Thomas Müntzer - Gerhard Wehr - E-Book

Thomas Müntzer E-Book

Gerhard Wehr

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Thomas Müntzer (um 1490–1525) hat als Zeitgenosse und Widerpart von Martin Luther Geschichte geschrieben. Seine Überzeugung, die Kirche müsse für die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden arbeiten, machte ihn zum Gegner der etablierten Theologie; seine Empörung über die Willkürherrschaft der Fürsten ließ ihn zum Anführer der aufständischen Bauern werden. An der Spitze eines Bauernheeres wurde er im Mai 1525 verhaftet, gefoltert und in der Nähe von Mülhausen hingerichtet. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 207

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Wehr

Thomas Müntzer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Thomas Müntzer (um 1490–1525) hat als Zeitgenosse und Widerpart von Martin Luther Geschichte geschrieben. Seine Überzeugung, die Kirche müsse für die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden arbeiten, machte ihn zum Gegner der etablierten Theologie; seine Empörung über die Willkürherrschaft der Fürsten ließ ihn zum Anführer der aufständischen Bauern werden. An der Spitze eines Bauernheeres wurde er im Mai 1525 verhaftet, gefoltert und in der Nähe von Mülhausen hingerichtet.

 

Über Gerhard Wehr

Gerhard Wehr, geboren 1931 in Schweinfurt. Zunächst Ausbildung zum Diakon, Tätigkeiten im Bereich der kirchlichen Sozialarbeit und der Erwachsenenbildung. 1971 bis 1990 Lehrauftrag an der Diakonenschule in Rummelsberg, danach freier Schriftsteller. Mitglied zahlreicher Fachgesellschaften; für sein theologisch-publizistisches Schaffen wurde er von der Augustana-Hochschule Neuendettelsau zum Dr. theol. h. c. ernannt. Gerhard Wehr starb 2015 in Schwarzenbruck.

Herausgeber und Autor von Sachbüchern zur Tiefenpsychologie (speziell zur analytischen Psychologie) und esoterischen Themen mit dem Schwerpunkt christliche Mystik; Verfasser zahlreicher Biographien – insbesondere über Jakob Böhme, Martin Buber, C. G. Jung und Rudolf Steiner; editorische Arbeiten zum Werk Jakob Böhmes, Meister Eckharts und Rudolf Steiners; zahlreiche Beiträge in internationalen Enzyklopädien und Sammelwerken. Für «rowohlts monographien» schrieb er die Bände über Martin Buber, C. G. Jung, Jakob Böhme, Thomas Müntzer, Paul Tillich und Meister Eckhart.

Reformation von unten

Vieles haben die kleinen Leute, die Hungrigen, die Gebundenen, die Entrechteten, die «Bettler um Geist» den Satten, den Etablierten, den vermeintlich Freien voraus: den Durchblick durch die allzu engen Horizonte, das Verlangen, aufzubrechen, um selbst Unmögliches zu erreichen, eine Hoffnung, die mehr ist als ein abstraktes Prinzip, Hoffnung als eine Gewissheit und als Triebkraft auf dem Richtweg nach vorne.

Das bekamen die Sklavenhalter Altägyptens zu spüren, als die Söhne Jakob-Israels ihren Stammesgott als den Gott des Exodus, des Aufbruchs und des Voranschreitens begriffen und als sie sich auf den Weg machten. Im Namen dieses Gottes wurde der Kleinbauer und Schafzüchter Arnos von Tekoa zum Propheten wider die Unterdrücker und Ausbeuter, wider die Opferpriester und Verwalter eines veräußerlichten, geistig ausgehöhlten Kultus. Und der Rabbi Jesus von Nazareth, «der Zöllner und der Sünder Geselle» – all denen ein Dorn im Auge, die seit eh und je Heiliges wie ein Gewerbe treiben –, nährte die unauslöschliche Sehnsucht in den Herzen seiner Nachfolger, als er sie inbrünstig beten lehrte: Dein Reich komme! Das musste viele beunruhigen, ja den «ganzen Weltkreis erregen» (Apostelgeschichte 17, 6).

Thomas Müntzer ist einer von ihnen, ein tief Erregter, Erregender, Beunruhigender, einer, der für die Vergessenen, immer wieder Eingeschüchterten eingetreten ist; der sich nicht gescheut hat, im Blick auf den Anbruch des Reiches im Zeitalter der Reformation zum Anwalt der Revolution zu werden. Ernst Bloch hat recht: «Mit Zeus, Jupiter, Marduk, Ptah, gar Vitzliputzli hätte Thomas Münzer das nicht geschafft, was er mit dem Auszug aus Ägypten und dem gar nicht so sanften Jesus zu läuten anfing.»[1] Um Müntzer und um jene zu verstehen, für die er den Mund auftat und sein Leben riskierte, muss man das 15., 16. Jahrhundert als zwei Jahrhunderte großer religiöser und gesellschaftlicher Unruhe zu verstehen suchen.

Wann und wo fing das an? Es ist schwierig, einen Punkt zu bezeichnen, von dem aus die Entwicklung ihren Lauf genommen hat, die zu Thomas Müntzer und über ihn hinaus führte. Der Ruf nach einer umfassenden «Reformation an Haupt und Gliedern» ging im 15. und 16. Jahrhundert durch die gesamte Christenheit. Gewiss ist das religiöse Moment dieser Forderung nicht zu verkennen. Es war zunächst in erster Linie die Kirche, bei der die Reform anzusetzen hatte. Die Einheitskultur des Spätmittelalters ist aber schwerlich in eine geistliche und in eine weltliche Sphäre aufzuspalten. Richtig ist daher auch, dass das Verlangen nach einer grundlegenden Reformation Kirche und Welt, den religiösen und den gesellschaftlichen Bereich umfasste. Reformation wollen und Reformation auch tatsächlich betreiben war aber offenbar zweierlei, bedeutete doch gerade die reformatorische Tat massive Kritik an den alteingesetzten Institutionen, an der so gut wie unangreifbaren Kirche und den oft fragwürdigen Praktiken ihrer Führungsschicht. Nicht wenigen ist es übel bekommen, die folgerichtig die Konsequenzen aus dem allgemeinen Wunsch nach einer Veränderung aller Dinge gezogen haben. Die Ketzergeschichte, vornehmlich des ausgehenden Mittelalters, kann mit Belegmaterial aufwarten.

Am 4. Mai 1415 fällte das in Konstanz tagende «Reform»-Konzil der römischen Kirche sein Urteil über 45 Sätze des englischen Theologen John Wyclif, der ähnlich wie Petrus Waldus, der Kaufmann aus Lyon, und später der Italiener Girolamo Savonarola zu den Vorreformatoren gezählt wird. Wyclifs Theologie, die der Selbstentfremdung der katholischen Kirche zu Leibe ging, hatte in Böhmen ebenso entschiedene Parteigänger wie Gegner gefunden. Am 6. Juli 1415 stand der Tscheche Jan Hus, Theologieprofessor und Prediger in Prag, in Konstanz auf dem Scheiterhaufen, weil er sich nicht nur zu Wyclifs Thesen bekannt hatte, sondern einer Reform der Kirche den Weg bereiten wollte. «Das Konzil hatte über ihn triumphiert. Aber nur dem äußeren Schein nach war er unterlegen», schreibt Renate Riemeck in ihrer bemerkenswerten Hus-Biographie.[2] Ein Schrei der Entrüstung ging durch Böhmen. In der hussitischen Bewegung der Utraquisten und der radikalen Taboriten brach sich der reformerische und der revolutionäre Wille Bahn. Mit Feuer und Schwert verkündeten die Taboriten ihre Botschaft vom Anbruch des Jüngsten Gerichts, als dessen Vollstrecker sie sich fühlten. Während die Gemäßigten (Kalixtiner) für den Laienkelch bei der Austeilung des Abendmahls, für eine communio sub utraque specie, für eine Kommunion unter beiderlei Gestalt (Brot und Wein), eintraten, verfolgten die Radikalen nicht zuletzt sozialrevolutionäre Ziele.

Was von Böhmen aus in den übrigen mitteleuropäischen Umkreis hinein ausstrahlte, entsprach im 15. Jahrhundert der allgemeinen Erwartung großer Dinge. Die große Verderbnis in der Kirche, bei Klerikern und Mönchen, war ebenso wenig zu übersehen wie der Egoismus der Grundherren und Adeligen. Volksprediger wie Geiler von Kaysersberg und Satiriker von der Art eines Sebastian Brant («Das Narrenschiff») haben je auf ihre Weise die Zeitlage mit scharfem Wort und mit spitzer Feder kritisiert. «Der Himmel selbst ist käuflich geworden!», so lautete eine der bitteren Anklagen. Nikolaus von Kues, der spätere große Kardinal, schrieb noch als unbekannter Theologe und Teilnehmer beim Baseler Konzil sein Buch «De concordantia catholica», in dem er die «Verunstaltungen und Gefahren» in Kirche und Reich als eine «tödliche Krankheit» charakterisierte. Aber die Konzile von Pisa und Konstanz (1409–18) bzw. von Basel und Ferrara-Florenz (1431–49) gaben keine Antwort auf die brennenden Fragen der Zeit. Die zur politischen Führung Berufenen wussten keinen Ausweg, um die Bedrängnis der Geringen, das heißt der kleinen Bauern und der unbemittelten Handwerker und Kleinbürger, zu beseitigen. Vor allem fehlte es an dem nötigen Mut zu einer Veränderung der Gesellschaft, die dem im aufblühenden Humanismus sich herausgestaltenden Bild vom autonomen Menschen entsprochen hätte.

Wie groß die Hoffnung auf die Neuwerdung aller Dinge war, drückt auch die politisch-kirchenpolitische Programmschrift eines Ungenannten aus, die unter der Bezeichnung «Reformatio Sigismundi» um das Jahr 1439 in Umlauf kam und bis ins 16. Jahrhundert hinein mehrere Auflagen erlebte. «Die hohen Häupter sind nicht zu mahnen, wann sie das Unrecht innehaben mit Gewalt», heißt es da. «Aller Gebrechen Grund aber liegt in zwei Stücken: an der Simonie, das ist der Hang zum Wucher bei der Geistlichkeit und bei den Weltlichen am Hang zum Geiz.» Damit ist das Grundübel auf eine kapitalistische Gesinnung zurückgeführt. Die Reformatio, die als ein Traum des Kaisers Sigismund vorgestellt wird, zielt auf Umgestaltung der sozialen und politischen Ordnung hin, eine Umgestaltung, die beim «Haus des Herrn», bei der Kirche also, beginnen müsse. Das Papsttum, die Bischöfe, Kirchengemeinden, Klöster und geistlichen Orden sind in die reformatorischen Maßnahmen einzubeziehen. «Soll man aber kommen zu göttlicher Ordnung, so muß es geschehen durch Gottes und durch das weltliche Schwert. Man soll es brauchen in rechten Nöten um Gottes und des Glaubens willen und um Gerechtigkeit.» Voraussetzung für die Neuwerdung ist das richtige Verständnis der sieben Sakramente. Es unterliegt keinem Zweifel, dass einige Gesichtspunkte der Reformation Luthers durch die «Reformatio Sigismundi» bereits vorweggenommen erscheinen, zumal das Prinzip eines allgemeinen Priestertums aller Gläubigen zur Sprache kommt.

Hauptziel des ungenannten Verfassers wie das anderer Kritiker seiner Zeit ist die Herstellung einer gerechten und vollkommenen Weltordnung, in der das alte, das überkommene Recht zurückgewonnen werden soll, die iustitia dei (Gerechtigkeit Gottes) im Gegensatz zu dem späteren, vor allem von den Bauern nicht verstandenen Römischen Recht, dessen sich die Unterdrücker bedienten. Eine Unterscheidung von «göttlichem» und «natürlichem» Recht, wie sie etwa in Luthers Zwei-Reiche-Lehre begegnet, kennt die «Reformatio Sigismundi» nicht. Alles Recht, alle Rechtsprechung habe letztlich von dem Kaiser auszugehen. Und da sich die Schrift gleichzeitig mit der ländlichen Bevölkerung beschäftigt, gilt es, die Interessen des kleinen Mannes, des Bauern, des Handwerkers und Tagelöhners zu schützen. An der Änderung der Dinge wird ein geweissagter, hier und andernorts oftmals anvisierter «Kaiser Friedrich» beteiligt sein. Bald ist der erhoffte Reformator ein «oberster Pfarrer», der über die Autorität verfügt, um selbst den Papst einzusetzen und abzuberufen, ein «starker Mann» also, vor dem die Machthaber und Gewaltigen dieser Zeit nicht bestehen können. Was Kaiser Sigismund über die nach ihm benannte Reformatio träumt, erschaut drei Jahrzehnte danach einer aus dem Volk, Hans Böhm, Hirt im fränkischen Taubergrund, genannt der Pfeifer (oder Pauker) von Niklashausen.

«Zum ersten untersteht er sich, ohne Unterlaß vor dem Volk zu predigen und zu sagen, so wie im folgenden geschrieben steht: Wie ihm die Jungfrau Maria, die Mutter Gottes, erschienen sein soll und ihm offenbart habe den Zorn Gottes wider das Menschengeschlecht und insbesondere wider die Priesterschaft. Daß Gott daher habe strafen wollen und Wein und Korn auf den Kreuztag hätten sollen erfroren sein, das aber habe er abgewandt durch sein Gebet. Wie im Taubertal ebenso große, vollkommene Gnade sein soll und noch mehr als zu Rom oder sonstwo. Welcher Mensch ins Taubertal kommt, der erlange alle vollkommene Gnade, und wenn er sterbe, so fahre er vom Mund (aus dem die Seele entfleucht) auf zum Himmel.» Aber nicht nur dies berichtet einer der Informanten, den die kirchliche Obrigkeit nach Niklashausen geschickt hat. Der «heilige Jüngling», der zur Fastenzeit des Jahres 1476 als ungelernter Laie zu predigen begann und dem die Bauern von nah und fern zu Tausenden zuströmten, bis ihn der Würzburger Bischof gefangen nehmen ließ und mundtot machte, erregte nicht allein um des Predigens willen Ärgernis. Die revolutionäre Note erweckte tiefes Erschrecken, denn in dem Bericht über diese Predigt heißt es weiter: «Wie der Kaiser ein Bösewicht sei, und mit dem Papst ist es nichts. Der Kaiser verleihe dem Fürsten, Grafen und Ritter und Knecht, geistlichen und weltlichen Zoll und Steuer über das gemeine Volk, ach weh, ihr armen Dummköpfe! Die Geistlichen haben viele Pfründen, das soll nicht sein. Sie sollen nicht mehr haben als von Mal zu Mal. Sie werden erschlagen, und in Kürze werde es dazu kommen, daß der Priester sein kahles Haupt mit der Hand bedecken möchte, damit man ihn nicht erkennt. Wie der Fisch im Wasser und das Wild auf dem Feld Gemeineigentum sein soll … Es kommt noch dazu, daß die Fürsten und Herren um einen Taglohn arbeiten müssen … Er wolle noch eher die Juden [die kein sonderliches Ansehen hatten] bessern als die Geistlichen und Schriftgelehrten … Die Priester sagen, ich sei ein Ketzer, und wollen mich verbrennen. Wüßten sie, was ein Ketzer ist, sie erkennten, daß sie Ketzer sind und ich keiner. Verbrennen sie mich aber – weh ihnen! Sie werden wohl merken, was sie getan haben, und der Schaden wird an ihnen abgehen!»[3]

Im Jahre 1476 genügten solche Sätze, als gefährlicher Ketzer und Volksaufwiegler durch Verbrennung gerichtet zu werden. Im Juli ereilte Hans Böhm dies Schicksal, das er geahnt hatte. Und die Prophetie seiner Worte, die die geistlichen und weltlichen Herren betraf? – Weniger als ein halbes Jahrhundert später wütete der Bauernkrieg in den deutschen Gauen. Die Ungeduld der Bauern, der Lohnknechte und der noch Ärmeren war nicht länger zu zügeln. Böhms Flammentod wurde zum Fanal für die unzähligen, meist unbekannt gebliebenen kleinen und großen Bauernführer samt ihren Genossen, die sich endlich mit Gewalt das Recht verschaffen wollten, das ihnen und ihren Vorfahren durch Bitten und durch Fronen nicht zuteilgeworden war. Und als die verschiedenen Bauernbünde im süddeutschen Raum, in der Schweiz und in Österreich, im Südschwarzwald, am Oberrhein, in Franken und in Mitteldeutschland ihre Fahnen entrollten, hatte sich längst einer mit ihnen solidarisiert, der zwar nicht ihrem Stand angehörte, aber für ihr Recht eiferte und für den die Gerechtigkeit Gottes eine Sache war, bei der es um Sein oder Nichtsein ging, eine Sache, die man nicht nur mit religiös Begabten erörtern oder vor einer beschaulichen Gemeinde im umfriedeten Kirchenraum predigen konnte, sondern die man den Betroffenen – Bauern wie Herren – Auge in Auge sagen musste. Thomas Müntzer war dieser Mann, ein Umstrittener und Angefochtener, jedenfalls kein Leisetreter. Und da er scheiterte und zu seinen Lebzeiten keinen ebenbürtigen Anwalt seiner Sache fand, dafür aber prominente, nicht weniger eifrige Gegner und Verleumder, fiel von Anfang an ein tiefer Schatten auf sein Leben und Wirken.

Der prominenteste Widerpart, einer der ganz wenigen, die Müntzers Elan geistig und religiös gewachsen waren, wurde Martin Luther. Der Erfurter, später Wittenberger Augustiner hatte der mächtigen römischen Kurie den offenen Kampf anzusagen gewagt, als er die florierende, kirchlich geförderte Himmelslotterie des Ablassgeschäftes demaskierte (1517), als er verschiedene Glaubensverhöre und theologische Disputationen (1518/19) durchstand, in denen er sich gegen die Unfehlbarkeit von Päpsten und Konzilen wandte, die päpstliche Bannandrohungsbulle (1520) öffentlich verbrannte, in Worms (1521) vor Kaiser und Reich sich auf die Schrift und sein Gewissen berief und dadurch die alten Autoritäten durch neue ersetzte. Hätte der Feuergeist dieses Mönchs den Eiferer für die gerechte Sache der Bauern nicht begeistern müssen? Es geschah. Müntzer ergriff zunächst Luthers Partei. Und doch zeigte der rasche Verlauf des Reformationsgeschehens, dass der Wittenberger lediglich eine theologisch-kirchliche Reform, keinesfalls aber eine religiös motivierte Revolution wollte, die auch die materiellen Voraussetzungen der gesellschaftlich Deklassierten änderte. So konnte Luther die in ihn gesetzten Hoffnungen und Sympathien der Bauern ebenso wenig erfüllen wie die der Ritter (Franz von Sickingen, Ulrich von Hutten) oder der Humanisten (Erasmus von Rotterdam). Mit großem Misstrauen blickte der Reformator auf die entschiedenen und eilfertigen Verfechter seiner Lehre, die von der Predigt flugs zur Aktion schritten und die gewohnte Kindertaufe durch die in Verbindung mit ernsthafter Christusnachfolge geübte Glaubenstaufe der Erwachsenen ersetzten. Aufrührern, Empörern wider die Obrigkeit und Bilderstürmern gegenüber konnte Luther nur mit dem Ausdruck des Abscheus und des Hasses reagieren.

So war der Reformation binnen kurzer Zeit vor und nach dem Jahr 1525 ein «linker Flügel» erwachsen. Er setzte sich aus Täufern und Spiritualisten, aus Sozialrevolutionären wie Müntzer und sogenannten Schwärmern zusammen, zu denen Luther selbst die oberdeutschen und schweizerischen Reformatoren wie Huldrych Zwingli oder Johannes Oekolampadius rechnete. Besonnene Historiker, die Luthers Bewertung dieser Gruppen mit kritischer Distanz beurteilen, erblicken in ihnen Anzeichen von «Mangelerscheinungen der sich damals unter Luthers Einfluß konstituierenden evangelischen Christenheit»[4]. Es ist aber auch nicht so, dass heute Thomas Müntzer allein von seinen sozialistischen Schülern gegen manche allzu orthodox-lutherischen Verleumder in Schutz genommen wird. Seine Parteigänger finden sich an allen Fronten.

«Ich, Thomas Müntzer …»

Thomas Müntzers Aktivität, durch die er berühmt und berüchtigt geworden ist, scheint auf ein halbes Jahrzehnt zusammengedrängt. Es sind die Jahre von 1520 bis Ende Mai 1525, die zugleich zu den bewegtesten des Reformationsdramas gehören. In diesen fünf Jahren fallen wichtige Entscheidungen: für Martin Luther und die Reformation, für die Bauern in ihrem Ringen um elementare Menschenrechte, für Thomas Müntzer und die gesellschaftliche Revolution in Mitteldeutschland. Ins Licht der Geschichte tritt die Gestalt eines dreißig- bis fünfunddreißigjährigen Theologen und Predigers, den die Leidenschaft der reformatorischen Lehre ergriffen hat, über dessen Herkunft, Jugendentwicklung und erste Mannesjahre wir nur wenig wissen. Ein Biograph Müntzers muss sich daher mit einem Minimum an zuverlässigen Daten zufriedengeben.

1490 gilt als Müntzers Geburtsjahr, ist jedoch nicht exakt feststellbar. In Stolberg am Harz wird er als Sohn eines nicht ganz unvermögenden Handwerksmeisters geboren. Ich, Thomas Müntzer, bürtig von Stolberg[5], beginnt er selbstbewusst sein Prager Manifest im November 1521. In seiner Protestation von 1524 heißt es: Ich, Thomas Müntzer von Stolberg aus dem Harze, ein Knecht des lebendigen Gottessohns durch den unwandelbaren Willen und unverrückliche Barmherzigkeit Gottes …[6]

Die weiteren Stationen seines Lebensganges sind rasch aufgezählt. In Quedlinburg wächst der Junge heran. In Leipzig und Frankfurt an der Oder studiert er und erwirbt den Magistergrad. Es sind die Jahre zwischen 1506 und 1512. Das Wissen, das er sich angeeignet hat, übersteigt die Qualifikation eines Priesters bei weitem. Eine umfassende humanistische Bildung steht ihm zu Gebote. Neben der selbstverständlichen Kirchen- und Gelehrtensprache, dem Latein, beherrscht er das Griechische und das Hebräische. Die erste brauchbare hebräische Grammatik («De rudimentis hebraicis libri tres») hatte Johannes Reuchlin 1506, und die erste kritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments hatte Erasmus von Rotterdam zehn Jahre danach herausgebracht. Der literarisch gebildete Müntzer liest die antiken Schriftsteller, von Platons «Staat» bis Apuleius’ «Metamorphosen». Er nennt eine für die damalige Zeit umfangreiche Bibliothek sein Eigen. Neben einem intensiven Studium der Bibel, dessen Ertrag sich auf jeder Seite seiner mit Zitaten und Anspielungen angereicherten Schriften findet, steht das Studium der frühchristlichen Kirchenväter. Nachhaltigen Einfluss übt die mittelalterliche deutsche Mystik auf den späteren revolutionären Prediger und Flugschriftenautor aus. Durch Luther lässt sich Müntzer auf Johannes Tauler aufmerksam machen. Taulers Predigten begleiten ihn auf seinen zahlreichen Wanderschaften. Laufend informiert er sich über literarische Neuerscheinungen. «Buchführer», reisende Buchhändler wie Hans Hut, gehören daher auch zu seinen Briefpartnern.

Was die äußeren Ereignisse von Müntzers kurzem Leben anlangt, gestand er angeblich während der Gefangenschaft nach der Schlacht von Frankenhausen im Mai 1525, er sei in seiner Jugend zu Aschersleben und Halle an einem «Verbündnis» gegen Erzbischof Ernst von Magdeburg-Halberstadt beteiligt gewesen.[7] Da der Kirchenfürst bereits 1513 starb, wäre der – nicht sicher belegbare Vorgang – entsprechend früh anzusetzen. In Dresden wird eine Pergamenturkunde aufbewahrt, in der der Rat der Altstadt von Braunschweig «Thomam Munther Halber(stadensis)» für eine Altarpfründe in der Sankt Michaelskirche von Braunschweig vorschlägt. Das Dokument, das sich in Müntzers Briefsack gefunden haben kann, trägt das Datum vom 6. Mai 1514.

1516 hält sich Müntzer in Frose bei Aschersleben auf, wo er auch Unterricht erteilt. Halberstädter Bürgersöhne gehören zu seinen Schülern. In einem Brief an ihn vom 25. Juli 1517[8] wird er als «Thomas Monetarius» angesprochen und als «magister ac prepositus» (Propst) tituliert. In der Fastenzeit 1519 vertritt er Franz Günther, den Prediger an der Nikolaikirche von Jüterbog. Ferner bietet man ihm eine Kaplansstelle in der Nähe von Wittenberg an. Bis April 1520 aber ist Müntzer nach seinen eigenen Worten «confessor virginum», das heißt Beichtvater im Nonnenkloster Beuditz östlich von Naumburg. Mitte 1519 hält er sich in Leipzig auf. Hier ist er sehr wahrscheinlich mit Luther zusammengetroffen. Auf der Pleißenburg zu Leipzig findet vom 27. Juni bis 16. Juli die wichtige Disputation zwischen Luther und dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck statt. Mitdisputant ist Andreas Bodenstein aus Karlstadt am Main, daher Karlstadt genannt. Auch mit ihm sollte Müntzer in Verbindung treten. Wichtig für den Fortgang der Reformation ist die Leipziger Disputation, weil Luther nach den vorausgegangenen Glaubensverhören zum ersten Mal mit unmissverständlicher Schärfe die Unfehlbarkeit der Konzilien und der Päpste bestreitet und damit die Lehrgrundlagen der römischen Kirche in Frage stellt. «Sola scriptura – allein die Schrift» lautet von nun an das Formalprinzip der jungen Glaubensbewegung. Die alten Autoritäten, die «Lehren der Kirche», sind durch eine neue ersetzt. Indem Müntzer den Wittenbergern zustimmt, bejaht er auch ihre Orientierung an der Bibel. Bald sollte sich zeigen, vor welchem Missverständnis Müntzer das reformatorische Formalprinzip der Schrift geschützt wissen möchte.

Luther akzeptiert den jungen Parteigänger und vermittelt ihm eine Pfarrstelle, auf der er für die gemeinsame Sache, die Erneuerung des Evangeliums, wirken kann. Es ist die St. Marienkirche in Zwickau, wo Müntzer im Mai 1520 Johannes Wildenauer aus Eger, genannt Egranus, einige Monate lang zu vertreten hat. In Zwickau betritt der Dreißigjährige das Feld, auf dem ihm seine eigentliche Lebensaufgabe bewusst wird.

Die Stadt am Nordfuß des Erzgebirges ist damals der Kreuzungspunkt wichtiger Handelsstraßen, die einerseits West und Ost, andererseits Böhmen und die aufstrebende Messestadt Leipzig verbinden. Der Kornhandel und das Bierbrauereiwesen («Zwickisches Bier») sind dort heimisch. «Besonders aber blühte schon seit alters her in Zwickau die Tuchweberei. Die Tuchmacher, die bereits im Jahre 1348 Statuten festgesetzt hatten, waren die vornehmste Innung, und ihre Zahl soll in den besten Jahren (im 15. Jahrhundert) bis auf 600 gestiegen sein …»[9] Den Wohlstand Zwickaus begründeten nicht zuletzt die Schneeberger Silbergruben. Eine verhältnismäßig dünne Oberschicht von Patriziern, die durch Handel und Bergbau reich gewordenen «Fundgrübner», mehrten das Ansehen der Stadt. Sie statteten die Kirchen mit Stiftungen und fetten Pfründen aus. Sachsens reichster Mann war ein Zwickauer Bürger; Zwickaus reichste Pfarrei, die Marienkirche, war mit 23 Altären bestückt, für die 27 Messpfaffen zur Verfügung standen. Groß waren die sozialen Gegensätze und Spannungen. Kein Wunder, dass die verarmten Webermeister und die in totaler wirtschaftlicher Abhängigkeit lebenden Tuchknappen an der fortschreitenden Verweltlichung und Profitgier der Pfaffen und Mönche Anstoß nahmen. Kein Wunder, dass sie innerlich und äußerlich jenen Gruppierungen zuneigten, die nicht nur Gleichheit, Gemeinbesitz aller und Brüderlichkeit forderten, sondern auch zu verwirklichen suchten. Waldensisches und taboritisches Gedankengut, das «Winkelprediger» und Sendboten eines freien Geistes lehrten, fand bei den Zusammenkünften der kleinen Leute Gehör – auch die Kunde, die von Wittenberg her nach Zwickau getragen wurde. Hermann Mühlpfort, dem Bürgermeister, widmete Luther eine seiner reformatorischen Grundschriften von 1520: «Von der Freiheit eines Christenmenschen». Und Egranus, seit 1517 Pfarrer an der Marienkirche, ein feinsinniger, humanistisch gebildeter Theologe, war früh auf Luthers Seite getreten. Die Franziskaner wiesen sich indessen als Hüter des alten Glaubens aus. So kamen zu den gesellschaftlichen Spannungen religiöse.

Dies ist in Grundzügen die Situation, die der neue Prediger von St. Marien vorfindet. Er muss die Lage rasch erkannt haben, denn schon seine Antrittspredigt am 13. oder 17. Mai verrät ein Programm: Abrechnung mit den Heuchlern, mit den Profitgierigen, mit der Zudringlichkeit der altgläubigen Mönche, die – Pater Tiburtius von Weißenfels an der Spitze – von Menschengeboten mehr halten als von evangelischer Armut, vom Vollzug der herkömmlichen Zeremonien mehr als von der gelebten Christusnachfolge. Von Kanzel zu Kanzel tobt ein Streit. Der Magistrat, der zunächst den neuen Prediger stützt, hält im Herbst des gleichen Jahres eine Versetzung Müntzers an die Katharinenkirche für angebracht. Dies entspricht durchaus der Aufgabe, die Müntzer in Angriff genommen hat. Denn die Katharinenkirche hat nicht nur weniger Altäre, nicht nur weniger Messpriester; unter ihrer Kanzel versammeln sich vor allem diejenigen, deren Partei Müntzer zu ergreifen sich gedrungen fühlt: die Tuchknappen und die kleinen Handwerksleute, während sich die großen Hansen, wie Müntzer sie bald nennt, nach des Egranus Rückkehr vor allem in St. Marien versammeln.

Aber was hat der Prediger von St. Katharinen zu verkünden? Müntzer kennt die wirtschaftliche Not und die gesellschaftliche Deklassierung seiner Gemeindeglieder und ruft aus: Keiner mag sagen, daß er ein Christ sei, so er durch sein Kreuz nicht vorhin empfindlich wird, Gottes Wort und Werk zu erwarten … Es kostet viel Mühe, Gottes Werk zu erdulden![10] Das Thema, das in diesen Sätzen anklingt, ist die Predigt vom bitteren Christus, der alles andere ist als ein sanftes Jesulein, das, wie Ernst Bloch einmal sagt, «nicht beißt», von dem aber so mancher modern sich dünkender Bruder Sanftleben schwärmt. Dietrich Bonhoeffer, Rebell gegen Hitler im Namen dieses bitteren Christus, nannte die letztlich auf Luthers theologia crucis sich stützende Verkündigung eine Absage an die «billige Gnade». Müntzer weiß, was er wenige Monate später im Prager Manifest so ausdrückt: Gott redet alleine in die Leidlichkeit der Kreaturen, welche die Herzen der Ungläubigen nicht haben … Der Ungläubige will durch keinen Weg mit seinem Leiden Christi gleichförmig werden (Röm. 8, 29), er wills nur mit honigsüßen Gedanken ausrichten.[11] Oder in der Auslegung des Buches Daniel: Wann ein Mensch will seiner Wollust stetiglich pflegen – Müntzer sieht vor sich die allzu erfolgreichen «Fundgrübner» und die feisten Pfründenbesitzer unter seinen Kollegen – mit Gottes Werk zu schaffen haben und in keinem Betrübnis sein, so kann ihn auch die Kraft des Wortes Gottes nicht umschatten, Lukas 9, 34f. Gott der Allmächtige weiset die rechten Gesichte und Träume seinen geliebten Freunden am allermeisten in ihrem höchsten Betrübnis.[12] Diese Texte nehmen schon Inhaltliches der späteren Schriften vorweg; auch zeigen sie an, an welchem Punkt der zunächst noch in lutherischem Geist wirkende Prediger das lutherische Formalprinzip «allein die Schrift» kritisieren wird. «Nun war die spärliche Rede um, er hatte offenen Strom erreicht, gegen ihn, mit ihm zu schwimmen.»[13] «Gleichzeitig (d.h. seit Mitte 1520) traten die Widersprüche zwischen der bürgerlichen Reformation Luthers und den anderen Richtungen, die sich ihr angeschlossen hatten, deutlicher zutage. Für die Volksopposition wurde die Abkehr von Luther unvermeidlich.»[14] M.M. Smirin meint, dass das, was die marxistische Geschichtsdeutung die «Volksreformation Müntzers» (im Gegensatz zu der bürgerlichen bzw. «Fürstenreformation Luthers») bezeichnet, schon 1520/21 als Idee greifbar sei.[15] Auffällig ist zudem, dass der altgläubige Luther-Gegner Tiburtius und der Luther-freundliche Egranus bisweilen mit ähnlichen theologischen Argumenten gegen Müntzer vorgehen.