Tiergestützte Pädagogik: Das Pferd als pädagogisches Medium in der stationären Jugendhilfe - Daniela Schmidt - E-Book

Tiergestützte Pädagogik: Das Pferd als pädagogisches Medium in der stationären Jugendhilfe E-Book

Daniela Schmidt

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Beschreibung

Die Autorin dieses Buches beschäftigt sich mit der übergeordneten Frage ob es sich bei der tiergestützten Pädagogik um eine Modeerscheinung oder um eine pädagogische Methode von bislang unschätzbarem Wert handelt. Um diese Frage zu beantworten und möglichst präzise Aussagen über die Bedeutung und Möglichkeiten des Einflusses von Tieren treffen zu können, richtet sich der Fokus der Studie auf das Klientel der stationären Jugendhilfe und der sich hieraus ergebenden Relevanz tiergestützter Interventionen. In einem weiteren Eingrenzungsprozess findet eine Fokussierung auf Jugendliche statt, welche von der gesellschaftlichen Norm abweichende Bindungsmuster zeigen und damit verbunden den etwaigen Einflussmöglichkeiten, die sich im pädagogisch angeleiteten Umgang mit Pferden bieten. Aufgrund der Komplexität der Thematik bezieht sich die Autorin in diesem Zusammenhang ausschließlich auf die bindungstheoretische Tradition und deren Weiterentwicklung nach John Bowlby. Dabei bezieht sie kritisch Stellung zu den Begriffen der Verhaltens- beziehungsweise der Bindungsstörung und der damit verbundenen Stigmatisierung junger Menschen durch unsere Gesellschaft. Die vorliegende Studie gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil widmet sich den rechtlichen und pädagogischen Grundlagen stationärer Jugendhilfe und den daraus resultierenden Anforderungen an die Pädagogik. Gegenstand der Betrachtung des zweiten Teiles ist die Tiergestützte Pädagogik als Kernstück des Buches. Hierbei finden unter anderem Überlegungen hinsichtlich der Begriffsklärung Tiergestützter Pädagogik, den grundlegenden Aspekten der Mensch-Tier-Beziehung sowie der spezifischen Charakteristika der Mensch-Tier Interaktion statt. Darüber hinaus werden die Erfahrungsmöglichkeiten Jugendlicher die sich im Umgang mit Pferden bieten, dezidiert und mit Bezug auf den sozio-emotionalen Bereich dargestellt. Weiterhin werden mögliche Einwände und kritische Aspekte tiergestützter Pädagogik, in Bezug auf das Klientel der Jugendhilfe sowie auf die Instrumentalisierung der Tiere selbst näher beleuchtet. Schließlich werden ergänzende Überlegungen der gesammelten Erkenntnisse und Zusammenhänge in der Schlussbetrachtung behandelt.

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Daniela SchmidtTiergestützte Pädagogik: Das Pferd als pädagogisches Medium in der stationären Jugendhilfe Modeerscheinung oder Methode mit vielversprechenden Möglichkeiten?

ISBN: 978-3-8428-1729-6 Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtes.

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© Diplomica Verlag GmbHhttp://www.diplomica-verlag.de, Hamburg 2012

Inhaltsverzeichnis

Einleitung/Vorwort

Teil 1 Aspekte der stationären Jugendhilfe

1. Grundlagen stationärer Jugendhilfe

1.1. Gesetzliche Verankerung und Aufgaben

2. Die Adressaten stationärer Jugendhilfe:

2.1. Exkurs Jugendalter

2.2. Die so genannten „Erziehungsresistenten Problemjugendlichen: Definition und Einordnung von „Verhaltensstörugen“/ „abweichendem“ Verhalten

2.3. Indikationen stationärer Jugendhilfe

3. „Bindungsstörungen“

3.1. Grundlagen der Bindungstheorie

3.2. Kritische Anmerkung zum traditionellen Konzept der Bindungstheorie nach John Bowlby

3.3. „Bindungsstörungen“

4. Belastete Bindungsmuster und die daraus resultierenden Anforderungen an die Pädagogik im Rahmen der stationären Jugendhilfe

Teil 2 Tiergestützte Pädagogik

5. Definition/Begriffsklärung

5.1. Überlegungen zur Bedeutung des Begriffes „Tiergestützt“

5.2. Der Pädagogikbegriff ausgehend von Jean Jacques Rousseau

5.3. „Tiergestützte Pädagogik“

6. Grundlegende Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung

6.1. Theoretische Denkmodelle zur Erklärung der Mensch-Tier-Beziehung

6.2. Die Mensch-Tier-Interaktion

7. Die „Wirkung“ der Tiere auf den Menschen

7.1. Exkurs interpersonale/intrapersonale Intelligenz

7.2. Spezifische Erfahrungsmöglichkeiten Jugendlicher im pädagogisch arrangierten Umgang mit dem Pferd: Lernmöglichkeiten bezüglich abweichenden Bindungsverhaltens

7.3. Zu der Bedeutung des Setting

7.4. Tiergestützte Pädagogik als Möglichkeit eines besonderen Zuganges der Pädagogik auf die so genannten „bindungsgestörten“ Jugendlichen im Bereich der stationären Jugendhilfe

8. Kritische Stimmen zum Thema tiergestützte Interventionen

8.1. Mögliche negative Auswirkungen auf den menschlichen Körper

8.2. Sonstige kritische Aspekte

8.3. Negative Auswirkungen auf die Tiere selbst

9. Fazit und Ausblick

10. Literaturverzeichnis

Die Autorin

Einleitung/Vorwort

Die Relevanz meiner ausgewählten Themenstellung ergibt sich ganz allgemein daraus, dass Tiere im Leben von Menschen seit jeher sowie in allen Schichten und Altersstufen eine bedeutende Rolle spielen. Ob als Arbeits- oder Lebenspartner, als Wach- oder Schutztier, als Jagdgefährte oder Nutztier, das Zusammenleben von Menschen und Tieren weist eine lange und ebenso ambivalente Geschichte auf. Auch derzeit erfreuen sich Tiere in diversen Büchern, Magazinen und vor allem im Fernsehen großer Beliebtheit. Parallel ist seit den 90er Jahren auch die Tiergestützte Pädagogik und Therapie verstärkt in den Mittelpunkt des Medieninteresses gerückt. So hat sich diese in den letzten Jahren sprunghaft ausgebreitet und es ist ein enormes, auch mediales Interesse, entstanden. Tiergestützte Pädagogik entwickelt sich zunehmend zu einer Art Mode, die immer wieder als Thema in Gesundheitsratgebern oder auch Magazinen auftaucht. Auch eine Stichwortsuche im Internet macht deutlich: Tiere sind „in“. So stolpert man hierbei über eine verwirrende und fast unüberschaubare Vielzahl von Angeboten, Titeln und Bezeichnungen, vom Tierbesuchsdienst über Tiertherapie, Tiergestützte Pädagogik, Therapiehunden bis hin zum experientiellen Reiten und der Hippotherapie. Schnell gewinnt man den Eindruck, dass Tiergestützte Pädagogik und Therapie so etwas wie ein Allheilmittel sind, „Breitbandmedikamente“, welche gegen sämtliche Varianten seelischer und sozialer Leiden hilft und auch bei „hoffnungslosen“ Fällen fast schon Wunder wirken können. Doch nur wenige dieser allgegenwärtigen Bezeichnungen sind eindeutig definiert. Anerkannte Ausbildungen und wissenschaftliche Belege gibt es bislang wenige. So ist es auch für mich nicht verwunderlich, dass eine Diskussion über die tatsächlichen Möglichkeiten der Beziehung zwischen Tieren und Menschen im Sozialpädagogischen Bereich entbrannt ist und aufgrund ihrer derzeit noch mangelnden wissenschaftlichen und theoretischen Fundierung auf breite Kritik stößt. Auch auf mich übt das Thema der Tiergestützten Pädagogik eine große Faszination und Neugierde aus. Im Rahmen meines Praxissemesters machte ich erstmals die Erfahrung der Tiergestützten Pädagogik mit Jugendlichen im Kontext stationärer Jugendhilfe, was mein Interesse für diesen Bereich weckte. Neben dieser aktuellen Debatte bewegte es mich dazu, mich im Folgenden näher mit dieser Thematik zu beschäftigen.  Meine übergeordnete Frage lautet also: Was genau sind die Besonderheiten der Mensch-Tier-Beziehung? Handelt es sich bei der Tiergestützten Pädagogik um eine Modeerscheinung oder eine pädagogische Methode von bislang unschätzbarem Wert? Sind positive Erfahrungen für  Jugendliche möglich - und wenn ja, welche? Wie lassen sich diese ins professionelle Handeln transformieren?

Teil 1 Aspekte der stationären Jugendhilfe

1. Grundlagen stationärer Jugendhilfe

1.1. Gesetzliche Verankerung und Aufgaben

Das Sozialgesetzbuch VIII beschreibt die grundsätzlichen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und setzt die möglichen Maßnahmen der Jugendhilfe, welche nach ambulanten, teilstationären und vollstationären Jugendhilfemaßnahmen unterteilt sind. Diese sind wiederum in den Hilfen zur Erziehung nach §§27 ff. SGB VIII aufgelistet und verfolgen das generelle Ziel, die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag zu unterstützen, „wenn eine dem Wohl des Kindes und Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“. 

Die Personensorgeberechtigten haben einen gesetzlichen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung wenn sie diese Kriterien erfüllen. Die Hilfen werden insbesondere nach Maßgabe der §§27-35 SGBVIII gewährt, wobei sich Art und Umfang der Hilfe nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall richten (Stascheit 2007, 1078, §27 Abs.1). Der Paragraph 34 SGB VIII regelt die Erziehung im Heim und in sonstigen betreuten Wohnformen. Diese Unterbringung kann neben der klassischen Heimeinrichtung, die Erziehung und Betreuung in Außenwohngruppen, Selbstständigen Wohngruppen, das betreute Wohnen oder eine Unterbringung in Erziehungsstellen umfassen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, die „Kinder und Jugendlichen durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung zu fördern“. Sie soll, abhängig von dem Entwicklungsstand und Alter des Kindes/Jugendlichen sowie der Möglichkeit der Verbesserung der Erziehungsbedingungen, in der Herkunftsfamilie „eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen“, „die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten“ (ebd. 1078, 1079, §34 SGBVIII).

2. Die Adressaten stationärer Jugendhilfe:

2.1. Exkurs Jugendalter

Auf die Frage „Was ist Jugend?“ gibt es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts seitens der interdisziplinären Jugendforschung keine eindeutige, unumstrittene Antwort. So besteht eine Vielzahl von Richtungen des Nachdenkens und Forschens über diese Lebensphase, welche unter anderem nach soziologischer, entwicklungspsychologischer, psychoanalytischer, pädagogischer und gesundheitlicher/biologischer Ebene ausdifferenziert sind (vgl. Fend 2005, 22, 23). Nach dem §7 SGBVIII des Kinder- und Jugendhilfegesetz  ist Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist und Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Junge Volljährige sind diejenigen, die 18 Jahre, jedoch noch keine 27 Jahre alt sind (vgl. Stascheit 2007, 1071, §7 Abs.1).

Die Jugendzeit wird durch die Wissenschaft längst nicht mehr über das Lebensalter definiert. So hat sich in der sozialwissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt, die Jugend als eine zeitlich ausgedehnte Lebensphase zwischen Kindheit und jüngerem Erwachsensein zu begreifen, deren Beginn und Ende nicht eindeutig festzulegen ist.  Sie wird somit als Übergangsphase bezeichnet, wobei laut Schulze-Krüdener (vgl. Schulze-Krüdener, in: Schulze-Krüdener 2009,7) Altersgruppenunterschiede konstitutiv sind und wie folgt unterschieden werden können:

Die Jugendlichen im engeren Sinne: pubertäre beziehungsweise frühe Jugendphase (circa 12-17 Jahre)

Die Heranwachsenden: nachpubertäre beziehungsweise mittlere Jugendphase (circa 18-21 Jahre)

Die jungen Erwachsenen: späte Jugendphase (circa 22 Jahre bis Ende des zweiten Lebensjahrzehnts)

Was Jugendalter bedeutet wird jedoch weniger von dem Lebensalter als wesentlich bedeutender durch die Vergesellschaftung der Jugendphase bestimmt. „Die“ Jugend gibt es nicht. Jugend hat viele Gesichter, sie entspricht einer Vielfalt von Entwicklungswegen sowie einer Vielfalt von Alltagsgeschehen und entspricht keineswegs einem homogenen Gebilde (vgl. Fend 2005, 20). Insofern entsprechen Normalitätswünsche seitens der Gesellschaft und Jugendforschung nicht der Realität „des sich immer rascher wandelnden sozialen Lebens Jugendlicher und der Lebensphase Jugend, die heterogen und kontingent ist“ (Schulze-Krüdener, in: Schulze-Krüdener 2008, 8, 9). Differenzaspekte von Jugend sind unter anderem der Blick auf die geschlechtsspezifische Jugend, Jugend in unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen, Jugendliche mit/ohne Migrationshintergrund, Jugend der Unter-/Mittel-/Oberschicht oder auch die Familienjugend und die Jugend in sozialpädagogischen Institutionen (Göppel, in: Schulze-Krüdener 2008, 45). Weiterhin bestehen unterschiedliche wissenschaftliche Deutungsperspektiven und methodische Zugangsweisen, die den Kern des „Jugendphänomens“ herauszuarbeiten versuchen. Beispielhaft können hier die Jugend „als Sturm und Drang“, „Kampf um die Herrschaft zwischen Es und Ich“,  „Suche nach narzistischer Bestätigung“, „gesellschaftliches Konstrukt“ oder die Jugend als „Verdichtung von Entwicklungsaufgaben“ genannt werden (vgl. Göppel, in: Schulze-Krüdener 2008, 48). Hierzu kann angemerkt werden, dass die Konzentration auf nur ein Paradigma, Differenzaspekt beziehungsweise auf eine Deutungsperspektive das Risiko einer verkürzten ideologischen Betrachtung birgt (vgl. Fend 2005, 8).

Die Jugendphase ist keine Spielwiese, sie bedeutet ein Aufwachsen mit zahlreichen Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft, die es zu bewältigen gilt. Misslingende Bewältigungsversuche werden „bestraft“, indem die Jugendlichen an die Ränder der Gesellschaft gedrängt werden (vgl. Münchmeier, in: Schulze-Krüdener 2008, 1).

Die Jugendlichen heute gehören einer Generation an, die in den Begriffen der Postmoderne lebt und einem deutlichen Modernisierungs- und Individualisierungsprozess unterworfen ist. Das herkömmliche Jugendmodell hat sich „pluralisiert, vielfach zeitlich verschoben und es gibt keinen einheitlich strukturierten Lebensabschnitt im Sinne einer weiblichen oder männlichen Normalbiographie“ (Schulze-Krüdener, in: Schulze-Krüdener 2008, 3). So sind Heranwachsende gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit, Enttraditionalisierung und Widersprüchlichkeit konfrontiert, die fehlende soziale Sicherheiten und somit Folgen für die Identitätsarbeit nach sich ziehen (vgl. ebd. 3). Identitätsentwicklung in diesem Sinne schlägt in eine zeitlich befristete Identifikation um (vgl. ebd. 3). Fraglich ist in diesem Zusammenhang, inwieweit Identität, die Fähigkeit zu Bindung und Beziehung, angesichts unserer Multioptionsgesellschaft - in der ein funktionales Menschenbild dominiert - überhaupt noch von Relevanz sind. So wachsen Jugendliche  in eine individualisierte Welt hinein, in der biographisch improvisiert werden muss (und kann) wie nie zuvor. Sie sind die „Kinder der Freiheit“, eine selbstbestimmte Politik der Lebensführung ist damit unabdingbar. Die Pluralisierung von Lebensformen und Milieus führt zu einer schier unendlichen Fülle von Alternativen (vgl. Keupp, in: Finger-Trescher / Krebs 2003, 22ff.). Wie die benötigten Qualifikationen und Kompetenzen erworben werden, wird dem Einzelnen überlassen. Sollte er daran scheitern, so ist er dafür auch selbst verantwortlich (vgl. Schulze-Krüdener 2008, 3). In dieser Grunderfahrung wird die Ambivalenz der aktuellen Lebensverhältnisse spürbar und die „Chance“ und „Freiheit“, sich selbstbewusst zu inszenieren, als wichtige Bedingung der Gesunderhaltung wird - ohne den Zugang zu den erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen - schnell zu einer bedrohlichen Aufgabe, der sich viele Jugendliche zu entziehen versuchen  (vgl. Keupp, in: Finger-Trescher / Krebs 2003, 22ff.). 

Jugend zu Beginn des 21.Jahrhundert ist von Arbeitslosigkeit, Ausbildungsplatznot, Konkurrenzdruck und somit von vielen sozialen Problemen massiv betroffen. So hat es die 12. Shell-Studie (1997) mit dem Satz “‘Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht‘“ auf den Punkt gebracht (Schulze-Krüdener, in: Schulze-Krüdener 2008, 35).

Auch ist die Tendenz zu verzeichnen, dass sich der Blick auf die Jugend immer stärker auf die Risiko- und Gefährdungszonen der Jugend fokussiert. Werden Kinder eher als Opfer ihres sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes gesehen, so können sie mit steigendem Alter mit einer Verurteilung ihres Verhaltens von Seiten der Gesellschaft rechnen, indem sie von dieser zu Tätern gemacht werden (vgl. ebd. 36).

2.1.1. Entwicklungsaufgaben des Jugendalters

Die psychische Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen erscheint nach Schleiffer (2001, 65) als „normal“ und gesund, wenn es ihnen gelingt, anstehende Entwicklungsziele zu erreichen. Das allgemeine Konzept, mit dem das Aufeinandertreffen von innerer Entwicklung und äußeren Anforderungen bezeichnet wird, ist das der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben, welches erstmals von Havighurst (1972) formuliert wurde. Dieses Konzept stellte kein neues Entwicklungsmodell, sondern eine Akzentuierung bereits vorhandener Entwicklungsmodelle dar. 

Entwicklung lässt sich hiernach als Abfolge von Entwicklungsaufgaben verstehen, die sich sowohl „aus den biologischen Veränderungen und den kognitiven Entwicklungsfortschritten, vor allem aus den Anforderungen und Erwartungen seitens der Kultur und Gesellschaft ergeben“. Die Entwicklungspsychologin Heide Keller spricht in diesem Zusammenhang auch von psychobiologischen Anpassungsprozessen (vgl. Schleiffer 2001, 65/66). Für die Adoleszenz sind nach Fend (2005, 221/ 222) in Anlehnung an das Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst vor allem die folgenden Aufgaben charakteristisch:

die Verarbeitung der biologischen Entwicklung/“den Körper bewohnen lernen“/Umgang mit Sexualität

die Reorganisation der sozialen Beziehungen zu Eltern, Gleichaltrigen, Liebespartnern sowie der Aufbau neuer Beziehungsformen.

Man spricht im Jugendalter von einer Transformation der Beziehungen. Zwar erscheint in dieser Phase das Andere und Fremdartige besonders reizvoll, gleichzeitig bleibt jedoch ein Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit bestehen (vgl. Hartmann 2010, 30). So geht es auch in dieser Entwicklungsphase darum, die wichtige Balance zwischen Exploration und Bindung zu bewahren. Diese Balance aufrechtzuerhalten scheint ein besonderes Problem des Jugendalters zu sein, da die Autonomiebedürfnisse eher über Aktivitäten des Explorationssystems als über solche des Bindungssystems zu erreichen sind (vgl. Schleiffer 2001, 60/61). Kein Zweifel besteht daran, dass Autonomie am ehesten von Jugendlichen erreicht wird, die eine sichere Bindung zu den relevanten Bezugspersonen aufweisen können. Es ist davon auszugehen, dass das Bindungssystem in dieser Zeit chronisch aktiviert ist, da die Jugendlichen ausprobieren und lernen, inwieweit sie dazu fähig sind, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten (vgl. Schleiffer 2001, 62). 

Gemäß den Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson (1998, 45) ist dieses Stadium von höchster sozialer Bedeutung, was er damit belegt, dass in dieser Zeit ein erstes Gefühl für Kollektivität und Arbeitsteilung entwickelt wird. Die soziale Kompetenz ist als eine zentrale Fähigkeit des Jugendalters gefragt, beispielsweise wenn es darum geht, intime Vertrauensbeziehungen zu FreundInnen oder erste Liebesbeziehungen einzugehen. Freundschaften beginnen die sichere Basis der Eltern-Kind Beziehung abzulösen. Zudem liefern sie „ […]Orientierung und Sicherheit und kompensieren den Mangel an Status. Gleichzeitig unterstützen sie die Emanzipation von den Eltern“, beziehungsweise relevanten Bezugspersonen (Saumweber 2009, 38). Ohne Zweifel kommt den Gleichaltrigen in diesem Alter die Funktion von Bindungspersonen zu, welche Ähnlichkeiten wie auch grundsätzliche Unterschiede zu der ursprünglichen Bindungsbeziehung aufweist. So sind bei den ersten Liebesbeziehungen Merkmale wie das Suchen von Nähe oder die Neigung, den Anderen als sichere Basis zu nutzen, beobachtbar. Ein fundamentaler Unterschied besteht jedoch darin, dass sich die Jugendlichen ihr Gegenüber auswählen, wobei die Beziehung zu den Eltern von der Geburt an vorgegeben wird. Dabei beeinflussen bisherige Bindungsrepräsentationen, wie sie in Kapitel 3.1 beschrieben werden sollen, das (Bindungs-)Verhalten gegenüber den Peers (vgl. Schleiffer 2001, 62/63). Folglich kann von einer psychosozialen Veränderung gesprochen werden, welche im Hinblick auf die Ablösung von den Primärvertrauten und einer Hinwendung zu sekundären Vertrauten förderlich oder auch hinderlich sein kann (vgl. Hartmann 2010, 30).

Weitere Entwicklungsaufgaben nach Fend (2005, 221/ 222) sind:

der Umgang mit schulischen Leistungsanforderungen und die Vorbereitung auf die berufliche Zukunft

die Auseinandersetzung mit der Welt und der Aufbau von kulturellen Orientierungen sowie

die Entwicklung einer neuen/veränderten Beziehung zu der eigenen Per-son/die Entwicklung einer „neuen Identität“

Zusammenfassend ist die Herausbildung einer Identität  das für das Jugendalter typische Entwicklungsziel, wobei die genannten Aspekte in je individuellen Anteilen zu dieser Entwicklung beitragen. Dabei wird das Streben nach Individualität und einer selbstbestimmten Identität von Zwängen und Erwartungen der modernen Gesellschaft überlagert und massiv beeinflusst. Folglich endet die individuelle Freiheit eigener Handlungs- und Deutungsmuster dort, wo sie auf gesellschaftliche Erwartungen und Vorstellungen sowie auf deren Normen trifft (vgl. Saumweber 2009, 39, 40). 

Erikson beschreibt den Lebenszyklus als unentbehrliche Koordinate für die Identität. Er spricht in Zusammenhang mit der Jugendphase von Adoleszenz und ist der Ansicht, dass diese von der Suche nach dem Identitätsgefühl und dem Kampf um das solche dominiert wird. Dabei beinhaltet die in diesem Stadium postulierte Entstehung der Treue die Verbesserung der Fähigkeit, sich und anderen zu trauen sowie den Anspruch, selbst vertrauenswürdig zu sein und die Fertigkeit, sich mit der eigenen Treue zu etwas zu verpflichten. Die Treue ist nach Erikson die vitale Kraft der Jugend und sie kann nur durch die Vereinigung der Kräfte von Individuum und Gesellschaft hervorgerufen werden (vgl. Hartmann 2010, 47). Der Fokus der Jugendlichen in diesem Stadium liegt auf dem Bild, das Andere von ihnen haben, und auf dem Abgleich dessen mit ihren eigenen Vorstellungen (vgl. Erikson 1999, 255/256). So wird das Bild, das sich hieraus ergibt, mit den früher entworfenen Träumen, Rollen und Leistungen verglichen und versucht in Einklang zu bringen. Die Identitätsverwirrung- beziehungsweise Konfusion ist nach Erikson eine dem Zeitpunkt der Adoleszenz angemessene Krise, welche durch innere Konflikte getrieben ist und mehr oder minder schwer ausfallen kann (vgl. Erikson 1998, 13, 26).