Thomas von Aquin - Stefan Blankertz - E-Book

Thomas von Aquin E-Book

Stefan Blankertz

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Beschreibung

Gehorsamkeit gegenüber Gott bedeutet, der eigenen Vernunft zu folgen (selbst wenn diese sich irren sollte): Thomas von Aquins Botschaft, dass Gott nicht herrsche, weder über den Einzelnen noch über die Gesellschaft, ist die Grundlegung einer anarchistischen Ethik. Dieses Buch stellt zentrale Textstellen des Aquinaten zur politischen Ethik vor (deutsch/lateinisch) und kommentiert sie nicht unter historischem, sondern aktuell sozialphilosophischem Interesse.

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Inhalt

æ. An den Rand geschrieben 1

I. Gott herrsche nicht

II. Fingerfood

III. An den Rand geschrieben 2

IV. Konstruktion oder Wahrheit

V. Thomas wiedergewinnen

VI. Sich nähren

VII. An den Rand geschrieben 3

VIII. Leidenschaft

Thomas-Texte

Weisheit der Leidenschaft

Bewegung zum Guten

IX. An den Rand geschrieben 4

X. Gegenpolitik

XI. Vernunft ist Recht ist Vernunft

XII. Licht jeder Seele

Erhard Doubrawa:

Zum Geleit

æ

An den Rand geschrieben

Numerologie

Kaum eine Philosophie lebt wie die des Aquinaten vom »Deshalb« und »Darum«, vom »Folglich«, besonders in den Kommentaren zu Aristoteles. Wenn ich stattdessen im Gefolge von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« (1886) und Adornos »Minima Moralia« (1951) gleichsam Häppchen, pedantisch nummeriert, präsentiere, verhalten sie sich wie rap zum Satz. Sie sind der Kontrapunkt, um nicht von Überorchestrierung verschlungen zu werden. Schlagen Sie das Buch auf, wo der Zu=Fall es will, lassen Sie Ihr Auge schweifen und verweilen Sie dort, wo angesprochen Sie sich fühlen. Von da aus zurück und vor.

Grammatik

In seiner produktivsten Zeit diktiert Thomas von Aquin mehreren Schreibern parallel verschiedene seiner Werke. Die Schreiber sitzen in abgetrennten Räumen und Thomas wandelt von Raum zu Raum wie ein Simultanschachspieler. Seine geschriebene Sprache ist gesprochene Sprache. Wortschatz, Semantik und Grammatik des Mittellateins reichen kaum hin, das auszudrücken, was Thomas sagen will. Grad darum, weil er die Möglichkeiten der Sprache ausreizt und bis zum Bersten mit Sinn, Verstand und Logik füllt, ist seine Sprache an Klarheit, Schönheit und Erfindungsgeist – in meinen Augen und Ohren – kaum zu überbieten. Folglich bei jedem Zitat das lateinische Original.

scholastisches liebeslied

bevor ich was bemerken konnte

vorab was konnte dich erkennen

die körper haben JA gesagt doch

die seelen fanden sich als erstes

und wiesen uns den weg zu uns

die seele sei die form des körpers

so sagt der meister und das hieße

der körper ist substanz der seele

die seele haben wir vom schöpfer

FÜR GABY. — Aus: Stefan Blankertz, PERFEKT verdichtet: verse & andere geschichten, in der edition g. 201, S. 84.

Schriftenreihe

Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik in der edition g.

Stefan Blankertz

101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge

104 Das libertäre Manifest:

Zur Neubestimmung der Klassentheorie

105 Pädagogik mit beschränkter Haftung:

Kritische Schultheorie

106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele

107 Die Katastrophe der Befreiung:

Faschismus und Demokratie

110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt

111 Mit Marx gegen Marx

Murray Rothbard

102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt,

Band 1: Staat und Krieg

103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt,

Band 2: Soziale Funktionen

Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.

I

Gott herrsche nicht

1.

Zueignung. — Einen ersten Versuch, über Thomas unter dem Titel »Die Nahrung der Seele« zu veröffentlichen, hatte ich meiner Mutter gewidmet, zu ihrem Geburtstag am 5.4.1994. Aufgrund verlagsseitigen Desinteresses wurde daraus nichts. Nun widme ich ihr, leider posthum, dieses Buch.

2.

Die Wahrheit katholischer Theologie sei deren Atheismus. — Mit diesen Worten hatte ich schon immer ein Buch anfangen wollen.ia Selbstverständlich geht es nicht im Sinne des strenggläubigen Atheismus darum, meinen zu wollen, dass Gott nicht existiere. Vielmehr geht es darum, dass uns, wie Thomas formuliert, das von jedem (auch gedachten) Stoff getrennte Sein »unbekannt« bleibe.lb Freilich können wir über den unbekannten Gott vieles aussagen, allerdings nicht das, was er ist, sondern das, was er nicht ist.2 Die Aussagen über das im Stoff verhaftete geschaffene Sein sind auf Gott nicht anzuwenden. Die Entwicklung des Gottesbegriffs aus einer Negation bedeutet, dass unter Berufung auf Gott keine positiven, verbindlichen Regeln formuliert werden können. Das meine ich mit katholischem Atheismus: Gott herrsche nicht.

3.

Rekonvaleszenz. — Eine Verzweiflung, die nicht rettet, ist gescheitert. Denn Scheitern ist der getäuschte Optimismus. Zynismus wird Medizin und Scheitern wird Gelingen.

4.

Thomas, richtig gelesen, ist kein Theologe der reaktionären katholischen Kirche. Bestenfalls erdrückt sie ihn durch Umarmung, lieber noch verschweigt sie ihn. Die Editionen seiner Werke stecken in einem Desaster, Übersetzungen bleiben rudimentär und Kommentare versuchen, die Blickrichtung der Leser zu manipulieren. Nicht ohne Grund ist er dagegen der Held klassisch liberaler, anarchistischer sowie libertärer Denker von Lord Acton (1834-1902) über Ayn Rand (1905-1982), Paul Goodman (1911-1972), Murray Rothbard (1926-1995) bis hin zu mir selber. Wer von dieser eigentümlichen Begeisterung wissen will, der wird in diesem Buch Nahrung finden, um seinen Hunger zu stillen.

5.

»Von uns selber aber schweigen wir, es geht um die Sache«, hatte Immanuel Kant (1724-1804) seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1881/87) als Motto vorangestellt, indem er Francis Bacon (1561-1626) zitierte. Und wenn es auch das Motto von Thomas sein könnte, durchbreche ich es hier und gebe Rechenschaft über die Entwicklung der Beschäftigung mit Thomas. Begonnen hat sie, als ich 1974 »Compulsory Mis-education« (1964), die schulkritische Streitschrift Paul Goodmans, ins Deutsche übersetzte (und dabei Englisch lernte). Wie konnte es sein, dass ein schwuler Anarchist, jüdischer Abstammung, >St. Thomas < zitierte und zwar ausgerechnet in Sachen der Sexualethik? Diesem Rätsel musste ich auf den Grund gehen. Das einzige Buch, das ich fand, um mir weiterzuhelfen, hieß »Die Sexualethik des hl. Thomas von Aquin« von Josef Fuchs, S.J., aus dem Jahre 1949, stockkatholisch; dennoch wurde ich, indem ich das zwischenzeilige Lesen übte, fündig, um eine entsprechende Fußnote in der Übersetzung platzieren zu können (leider mit einem peinlichen Fehler im lateinischen Zitat und bei den Lebensdaten des Aquinaten).3 So fing ich Feuer und setzte meine Erforschungen fort. Zur Promotion 1983 schenkte meine Großmutter mir einige Bände aus zwei unvollendeten »vollständigen« Ausgaben, zum Teil mühsam antiquarisch zusammengesucht, darunter die »Tugenden des Gemeinschaftslebens«, Bd. 20 der »Deutschen Thomas-Ausgabe der Summa Theologica«, 1943 erschienen, hervorgegangen aus dem katholischen Arbeiterwiderstand und vorläufiges Ende der immer noch unvollendeten Edition. Zwei der Bände (die ersten beiden der »Summa contra gentilis« [Summe gegen die Heiden] in der Edition der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft) befanden sich in der Aktentasche meines Vaters, als er den tödlichen Unfall hatte. Jahrelang konnte ich sie nicht anschauen. Ein erstes Papier zu Thomas legte ich meiner Großmutter vor, die ihr Leben lang kirchenfeindlich war (ihre Großmutter väterlicherseits hatte dafür »gesorgt«, dass sie nicht Chemie studieren durfte, was sie wollte, um ihren Vater, einen Kosmetikfabrikanten, zu unterstützen, sondern anstatt dessen ein Nonnenstift besuchen musste), nach dem Tod ihres Sohnes und im Angesicht des eigenen Todes jedoch mit Theologie sich beschäftigte.4 Das erste Buch, das allein von Thomas handelt, trägt den Titel, der mir bis heute lieb und teuer ist: »Vernunft ist Widerstand«.5 Ich hatte eine Verbindung der Philosophie von Thomas zu der – von Paul Goodman mitbegründeten – Gestalttherapie entdeckt.6a Von da an blieb noch ein weiter Weg, bis ich im Sommerurlaub 1997, den vierten Teil der »Summa contra gentilis« lesend, bereit war, mich zum Katholizismus zu bekennen, gleich in welch beklagenswertem Zustand sich die Kirche, vom Papst angefangen bis hinunter zu bigotten Restgläubigen, befinde. Am 18. April 1998, um 17:30 Uhr, empfing ich, evangelisch-lutheranisch getaufter Christ und zu jener Zeit konfessionslos, die Erstkommunion durch die Hand von Kaplan Peter Bayer in der Hubertus-Kirche zu Sinnersdorf. In diesem Buch will ich Zeugnis ablegen über meinen Glauben in Zeiten, die Martin Buber eine »Gottesfinsternis« (1953) nannte.

6.

Mein Weg zu Dir, Gott, ist steinig und wird es bleiben. Einfach den Weg der Offenbarung wiesest Du mir vorerst nicht. Gläubiger Atheist war ich jedoch nie. Dem militanten Antiklerikalismus meiner frühen Helden – den Klassikern des Anarchismus wie Max Stirner (1806-1856), Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), Michael Bakunin (1814-1876) und Peter Kropotkin (1842-1921) – konnte ich schwerlich etwas abgewinnen. Die Religiosität Jean-Jacques Rousseaus (17121778), Leo Tolstojs (1828-1910) oder Bubers (1878-1965) blieb mir gleichwohl fremd; Gustav Landauer (1870-1919) empfand ich als nicht eindeutig genug. Ich ging davon aus, Immanuel Kant habe bewiesen, dass die Frage der Existenz Gottes vernünftig keiner Aufklärung zugänglich sei. Später vermittelten mir Paul Goodman und Murray Rothbard den positiven Begriff der Scholastik.

7.

Wohltuend empfand ich es, als ich mir Thomas von Aquin in eigener Lektüre zu erschließen begann, dass er völlig darauf verzichtete, mich zum Glauben zu drängen. Nach und nach reifte in mir die Erkenntnis, dass Thomas' Theologie wenig mit der irrationalen und dogmatischen Esoterik unserer Tage zu tun hat. Heute fordere ich eine Besinnung auf die Religion der Vernunft – nach Kant mit Thomas.

8.

Feindschaft Martin Luthers (1483-1546) der Philosophie gegenüber ließ das Protestantische mir fremd werden.6b Thomas von Aquins katholische Vernunftphilosophie klang in meinen Ohren überzeugender: Die Natur jedes Menschen wäre seine Vernunft. Sie ist das Licht, das er von seinem Schöpfer empfangen hat. Darum dürfte kein Mensch blind anderen Menschen oder irgendeiner sonstigen Autorität, wie etwa »der Natur«, folgen. Er müsste seinen eigenen Gründen gehorchen. So gehorchte er Gott.

9.

Die bloße Philosophie der Vernunft ohne eine spirituelle Dimension ist, wie ich dann ebenfalls unter der Anleitung Thomas von Aquins feststellen konnte, auch nur das halbe Mahl: Ohne Gott, der allein die Vernünftigkeit der Vernunft verbürgt, verfiele unsere Vernunft der Bedeutungslosigkeit. Sähen wir die Vernunft nicht als Gnade Gottes, sondern als ein entweder zufälliges oder bloß funktionales Produkt der Evolution an, dürften wir nicht darauf vertrauen, dass sie zur Wahrheit ein positives Verhältnis habe.

10.

In wahrhaft katholischer Theologie gibt es keinen Gegensatz zwischen Vernunft und Glauben. Darum bekenne ich mich zum katholischen Glauben, um meine Vernunft nicht zu verraten, gleichwohl etwas für mein Seelenheil erwarten zu dürfen. Der Rest sei Offenbarung.

11.

Das Bekenntnis zum katholischen Glauben, das nicht auf Herkommen beruht, sondern inmitten des Lebens bewusst ausgesprochen wird, ruft Verwunderung und Ablehnung hervor. Von den Kreuzzügen über Inquisition und Hexenverfolgung bis hin zur autoritätshörigen Gedankenlosigkeit und zur Ablehnung von Verhütung und Abtreibung werden historische Verfehlungen als die »Kriminalgeschichte« der Kirche herbeizitiert, um die prinzipielle Unanständigkeit des Christentums zu belegen.7 Wer so argumentiert, fühlt nicht das Sakrament der Vergebung. Wären die Menschen keine Sünder, hätte Jesus nicht für uns sterben müssen. Die Forderung, »Christen« (oder wenigstens deren kirchlichen Vertreter) sollten ohne Sünde leben, ist nicht christlich. Sie zu erfüllen, ist unmöglich.

Stein des Anstoßes stellt die unterstellte Orientierung des eigenen Lebens an der kirchlichen oder staatlichen Obrigkeit dar. Demgegenüber ist es gut katholisch, Gott anstatt der menschlichen Obrigkeit gehorsam zu sein. Sünde ist es nicht, unserer Natur und unserer Vernunft zu gehorchen, die wir von Gott haben. Sünde ist es vielmehr, Anweisungen von Autoritäten zu folgen, die im Gegensatz zu dem stehen, was wir als unsere Natur und unsere Vernunft erkennen. Wer etwas anderes predigt, ist kein Katholik, sondern Sektierer.

Alles das abzulehnen und zu bekämpfen, was die Liebe zum Leben schmälert, ist für mich Inhalt christlichen Glaubens. Das Sakrament hilft mir, die Kraft zu haben, das Leben zu lieben und zu genießen, obgleich Menschen die Schöpfung mit Füßen treten und die Gnade Gottes ausschlagen. Es mag ja ungerecht sein, aber ich kenne keinen anderen als den katholischen Glauben, der in gleicher Weise diesseitig zum Leben und zum Denken steht.

Darum danke ich dem Herrn, dass er mir durch die Philosophie des Thomas von Aquin den Weg zu Ihm im Denken ebnete und dass er mir mit Peter Bayer die Hand reichte und einlud, in Seiner Kirche Platz zu nehmen. Amen.

12.

»Wer« oder »was« ist dieser Gott nach Thomas? Thomas geht aus von der aristotelischen Unterscheidung von »zusammengesetztem« und »einfachem« Sein. Zusammengesetztes Sein korrespondiert mit der Möglichkeit, das einfache Sein mit der Wirklichkeit oder Aktualität. – Nehmen wir den »Tisch« als Beispiel. Ein gegenständlicher Tisch enthält aufgrund der stofflichen Eigenschaften eine Reihe von Möglichkeiten, die außerhalb seines Tisch-Seins liegen. Man kann sich auf ihn stellen oder auf ihn setzen. Ist er aus Holz, kann man ihn verfeuern. Ebenso ist es möglich, das Material des Tisches neu und anders zusammenzusetzen. Oder der Gegenstand ist als Barriere zu verwenden. All diese Möglichkeiten bestehen, weil der Tisch sich »zusammensetzt« aus Stoff und Gestalt, aus Materie und Funktion. Jeweils eine Möglichkeit lässt (oder auch mehrere Möglichkeiten lassen) sich verwirklichen, aber nie alle zugleich.

Da es Prinzip der Existenz im Allgemeinen und des Lebens im Besonderen ist, aus Möglichkeit in Wirklichkeit zu treten – oder: die Möglichkeiten zu verwirklichen –, strebt alles zum einfachen Sein, d. h. zur vollständigen Verwirklichung. Genauso können wir sagen: »strebt zum Kontakt.« Denn das, was kontaktierbar ist, ist verwirklicht (ist im »Hier- und-Jetzt«). Die Verwirklichung im Kontakt ist das »Gut« jeder Bewegung. Der vollständige Kontakt – vollständiges »Gewahrsein« – wäre damit das absolute Gut. »Wäre«: Denn unter den uns bekannten Bedingungen ist ein vollständiges Gewahrsein im Kontakt mit »allem« nicht zu denken. Das müsste einem Sein entsprechen, das zugleich durch Wirklichkeit und Unstofflichkeit gekennzeichnet ist. Wir kennen jedoch nur stoffliche Wirklichkeit und unstoffliche Möglichkeit. Die menschliche Seele zeigt im Akt des Denkens das Modell eines unstofflichen Kontakts. Da sie allerdings notwendig auf den Körper angewiesen ist, um in Kontakt zu treten, kann ihr nicht vollständige Verwirklichung des einfachen Seins zugesprochen werden.

Vollständige Verwirklichung kennzeichnet Gott. Nicht zu erkennen, nicht wahrzunehmen, nur anwesend in unserem Denken, seinem Abglanz. Eigenes Denken zu beschneiden, zu verleugnen, zu unterdrücken, anderen Autoritäten zu unterstellen, oder dem Denken anderer mit Intoleranz zu begegnen (es nämlich der eigenen Autorität unterstellen zu wollen) – das ist Ungehorsam gegen Gott.

13.

Du sollst Dir [k]ein Bild machen. — Fundamentalistische Verbindung von Politik und Religion ist Gotteslästerung. Gott wird missbraucht, um weltliche Ansprüche auf Herrschaft und Bevormundung zu rechtfertigen. Ein 14 jähriger Junge wird getötet, weil er Witziges von Gott erzählt; ein Schriftsteller wird zum Tode verurteilt, weil er die sexuellen Phantasien des Propheten beschreibt; ein Regisseur wird verfemt, weil er die »letzte Versuchung Christi« visualisiert hat.8a Wer sich ein solch kleingeistiges Bild von dem Willen Gottes macht, ist im wahren Sinne ungläubig zu nennen.

14.

Gott als Politiker. — Gleichwohl ist Gott nicht unpolitisch. Der Allmächtige zeigt sich bemerkenswert wenig erfolgreich darin, die Menschen zu einer menschenwürdigen Form des Zusammenlebens zu bringen. Gott lässt seinen Misserfolg zu, weil der Einsatz seiner Allmacht sein Ziel vereitelte, dass die Menschen freiwillig seinem guten Willen gehorchen mögen. Doch nur im Ungehorsam beweist sich, dass die Menschen frei sich entscheiden können. Dies ist das Paradox göttlicher Politik. Die Durchsetzung von weltlicher Ordnung mit Gewalt jedenfalls ist nicht ein Abbild der göttlichen Ordnung. Gott herrscht nicht (andernfalls könnte ja auch kein Mensch herrschen).

15.

Rettungsausfälle. Die Ohnmacht der Allmacht. Das Kreuz des Herrn.

1. Elend ist vermeidbar, Leiden nicht. Den Menschen empört es, dass der Allmächtige so viele Leiden zulässt. Dabei hat Gott einst mit der Sintflut versucht, das von den Menschen selbstverschuldete Elend einzudämmen. Dass er seinen Sohn am Kreuz sterben ließ, ist das späte Eingeständnis, nicht eingreifen zu können. Der Eingriff wäre bloß unter Preisgabe der Entscheidungsfreiheit des Menschen möglich. Dennoch: Muss es Gott nicht schwer fallen, still zu halten, wenn in Seinem Namen Waffen gesegnet, Andersgläubige verfolgt, Ehebrecherinnen gesteinigt, Familienplanungen verboten werden? Aber Er hat keine Wahl. Wir schon.

16.

2. Mt 4.8Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9und sprach zu ihm: >Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.< 10Da sprach Jesus zu ihm: >Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« < 11Da verließ ihn der Teufel.

Ein starkes Stück. Gott verzichtet hier auf seine (All-) Macht. Diese Stelle unterstreicht den ultimativen Machtverzicht bei der Verhaftung und beim Kreuzestod. Die Hoffnung auf Wiederkehr, Endkampf und Machtübernahme erscheint in diesem Zusammenhang eher das Unbehagen der Menschen wiederzuspiegeln, die Hoffnung auf die Erlösung durch Macht, die es nicht geben kann. Denn wer die Macht nimmt, wird zum Teufel. Was bleibt Bruder Jesus? Eine Heilung hier und da, die minimalinvasive Arbeit im und am Kleinen.

Paul Goodmans Kritik an Großlösungen, an militärischen Lösungen,8b F.A. Hayeks Kritik am Konstruktivismus sind Echos des göttlichen Machtverzichts. Und sie sind aktuell. Wir sehen, im Prinzip seit dem ersten Weltkrieg, wie die Vorstellung der USA, durch Macht Gutes zu tun, sich stets ins Gegenteil verkehrt. Aus dem Schaden aber werden wir anscheinend nicht klug.

17.

3. Mt 26. 51Und siehe, einer von denen, die bei Jesus waren, streckte die Hand aus und zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab.52Da sprach Jesus zu ihm: >Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. 53Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?< 27. 39Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40und sprachen: >Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!< 41Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sie sprachen:42>Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. 43Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: »Ich bin Gottes Sohn.«< 44Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.

Starke Stücke. Gott verzichtet auf seine (All-) Macht.8c Die Geschichte des offiziellen Christentums ist die Geschichte, die subversive Kraft dieses Machtverzichts (und Rettungsausfalls) zu neutralisieren.

1a In »Therapie der Gesellschaft« (1998) bildete er den Anfang des Schlusskapitels und ich schrieb: »Ich bin froh, dass jetzt eines mit ihnen schließt: Der Satz wäre am Anfang leicht misszuverstehen gewesen.« Inzwischen habe ich weniger Angst vor Missverständnissen, weiß vielmehr um ihre produktive Bedeutung. Jetzt bin ich vor allem froh, dass ein Buch den Titel »Nahrung der Seele« tragen kann, wie schon 1995 ein unveröffentlichter Nachfolger zu »Vernunft ist Widerstand« (1993) heißen sollte, jedoch vom Verleger abgelehnt wurde; dann sah ich den Titel für ein anderes Projekt vor, das durch Intervention des Verlages zur »Therapie der Gesellschaft« wurde. Bis heute heißt deren digitaler Ordner schlicht »Nahrung«.

1b »Das ist das Äußerste menschlichen Begriffs von Gott, dass er wissen möge: Gott lässt sich nicht wissen.« Thomas von Aquin, Quæstio disputata depotentia, 7-5-14. »Illud est ultimum cognitionis humanæ de Deo, quod sciat se Deum nescire.«

2 »Der heilige Augustinus sagt: Was man über Gott sagt, das ist nicht wahr, und was man über ihn nicht sagt, das ist wahr. Was immer man auch sagt, was Gott sei, das ist er nicht; was man nicht über ihn sagt, das ist er eigentlicher als das, wovon man sagt, es sei Gott.« Meister Eckhart. Aus der Predigt »Homo quidam fecit cenam magnam« (»ein Mensch hatte ein Abendmahl bereitet«), Lk 14, 16.

3 Goodman: »Wie St. Thomas sagt, ist die hauptsächliche menschliche Absicht des sexuellen Kontaktes, sich kennenzulernen.« (Das Verhängnis der Schule, S. 87.) Anmerkung 75 (S. 116): »Thomas von Aquin (1193 [1224]-1274); vergl. J. Fuchs, Die Sexualethik des heiligen Thomas von Aquin, Köln 1949, S. 134 u. 290; eine charakteristische Wendung von Thomas dazu lautet: »magis conju[n]ctus magis amatur« (Fuchs, S. 134).«

4 Dieses Papier erschien einige Jahre später in dem Buch: Stefan Blankertz, Gestaltkritik: Paul Goodmans Sozialphathologie in Therapie und Schule, Köln 1990, mit dem Titel: »Aufklärung des Alltags. Ob Eisessen vernünftig sei?«

5 1993: »Edition humanistische Psychologie«. Der geplante Nachfolger wurde vom Verlag abgelehnt und Teile brachte ich mühsam und gegen verlegerische Widerstände hier und dort unter. Große Bruchstücke sind in »Gestalt begreifen« (zuerst 1996, 4., überarbeitete Auflage Wuppertal 2011) sowie in diesem Buch eingebacken. »Progressive« Verleger finden Thomas einfach ungenießbar. Ein konservativer Verleger, dem ich das Manuskript von »Lust auf Leben« (2001), auf Anregung meines Freundes Erhard Doubrawa geschrieben, und auch in diesem vorliegenden Buch neuverwurstet, schrieb, er könne es nicht ins Programm nehmen, weil ich die Meinung von Thomas durch meine eigene ersetzen würde – ich hatte mir erlaubt, thomasisch zu erforschen, was das Adjektiv »widernatürlich« im Urteil, Homosexualität sei widernatürlich, bedeutet. Immerhin ist die Romanversion (»Die stumme Sünde« [2003], jetzt in Bd. 1 von »Johannes, Schüler des El Arab«, edition g. 301-302) damals durch die Zensur geschlüpft. Vgl. unten Nr. 182.– Der Vollständigkeit halber sei noch das Heft »Vertrauensbeweis« (Wetzlar 1994) erwähnt, auf Hanfpapier gedruckt, wo zuerst ich den Anschluss von Kant an Thomas' Gottesbeweis aufzeigte. Vgl. unten die Nrn. 36 bis 40 und 44 bis 47.

6a Zur Gestalttherapie vgl. Stefan Blankertz, Gestalt begreifen, zuerst 1996, vierte, stark überarbeitete Auflage Wuppertal 2011, S. 61 ff und 75 ff.

6b »Als wüsten wyr nicht, das die vernunfft des teuffels hure ist.« (1525) Weimarer Ausgabe, Abt. Schriften/Werke, Bd. 18, S. 164.

7 Vgl. Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, seit 1986 bis 2013, zehn Bände.

8a Beispiele teils weit über zwanzig Jahre alt. Sie klingen, als habe man so etwas vorhin in den neuesten Nachrichten mitgekriegt.

8b Nicht zu vergessen Ernst Jünger, Heliopolis (1949): Der »Regent« greift nicht ein, denn Gewalt würde seine Mission vereiteln.

8c Zu den jüdischen Wurzeln dieses monotheistischen Anarchismus vgl. Martin Buber, Königtum Gottes (1932), Heidelberg 1956, S. 28: »Das, was ihr für Theokratie ausgebt, ist Anarchie gewesen.« Rainer Neu, Von der Anarchie zum Staat, Neukirchen 1992: »Israel [...] ist in seinen Anfängen eine segmentär-anarchische Gesellschaft. Die Errichtung des Königtums [...] kann nur mit Gewalt gegen den Widerstand der Kräfte der traditionalpatriarchalen Gesellschaft durchgesetzt werden« (S. 323). Generell jedoch gilt »mit dem Glauben an einen einzige Gott wurde wie unvermeidlich die religiöse Intoleranz geboren« (Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion [1939], Studienausgabe, Bd. 9, S. 471).

II

Fingerfood

18.

Hunger. — »Lieben bedeutet, sich ein Gut mit der Kraft des Hungers anzupassen. Niemand, der sich etwas Ihmgemäßes anpasst, wird dadurch beschädigt. Vielmehr wächst er und wird besser. Wer sich jedoch etwas ihm nicht Gemäßes anpasst, wird beschädigt und kommt vom Weg ab. Liebe vervollkommnet und verbessert den, der etwas ihm Gemäßes liebt. Liebe beschädigt und entfremdet den, der etwas ihm nicht Gemäßes liebt. Darum ist es die Liebe zu Gott, die den Menschen am meisten vervollkommnet und verbessert. Die Liebe zur Sünde dagegen beschädigt und entfremdet, nach Hosea 9, 10: >Abscheulich sind sie geworden, wie das, was sie genossen haben.<«9

19.

»Was hier von der Liebe gesagt wurde, gilt insoweit sie Form ist, insoweit sie Hunger ist. Insoweit die Materie des Liebesleidens, der physiologische Prozess, gemeint ist, kann die Liebe allerdings beschädigen, nämlich durch ein Übermaß an Veränderung. Das ist bei der Liebe ebenso wie bei den Sinnen und jeder Fähigkeit der Seele, die durch organische Veränderung sich ausdrückt.«10

20.

»Der Liebe können vier ganz unmittelbare Wirkungen in der Tat zugeordnet werden, und das sind Schmelzen und Behagen, Mattheit und Feurigkeit.«11

21.

Dahinschmelzen. — »Das Schmelzen, das der Verhärtung widerstreitet, ist die erste Wirkung. Der Verhärtete, der sich auf sich selber beschränkt, kann nichts in sich hineinlassen. Zur Liebe aber gehört, wie gesagt, dass mit Hunger das geliebte Gut aufgenommen und angepasst wird, damit das Geliebte im Geliebten ist. Darum ist das harte oder verhärmte Herz eine Verfassung, die dem Lieben entgegensteht. Mit Schmelzen dagegen wird die Erweichung des Herzens beschrieben, die das Herz bereit macht, um das Geliebte in sich hineinzulassen.«12

22.

Verzehren. — »Ist das Geliebte im gegenwärtigen Besitz, löst das Befriedigung oder Behagen aus. Ist es dagegen abwesend, folgen zwei Leiden: Trauer über das Abwesen, die sich in Mattheit zeigt (darum beschreibt Cicero in den >Gesprächen in Tusculum< die große Traurigkeit als Siechtum) und intensives Verlangen, das Geliebte zu erreichen, das sich im Feuereifer zeigt.«13

23.

»So wirkt die Liebe formal gesehen im Bezug auf die Kraft des Hungers, nach einem Objekt zu verlangen. Beim Lieben nun stellen sich weitere, diesen Objekten entsprechende Wirkungen aufgrund von physiologischen Prozessen ein.«14

24.

Nicht kopflastig. — »Niemand kann ohne sinnlichen Genuss und körperliche Lust leben. Die Verdrängung der Vernunft bei Tätigkeiten, die den körperlichen Bedürfnissen folgen, etwa Sexualität, behindert zwar die Vernunft, auch wenn es vernunftgemäßes Handeln ist. Aber dies ist nicht moralisch schlecht, so wie auch der vernünftig eingesetzte Schlaf moralisch gesehen nicht schlecht ist, obgleich er den Vernunftgebrauch unterbricht: Denn die Vernunft selber bestimmt, dass bisweilen von der Vernunft abzusehen sei.«15

25.

Ayn Rand. — »Thomas von Aquin gewann die aristotelische Auffassung von Vernunft wieder für die europäische Kultur und ebnete den Weg zur Renaissance. Für kurze Zeit, im 19. Jahrhundert, als sein Einfluss unter den katholischen Philosophen am stärksten war, erhob seine Größe die Kirche fast zur Vernunft (obgleich zum Preis eines inneren Widerspruchs). Heute beobachten wir das Ende der thomistischen Linie – die Kirche wendet sich zurück zu seinem Erzfeind, der besser zu ihr passt, dem vernunft- und lebensfeindlichen heiligen Augustinus.«16

26.

Murray Rothbard. — »Die absolute Unabhängigkeit des Naturrechts von der Frage der Existenz Gottes findet sich eher indirekt beim heiligen Thomas; aber wie so viele der Implikationen des Thomismus wurde sie von Suarez und den anderen überragenden spanischen Scholastikern des 16. Jahrhunderts herausgearbeitet.«17

27.

Francisco Suarez. —»Selbst wenn Gott nicht existierte oder keinen Gebrauch von seiner Vernunft machte oder nicht richtig über die Dinge urteilte, würde sich am Naturrecht nichts ändern, solange der Mensch über eine ihn leitende Vernunft verfügt.«18

28.

Paul Goodman. — »Der hl. Thomas, Moralphilosoph der Katholiken, stellt heraus, dass der menschliche Hauptsinn der Sexualität darin bestehe, mit einander in Kontakt zu treten. Ich weiß nicht, ob die Katholiken unter Ihnen mit dieser Interpretation einverstanden sind, aber die Kirche wäre um vieles besser, wenn sie die Ideen des Aquinaten ernst nähme.«19

29.

Dorothy Day. — »Unsere Probleme erwachsen daraus, dass wir dies üble System hinnehmen.«20

9Summa theologica, I-II, 28-5. »Amor significat coaptationem quandam appetitivæ virtutis ad aliquod bonum. Nihil autem quod coaptatur ad aliquid quod est sibi conveniens, ex hoc ipso læditur: sed magis, si sit possibile, proficit et melioratur. Quod vero coaptatur ad aliquid quod non est sibi conveniens, ex hoc ipso læditur et deterioratur. Amor ergo boni convenientis est perfectivus et meliorativus amantis: amor autem boni quod non est conveniens amanti, est læsivus et deteriorativus amantis. Unde maxime homo perficitur et melioratur per amorem Dei: læditur autem et deterioratur per amorem peccati, scundum illud Osee IX: >Facti sunt abominabiles, sicut ea quæ dilexerunt.< «

10 Ebd. »Et hoc quidem dictum sit de amore, quantum ad id quod est formale in ipso, quod est scilicet ex parte appetitus. Quantum vero ad id quod est materiale in passione amoris, quod est immutatio aliqua corporalis, accidit quod amor sit læsivus propter excessum immutationis: sicut accidit in sensu, et in omni actu virtutis animæ qui exercetur per aliquam immutationem organi corporalis.«

11 Ebd. »Ad ea vero quæ in contrarium obiiciuntur, dicendum quod amori attribui possunt quatuor effectus proximi: scilicet liquefactio, fruitio, languor et fervor.«

12 Ebd. »Inter quæ primum est liquefactio, quæ opponitur congelationi. Ea enim quæ sunt congelata, in se ipsis constricta sunt, ut non possint de facili subintrationem alterius pati. Ad amorem autem pertinet quod appetitus coaptetur ad quandam receptionem boni amati, prout amatum est in amante, sicut iam supra dictum est. Unde cordis congelatio vel duritia est dipositio repugnans amori. Sed liquefactio importat quandam mollificationem cordis, qua exhibet se cor habile ut amatum in ipsum subintret.«

13 Ebd. »Si ergo amatum fuerit præsens et habitum, causatur delectatio sive fruitio. Si autem fuerit absens, consequuntur duæ passiones: scilicet tristitia de absentia, quæ significatur per languorem (unde et Tullius, in III >De Tusculanis quæstionibus<, maxime tristitiam ægritudinem nominat); et intensum desiderium de consecutione amati, quod significatur per fervorem.« Marcus Tullius Cicero, 106-43 v. Chr. Tusculanæ disputationes (45 v. Chr.), dt. meist Gespräche in Tusculum. Obwohl Thomas im Gegensatz zu Ciceros Stoizismus eher ein Hedonist ist (vgl. S. 71ff), ist Cicero bei der Tugendlehre, dem Naturrecht und den Gottesbeweisen eine wichtige Inspiration für ihn.

14 Ebd. »Et isti quidem sunt effectus amoris formaliter accepti, secundum habitudinem appetitivæ virtutis ad obiectum. Sed in passione amoris, consequuntur aliqui effectus his proportionati, secundum immutationem organi.«

15Summa theologica, I-II, 34-1. »Nullus possit vivere sine aliqua sensibili et corporali delectatione. [...] Ligationem rationis, sicut in concubitu coniugali delectatio, quamvis sit in eo quod convenit rationi, tarnen impedit rationis usum. [...] Sed ex hoc non consequitur malitiam moralem, sicut nec somnus quo ligatur usus rationis, moraliter est malus, si sit seeundum rationem reeeptus: nam et ipsa ratio hoc habet, ut quandoque rationis usus intereipiatur.«

16 Ayn Rand, Requiem for Man (1967), in: dies., Capitalism: The Unknown Ideal, New York 1967, S. 315 f.

17 Murray Rothbard, The Ethics of Liberty, Atlantic Highlands, NJ 1982, S. 4. Dt. Die Ethik der Freiheit, St. Augustin 1999.

18 Francisci Svarez, Tra< a>atvs de legibvs, ac Deo legislatore (1613), II, Cap. VI. »Licèt Deus non esset, vel non vteretur ratione, vel non rectè de rebus iudicaret, si in homine esset idem dictamen rectæ rationis dictantis, v[erbi] g[ratia] malum esse mentiri, illud habiturum eandem rationem legis, quam nunc habet, quia esset lex ostensiua malitiæ, quæ in obiecto ab intrinseco existit.« (Opera Omnia, 1619, Bd. 5, S. 71 linke Spalte unten, rechte oben. Suárez tarnt den Gedanken als Paraphrase anderer »Autoren«.)

19 Paul Goodman, Sex and Ethics (1963), in: ders., Nature Heals (hg. von Taylor Stoehr), New York 1977, S. 101.

20 Zitiert nach David De Leon, The American as Anarchist, Baltimore 1978, S. 152.

III

An den Rand geschrieben 2

Thomas 1252 in Köln

Ich schlief, bis El Arab wieder vor meinem Bett stand. Es war nun kalt geworden in meiner Kammer, die Hitze des Wasserdampfes war aufgebraucht, und El Arab konnte seinen dunklen Rock nicht ablegen, vielmehr zog er ihn fester um sich. Ich hatte glücklicherweise dicke Decken, die mich wärmten und unter denen ich meinem geliebten Neugeborenen die geschuldete Hitze bieten konnte. El Arab setzte sich auf die Bettkante und seufzte. Und dies also ist der Bericht, den ich von ihm über die Disputation in der Universität erhielt. Es waren nämlich die fortgeschrittenen Studenten und viele höhergestellte Bürger der Stadt anwesend. Zur Überraschung aller trat jedoch nicht der große Albertus gegen Pater Bueno an, sondern ein junger Schüler von Albertus, ebenfalls Dominikaner, der aus Aquin stammte und Bruder Thomas genannt wurde. (Heute, da dies niedergeschrieben wird, ist der verstorbene Magister Thomas von Aquin, Gott sei seiner Seele gnädig, fast ebenso berühmt und weitaus umstrittener als Albert.)

Ein Student sagte: »Wir wollen von euch wissen: Ob wir als Christen die Bücher der Vernunft von den antiken Philosophen lesen dürfen, um die Wahrheit mit der Kraft unserer eigenen Vernunft zu suchen, oder ob wir uns allein auf die geoffenbarte Schrift stützen müssen?«

Pater Bueno war sich wohl durchaus bewusst, dass er hier nicht vor dem Straßenpöbel predigte und fing sehr ordentlich an, seine These darzulegen:

»Es scheint, dass nichts dagegen eingewandt werden könne, wenn irgend etwas getan wird, um die Wahrheit zu suchen. Denn die Wahrheit ist ein Gut. Dies kann niemand bestreiten, denn Gott hat uns die Wahrheit offenbart. Es wäre aber blasphemisch, von Gott zu sagen, er hätte etwas getan, das nicht gut ist. Dagegen aber spricht, dass Gott uns die Wahrheit offenbart hat. Er hat sie nicht versteckt und uns suchen lassen. Darum ist die Wahrheit, die gut ist, die Wahrheit, die wir nicht suchen, sondern die wir glauben, weil sie uns von Gott offenbart wurde.«

Dies schien den Zuhörern sehr einleuchtend gesagt und es gab viel zustimmendes Gemurmel, als Bruder Thomas sich erhob, eine leichte Verbeugung vor seinem Widersacher machte und bedächtig fragte: »Ihr meint also, Pater Bueno, dass es nicht rechtens sei, die Wahrheit mit der Vernunft zu suchen, sondern sich ausschließlich auf die geoffenbarten Worte zu stützen? Habe ich Euch da wohl verstanden?«

»Ja, das habt Ihr durchaus, Bruder Thomas.«

»Ihr habt zudem gesagt, Pater Bueno, wenn ich das ebenso wohl verstanden habe, dass es blasphemisch wäre, von Gott zu sagen, er hätte etwas getan, was nicht gut ist. Stimmt Ihr mir auch hier zu?«

Langsam verlor Pater Bueno die Geduld: »Bruder Thomas, allein die Frage ist eine Frechheit.«

Der Student, der die Disputation leitete, griff ein: »Verehrungswürdiger Pater Bueno, ich hoffe, Euch sind die Regeln einer scholastischen Disputation gegenwärtig. Es ist erlaubt, jede, auch eine hypothetische, Frage zu stellen. Euch als Widersacher steht es dann völlig frei, wie Ihr darauf eingeht; aber Ihr müsst sie doch auf jeden Fall beantworten.«

Pater Bueno murrte. »Ich werde also antworten: So wahr ich ein Christ bin und die Wahrheit kenne, glaube ich, dass es ganz und gar unmöglich sei zu denken, dass Gott etwas tun könnte, was nicht gut ist.«

»Danke, Pater Bueno«, sagte Bruder Thomas milde. »Dies vorausgeschickt, würdet Ihr dann nicht auch zustimmen müssen, dass Gott, als er uns die Vernunft gab, etwas Gutes tat?«

»Auf die allerübelste Sophisterei versteht Ihr Euch, Bruder Thomas. Fürwahr! Ich aber bekenne, dass die Lehren der Vernunft von Heiden stammen, deren Denken vom Teufel gelenkt wird.«

»Stimmt Ihr mir nun zu, Pater Bueno, dass ein Mann, der geboren wurde, bevor der neue Bund geschlossen ward, nicht in die Gnade der Offenbarung hat kommen können?« »Auch dies kann als Christ ich nicht bestreiten.«

»So stimmt Ihr mir dann auch zu, dass diejenigen Philosophen, die wir die Alten nennen, die Wahrheit nicht anders als durch ihre Vernunft suchen konnten?«

»Ich stimme zu. Aber ich wende ein, dass das, was sie gefunden haben, für uns wertlos ist.«

»Dann würdet Ihr also zustimmen, dass es wertlos für uns ist, das, was geschrieben steht, etwa >Im Anfang war der logos<, mit Hilfe dessen zu verstehen, was die Alten uns über den >logos< zu sagen haben, so wie es der heilige Augustinus getan hat?«

»Nein, dem stimme ich nicht zu. Der heilige Augustinus hatte keine anderen Vorbilder als die der Philosophen, so dass er die Wahrheit im Gewande von deren Lehrgebäude darstellen musste. Seine Autorität reicht auch für das, was wir verstehen sollen. Es bedarf nicht der Nachforschung eines jeden Christen, aufs Neue die Wahrheit zu suchen. Denn die Wahrheit ist nur eine. Wenn sie gefunden ist, braucht niemand mehr nach ihr zu suchen.«

»Stimmt Ihr mir dann zu, dass es, weil einmal die Wahrheit geoffenbart wurde, keine Ketzer und Häretiker gibt, weil jeder das Wort Gottes richtig versteht? Dass wir keine Argumente benötigen, die darlegen, warum sie unrecht haben und wir recht?«

»Ein für allemal: Ich sage Euch, dass die Ketzer des Teufels sind, und die gottgefällige Art, mit ihnen umzugehen, ist, sie in der rechten Weise zu strafen. Es hat gar keinen Zweck, mit ihnen zu disputieren, so wie es überhaupt nie Zweck hat, zu disputieren. Es ist gut vor Gott, die Schrift zu lesen, sie so zu verstehen, wie es ihm gefällt, und sich jeder Zusätze zu enthalten, sofern sie nicht von den anerkannten Autoritäten stammen.«

Nun griff der Magister Albertus selber ein, sichtlich ungehalten: »Es dient vor allem keinem Zweck, mit Pater Bueno zu disputieren, der einen Geist hat wie einen Holzklotz. Es ist unzweifelhaft, dass wir die Vernunft von Gott haben und dass sie gut ist. Es ist unzweifelhaft, dass die Gnade der Offenbarung nicht die Gnade der Vernunft aufhebt, sondern zu ihr hinzutritt. Das ist die Bedingung dafür, dass wir überhaupt disputieren. Wer diese Bedingung bestreitet, ist nicht nur kein Christ, sondern obendrein noch ein Narr.«

Als El Arab mir das erzählte, sagte ich schwach: »Ihr habt mir nicht zuviel versprochen. Das war spannend genug. Aber sagt, hat am Ende Magister Albertus nicht ebenso geredet wie der eifernde Bueno, nämlich ohne jede Begründung?« »Ein wenig. Es ist sehr schwer, mit Leuten wie diesem Pater Bueno zu disputieren, die den Willen des Herrn bezüglich unseres Vernunftgebrauches so schändlich missachten. Wer die Vernunft nicht liebt, liebt den Herrn nicht, da er doch die reine Vernunft ist.«

»Ich halte mich lieber an die schlichte Tiefe einer Vision, wie sie uns Gott heute durch den Mund meiner Herrin gegeben hat. Das steht über all den gelehrten Disputationen, in denen so wenig von der Gnade des Lebens steckt.«

»Gern gestehe ich, dass auch ich mich nach der Vereinigung mit Gott im Erleben sehne, das keine Worte hat.«

Wie, als erinnerte ihn das an die fehlende Wärme, schickte El Arab den langsamen Gisbert, um einen neuen Kessel mit heißem Wasser zu bereiten und zu bringen.

Aus: Stefan Blankertz, Die Konkubine des Erzbischofs (Mittelalterkrimi, Köln 2001 und als eBook-Version Berlin 2012; im 1. Band von »Johannes, Schüler von El Arab«, edition g. 301-302).

IV

Konstruktion oder Wahrheit?

30.

»Erkenntnis für freie Menschen.«21a — Relativismus ist die Dummheit desjenigen, der den Selbstwiderspruch im Satz »Es gibt keine Wahrheit« nicht einsieht. Geltung kann nicht geleugnet werden, so der »Neukantianer« Richard Hönigswald (1875-1947), denn schon ihre Leugnung setzt Geltung voraus.21b Dennoch verbreitet sich wie Schimmel auf überreifem Obst das Wort, jeder habe eine eigene Wahrheit.

31.

Der nach dem Gesetz »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« bereits 1933 zwangspensionierte Richard Hönigswald musste Deutschland 1939 auch aufgrund eines denunziatorischen Schlechtachtens von Martin Heidegger verlassen, der an Dr. Einhauser, einen Oberregierungsrat im Bayerischen Kultusministerium, schrieb:

»Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philosophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib zugeschnitten ist. Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendes Bewusstsein überhaupt und dieses schließlich verdünnt zu einer allgemein logischen Weltvernunft. Auf diesem Wege wurde unter scheinbar streng wissenschaftlicher philosophischer Begründung der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Blut und Boden. Damit zusammen ging die bewusste Zurückdrängung jeden metaphysischen Fragens, und der Mensch galt nur noch als Diener einer indifferenten, allgemeinen Weltkultur. Aus dieser Grundeinstellung sind die Schriften Hönigwalds erwachsen. Es kommt aber noch hinzu, dass nun gerade Hönigswald die Gedanken des Neukantianismus mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht. Die Gefahr besteht vor allem darin, dass dieses Treiben den Eindruck höchster Sachlichkeit und strenger Wissenschaftlichkeit erweckt und bereits viele junge Menschen getäuscht und irregeführt hat. Ich muss auch heute noch die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen, der nur darin seine Erklärung findet, dass das katholische [sic] System solche Leute, die scheinbar weltanschaulich indifferent sind, mit Vorliebe bevorzugt, weil sie gegenüber den eigenen Bestrebungen ungefährlich und in der bekannten Weise >objektiv-liberal< sind.

Zur Beantwortung weiterer Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Mit ausgezeichneter Hochschätzung! Heil Hitler! Ihr ergebener Heidegger.«22a

Jedes Wort in diesem Text ist ein Kleinod an Verachtung der Vernunft.

32.

Gott spricht zu uns mittels der Vernunft. Nicht der Atheismus oder auch nur die Andersgläubigkeit ist die eigentliche Beleidigung Gottes, sondern Zweifel an der Vernünftigkeit der Vernunft. Dass kein Gottesbeweis geführt werden könne, ist ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit, den man auf Kant zurückführen zu können meint. Kaum jemand macht sich die Mühe, genau zu schauen, was Kant gemeint habe. Denn Kant hat – dem eigenen Selbstverständnis nach – in seiner »Kritik der reinen Vernunft« 1787 weder behauptet, dass Gott nicht existiere, noch hat er die Unentschiedenheit der Vernunft angesichts Gottes wirklich dargelegt. Ganz im Gegenteil: Er zeigt mit Worten, die dem Thomas entliehen zu sein scheinen,22b dass der Verstand die Idee Gottes notwendig hervorbringt. Kant gibt zu bedenken, durch nichts könne bewiesen werden, dass die Struktur des Verstandes der Struktur der Wirklichkeit objektiv entspreche. Da wir aber nur leben unter der Voraussetzung, dass das, was wir erkennen, auch das ist, was uns objektiv umgibt, gehört die Entsprechung von Erkenntnis und Wirklichkeit zu dem, was wir glauben müssen (Augustinus). Kant hat den Glauben nicht geschwächt, sondern erneut zum unverzichtbaren Bestandteil der Erkenntnis gemacht. Dieser nach-kantische Glaube ist, weil unausweichlich, nicht mehr freiwillig, wie Thomas fordert. Der Verlust der Freiwilligkeit des Glaubens ist das Verhängnis. So kommt es zu einem Paradox: Da wir meinen, wir bräuchten nicht mehr zu glauben, sehen wir uns zu viel weitergehendem Glauben gezwungen. Das, was der Gläubige wissen kann – die Entsprechung von Erkenntnis und Wirklichkeit –, muss der Ungläubige glauben.

33.

Die »Summe gegen die Heiden«23 schreibt Thomas um 1250 gegen die damalige intellektuelle Elite, vor allem arabische Philosophen. Er verwirft in ihr weder Intellektualität, noch kritisiert er seine Gegner dafür, dass sie keine Christen seien. Vielmehr hält er ihnen vor, dass sie Glaubensartikel für philosophisch fundierte, allgemeingültige Wahrheiten nehmen, obgleich sie auf subjektiv verbindlichem Glauben beruhen.

Die Folge der Verwischung von subjektivem Glauben und allgemeiner Gültigkeit ist Krieg: Weil der Andersdenkende als widerspenstig gegenüber der Wahrheit erscheint, muss er zur Verkörperung des Bösen [v]erklärt werden, demgegenüber keine Toleranz möglich sei. So besehen sind die wirklichen Heiden die christlichen Machthaber, die die Erde mit Intoleranz überziehen. Inzwischen hat das der islamische Fundamentalismus als Meisterschüler vom Christentum gelernt.

Der katholische Anspruch kann sich demgegenüber nur auf den Glauben beziehen, der sich an alle richtet. Er darf nur das verbindlich machen, was der natürlichen Erkenntnis zugänglich ist. Der Versuch, die Gläubigen auf partikulare und willkürliche Bestimmungen wie Verbot von Empfängnisverhütung, Ehescheidung und Homosexualität festzulegen, macht die Kirche unabhängig von ihrer Größe zur Sekte.

34.

»Die Folter, das ist die Vernunft.«24 — Als einen Häretiker definierte der Kirchenvater Augustinus nur, wer Falsches als ewige Wahrheit ausgebe. Jemand, der die Wahrheit sucht, kann nicht Häretiker sein. Irgendeinen Satz als nicht anzuzweifelnde Wahrheit zu bezeichnen, bedeutet, die menschliche Fehlbarkeit zu leugnen und sich gotteslästerlich selber auf den Thron des Herrn zu setzen. Absolutheitsanspruch ist Häresie.25

Die Heiden des 21. Jahrhunderts sind vom Absolutheitsanspruch der Kirche und der weltlichen Form, dem naturwissenschaftlichen Absolutheitsanspruch, enttäuscht. Die besten Philosophen erklären, Vernunft sei in sich intolerant. Sie bezweifeln, dass die Vernunft vernünftig sei. Eine Wahrheit gebe es nicht. Es gebe bloße »Perspektiven«, »Interessen«, »Rhizome«. Gott hat uns, angewidert, verlassen. Seine Vernunft spricht nicht zu uns. Was wir durch Denken zu ermitteln scheinen, ist falsch, schlecht, beliebig. Die objektive Wirklichkeit greift uns an, ohne dass wir sie angemessen erfassen können. Alles löst sich auf in Macht- Wirkungen, deren Ursache unbekannt bleibt.

Gegen dieses Heidentum haben wir nichts als den Glauben. Und die Hoffnung, dass Er sich uns wieder zuwende.

35.

»Der Mensch erkennt nämlich Gott natürlicherweise so, wie er von Natur aus nach ihm verlangt. Es verlangt aber den Menschen von Natur aus nach Gott in der Art natürlichen Verlangens nach Glückseligkeit, die dem Gutsein Gottes ähnelt. Deshalb kommt dem Mensch nicht die Betrachtung Gottes an sich zu, die ihm vertraut wäre, sondern seiner Ähnlichkeit. Derart kommt es dem Menschen zu, über die Wirkungen Ähnlichkeiten mit ihm zu finden und auf dem Wege der Schlussfolgerung zur Erkenntnis zu gelangen.«26a

36.

Wer heute philosophisch nach Gott fragt, dem halten die neuen Heiden gern entgegen, schon Kant habe diese Frage doch dergestalt erledigt, dass sie als »unentschieden« anzusehen sei und darum nicht beantwortet werden könne. In dieser Verkürzung der kantischen Einlassung geht unter, in welch enger Weise Kant sich an Thomas anlehnt. Gerade die Figur der »Antinomie« – gleich gute Gründe sprechen für und gegen eine These, die derart zur Glaubenssache wird – benutzte Thomas vielfach, etwa in dem Zusammenhang mit Aristoteles (384-322 v.Chr.). Thomas zeigt, dass eine dem christlichen Glauben widersprechende aristotelische Hypothese wie die Anfangslosigkeit der Welt weder abwegig sei – denn das hätte den philosophischen Ruf des Aristoteles beschädigt –, noch zwingend belegt werden könne – denn das hätte zur Annahme von zwei sich widersprechenden Wahrheiten, der philosophischen Wahrheit und der Glaubenswahrheit, geführt.26b Zwar wandte Thomas die Figur der »antinomischen« Argumentation auf die Aussagen über das Wesen, nicht aber auf die Existenz Gottes an. So einfach, dass man sagen könnte, Kant habe die philosophische Aufklärung eben einen Schritt vorangetrieben, liegen die Dinge jedoch nicht. Denn Kant hat die Unausweichlichkeit, mit der die Vernunft Gott im Sinne thomasischer Abstraktion als oberstes Seinsprinzip »brauche«, auch nie bestritten. Seine ganze Argumentation richtet er, wie gesagt, gegen den Sprung, der darin besteht, die logische Notwendigkeit der Vernunft mit der Wirklichkeit außerhalb unserer Vernunft gleichzusetzen: Eine logische »Notwendigkeit« begründet »logischerweise« eben keine Realität.

37.

In der Suppenküche. — In dem von Kant »kosmologisch« genannten Gottesbeweis hebt Thomas Aristoteles' »ersten unbewegten Beweger« auf eine höhere Stufe der Abstraktion: Es bedarf des problematischen Begriffs der Bewegung nicht, bereits die grundlegende Erfahrung der Vergänglichkeit reicht aus, um eine Kette von Fragen nach jeweiligen »Vorbedingungen« zu beginnen, die nicht unendlich fortgesetzt werden kann. (Selbst vor der Astronomie eines »Urknalls« machen die Fragen: Was war »davor«? Und was hat den Urknall »ausgelöst«? nicht halt.) Kant gibt in seiner »Antwort« auch umstandslos zu, dass die menschliche Vernunft nicht anders könne, als eine sich selber verursachende, erste Notwendigkeit zu setzen. Er wendet jedoch ein, dass diese Notwendigkeit »eine bloße Idee sei, deren objektive Realität dadurch, dass die Vernunft ihrer bedarf, noch lange nicht bewiesen ist«.27 Dieser Einwand wird freilich erkauft mit der Aufkündigung des Vertrauens, dass zwischen Vernunft und Realität ein ewiger Bund bestehe. Denn solchen Bund kann bloß Gott stiften.

Damit ist Thomas' Argumentation allerdings keineswegs ausgeschöpft: Die tatsächliche Sinnhaftigkeit in der Natur könne, sagt er, nur mit einer regierenden Vernunft erläutert werden. Obgleich Thomas noch keinen naturwissenschaftlichen Begriff des Gesetzes konstruieren konnte, hat er dessen Voraussetzung – den Satz »die Natur macht keine Sprünge« – scharfsinnig auf Gott bezogen. Kants »Antwort« verläuft sich in philosophischem Slapstick: Damit die menschliche Vernunft die natürlichen Gesetzmäßigkeiten erkennen kann, muss sie die Natur als gesetzmäßig voraussetzen. Die Voraussetzung kann demzufolge nicht durch die Gesetzmäßigkeit bewiesen werden. – (Nietzsche [18441900] höhnt denn auch, mit der Vernunft verhalte es sich so wie mit dem Menschen, der einen Gegenstand hinter einem Busch verstecke, ihn ebendort suche, finde und dann auch noch stolz auf den Fund sei.)28 – Kant gibt zwar die logische Unausweichlichkeit jener Voraussetzung zu, bestreitet aber ihre Objektivität. Eine rein subjektive Vernunft allerdings verliert viel von ihrer Verbindlichkeit.

38.

»Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« — Was wie ein logisches Problem formuliert ist, ist eher ein psychisches Problem. Hinter Kants kultivierter Polemik blitzt die Verzweiflung über verlorenes Gottvertrauen auf, das Vertrauen, die Vernunft von Gott zu haben – das Vertrauen, Gott habe dafür Sorge getragen, dass unsere Vernunft der Wirklichkeit angemessen ist.

39.

Nouvelle cuisine. — Bei Kant ist Gottes Existenz entweder zu beweisen, dann »ist« Gott ewig, oder nicht zu beweisen, dann könnte es sein, dass Gott »nie« existiert hat. Nietzsche formuliert historischer: »Gott ist tot.«29 (Das heißt, einst hat er gelebt.) Die Gotteserkenntnis wird laut Thomas davon bestimmt, »wie« wir nach Gott »verlangen«. Die Selbstüberschätzung der Vernunft in der Aufklärung, die auf das Vertrauen, dass Gott für die Wahrheit bürgt, meint verzichten zu können, ist von Beginn an durchzogen von Selbstzweifeln: Wenn die Vernunft bloß »unsere« Wahrheit ist, könnte sie objektiver Irrtum sein. Vernunft und Glauben verfallen. Sie machen Vernunftlosigkeit in der Beliebigkeit des Meinens und Glaubens Platz.

40.

Vertrauensbeweis. — Gott belügt uns nicht. Die Vernunft, die freilich von Ihm stammt, führt uns zur Wahrheit – nicht zur absoluten Erkenntnis der ersten und letzten Dinge, aber alles, was mit ihr erkannt wird, ist wahr. Oder anders: Die Vernunft ist nicht selbstgenügsam, sondern lückenhaft; sie führt uns jedoch nicht in die Irre. Dieses Vertrauen bindet Vernunft und Glauben. Der eigenen menschlichen Vernunft zu folgen, ist eine Pflicht des Gehorsams, die den Gehorsam aufhebt. Nicht Beliebiges darf geglaubt werden und nicht Beliebigem ist Gehorsam zu leisten. Etwas zu glauben oder etwas gehorsam zu tun, das der Vernunft widerstreitet, wäre Ungehorsam gegen Gott. Nochmals: Gott herrscht nicht. In diesem Sinne ist Theologie ein angemessenes – vielleicht das einzige – Mittel gegen die Theokratie von Fanatikern, Fundamentalisten, Diktatoren und Demokraten.

»Prinzipien aber, die wir natürlicherweise erkennen, sind uns von Gott eingegeben worden, denn Gott selber sei Urheber unserer Natur. Diese Prinzipien sind demnach auch von der göttlichen Weisheit umfasst. Was immer also diesen Prinzipien entgegengesetzt ist, das stünde gegen die göttliche Weisheit. Ein solcher Widerspruch kann nicht von Gott kommen. Darum kann das, was durch göttliche Offenbarung im Glauben festgehalten ist, nicht dem natürlichen Erkennen entgegengesetzt sein. Der Widerspruch würde unseren Verstand blockieren, so dass er zur Erkenntnis des Wahren nicht fortzuschreiten in der Lage wäre. Wenn Gott nun in uns widersprechende Erkenntnisse verursachen würde, behinderte das unseren Verstand in der Erkenntnis der Wahrheit. Das aber kann Gott nicht tun.«30

Derart kehrt Kants Forderung, Moraltheologie müsse den »Mangel« in der spekulativen Theologie »ergänzen«,31 sich geradezu um: Die spekulative Theologie kann mit dem »minimalinvasiven« Gottesbegriff die Moraltheologie, die mit gleichsam »imperialistischen« Ansprüchen gegenüber der Vernunft Akousion32 betreibt, in die Schranken weisen.

21a Paul K. Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt/ M. 1979.

21b Der Satz, der Richard Hönigswald zugeschrieben wird, ist wohl eher eine präzise Zusammenfassung als ein Zitat, vgl. Richard Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie (1931), Hamburg 1997, S. 209. Zur Auseinandersetzung mit Relativismus bzw. Konstruktivismus vgl. Stefan Blankertz, Minimalinvasiv, Berlin 2012, edition g. 101, S. 9ff.

22a Zitiert nach Reinhold Aschenberg, Ent-Subjektivierung des Menschen: Lager und Shoah in philosophischer Reflexion, Würzburg 2003, S. 121 f. – Der bayrische Kultusminister ließ bei Heidegger um eine Stellungnahme nachsuchen, weil mutigere Kollegen sich für Hönigswald eingesetzt hatten. An dem Schreiben Heideggers zeigt sich die Wahrheit anarchistischer Psychologie der etatistischen Haltung, wie nämlich die Aussicht korrumpiert, mit Teilhabe an der Staatsgewalt Konkurrenten ausschalten zu können. – Und mit was für widerlichstem Erfolg: Wer kennt noch heute Richard Hönigswald? Wer alles beschäftigt sich mit Heideggers trivialem T(r)iefsinn? Die Wunde, die die Herrschaft des Nationalsozialismus in die deutsche Geistesgeschichte hieb, ist durch keine »Entnazifizierung« geheilt worden.

22b Vgl. unten die Nrn. 36 bis 40 und 44 bis 47.

23Summa contra gentiles. Dies ist vermutlich nicht der von Thomas dem Werk gegebene Titel. Vgl. hierzu Helmut Hoping, Weisheit als Wissen des Ursprungs: Philosophie und Theologie in der »Summa contra gentiles« des Thomas von Aquin, Freiburg 1997, S. 17ff.

24»Die Folter, das ist die Vernunft«: Ein Gespräch Knut Boesers mit Michel Foucault, in: Literaturmagazin 8, 1977.

25 Augustins Definition findet sich in De fide et symbolo, liber unus (393), Nr. 21: falsa sentiendo. Dass Augustin nicht nur von absoluter Richtigkeit ausgeht, sondern auch das »Recht« proklamiert, Zustimmung zu ihr mit Gewalt einzufordern, steht außer Frage; damit macht er sich zum Häretiker. »Wenn die Kirche kraft der Gewalt, die Gott ihr zu gegebener Zeit übertragen hat, mit Hilfe der religiösen undgläubigen Könige jene in ihren Schoß einzutreten zwingt, die sie auf den Wegen und an den Hecken findet, das heißt unter den Schismen und Häresien, so sollen sich jene nicht beklagen, dass man sie gezwungen hat, sondern sollen schauen, wohin man sie treibt.« – »Si potestate quam per religionem ac fidem regum, tempore quo debuit, divino munere accepit Ecclesia, hi qui inveniuntur in viis et in sepibus, id est in hæresibus et schismatibus, coguntur intrare; non quia coguntur reprehendant, sed quo cogantur, attendant.« Aus Epistola 185: De correctione Donatistarum (417), Nr. 25. Vgl. zu Thomas unten Nr. 147.

26aSumma contra gentiles,