolkenkratzers kennengelernt, der ihr Zuhause war.

Wenn die Nächte in seiner Wohnung zu unerträglich, die Freier zu stürmisch und die Schreie zu laut wurden, schnappte Tornado sich seinen Schlafsack, um sich in die Stille des Daches zu flüchten. Vorausgesetzt, es herrschten keine Minustemperaturen.

Als er eines Abends die Ruhe suchte, die er in der beengten Wohnung nicht fand, stutzte er und war fast empört, weil ein anderer auf dieselbe Idee gekommen war. Verdammt, das war sein Dach! Seine Ruhe!

Ängstlich lugten die schwarzen Augen aus dem Schlafsack hervor und anstatt ihn wie geplant zu vertreiben, fragte Tornado mürrisch: „Was machst du denn hier?“

„Ich … meine Eltern streiten … das Übliche …“

„Ah verstehe, er verwichst sie wohl gerade“, sagte Tornado, als unterhielten sie sich über das Wetter.

„Nein, nicht direkt … sie verprügeln sich eigentlich gegenseitig …“, hörte er die zaghafte Stimme des anderen durch das Dunkel dringen.

„Auch gut.“ Tornado ließ sich neben den Jungen plumpsen, der erschreckt zurückzuckte.

„Wie heißt du?“

„Umm … Kai.“

„Komischer Name für ein Mädchen.“ Er hatte nur einen billigen Spaß machen wollen und freute sich grinsend an seinem fantastischen Humor, bis er den finsteren Blick einfing, der ihn unvermutet traf. „Ist nicht das erste Mal, dass jemand ’nen schlechten Witz über dich macht, was?“

Der andere wendete sich ab und gab keine Antwort. Tornado seufzte. Jedenfalls gehörte Kai nicht zu der Sorte, die seine ständige Alarmbereitschaft weckte. Vielleicht konnte er das Dach hin und wieder mit ihm teilen, ohne kotzen zu müssen. Sein Blick fiel auf den Comic neben dem Schlafsack. „Cool, du magst Lilac Mad Boom!.“

Interessiert drehte der schwarzhaarige Kopf sich zu ihm und anstatt zu schlafen lagen sie in ihre Schlafsäcke gehüllt nebeneinander und redeten die ganze Nacht über Comics, Filme und Musik.

Kai musterte den quirligen, redenden Jungen mit den hellen Haaren, der selbstbewusst die kuriosesten Theorien in den Raum stellte, dabei vollkommen entspannt da lag und mit ihm sprach, als wäre er nicht Kai, sondern jemand, den man gerne haben konnte. Fasziniert beobachtete er die blauen Augen sprühen und die eloquente Mimik, die sich um keinerlei Zurückhaltung bemühte, und spürte, wie er langsam begann, sich weniger ängstlich als sonst zu fühlen.

Nachdem sie einen ziemlich miesen Horrorfilm in Expertenmanier abgehandelt hatten, verstummten sie. Sie sahen einem Flugzeug nach, das aufgrund seiner Höhe langsam über ihren Köpfen flog und unvermittelt stellte Tornado nachdenklich fest: „Muss ein Fluch sein, wenn jeder sofort sieht, dass man schwul ist.“

Kai wurde rot und ärgerte sich. Er war froh, eine Zeitlang nichts über das Thema gehört zu haben. „Ich habe es mir nicht ausgesucht. Wenn du Angst hast, ich bin ansteckend – das Dach ist groß genug!“

„Phhh“, schnaubte Tornado verächtlich, „dir fehlt nur das nötige Selbstbewusstsein. Machs wie ich und hau drauf, wenn dir jemand damit blöd kommt.“

Kai weitete die Augen überrascht, als er die Botschaft hinter den Worten begriff, dann senkte er den Blick. „Ich kann so was nicht so gut.“

Tornado seufzte. „Würde es dir helfen, wenn ich es dir einprügele?“

„Glaub nicht“, erwiderte Kai bedauernd.

Ihr Gespräch ebbte ab und sie wechselten nur noch wenige Worte, bevor der Schlaf sie übermannte.

Das lag zwei Jahre zurück, und seit diesem Abend war Tornado an Kais Seite. Und egal, wie schnell Kais Herz schlug, wenn er seinen wilden, angriffslustigen Beschützer sah, würde er nie etwas unternehmen, um die erste Freundschaft, die er zwischen Waschbetonhäusern fand, zu gefährden.

Tango, die Nummer-Eins-Bedienung, betrat den Laden. „Hi Boss, hi ihr beiden.“ Er zog sich einen Barhocker unter den Hintern und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Theke, als hätte er bereits zehn Stunden schwer gearbeitet.

„Macht einer von euch mir einen Kaffee?“

Kai drehte sich zur Kaffeemaschine, um sie sprotzelnd in Gang zu setzen.

„Und wie läuft’s?“

„Bei dir?“, fragte Tornado zurück, mit der knappen Rückantwort signalisierend, dass alles beim Alten war.

„Ich habe jemanden kennengelernt!“

Boss trat auf sie zu. „Dich will jemand?“, frotzelte er. „Lasst die Korken knallen!“

„Ach halt’s Maul, alter Mann. Und – jetzt haltet euch fest – er hat einen Jaguar!“

Interessiert näherte sich Kai.

„Du machst dich nackig für ein Auto?!“, fragte Tornado ungläubig.

„Natürlich nicht“, gab Tango beleidigt zurück. „Ich dachte nur, es wäre ne tolle Sache für euch verblödete Busfahrer. Abgesehen von dir, Kai, du bist einfach nur ein Busfahrer.“

Kai lächelte. Wahrscheinlich, weil er trotz seiner Schweigsamkeit in das Gespräch miteinbezogen wurde, tippte Tornado.

„Sonstige Daten?“

Tango ließ sich nicht zweimal bitten, über seine Neuerrungenschaft zu berichten. Er war ein sehr attraktiver Zweiundzwanzigjähriger, der eigentlich keine Probleme hatte, Kontakte zu knüpfen. Nur sie längerfristig aufrechtzuerhalten. So schnell er sich für jemanden begeisterte, so schnell ebbte die Leidenschaft auch wieder ab. Er suchte die ganz große Nummer. Das ultimative Liebesereignis.

„Ich habe seinen Jaguar gewaschen …“ Er betonte das Wort gedehnt und sah Tornado triumphierend an, „mit Schaum abgespritzt, Unterbodenwäsche, Heißwachs und komplette Innenreinigung.“ Als Zweitjob arbeitete Tango an einer Tankstelle. „Und als ich die Tür öffne, um den Rahmen zu wischen, fragt er mich, ob ich am Wochenende schon etwas vorhabe. Habe ich natürlich nicht. Er ist dreißig, hat braunes Haar, ist ein bisschen größer als ich und lässt sich zurzeit einen Dreitagebart stehen. Er ist der geborene Top! Außerdem sieht er fantastisch aus in Zegna.“

„Was ist denn Zegna?“, fragte Tornado naserümpfend, als handele es sich um eine Krankheit.

„Ein Modedesigner“, klärte ihn Kai mit sanfter Stimme auf. „Sehr teuer.“

„Pff, ich habe genug gehört.“ Tornado lehnte sich gegen die Ablage und schlug sein aktuelles Buch auf. Was Huna ihre Musik bedeutete, waren für Tornado seine Bücher. Er las in jeder freien Minute. Im Gehen, auf der Toilette, in der U-Bahn, vor dem Einschlafen, beim Löffeln seiner Frühstücksflocken, und wenn er keinen befriedigenden Lesestoff fand, konnte er richtiggehend depressiv darüber werden. In seinem kleinen Zimmer stapelten sich seine geliebten Werke bis an die Decke.

Während die drei sich unterhielten, tauchte er in die Geschichte ein. Schule war nie sein Ding gewesen, er war faul, vorlaut und generell an allem desinteressiert, für das er nicht von sich aus Leidenschaften entwickelte. Aber sobald er lesen lernte, waren die Buchstaben zu seinem Privatuniversum geworden, in das niemand eindringen konnte. Er war wahllos. Die bedeutendsten Werke vermochten ihn ebenso zu fesseln wie billiger Schund.

Tornado nahm den ersten Gast aus den Augenwinkeln wahr, stopfte sich ein Handtuch hinter den Schürzenbund und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Art, Kundschaft freundlich zu empfangen. Sie begannen als eingespieltes Team zu arbeiten, während die Bar sich langsam füllte. Kai konnte blitzschnell kopfrechnen, merkte sich jede Bestellung und schien nie auf die Striche auf den Bierdeckeln angewiesen zu sein.

Einem Pärchen servierte er einen Gin Tonic und eine Cola, die er behutsam auf dem Boden vor dem knienden Jungen absetzte, der ein dunkles Halsband trug, dessen Metallring die schummrige orangefarbene Barbeleuchtung blitzend reflektierte.

Tornado, der mit halbem Auge auf Kai achtete, nahm den langhaarigen Gast, der alleine an der Ecke der Theke saß, wahr. Er bohrte seinen Blick in Kai, der die Schultern unbehaglich anspannte. Als Kai ihm eine Piña Colada brachte, berührte er Kais Hand mehr als anzüglich. Kai zog sie weg. Tornados Aufmerksamkeit war geweckt.

„Verkauft ihr hier auch Zigaretten?“

„Draußen ist ein Automat …“

„Super, dann hol mir eine Schachtel Heert.“

Tornado hörte Kai steif antworten: „Ich kann hier nicht weg. Du musst schon selber gehen.“

Der Gast griff über die Barriere nach dem schmalen Handgelenk seines Freundes und umklammerte es. „Gewöhn dich schon mal daran, zu machen, was ich dir sage.“

„Lass mich in Ruhe, Arschloch“, entgegnete Kai auf die Art, wie Tornado so etwas aussprach, aber es gelang ihm nur eine schwache Imitation.

„Ich sehe doch, was dir gefällt.“ Sein Blick fiel auf den abklingenden Bluterguss um Kais linkes Auge.

„Loslassen.“

Ohne Rücksicht auf die Bestellungen, die er mit halbem Ohr aufnahm, war Tornado mit wenigen Sätzen am anderen Ende der Theke. Mit einer schnellen Bewegung bekam er den Hemdkragen des Gastes zu fassen und zog ihn unsanft zu sich. Der Barhocker fiel scheppernd um und Tornado verengte die Augen.

„Finger weg, du ekelhaftes Stück Scheiße. Wenn du dein Mädchengesöff noch länger genießen möchtest, dann merke dir: Fass ihn nicht an, sieh ihn nicht an, geh ihm nicht auf den Sack. Verstanden?“

Der andere wich erschrocken zurück. „Ich ... Sorry, ich wusste nicht, dass er dir gehört.“

Tornado sah rote Sprenkel vor seinen Augen und er begann gefährlich leise zu sprechen: „Er gehört mir nicht. Niemand kann einem anderen gehören. Wann versteht ihr Pisser das endlich mal? Selbst wenn er mein Lover wäre, ist er nicht mein Besitz, wie sehr dein Schwanz sich das auch wünscht. Bottoms sind kein Besitz. Sie gehören niemandem. Sie sind frei. Seid ihr selbsternannten Meister denn alle ein Haufen gehirnamputierter Arschgeigen?“ Nun schrie er fast. Dieses Besitzertumgeschwätz konnte ihn um den Verstand bringen. Ein Grund, warum seine sexuellen Kontakte sich auf wenige lehrreiche Stunden mit Atmos beschränkten, dem jeder Kitsch fremd war. Niemals würde er Besitz sein. Und wer seine Intelligenz mit derartigen Albernheiten beleidigte, sollte sich lieber schnell an all die Klischeemasos da draußen halten.

Er fühlte Boss’ Hand auf seiner Schulter und ließ den Zopfträger langsam los.

„Sorry, der Cocktailjunge ist manchmal ein bisschen impulsiv“, entschuldigte sich sein Chef beschwichtigend bei seinem verblüfften Kunden.

Verärgert zog er Tornado in die Küche. „Du musst aufhören, immer so ein verdammtes Fass aufzumachen, wenn jemand sich deiner Prinzessin nähert! Du vertreibst mir zahlende Kundschaft!“ Er schlug ihm verärgert auf den Hinterkopf.

„Ach“, grummelte Tornado. „Du solltest dem Idioten lieber Hausverbot erteilen. Wir hinter der Theke sind die einzigen armen Schweine, die nicht fliehen können, wenn Zauberlocke scharf auf nen Fick ist!“

Boss schubste ihn aus der Küchentür. „Komm runter und mach deinen Job, Tornado“, verlangte er grimmiger, als er tatsächlich empfand.

Huna schob den Lautstärkeregler auf vierzehn. Scheiß-Gezanke.

Dankbar blinzelte Kai ihn an, als er sich wieder hinter der Theke einfand. Der Abend verlief ohne weitere Unterbrechungen. Als die Küche offiziell geschlossen war, übernahmen Huna und Boss die Arbeit der Jungs, damit sie eine kurze Zigarettenpause auf dem Bürgersteig einlegen konnten. Tango schloss sich ihnen an. Nachdem sie zu dritt ihre Zigaretten hervor gekramt hatten, eröffnete Tango das Gespräch: „Jérôme hat mich nächste Woche zu einer Privatparty eingeladen …“

„Der heißt auch noch Jérôme?“, prustete Tornado.

Tango runzelte die Stirn und antwortete würdevoll: „Richtig. Jérôme hat mich zu einer sehr exklusiven Party eingeladen, wo er mich als sein neues Spielzeug mitnimmt ... und na ja, ich fühle mich komisch dabei. Wollt ihr nicht auch kommen? Ich habe schon gefragt. Ihr seid willkommen.“

Tornado verdrehte die Augen. „Sicher nicht! Glaubst du, ich zieh mir ein bescheuertes Kostüm an, um irgendwelchen degenerierten Arschlöchern beim Bumsen zuzusehen?“

„Du musst dich nicht kostümieren. Schwarz reicht …“, versuchte Tango ihn zu überzeugen. Mit flehendem Tonfall fügte er drängend hinzu: „Kommt schon! Ihr seid doch meine Freunde, oder?“

Kai schaute ihn bittend an. Verdammt, mussten die schwarzen Augen ihn unbedingt so ansehen? Er schloss die Lider und knurrte: „Ich wusste, es war ein Fehler, eine mit dir zu rauchen, du Spinner.“

Kai lächelte. „Du bist ein guter Freund.“

Partywelt

An besagtem Freitagabend trafen sie sich vor dem Hochhaus.

Der fabelhafte Jérôme würde sie, mit Tango im Schlepptau, persönlich abholen, um mit gleich drei willigen jungen Männern aufzuwarten. So vermutlich Jérômes Vorstellung.

Während sie die Straße hinabgingen, musterte Tornado seinen Freund von der Seite. „Du hast dich tatsächlich aufgehübscht!“, bemerkte er schlecht gelaunt.

„Und, was sagst du? Sehe ich okay aus?“

Tornado betrachtete ihn nachdenklich. Kai trug ein langärmeliges schwarzes Netzhemd, für das er ihm streng genommen eine verpassen müsste, weil es so abartig klischeehaft war. Zu seiner geschmacklichen Ehrenrettung hatte er ein schwarzes T-Shirt über das Gespinst gezogen, das ein, auf Vintage getrimmtes, durchbrochenes Logo von Lilac Mad Boom! zierte. Seine langen Beine steckten in sehr engen dunklen Jeans und um die Taille hatte er mehrfach einen Nietengürtel gewunden. Tornados Blick fiel auf die schwarzen Boots mit Stahlkappen und er fragte sich, ob Kai jemals mit ihnen einem anderen in den Bauch oder die Rippen treten würde. Kais asymmetrisch geschnittenes Haar ließ den Blick auf sein Ohr mit den drei kleinen Ringen frei und er verbarg sein geschundenes Auge hinter den schwarzen Strähnen, so gut es ging.

Er sah zum Anbeißen aus.

„Du siehst aus, als ob du dir von der Jaguar-Party mehr versprichst als ich.“

Kai lachte.

Tornado selbst ließ sich von Kleiderordnungen nicht beeindrucken. Er trug seine speckigen Jeans, alte weiße Stoffturnschuhe und ein schwarzes Sweatshirt. Um sein Handgelenk hatte er ein abgewetztes, einstmals hellbraunes, jetzt Städtische-Kläranlage-graues Lederarmband geschlungen. Ein Geschenk von Kai. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sein widerspenstiges Haar zu kämmen.

„Ich nehme das als Kompliment“, erwiderte Kai und fuhr besorgt fort: „Sag mal, wann hast du eigentlich letztes Mal frische Unterwäsche angezogen?“

„Ich habe vorhin noch geduscht!“, setzte Tornado an, begriff, dass die Frage nichts weiter als einen Seitenhieb darstellte, und knuffte Kai in den Oberarm.

„Au!“

„Leider ist mein Latexanzug von Xegna noch im Laden“, gab er sarkastisch zurück, und Kai lachte leise in sich hinein. „Zegna.“

„Wie auch immer …“

Sie blieben stehen, als sie die dichtbefahrene Kreuzung erreichten, an der das neue Dream-Team sie auflesen würde. Die Straßenlaterne schien die Farben der Umgebung zu absorbieren und tauchte die beiden in ein unwirkliches Licht.

Tornado sah Kai zittern. „Da hast du’s. Wenn du was Anständiges angezogen hättest, müsstest du nicht frieren.“

Tornado baute sich hinter Kai auf und rieb seine warmen Handflächen über die kühlen Oberarme des anderen, um sie zu wärmen. Tornado war sehr großzügig, was freundschaftliche Berührungen betraf, vor allem wenn es sich um Kais Kälteempfindlichkeit handelte. Er umschlang ihn, rieb seine klammen Finger oder hängte ihm Jacken um, wann immer Kai kalt zu werden schien.

Abgesehen davon, dass sie beide dieselben Bedürfnisse hinsichtlich ihrer Neigungen aufwiesen, was jedes mehr von vorneherein erschwerte, hatte Tornado ihn nicht einmal in den zwei Jahren angemacht. Jedenfalls nicht offensichtlich.

Tornado steckte ihm eine angezündete Zigarette zwischen die Lippen. Rauchend warteten sie auf ihren Chauffeur und Tornado schlang seinen Arm wie selbstverständlich um Kais Brust.

Sie sahen Jérômes schwarzen Wagen näherkommen, und als er hielt, öffnete Tornado Kai die Tür, damit er als Erster einstieg. Als ihre Blicke sich im Rückspiegel trafen, wusste Tornado, dass sie in diesem Leben keine Freunde mehr werden würden. Tango kniete, so gut wie unbekleidet, vor dem Beifahrersitz, während die beiden Freunde auf die Rückbank des schwarzen Wagens kletterten und sich artig vorstellten.

„Alle Achtung, Tango, zweihundert Stunden Training pro Woche in Blixies Workout Tempel machen sich echt bezahlt!“, stieß Tornado anerkennend aus.

Tango erwiderte nichts.

„Huhu! Alter, redest du nicht mehr mit mir? Meine Komplimente haben immerhin Seltenheitswert!“

„Er spricht nur, wenn ich es ihm erlaube“, stellte Jérômes kühle Stimme ausdruckslos klar.

„Heilige Scheiße!“ Tornado ließ sich in den Sitz zurückfallen.

Kai seufzte.

Obwohl Tornado die Spielregeln kannte, war er nicht bereit, sie ohne Weiteres auch zu respektieren, zumal er Jérôme für ein Arschloch hielt.

„Hat mein Sklave etwa verpasst, dich darauf hinzuweisen, dich dem Anlass entsprechend zu kleiden?“

„Nein, Tango hat nicht verpasst, mich darauf hinzuweisen“, gab Tornado gereizt zurück.

Jérôme schwieg vielsagend, bevor er mit einem leisen Hauch von Verachtung fragte: „Und du bist dir sicher, ein Sklave zu sein?“

Tornado biss sich auf die Lippe, als Kai die Finger verzweifelt in das helle Leder der Sitzbank grub. Er dachte sicher etwas wie: Nicht ausflippen, Tornado.

Tornado hatte ihm vom Grund seiner Abneigung, sich so bezeichnen zu lassen, erzählt, aber er ahnte nicht, dass Kai sich tief besorgt über seine knappe Zusammenfassung im Pressemitteilungs-Stil zeigte. Tornado sprach nicht viel über diese Nacht.

„Die Sklaverei ist abgeschafft“, entgegnete Tornado eisig. „Außer du redest über deinen SM-Kostüm-Kindergarten-Scheiß.“ Tornado sah verschlossen aus dem Fenster. Er hielt sich zurück. Das war Tangos Abend.

„Dein Freund scheint das anders zu sehen. Ich schätze, er hat nichts gegen ein bisschen SM-Kostüm-Kindergarten-Scheiß.“

„Sprich nicht so, als wäre er nicht hier“, murrte Tornado mit Blick auf Tango, der, unbehaglich zum Schweigen verdammt, auf seinem Sitzplatz hin und her rutschte.

Der Verkehr lichtete sich und sie entfernten sich von der belebten Innenstadt, als Jérôme den Wagen durch die ruhigeren Alleen lenkte. Vor einem Haus, das architektonische raffiniert-reduzierte Nüchternheit für sich beanspruchte, schwenkte der Wagen in die Auffahrt.

Jérôme und Tornado maßen sich mit Blicken, als sie voreinander standen. Warum muss ich ausgerechnet kleiner sein, als dieser Anzugträger?, ärgerte er sich und starrte den anderen feindselig an. Jérôme wandte sich von ihm ab, um Tango an einer schmalen Lederleine aus dem Auto zu führen. Tornado sah, wie Kai Tango aufmunternd zulächelte, als sein „Besitzer“ es nicht bemerkte.

„Es ist noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe“, raunte Tornado seinem Freund zu.

Auf der ersten Etage verteilten sich die Gäste. Die Tops trugen überwiegend Anzüge und Smokings, während ihre Bottoms die fantasievolle Edellatexvariante billiger Sexkatalogreizwäsche zur Schau stellten. Die meisten Bottoms trugen Halsbänder und Leinen, wie Tango.

Tornado ließ seinen Blick über die Einrichtung schweifen. Große abstrakte Drucke schmückten die Wände, aus einer teuren Anlage drangen Goaklänge und das schicke, ordentliche Bücherregal neben einer gigantischen Plattensammlung demonstrierte den Bildungsgrad des Gastgebers. Vor der Fensterfront war das Catering aufgebaut.

Jérôme stellte sie einander vor und Pacco, der Besitzer des Hauses, sah die beiden mit einer Mischung aus leisem Spott und Unruhe an. Paccos verächtlicher Blick, als er das Bücherregal inspizierte, entging Tornado ebenso wenig wie Jérômes entschuldigendes Schulterzucken, weil er die beiden mitgebracht hatte.

Biscuit Moody saß gelangweilt und stumm auf einem der grauen Ledersofas. Neben ihm beschäftigte sich ein Bottom mit dem Schwanz seines Besitzers, und er rückte gleichgültig ein wenig ab. Alles war wie immer. Er war auf drängendes Bitten Paccos gekommen, der ihn, den stadtbekannten Caterer, nicht nur regelmäßig engagierte, sondern auch eine persönliche Schwäche für ihn hegte. Moody brachte kein Interesse mehr für diese Art Party, überhaupt für Sex, auf. Wenn er das Bedürfnis hatte, ließ er sich dafür bezahlen. Das war eine klare Sache für beide Seiten. Der Bottom war Chef und Biscuit konnte seinen Sex ausleben, ohne einem bedürftigen Sklaven vorschreiben zu müssen, wie er sich kleiden und was er für ihn tun sollte, wie einem Kind. Seitdem er nicht mehr aktiv mitmischte, schien sein Marktwert ins Unermessliche zu steigen.

Er sah auf die Uhr. Die höflichen zwei Stunden, die er für diesen Abend eingeplant hatte, waren noch lange nicht vergangen.

Als Jérôme mit drei jungen Männern auf der Party aufschlug, wurde Biscuits Interesse geweckt. Ein hübscher Schwarzhaariger im Trash-Outfit und ein etwas kleinerer in Turnschuhen. Ob Paccos Dielenboden jemals zuvor dreckige Schnürschuhe zu sehen bekommen hat? Biscuit Moody grinste bei dem Gedanken in sich herein und entwickelte die Hoffnung, die beiden könnten ein wenig Abwechslung in das Geschehen bringen. Der Schwarzhaarige würde vermutlich in wenigen Minuten von sabbernden Wölfen umringt sein. Dem abweisenden Gesichtsausdruck des Blonden zu entnehmen, würde er es schwerer haben, sofern er kein Top war. Unauffällig betrachtete er das Gesicht hinter dem strubbeligen Haar, das dem Jungen in die Stirn fiel. Er war attraktiv, ohne es zu wissen. Interessant.

„Tornado?“ Kai schluckte und sah Tornado an.

„Hmm?“

„Also ich … ich würde heute Abend gerne, na ja, mein Glück versuchen … bitte stürm nicht auf jeden los, der mich anspricht, wenn’s geht …“

Es versetzte Tornado einen ungerechtfertigten Stich, seinen Freund darum bitten zu hören, sich von anderen Männern anmachen lassen zu dürfen. Er sah Kai kurz an und küsste ihn auf die Wange.

„Geht klar. Aber wenn du ein Problem haben solltest, bin ich da.“

Kai strahlte Tornado an und bewegte sich, für seine Verhältnisse heldenmutig, auf eine freie Stelle an der Wand zu, gegen die er sich lehnte, um das Treiben auf sich wirken zu lassen. Umgehend zog er die Blicke einiger Gäste auf sich.

Tornado verstand. Jeder würde sie für ein Pärchen halten, wenn er weiter neben ihm stehen bliebe. Mit einer Mischung aus Besorgnis und entferntem Schmerz sah er ihm nach. Er drehte sich entschlossen um. Wenn er etwas Gutes an der Veranstaltung erkennen konnte, dann das Buffet. Er griff nach einem Teller und sein Blick versank im Rot der Tomaten, dem Duft der weißen Consommé, in Feldsalatblättern und samtigem Ziegenkäse. Sorgfältig türmte er so viele unterschiedliche Speisen auf seinem Teller wie möglich und sah sich nach einem Sitzplatz um. Ein grauer Lederzweisitzer schien frei, der von zwei längeren Versionen desselben Möbels eingefasst war, auf denen ein paar Gäste saßen. Neben dem freien Platz ein Blowjob-beschäftiges Paar und einer der anscheinend geklonten Anzugträger, der gelangweilt umherschaute und eine Zigarette zwischen die Finger geklemmt hatte. Ein Raucher ohne Schwanz im Mund. Er schätzte, das ging in Ordnung.

Er stellte seinen übervollen Teller vorsichtig auf dem breiten, kniehohen Sockel einer grässlichen, flachen Skulptur ab, die er mangels eines Couchtisches vor seine Knie zog, und hatte nur noch Augen für die Köstlichkeiten vor seiner Nase.

„Ich fürchte, der arme Kerl hat schon lange nichts mehr gegessen.“

„Da, wo er herkommt, gibt es vermutlich nur Fertiggerichte.“

Tornado spitzte die Ohren und aß unbeteiligt weiter.

„Das ist mir vollständig gleichgültig“, erwiderte Pacco, der sich erregt dem Sofagrüppchen näherte, entsetzt, „wenn er sich seinen Magen nur nicht von meinem echten Maschude vollschlagen würde!“

„Glaubst du ernsthaft, der weiß überhaupt, wer Maschude ist?“

Der andere winkte ab. „Sinnlos, das Schmuddelkind kennt weder Degraph oder Maschude, wahrscheinlich nicht einmal Herrier!"

„Vermutlich kann er nicht einmal lesen.“

Tornado ließ die Gabel langsam sinken. Okay, er hatte nicht bemerkt, Kunst zu einem Tisch umfunktioniert zu haben und ja, wenn er einkaufte, dann meistens Tiefkühlpizza, aber wenn er eines konnte und liebte, war es lesen.

Tornado erhob sich langsam aus dem niedrigen Sitzmöbel und blickte böse in die Runde. „Pass mal auf, du Tunte, tut mir leid, dass ich deinen Metallhaufen entweiht habe, aber wenn du es so mit der Skulptur hältst, wie mit deinen Büchern, ist an deinem Kunstsinn eh nichts dran.“

Mit zwei raschen Schritten trat er auf das Regal zu, dessen Inhalt er bereits auf interessanten Lesestoff überprüft hatte. Er zog Nakovs „Finsterrebellion“ hervor und fragte: „Worum geht es in diesem Buch?“

Pacco sah ihn mit heruntergeklappter Kinnlade an und antwortete konfus: „Ich habe es noch nicht gelesen.“

„Aha. Es geht um die Frage, inwieweit Gewalt uns entmenschlicht. Gut geschrieben, Schauplatz der Handlung ist der Kohlekrieg.“

Tornado zog ein anderes Buch hervor.

„Tila: ‚Der Bruch‘. Gelesen?“

„Natürlich!“, entrüstete sich der Gastgeber.

„Worum geht’s?“

„Das ist schon Jahre her, als dass ich mich konkret erinnern kann. Ich lese so viele Bücher, dass ich manches vergesse.“

Tornados Augen wurden zu schmalen Strichen. „Das Buch ist erst vor drei Monaten erschienen!“, schrie er wütend in die verblüffte Partyrunde. „Du liest überhaupt nicht viel, das ist ja so was von klar! Deine Bücher sind Jungfrauen! Glaub mir, ich weiß, wie ein Buch aussieht, das gelesen wurde. Du machst dir nicht einmal die Mühe den Klappentext zu studieren, falls jemand fragt, so eingebildet bist du. Ich könnte dir erzählen, was in deinen verfickten Büchern steht und du behauptest einfach, ich könnte gar nicht lesen!“ Peinlich berührt stellte er fest, wie er angestarrt wurde und trumpfte, auf seinen Platz zusteuernd, trotz seiner Verlegenheit auf: „Bildung ist wie dein Schwanz. Freu dich, dass du einen hast, aber wedele nicht damit vor anderen Leuten herum.“

Der Anzugträger lachte.

Bevor der zur Salzsäule erstarrte Pacco ihn eigenhändig rausschmeißen würde, fühlte Tornado, wie sein Sitznachbar ihn am Arm packte und freundlich vorschlug: „Da du deine Mahlzeit wohl kaum hier beenden können wirst, lass uns woanders was essen gehen.“

Verblüfft nickte Tornado. Noch während der Mann ihn quer durch das Wohnzimmer zum Ausgang schob, zückte er bereits sein Handy, um Kai eine Nachricht zu tippen. Er konnte nicht einfach gehen, ohne seinem Freund Bescheid zu geben.

„Der Dunkelhaarige?“, erkundigte sich der entschlossene Partygast.

„Äh. Jepp.“

Erst als er neben dem Fremden im Auto saß, nahm er sich die Zeit, ihn länger zu betrachten. Ihm fielen die müden Augen, deren Farbe ein goldener Laubton war, und die scharf gezeichnete Nase als Erstes auf. Das braune Haar, das ihm bis zur Nasenspitze reichte, fiel unfrisiert zur Seite.

„Äh, warum genau sitzen wir jetzt noch mal in deinem Auto?“, fragte Tornado, von den Ereignissen überrumpelt.

Der andere versenkte die Seitenscheibe im Türrahmen und zündete sich eine Zigarette an. Kalte Herbstluft wehte um ihre Köpfe.

„Du hast Scheiße gebaut, ich habe Spaß daran gehabt und jetzt bekommst du was zu essen“, fasste der Fremde lakonisch zusammen.

„O-okay. Ich dachte, frag einfach mal.“ Er zweifelte, dass es eine gute Idee gewesen war, einfach in ein fremdes Auto einzusteigen, und unbemerkt schob er seine Hand in die Hosentasche, um seinen Mittelfinger prophylaktisch in seinen Schlüsselring einzuhaken.

„Und wie heißt du?“

„Meine Name ist Biscuit Moody.“

Tornado lachte. „Nicht wahr! Du heißt nicht ernsthaft wie ein Kuchen!“

Der andere wandte ihm sein Gesicht zu, lächelte und antwortete ohne jeden Unmut in der Stimme: „So ist es.“

„Sorry, ich mein’s nicht böse. Ich heiße übrigens Tornado Maka.“ Er hielt ihm die Hand hin und fühlte, wie der Kuchenmann sie mit verhaltener Kraft schüttelte.

„Ich schätze, das passt.“ Sie schwiegen ein wenig und Tornado lockerte den Griff um die scharfkantigen Schlüssel.

„Wo fahren wir hin?“

„Zu mir nach Hause.“

Der Griff verstärkte sich wieder.

„Meine Mutter hat mir aber verboten, mit fremden Männern nach Hause zu gehen“, versuchte Tornado dem Kuchenmann sein Unbehagen zu signalisieren.

So ganz stimmte das nicht. Die Frau, wie er sie nannte, gab ihm keine weiteren Anweisungen, außer der höflichen Bitte, alsbald zu sterben. Ansonsten sagte sie lediglich, er sei die Krönung ihres verschissenen Lebens. Mann, er musste dringend mehr Geld verdienen, um endlich in eine eigene Wohnung ziehen zu können!

Wieder lächelte Biscuit freundlich. „Du erweckst nicht den Eindruck eines Menschen, der auf seine Mutter hört.“

„Warum willst du mich mit zu dir nehmen?“

Biscuit merkte, wie nervös der Junge war. Warum wollte er ihn mitnehmen? Die Antwort war einfach: Er hatte ihn zum Lachen gebracht. Und wer das schaffte, verdiente ein Abendessen aus der Hand des Besten. „Es hat mir leidgetan, dass du deine Mahlzeit nicht beenden konntest“, entgegnete er schlicht. „Sie schien dir eine Menge zu bedeuten.“ Wenn der Junge fickte, wie er aß, dann konnte er aus einem unendlichen Kapital schöpfen. „Und jetzt hör auf, dich vor mir zu fürchten. Ich werde dir nichts tun. Okay?“

„Na ja“, Tornado zögerte, bevor er weitersprach, „nicht, dass ich dir unterm Küchentisch einen blasen muss, weil du mir ein Essen servierst. Da hab ich nämlich keinen Bock drauf.“

Ungehalten warf er dem Jungen einen ärgerlichen Seitenblick zu. „Ich hoffe, ich sehe nicht aus, als ob ich es nötig hätte, kleine Jungs mit einer Mahlzeit für einen Blowjob zu ködern“, sagte er, eine kleine Nuance schärfer als beabsichtigt. „Und ich hoffe, du bist nicht derartig am Ende, dass du dich für Lebensmittel prostituieren musst.“

„Nein ...“, gab Tornado kleinlaut zu.

„Dann ist dieser Punkt geklärt.“

Er parkte den Wagen in einer Tiefgarage und sie nahmen die Treppen zu seiner Wohnung. Sie war nicht zu perfekt, großzügig geschnitten und ein wenig unordentlich. Auf dem Fensterbrett lag Staub und es war offensichtlich, dass er nicht denselben Inneneinrichter beschäftigte, wie Pacco. Die Räume waren mit stoffbespannten Schiebetüren voneinander getrennt und sorgten damit für eine gemütliche Offenheit.

Biscuit warf sein Jackett auf einen Sessel, auf dem schon andere Kleidungsstücke Platz gefunden hatten, lockerte die Krawatte und schmiss sie daneben. Sie glitt von der Fläche und automatisch hob Tornado sie auf, um sie glatt zu streichen und sorgfältig auf dem Stoffhaufen abzulegen. Biscuit lächelte unwillkürlich, als Tornado rot wurde.

„Ich kann Unordnung nicht ausstehen ...“, erklärte er fast entschuldigend.

„Keine Sorge, ich finde das großartig“, erwiderte Biscuit. „Ich habe mir schon lange ein Dienstmädchen gewünscht.“ Er ließ offen, ob er es ernst meinte oder nicht.

Nachdem Biscuit seine teuren Lederschuhe achtlos mit den Füßen abgestreift und seine Socken ausgezogen hatte, winkte er den Jungen hinter sich her in die Küche.

Eine Theke aus schlichtem Beton trennte den Koch- vom Essbereich und Tornado setzte sich auf einen der hohen Stühle. Andächtig sah er zu, wie Biscuit barfuß in einer nahezu perfekt anmutenden Choreografie seinen Arbeitsplatz vorbereitete. Er dachte an Huna und musste grinsen. „Du bist Koch, stimmt’s?“

„Stimmt.“

Fasziniert betrachtete er Biscuit beim Champignon und Tomaten schneiden.

„Der andere, mit dem du bei Pacco warst – ist das dein Freund?“

„Ja. Freund schon, kein Liebhaber.“

Biscuit sah ihn erstaunt an. „Ich dachte ...“

„Ja ja, ich weiß, was du dachtest. Aber wir sind kein Paar und nein, mein Herz schlägt nicht auf der dominanten Seite.“ Er sah, wie Biscuit sich einer Metallschüssel zuwandte und Eier aufschlug. Das kleine Lächeln konnte er nicht sehen.

„Wie alt bist du überhaupt?“, fragte Moody.

„Neunzehn. Und du?“

„Achtundzwanzig.“ In der Pfanne zischte es und wenige Minuten später stellte Biscuit einen Teller auf die Theke. „Nur ein Omelette“, bemerkte er gleichgültig.

Tornado schnupperte und grinste das Gericht an. Mann, das sollte Huna mal sehen. Er erinnerte sich an das trockene Eierchaos, das sie mit den Worten: „Friss oder stirb“, auf den Tisch geknallt hatte. Er liebte Huna. Man konnte sie mitten in der Nacht anrufen und sie würde aufstehen und einen von wo auch immer abholen. Außer bei Liebeskummer. Liebeskummer war in ihren Augen kein wirkliches Problem, für das es sich lohnte, die Nachtruhe anderer Menschen zu stören.

Aber dieses Omelette sah vollkommen anders aus, als Ei à la Huna. Es sah aus, wie ein Zegna-Omelette.

Biscuit zog sich einen Barhocker heran und setzte sich seinem Gast gegenüber.

„Scheiße!“, rief Tornado begeistert, als er einen Happen probierte. „Das ist das fluffigste, leckerste Omelette, das ich je gegessen habe. Mann, was hast du gemacht, damit es nicht wie fade Eierpampe schmeckt?“ Er brachte Moody zum Lächeln. Tornado ahnte nicht, dass er selten so viel Begeisterung mit einfachen Gerichten auslöste.

„Danke. Ich freue mich, dass du es magst.“ Er zündete sich eine Zigarette an und griff nach einem Glasaschenbecher. „Wie heißt dein Freund?“

„Kai“, antwortete Tornado mit vollem Mund.

„Ihr erschient mir sehr vertraut.“

„Sind wir ja auch.“ Er dachte kurz nach, ob er Biscuit ihr Verhältnis näher erläutern sollte, und entschied sich vorerst dagegen. Zu kompliziert. Stattdessen fragte er: „Und hast du auch einen Freund – oder ein Spielzeug, wie ihr das nennt?“

„Vielleicht bin ich ja auch das Spielzeug“, gab Biscuit mit gehobener Braue zu bedenken.

„No way. Auf der Party hatten alle Tops Anzüge an und die anderen Halsbänder. Kein Halsband, kein Bottom“, fasste er seine Beobachtungen zusammen.

„Stimmt. Nein, ich habe keinen Freund. Und auch kein Spielzeug. Nicht einmal ein Aquarium.“

Tornado lachte und sah vom Teller auf, der bisher all seine Aufmerksamkeit gebannt hatte.

Die müden Augen sahen dem blauen Rauch hinterher und eine Sekunde lang schoss Tornado die Frage durch den Kopf, ob das mit dem Blasen unterm Küchentisch vielleicht doch eine ganz brauchbare Idee wäre.

„Satt?“

„Und wie. Vielen Dank fürs Kochen!“ Tornado überlegte eine Weile, bevor er sich traute, zu fragen: „Wie kommt es, dass du so nett bist, obwohl du, na ja ...“ Er fand keine Worte. Normalerweise wurde er nicht von Partys mit nach Hause genommen und bewirtet, sondern herumkommandiert, in der Erwartung, er würde liebend gerne alles für einen schlechten Fick tun.

„Wieso bist du so ungezogen, obwohl du, na ja ...“, imitierte ihn der andere, um ihm zu zeigen, dass er verstand.

Tornado zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung, warum ich so bin. Ich stelle mir die Frage nicht. Ich weiß nur, wie andere mich finden und die halten mich meistens nicht für okay.“

Biscuit ließ sich vom Barhocker gleiten. „Ich bringe dich jetzt nach Hause.“

Warum zum Teufel muss mich das enttäuschen?, fragte Tornado sich und folgte dem anderen. So sollte es doch eigentlich sein. Eine klare Vereinbarung und nicht mehr. Was essen, keinen blasen und fertig.

„Wo wohnst du?“, fragte Biscuit, als sie im Auto saßen.

Er nannte ihm die Adresse und diesmal hatte er den Schlüsselbund in seiner Hosentasche vollkommen vergessen. Die Fahrt verlief schweigsam.

„Du kannst mich hier herauslassen“, Tornado deutete auf eine Haltebucht und der Wagen kam zum Stehen. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Vielleicht nach Biscuits Telefonnummer fragen? Nein, besser nicht. „Tja, also dann, danke noch mal.“

Biscuit streckte seine Hand aus, strich ihm über die Wange, aber zog seine Finger unmittelbar zurück. Tornados Herz setzte für einen kurzen Moment aus.

„Machs gut, Tornado, bleib, wie du bist.“

Verwirrt nickte er. „Ja, is’ gut. Mach ich.“

Er stieg aus, ließ die Tür mit einem leisen Klack ins Schloss fallen und zwang sich, dem Auto nicht hinterher zu sehen. Dann griff er nach seinem Handy und überprüfte, ob Kai ihm geantwortet hatte. Nichts.

Schwerfällig nahm er die vielen Stufen.

Verärgert bemerkte Tornado die offenstehende Wohnungstür. Wie oft sollte er der Frau noch erklären, sie gefälligst zu schließen? In der Wohnung hüllte ihn Rauch ein, weil niemand es für nötig befand zu lüften. Durch den Türspalt sah er, wie seine Mutter am Küchentisch Stoff, den sie verkaufen sollte, aber selbst verballert hatte, mit fahrigen Händen versuchte zu strecken, während im Wohnzimmer irgendwelche anderen Junkies ihre Blödsinnsgespräche führten. Wechselnde namenlose Gesichter verschwunden in ihren eigenen Universen.

Lautlos öffnete er sein persönliches Fort Knox, griff nach seinem Schlafsack und einer halb vollen Flasche Wodka, um sich auf das sichere Dach zu verziehen und dort auf Kai zu warten.

Er dachte an den Kuchenmann, bevor er eindämmerte. Seine Füße auf dem dunklen Steinboden. Tornados Hand glitt unter seinen Hosenbund und mit verschwommenen Bildern vor Augen streichelte er sich, bis er einschlief.

Tornado befand sich in einem zufriedenen Wodka-Halbschlaf, als er die Hand auf seiner Schulter spürte.

„Kai!“ Er richtete sich benommen auf.

Der andere sah ein wenig derangiert aus, aber bemerkte sanft: „Hast du mal wieder eine Party gesprengt?“

„Ich darf nicht aus der Übung kommen“, antwortete Tornado selbstbewusst und musterte seinen Freund. „Und du siehst aus, als hätte sich der Abend nach deinen Vorstellungen entwickelt.“

„Mittel.“

„Heißt?“

„Frag nicht.“

„Hast du gefickt?“

„Ja.“

„Und wie war es?“ Er war es gewohnt, Kai jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen.

„Das war das Beste am Abend, was nicht heißt, dass es gut war.“

Tornados Gesicht verfinsterte sich. Wenn Kai überhaupt mit anderen schlafen musste, dann sollte er wenigstens Spaß haben! Er selbst hatte seit über einem Jahr niemanden an seinen Arsch gelassen. Nicht nach all dem.

„Und bei dir? Ich habe gehört, du hast die Party mit einem Gast verlassen ...?“

„Yeah. Aber es ist nichts gelaufen. Ich weiß nicht, er war einfach … nett.“

Sie saßen nebeneinander, ihre Arme um die Hüften des jeweils anderen geschlungen.

„Ich weiß es nicht ...“, wiederholte Tornado mehr zu sich selbst.

Kai legte seinen Kopf auf Tornados Schulter und murmelte: „Du riechst nach Rauch und Wodka … und nach dir selbst.“

Tornado überlegte zum tausendsten Mal, ob er ihn nicht einfach küssen sollte.

Nachdem er seit mehr als einem Jahr keinen Sex mehr gehabt hatte, war Tornado quasi dauergeil, was ihn dazu veranlasste, sich mittlerweile heimlich selbst als „The Fucking King of Masturbation“ zu titulieren.

Er stand unter der Dusche und während das lauwarme Wasser auf seinen Kopf prasselte, umfasste er mit der Hand seinen Schwanz und fuhr mit geschmeidigen Bewegungen über den Schaft. Er fluchte, als er jäh durch seine an die Tür hämmernde Mutter unterbrochen wurde.

„Mach auf, ich muss pinkeln“, drang ihre angepisste Stimme durch die Tür.

„Ich dusche gerade!“, schrie er gereizt zurück.

„Beeil dich mal!“

Er versuchte das erneute Hämmern und Klinkengerüttel zu ignorieren, um seinen Orgasmus schnellstmöglich zu erreichen. Ohne sich zu bemühen, sein Sperma vom Duschvorhang zu waschen, drehte er das Wasser ab. Mit einem Handtuch um die Hüften schlüpfte er in seine Turnschuhe. Um nichts in der Welt würde er sich unentdeckte Krankheiten durch den Kontakt mit dem weltweit widerlichsten Teppichboden zuziehen! Er stieß die Tür schwungvoll auf, in der Hoffnung, die Frau mit ihr zu treffen.

Binnie Makas zorniger und dennoch verschleierter Blick wünschte ihm wortlos den Tod, während er sich an ihr vorbei drückte, um sein Zimmer auf- und von innen abzuschließen.

Genervt ließ er sich auf seine Matratze sinken und griff nach einem Buch.

Seine Gedanken schweiften immer wieder zum gestrigen Abend und er verdammte sich dafür, bereits bei einem kleinen bisschen unerwarteter Freundlichkeit auszuflippen, wie bei einem Lotto-Jackpot. Selbst hinter den nettesten Fassaden konnten die schlimmsten Freaks lauern. Die Bilder seiner persönlichen Hölle drängten sich in seinen Verstand und er presste die Fäuste gegen seine Augenhöhlen, als könne er sie auf diese Weise vertreiben. Naivität machte sich nicht bezahlt. Niemals.

Raus.

Er griff sich wahllos ein paar Kleidungsstücke, um aus der deprimierenden Enge der Wohnung und seines Kopfes zu flüchten.

Als Biscuit in seinem Büro einen Auftrag kalkulierte, musste er unwillkürlich lächeln, als er an den kleinen Kunstmissbraucher von gestern Abend dachte. Was sprach dagegen, den Jungen besser kennenzulernen? Nichts, als seine beschränkten Vorstellungen. Gedankenverloren durchforstete er bereits seine Kontakte nach Jérôme Kateses Telefonnummer. Sie kannten sich schon Ewigkeiten, aber es hatte weder zu einer guten Bekanntschaft noch einer Freundschaft zwischen ihnen ausgereicht. Entschlossen klappte er sein Handy auf und wählte die Nummer.

„Hallo?“

„Jérôme, ich bin es, Moody.“

„Ach so was? Was kann ich für dich tun?“

„Du bist doch gestern mit deinem Knaben und zwei weiteren Jungs bei Pacco eingetrudelt. Kannst du mir was über die beiden sagen?“

Jérôme schnaubte. „Das sind angeblich Freunde meines kleinen Sklaven. Aber ich denke, sie sind hauptsächlich Arbeitskollegen. Ich habe gehört, du warst so freundlich, die blonde Pest rauszuschmeißen?“

„So ... ungefähr. Kollegen? Wo arbeitet denn deine Neuerwerbung?“

„In der Schwarzen Rose.“

„Tatsächlich?“ Biscuit klemmte sich seinen Kugelschreiber nachdenklich zwischen die Zähne. Tatsächlich war eine wunderbare, keinerlei Urteil verkündende Formel, die so gut wie jeden zum sofortigen Weitersprechen animierte.

„Ich habe es auch kaum fassen können! So ein Drecksloch. Egal, über kurz oder lang lasse ich ihn kündigen, aber vorher verbiete ich ihm den Umgang mit diesen asozialen Freaks. Henk hat übrigens den Schwarzhaarigen angeblich gestern abgeschleppt ...“

Biscuit beugte sich nach vorne und wollte das Gespräch schnellstmöglich beenden, bevor er seinem Drang nachgab, über Maßnahmen wie Umgangsverbote zu diskutieren.

„Wieso willst du das überhaupt wissen?“

Er ignorierte Jérômes Frage. „Danke für deine Auskünfte. Ich melde mich wieder.“ Dann legte er auf.

Biscuit Moody war kein netter Mensch. In der Regel kümmerten ihn die Gefühle seiner Mitmenschen erfrischend wenig. Er wollte in Ruhe gelassen werden und es lag ihm nicht das Geringste an Kateses Meinung über ihn. Er war nun im Besitz der Information, die er wollte, und genau in diesem Moment war der andere bereits aus seinem Hirn getilgt.

Er tippte Schwarze Rose auf seiner Tastatur und notierte sich die Adresse.

Der Tag verstrich quälend langsam. Kai zwang sich in die Schule, um im dritten Anlauf den niedrigsten aller möglichen Schulabschlüsse zu erhalten, und kurz vor den Zeugnissen erhöhte sich seine Besuchsfrequenz des Systems, wie sie Schule bezeichneten, drastisch.

Tornado hatte die Schule abgebrochen, nachdem er sich sicher war, niemals irgendetwas Vernünftiges tun zu wollen. Das Leben lebte sich von alleine, so lautete seine Meinung, als er sich auf der Parkbank sitzend halbherzig Stellenangebote auf seinem Handy ansah. Vielleicht sollte ich Boss nach mehr Tagen die Woche fragen, überlegte er.

Er war froh, heute Abend hinter der vertrauten Theke zu stehen und nicht mit seinem verfluchten Schädel alleine zu sein, der ihn immerzu Dinge fragte, die er nicht hören wollte.

Sein Grundproblem, so wusste er sicher, bestand darin, nichts zu taugen. Er konnte nichts besonders gut, er war nicht die hellste Kerze am Christbaum, ihn interessierte nichts und er war kein guter Mensch. Wenn er die Dinge realistisch betrachtete, konnte er seine Zukunft bereits jetzt sehen, wenn er die verhasste Wohnungstür aufschloss und seine dauerbreite Mutter anblickte.

Seinen Vater hatte er kennengelernt, als er neun Jahre alt war. Tornado war das Ergebnis eines Cash-gegen-Sex-Ficks, was für ihn in Ordnung ging, bis die Frau zu rechnen begann und herausfand, dass der Kindsvater ein vermögender Mann war. Als sie mit ihren Anrufen und Drohungen auf Granit biss, trotz eines evidenten Vaterschaftstests, setzte sie Tornado kurzerhand vor der Villa ab. Sie drückte auf die Klingel und rotzte dem überraschten Mann ins Gesicht, wenn er schon nicht zahle, solle er auf seinen Scheißnachwuchs gefälligst selber aufpassen, und entließ ihr einziges Kind mit diesen Worten in fremde kalte Hände.

Nach der längsten Woche seines Lebens gab der Mann, der sein Erzeuger war, nach und er landete wieder in dem Wohnblock, froh zuhause zu sein.

Wie es seine Art war, rappelte Tornado sich auf, schluckte die grausame Erfahrung, ohne sie zu betrauern, und schwor sich, zu überleben, selbst wenn die ganze Welt beschloss, ihn zu ficken. Allerdings zahlte er für seine Rigidität den Preis, nie zu wissen, wer er war. Sein Augenmerk lag auf Kampf und nicht auf der Verwirklichung seiner Interessen und Wünsche. Seine hauptsächliche Befriedigung bezog er daraus, schneller zu sein, stärker zu sein und den anderen seinen göttlichen Arsch zu zeigen, wenn sie ihn über den Tisch zu ziehen gedachten.

Die Sache mit Pat hatte zum ersten Mal tiefe Risse in seinem selbstsicheren Fundament hinterlassen. Tornado war ein guter Nippik-Spieler, was er seiner Unerschrockenheit und seinen Instinkten verdankte. Zu schnell erwachsen geworden, war er sich seiner Sexualität und seiner Wünsche früh bewusst. Er hing schon mit vierzehn, zu Boss’ Missfallen, in der Schwarzen Rose bei den Nippik-Spielern ab.

Vor vierzehn Monaten hatte er eine Menge Spaß mit Pat gehabt. Und nachdem er so viele Jahre zu hören bekam, dass niemand jemanden wie ihn nehmen würde, war er mit dem kalten, aber blitzgescheiten Pat mitgegangen, was sich als sein größter Fehler herausstellte.

Pat hatte ihm ein Safeword mitgeteilt, das sich am Ende der Nacht als ein Haufen Scheiße erwies.

Kusswelt

Die Samstagabende in der Schwarzen Rose waren laut, bunt und geschäftig. Kais und Tornados Hände standen nicht still, während sie Kaffee brauten, Cocktails mixten, Longdrinks zubereiteten und Gläser vor und unter der Theke platzierten.

Ihre geschulten Augen sahen jeden neuen Gast, nahmen jedes Warten zur Kenntnis und die beiden reagierten immer schnell und ohne Fehler.

Als allerdings ein gut gekleideter Endzwanziger auf einem Barhocker vor seiner Nase Platz nahm, wäre Tornado fast das Glas in der Hand zerbrochen, das er routiniert mit den festinstallierten Bürsten des Gläserbeckens säuberte. Kuchenmann! Ohne sich sein kurzes kleines Glücksgefühl anmerken zu lassen, fragte er professionell: „Was kann ich dir anbieten?“

„Ich weiß nicht“, sagte Biscuit und sein Blick glitt interessiert über die Spirituosenregale.

„Sorry, Weinkarte gibt’s hier nicht“, versuchte Tornado einen müden Witz.

„Was würdest du mir empfehlen?“

Er dachte nach, bevor er entgegnete: „Zu deinem Heldenanzug würde ein Martini passen. Aber ich finde mit Wodka und Kaffee macht man nie einen Fehler.“

„Interessante Mischung. Nehme ich.“

An der Kaffeemaschine traf er auf Kai, der ihn halblaut fragte: „War der nicht auf der Party gestern?“

„Ja, das ist der Typ, der nett war.“

So schnell sich dunkle Wolken auf Kais sanften Zügen gezeigt hatten, so schnell lächelte er freundlich und riet ihm zwinkernd: „Go for it!“ Er rammte ihm bekräftigend den Ellenbogen in die Rippen.

Tornado servierte den Kaffee und den Wodka und fragte so beiläufig wie möglich: „Was hat dich denn hierhin verschlagen?“

„Ich wollte dich noch einmal essen sehen. Und da ich keine Nummer habe, war ich gezwungen, dir das persönlich mitzuteilen.“

Ohne zu antworten, wuselte Tornado auf drei zahlungswillige Kunden zu. Während er mechanisch kassierte, war sein Kopf in eine Art grauen Nebel gehüllt. Der Kuchenmann war eindeutig? Oder nicht? Oder doch? Aaargh! Er hasste es, nicht zu wissen, woran er war.

Im Vorbeigehen fragte er Biscuit: „Also nur wegen Missverständnissen, willst du mich essen sehen oder willst du mich vögeln?“

Er war überrascht, als Moody den Kopf in den Nacken legte und schallend lachte. Tornado wartete auf Biscuits Antwort. Er wirkte aufrichtig, als er Tornado wissen ließ: „Ich weiß nicht. Vielleicht beides.“

„Sorry, ich bin unvögelbar.“

Auch wenn man es nicht sah, war Tornado tief getroffen. Er wollte kein Fickding für einen anderen sein. Er konnte es schlicht und ergreifend nicht mehr. Gut, das geklärt zu haben. Er strich den Namen „Biscuit Moody“ gedanklich durch und versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren.

Biscuit wollte etwas erwidern, aber der Junge war bereits dabei, vier Gläser Bier vor seinen Kunden zu verteilen. Er neigte sich zu einem der beiden, die Hand hinters Ohr gelegt, und lachte, als sei nichts geschehen.

Was hatte er nur gesagt oder getan, um die totale Nichtbeachtung Tornados zu kassieren? Biscuit hätte nicht gedacht, dass ihm die Tür durch eine harmlose kleine Bemerkung vor der Nase zugeschlagen würde. Während er die Spielanfrage eines mutigen Bottoms höflich ablehnte, beobachtete er, wie sein Lieblingsesser mit seinem anderen Ich sprach.

„Können wir die Seiten wechseln?“

„Wieso zum Teufel ...?“, fragte Kai erstaunt.

„Der Wichser sucht ein Püppchen zur Benutzung. Keinen Bock auf so was.“

„Bist du dir sicher?“ Kritisch beäugte er Tornados erschöpftes Gesicht.

„Ich bin mir nie sicher. Aber ich will es erst gar nicht herausfinden.“

Kai sah auf den Boden und willigte widerstrebend ein. Ein Seitenwechsel unterbrach seinen Flow.

Er bemerkte die leere Tasse und das Glas des „Netten“. Wie auf jeden anderen Kunden trat Kai auf den sehr deplatziert wirkenden Mann zu und fragte ihn, ob er etwas Neues bestellen wolle.

„Wieso bedienst du mich jetzt?“, fragte der Mann unumwunden.

Kai senkte den Blick. Er war nicht gerade der Meister der schnellen Ausrede. Er seufzte und fuhr sich durchs Haar, bevor er antwortete: „Tornado ist was Besonderes. Lass ihm einfach ... Zeit.“

„Was meinst du damit?“, hörte Kai ihn rufen, aber er entschied sich, ihn nicht zu beachten.