Timothy Keller - Collin Hansen - E-Book

Timothy Keller E-Book

Collin Hansen

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Beschreibung

Newsweek bezeichnet Timothy Keller als den "C. S. Lewis des 21. Jahrhunderts". Millionen von Menschen haben seine Bücher gelesen und seine Predigten gehört. In dem "City-to-city"-Netzwerk hat er christliche Gemeinden weltweit vernetzt. Aber welche Menschen, welche Theologen und Denker, welche Bücher und welche Lebenserfahrungen haben sein eigenes Denken und seinen geistlichen Werdegang geprägt? Angefangen von der Frau, die ihn lehrte, die Bibel zu lesen, über den Professor, der ihn bei jeder Predigt Jesus ins Zentrum stellen ließ, bis hin zu dem Philosophen, der ihm den Blick unter die Oberfläche der Gesellschaft zeigte. Wie haben C. S. Lewis, J.R.R. Tolkien, Jonathan Edwards, Billy Graham, Francis Schaeffer, Elisabeth Elliot, John Stott und viele andere ihn geprägt? Zum ersten Mal zeichnet Hansen auch Timothy Kellers frühe Jahre nach: Wie er sich mit seiner alles bestimmenden Mutter auseinandergesetzt hat und zum Wortführer der Geschwister wurde und wie er in seiner ersten Gemeinde lernte, Menschen als Seelsorger und Pastor zu begleiten. Und natürlich zeigt er, wie Tim Keller als Pastor der Redeemer Church in New-York-City zu einem der weltweit prägendsten christlichen Leiter wurde – auch wenn er selbst diese internationale Bekanntheit nie gewollt hat.

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Seitenzahl: 494

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Collin Hansen

Timothy Keller

Was ihn prägte: Menschen, Bücher und ein gnädiger Gott

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Timothy Keller: His Spiritual and Intellectual Formation (Grand Rapids, Mi: Zondervan).

© 2023 by Collin Hansen

Published by arrangement with HarperCollins Christian Publishing, Inc.

Epilog (Ab der Überschrift „Lerne niemals deinen Helden kennen“) aus: Collin Hansen, „I met my hero, Tim Keller“, The Gospel Coalition: https://www.thegospelcoalition.org/article/met-hero-tim-keller, aufgerufen am 15.01.2024, © 2023 Collin Hansen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frauke Bielefeldt

Bibelstellen sind nach der Neuen Genfer Übersetzung (NGÜ) zitiert. Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft.

© der deutschen Ausgabe:

2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Uwe Bertelmann

Umschlagfoto: © José A. Alvarado Jr./Redux/laif

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul, Brunnen Verlag GmbH

Satz: Brunnen Verlag GmbH

ISBN Buch 978-3-7655-3613-7

ISBN E-Book 978-3-7655-7851-9

www.brunnen-verlag.de

Meinem Großvater William,

der vor mir das Evangelium verkündet hat,

und meinem Sohn William,

der es nach mir verkünden wird, so mein Gebet.

Stimmen zum Buch

„Gedenkt eurer Lehrer“ – in diesem Sinne sind nach dem Tod von Timothy Keller unzählige schriftliche und audio-visuelle Nachrufe erschienen. Sie machen deutlich, dass wir mit seinem Tod einen der einflussreichsten evangelikalen Theologen der vergangenen Jahrzehnte verloren haben. Keller besuchte Deutschland meines Wissens nur ein Mal, anlässlich einer Gemeindegründungskonferenz in Berlin im Jahr 2011. Dennoch hat er auch hierzulande tiefe Spuren hinterlassen. Viele Leiter (nicht nur, aber gerade auch in meiner Generation) verdanken ihm entscheidende Weichenstellungen für ihr theologisches Denken und ihre Gemeindepraxis.

Prof. Dr. Philipp Bartholomä, Professor für Praktische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen

„Timothy Keller vereinte in seiner Person mehreres, was die Christenheit in den USA, weltweit und auch bei uns sehr gut gebrauchen kann: Klarheit im Evangelium, unerschütterliches Zutrauen zur Bibel, Freundlichkeit und Klugheit, Respekt im Gespräch mit Andersdenkenden, heitere Bescheidenheit, Liebe zur Mission und zur Gemeinde – und Liebe zu Gott. Er fehlt uns sehr. Wie schön, dass nun seine Biografie auch auf Deutsch vorliegt.“

Prof. Dr. Matthias Clausen, Karl Heim-Professor für Evangelisation und Apologetik an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg

„Keller war ein konservativer Evangelikaler, der auch außerhalb seiner Kreise großen Respekt und Anerkennung erfuhr. Er hielt zusammen, was bei vielen in allen christlichen Strömungen auseinanderzuklaffen drohte: Verwurzelung in aktiver Gemeindearbeit und die Arbeit an gewichtigen theologischen Impulse für viele. Eine persönliche Jesusfrömmigkeit des Alltags und die intellektuelle Durchdringung des Glaubens. Eine klare theologische Position in vielen Fragen, die er stets mit Respekt vor anderen Haltungen formulieren konnte. […] Nicht nur die evangelikale Bewegung ist heute ärmer geworden, sondern die Christenheit. Und zugleich sind seine Werke ein Erbe, an dem man sich reiben und wachsen kann, egal ob man ihm weitgehend folgt oder auch andere Wege geht.“

Prof. Dr. Thorsten Dietz am 09.05.2023 auf Facebook zum Tod von Timothy Keller

„Nachdem ich mir schon alles ins Bücherregal gestellt hatte, was von Timothy Keller auf Deutsch erschienen war, konnte ich ihn ein einziges Mal live erleben. Es war Ende Oktober 2018 zur „City to City Europe Conference“ in Krakau. Die fand im Kijow-Filmpalast statt und war ganz großes Kino. Aber kein Schauspiel! Timothy Keller hielt vier Bibelarbeiten und ich erlebte einen Mann mit Standing, Vollmacht und Gelassenheit. Seine ruhige und demütige Art hat mich nachhaltig beeindruckt. Ein Gemeindegründer – tief verwurzelt in reformatorischer Theologie. Ein Amerikaner, der Luther wirklich verstanden hat. Eine geniale Synthese aus missionaler Leidenschaft und theologischer Tiefe. Immer wieder zitierte er C. S. Lewis und ermutigte zu tiefen Wurzeln, die man viel besser durch intensives Lesen als mit ziellosem Surfen ausbilden kann. Ein Satz, der bei mir hängen geblieben ist: „Movements run on stories.“ Erzählt eure Geschichten mit Gott – was Gelingen, Scheitern und Neuanfänge einschließt – und gebt dafür Raum in der Gemeinde! Wie gut, dass wir nun Timothy Kellers Geschichte – erzählt von Collin Hansen – in deutscher Übersetzung hören können.“

Sandro Göpfert, Pfarrer der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens in Burgstädt

„Timothy Kellers Predigten haben mich immer wieder für die eigene Predigtpraxis und den Unterricht über christliches Predigen beeindruckt und inspiriert. Immer wieder buchstabierte der reformierte Theologie dabei sein theologisches Credo durch: Das Evangelium ist gute Nachricht, nicht guter Rat.“

Prof. Dr. Michael Herbst, Viereth-Trunstadt

„Nur wenige Autoren und Denker haben mich so geprägt wie Timothy Keller. Sein Umgang mit der Bibel, besonders sein großartiges Verständnis vom Evangelium, sind für viele zu einem Kompass in unserer postchristlichen Kultur geworden. Sein kluger, offener und liebevoller Umgang mit Skeptikern und Gegnern hat uns ein überzeugendes Beispiel gegeben, das noch lange nachwirken wird. Wie hat Keller diese Spur gefunden? Colin Hansens Biografie nimmt uns Backstage in sein bemerkenswertes und gleichzeitig so unspektakuläres Leben, das Millionen inspirierte.“

Lothar Krauss, Pastor der Viva Kirche Mannheim, Blogger (der-leiterblog.de) und Mitglied im Vorstand von Willow Creek Deutschland

„Timothy Keller ist eine große Inspiration für viele junge Gemeinden im deutschsprachigen Raum. Nicht zuletzt sein Buch Centerchurch war ein echter Booster für etliche Verantwortliche. Persönlich bin ich immer wieder beeindruckt von Timothy Kellers Charisma der Balance: Text und Kontext werden aufeinander bezogen, ohne dass sich das Evangelium dabei auflöst.“

Prof. Dr. Arndt Schnepper, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach.

„Kein anderer Theologe hatte in den letzten knapp 20 Jahren durch seine Bücher, Predigten, Vorträge und persönlichen Begegnungen einen größeren Einfluss auf meine Nachfolge, meine Verkündigung und meinen Dienst als Timothy Keller. In einer meiner tiefsten persönlichen, emotionalen und geistlichen Krisen hat er mir durch sein Buch von den beiden verlorenen Söhnen (Bedingungslos geliebt) die Schönheit des Evangeliums der Gnade vor Augen gemalt, wie ich sie bis dahin noch kannte. Seitdem hat dieses Evangelium Stück für Stück mein Herz erreicht, geprägt und verändert.

Die Art und Weise, mit der er Herz und Hirn, Gefühl und Intellekt miteinander verbindet, hat mich auf eine Entdeckungsreise in die Tiefen dieses Evangeliums geführt. Auf die befreienden Auswirkungen in allen Lebensbereichen möchte ich nicht mehr verzichten. Timothy Keller hat sich mit seinen Gaben als Gottes Werkzeug zum Segen für mich persönlich und viele andere gebrauchen lassen.“

Steffen Weil, Gemeindegründer, Teil des Leitungsteams von „City to City“ DACH und Bereichsleiter bei der Allianzmission für DACH.

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Ehrlich gegenüber Gott (1950–1972)

1. Mama-Wettbewerb

Allentown, Pennsylvania

2. Der absurde Mensch

Bucknell University

3. Die Frau, die ihn lehrte, die Bibel zu lesen

InterVarsity Christian Fellowship

4. Kathy, die Tapfere

Kathy Kristy

5. Wahrer Mythos

Die Inklings

6. Zweifler willkommen

R. C. Sproul und das Ligonier Valley Study Center

Teil 2: Professoren und Kommilitonen (1972–1975)

7. Theologisches Sammelsurium

Gordon-Conwell Theological Seminary

8. Table Talk

Elisabeth Elliot und die „Robins“

9. Wertschätzend widersprechen

Roger Nicole und der Neo-Calvinismus

10. Pneumodynamik

Richard F. Lovelace und Jonathan Edwards

Teil 3: Feuerprobe (1975 bis 1989)

11. Chemiehauptstadt des Südens

Hopewell, Virginia

12. Das biblische Drama der Erlösung

Edmund P. Clowney

13. „Geprägt vom Evangelium“

Westminster Theological Seminary

Teil 4: Von New York in die Welt (1989–2023)

14. Masters of the Universe

New York City

15. „Das Land des Ja“

Redeemer Presbyterian Church

16. Jeder betet

Der 11. September und „Warum Gott?“

17. „Glaube wozu?“

Dogwood Fellowship

18. Ringe eines Baumes

Schluss

Epilog: Ich habe meinen Helden kennengelernt

Nachwort

Dank

Register

Anmerkungen

Vorwort

„Wenn er zur Tür hinausgeht, werden die ersten Zehntausend Menschen, die er sieht, keine Ahnung haben, wer er ist.“ So beschrieb Kathy Keller ihren Mann Tim, wenn er in New York über die Bürgersteige ging. Tims langjähriger Assistent Craig Ellis ist mit ihm auf unzähligen Straßen in New York gegangen und unzählige Male mit der U-Bahn gefahren. Niemand hat Keller je erkannt.1 Nicht, dass Tim Keller in der Menge untergehen würde. Der 1,95 m große Kahlkopf ist einer der wenigen Menschen, die auf der Straße mit einem aufgeschlagenen Buch unterwegs sind.

In London wird er eher erkannt als in New York, wo er seit mehr als dreißig Jahren lebt. Als Billy Graham 1957 evangelistische Versammlungen veranstaltete, suchte er die Bekanntheit durch den Kontakt zu Reichen und Prominenten, um sich eine größere Plattform für die Verkündigung des Evangeliums zu schaffen. Als Tim Keller 1989 die Redeemer Presbyterian Church gründete, vermied er es bewusst, die Kirche in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, vor allem gegenüber anderen Christen.2 Er wollte eher religiöse Skeptiker an der Upper East Side treffen, als in Nashville Bücher zu verkaufen. Prominente wie Jane Pauley, Elisabeth Hasselbeck, Robin Williams und Diane Sawyer besuchten die Redeemer-Church gelegentlich oder traten als Mitglieder ein und entdeckten eine Gemeinde, die ihre Prominenz nicht nutzte, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Warum also über jemanden schreiben, der sich so wenig für Publicity interessiert? Weil es nicht wirklich um ihn geht. Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Biografie erzählt dieses Buch Kellers Geschichte nicht, um herauszustellen, wen er alles beeinflusst hat. Viel spannender ist es, zu sehen, wer oder was ihn beeinflusst hat. Wer je mit Keller zu tun hatte, merkte bald, dass er nicht gerne über sich selbst sprach. Er redete viel lieber über das, was er gelesen, beobachtet und gelernt hatte.

Die Geschichte von Tim Keller ist die Geschichte seiner geistlichen und intellektuellen Einflüsse – von der Frau, die ihn zum Bibellesen führte, über den Professor, der ihn lehrte, in jedem Text Jesus zu predigen, bis hin zu dem Soziologen, der ihm beibrachte, hinter die Oberfläche der Gesellschaft zu blicken.

Mit freiem Zugang zu Kellers Familie, Freunden und Kollegen besuchen wir das Haus seiner Kindheit, in dem er sich mit anderen Jungs prügelte. Wir kehren zu der kleinen Südstaatengemeinde zurück, in der er lernte, Menschen seelsorgerlich zu begleiten. Und wir erkunden die Stadt, die ihm zu dem internationalen Ruhm verhalf, den er nie wollte. Als Kind der 1960er-Jahre, Student in den 1970ern, Gemeindegründer in den 1980ern und Leiter einer der größten Kirchen New Yorks am 11. September 2001 umspannt Tim Kellers Leben viele der turbulentesten Ereignisse des letzten Jahrhunderts.

Dies ist die Geschichte der Menschen, der Bücher, der Vorträge und letztlich des Gottes, der Timothy James Keller geprägt hat.

Teil1Ehrlich gegenüber Gott

1950 bis 1972

Kapitel1Mama-Wettbewerb

Allentown, Pennsylvania

1950 bis 1968

Tim Kellers Großmutter verbot ihren beiden Söhnen, am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen. Die Verlobte des einen Sohnes schämte sich so sehr, dass sie die Verlobung löste, als er sich als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen registrieren ließ. Der andere Sohn, William Beverly Keller, lernte seine Frau auf der Psychiatriestation für gewalttätige Männer kennen.

William Keller, genannt Bill, hat die Geschichte immer gerne so erzählt: Louise Anne Clemente arbeitete als Krankenschwester und Bill musste seinen Wehrdienst ableisten. Als sie beide 22 Jahre alt waren, heirateten sie am 24. Mai 1947 in Wilmington (Delaware). Die Ehe von Bill und Louise Anne spiegelte die sich wandelnden gesellschaftlichen Normen in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg wider: Als junge Paare über religiöse und ethnische Grenzen hinweg heirateten, stellten sie konfessionelle Loyalitäten infrage und trugen zur Entstehung einer überkonfessionellen evangelikalen Bewegung bei. Tim, das älteste Kind der Kellers, wurde römisch-katholisch getauft, lutherisch konfirmiert, ging später als methodistischer Arminianer ins Theologiestudium und wurde als Presbyterianer ordiniert.

Bill Keller wurde 1924 in Quakertown (Pennsylvania) geboren. Seine Mutter kam in Kontakt mit den mennonitischen Pazifisten in der Gegend. Sie war Antialkoholikerin, verabscheute die progressive Reformpolitik von Präsident Franklin D. Roosevelt und gehörte der Church of God (Holiness) an, die die vollständige Heiligung des Christen betont. Die Familie Keller kann indes mehrere Veteranen des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs in ihrer Familiengeschichte aufbieten. Der erste Keller in Amerika brachte 1738 seine Frau und vier Kinder aus dem deutschen Baden nach Philadelphia. Sie ließen sich auf einer Farm in Bucks County in Pennsylvania nieder, wo die lutherische Kirche und Schule ihr Lebensmittelpunkt wurden. Zweihundert Jahre lang blieben Generationen von Kellers ihrer Heimat treu.

Tim Kellers Großvater James Clemente wurde 1880 in der Nähe von Neapel geboren und ging mit 18 Jahren nach Amerika. Seine Clemente-Großmutter, deren Eltern die Ehe arrangiert hatten,1 wurde als Tochter italienischer Einwanderer kurz vor der Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten geboren. Als Bill Keller und Louise Clemente 1947 heirateten, mussten sie die Zeremonie im Haus des Priesters abhalten statt in der Kirche, weil Bill Lutheraner war. Louise hat diese empfundene Kränkung nie verziehen. Sie ließ ihren ältesten Sohn katholisch taufen, trat aber aus der Kirche aus und erzog ihre Kinder lutherisch.

Louise brachte Timothy James Keller am 23. September 1950 in Allentown (Pennsylvania) zur Welt. Die kleine Familie lebte in einer Mietwohnung und Bill unterrichtete Kunst in einem kleinen Schulbezirk südlich von Allentown. Diese Arbeit erfüllte ihn aber nicht und er gab den Lehrerberuf auf, um in der Werbebranche zu arbeiten und für seine Familie ein stabiles Einkommen mit nach Hause zu bringen. Er begann, Küchen für die Firma Sears zu entwerfen. Die Familie zog nach Allentown und baute ein Haus gegenüber von Bills Eltern, auf einem Grundstück, das früher Großmutter Kellers Garten war. Schließlich nahm Bill Keller eine Stelle bei einer Kaufhauskette namens Hess Brothers an und stieg vom Anzeigenredakteur bis zum Werbemanager auf. Als Führungskraft verbrachte Bill viele Stunden außer Haus, getrennt von seiner Familie. Louise erwartete nicht von ihm, dass er kochte, putzte oder Windeln wechselte oder sonst irgendetwas tat, um ihr beim Aufziehen der Kinder zu helfen. Tim Kellers Freunde erinnern sich an Bill als einen „Schatten“, der schweigend in seinem Stuhl saß.2

Jeder wusste, wer den Haushalt führte.

Wer ist der Boss?

Zwei weitere Kinder folgten, Sharon Elizabeth im Jahr 1953 und William Christopher 1958. Tim widmete sein Buch Walking with God through Pain and Suffering (dt.: Gott im Leid begegnen) „Für meine Schwester Sharon Johnson, einen der geduldigsten und fröhlichsten Menschen, die ich kenne, von der ich so viel über Lastentragen, Schmerzarbeit und Gottvertrauen gelernt habe.“3

Tim war Wegbereiter und Anführer für seine jüngeren Geschwister. Er brachte seiner Schwester, die den Spitznamen „Shu“ trug, das Fahrradfahren bei, indem er sie in einen Stapel Kartons fahren ließ. Er brachte ihr bei, dass sie, wenn sie jemanden schlägt, den Daumen aus der Faust nehmen muss, um ihn nicht zu brechen. Er schrieb die Geschichten für ihre Puppenspiele, zu denen sie Eintrittskarten und Snacks verkauften. Shu erinnert sich, wie sie Tim zuhörte, wie er auf einen kleinen Baum kletterte und ihr aus der Baumkrone Geschichten erzählte. Tim schrieb eine Comedy-Nummer über die ersten Jahre der amerikanischen Geschichte. Mithilfe der Schallplatten ihrer Eltern spielten sie The Music Man nach und sangen Stan-Freberg-Melodien. Als er später seine zukünftige Frau Kathy beeindrucken wollte, konnte er aus einem ganzen Repertoire von Musicals schöpfen, da dies die einzige Musik war, die Louise außer Opern in ihrem Haus erlaubte.

Da sie ganz am Ortsausgang von Allentown lebten, keine Leihbücherei hatten und nur ein einziges Auto zur Verfügung stand, beschäftigten sich die Keller-Kinder mit den Büchern ihrer Mutter. Im Amerika der 1950er-Jahre mit seinem unscharfen Empfang auf kleinen Schwarz-Weiß-Fernsehern gab es nicht viele Alternativen. Tim las bereits im Alter von drei Jahren auch ohne besondere Hilfe seiner Eltern. Die Liebe der Keller-Kinder zu geschichtlichen Themen und Sachbüchern im Allgemeinen wurde durch die Lektüre von Aufstieg und Fall des Dritten Reiches von William Shirer und insbesondere durch die Lexikonreihe Funk & Wagnalls Standard Reference Encyclopedia geweckt. Wenn sie etwas im Fernsehen sahen, wollte Tim es in der Enzyklopädie nachschlagen. Egal worum es ging, alles faszinierte ihn. Er schien sich alles zu merken und trug es seinen jüngeren Geschwistern vor. Die Familie hatte nicht viel Geld für Bücher, aber sie besaß eine Ausgabe der Werke von Rudyard Kipling, dazu Jane Eyre von Charlotte Brontë und Wuthering Heights (dt.: Sturmhöhe) von ihrer Schwester Emily Brontë.

Für seine jüngeren Geschwister mag Tim den Anführer gespielt haben. Aber jeder wusste, wer der Boss war. Besucher konnten nicht einmal den Flur entlanggehen, ohne dass Louise fragte, wohin sie gingen.4

„Meine Mutter hatte ein großes Bedürfnis nach Kontrolle“, sagt Sharon. „Das Problem war, dass sie mich so erzogen hat, als gäbe es nur einen Weg, etwas zu tun – ihren. Und wenn man anders war, war man falsch. So etwas wie ‚Es gibt mehr als einen Weg, einer Katze das Fell abzuziehen, und wenn du keine Tür findest, öffne ein Fenster‘ gab es nicht.“

Louise Kellers italienisch-katholische Erziehung verlangte, dass ihr ältester Sohn sie stolz und ihre älteste Tochter sie glücklich machte. Alle drei Kinder entwickelten eine intuitive Gabe, Unmut bei anderen zu erkennen.

„Ich glaube, sie war natürlich am härtesten zu Tim“, sagt Sharon. „Es gab Wochen, in denen sie sagte: ‚Ich werde Tim diese Woche zeigen, wer der Boss ist.‘“ Jedes Kind ging anders mit dem Druck um. Sharon flüchtete sich in Tagträumereien. Billy und Tim übernahmen ihren Hang zur Werkgerechtigkeit, entwickelten aber jeweils ihr eigenes, heimliches inneres Leben. Tim wehrte sich. Er widersetzte sich. Er argumentierte. Er konnte ihre Zuneigung und Zustimmung nicht gewinnen. Viele Jahre später, als Tim Kathy heiratete, nahm sie wahr, was sie später den „Mutterwettbewerb“ zwischen Louise und deren ältere Schwester Angela nannte. Tims Cousine machte mit 15 Jahren ihren College-Abschluss, studierte anschließend Chemie und wurde Ingenieurin. Tim konnte da nicht mithalten, sodass er seiner Mutter keine Punkte in diesem für sie wesentlichen Geschwisterkampf einbrachte.5 Sharon sah in ihrer Mutter die Unsicherheit, die Beste sein zu müssen, um ihren Wert zu beweisen.

„Tims Intelligenz war so breit angelegt“, sagte Sharon. „Ich glaube, meine Mutter hat das nicht ganz verstanden, als wir aufwuchsen. Tim war ein Denker, den die großen Zusammenhänge interessierten. Das war sie ganz und gar nicht.“

Ein ehrgeiziger, beschleunigter Lehrplan, der später von der Schule wieder aufgegeben wurde, hinterließ bei dem jungen Tim emotionale Narben. In der dritten Klasse kam er in die Klasse für begabte Jugendliche aus Allentown. Diese „besten und klügsten“ Schüler wurden nicht mit den Kindern aus der Nachbarschaft zusammen unterrichtet, sondern in einer anderen Schule in einem sozial schwächeren Stadtviertel. Man braucht nicht viel Fantasie, um nachzuvollziehen, warum der Schulbezirk dieses Konzept änderte, noch bevor Tim seinen Highschool-Abschluss gemacht hatte. Diese „Intelligenzbestien“ wurden schikaniert, verspottet und gehänselt. Die Schule trug dazu bei, dass Tim sich in seiner Kindheit einsam fühlte. Er war im sozialen Umgang daher unbeholfen und unsicher – ein Mauerblümchen, das nicht so recht wusste, wie man Freundschaften schließt oder pflegt. Er verkroch sich in seine Bücher – hier konnte er seine Umgebung unter Kontrolle behalten und seinen Selbstwert sichern. Doch die Einsamkeit und der unerbittliche Perfektionismus seiner Mutter führten dazu, dass er zu ständiger innerer Selbstkritik neigte.

Doch Shu erinnert sich daran, wie sich ihr älterer Bruder an die widrigen Umstände angepasst hat. Tim und sein jüngerer Bruder Billy waren beide in der Begabtenklasse und wurden zur Zielscheibe von einer Clique aus der Nachbarschaft. Louise erinnerte sich wohl daran, wie sie den Vater ihrer Kinder kennengelernt hatte, und verbot den Jungen, sich zu prügeln. Aus purem Überlebensinstinkt entwickelte Tim die Fähigkeit, sich verbal zu wehren, wenn er buchstäblich in die Ecke gedrängt wurde. In Auseinandersetzungen mit seiner Mutter verfeinerte er seine Künste, wenn sie ihren Kindern wieder einmal sagte, wie oft sie sie enttäuschten.

„Ich glaube, dass er auch deswegen so gut zu Menschen sprechen kann, weil er es im Umgang mit unserer Mutter gelernt hat“, sagt Sharon. „Ohne ihn hätten wir nie Star Trek gesehen. Er musste argumentieren, um dieses oder jenes gucken zu dürfen. Sie war ziemlich unerbittlich, wenn es darum ging, dass die Dinge in ihrem Sinn liefen. In ihren Augen war sie uns eine Hilfe, um uns gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen.“6

Unter der Last der Schuldgefühle zu Hause fand Tim Zuflucht in Aktivitäten. Er versuchte es mit Ringen, sein größeres Talent lag aber beim Trompetespielen in einem Spielmannszug.7 Tim schätzte seine Erfahrungen mit den Pfadfindern so sehr, dass einer seiner Söhne sogar von Roosevelt Island in New York aus den Eagle Scout machte (höchster Grad der Pfadfinder – Anm. d. Übers.). Seine Frau Kathy gab ihm später den Spitznamen „Boy Scout“, weil seine Verpflichtung, das Richtige zu tun, es ihm nicht einmal erlaubte, in der Stadt vor einem Hydranten zu parken.8

Die Evangelical Congregational Church

Selbst innerhalb ihrer italienischen Einwandererfamilie zeichnete sich Louise Keller durch besonders hohe moralische Standards aus und verurteilte andere Katholiken, wenn sie diesen Standards nicht gerecht wurden. Später in ihrer Ehe klagte Louise Keller ihren Mann an, seine Führungsrolle im religiösen Leben der Familie aufgegeben zu haben. Also übernahm sie diese Verantwortung. Aus Kriegszeiten als Krankenschwester hatte Louise eine protestantische Freundin, die in der Bibel las und persönlich betete, was sie von ihrem katholischen Hintergrund her nicht kannte. Louise war fasziniert davon, dass sie persönlich mit Gott in Kontakt treten konnte. Nach Tims Taufe kam sie zu dem Schluss, dass die katholische Kirche nicht mit der Heiligen Schrift zu vereinbaren war.

Also ließ sie die Familie in die lutherische Kirche der Kellers gehen, die damals zur Lutheran Church in America gehörte – einer Denomination, die später Teil der Evangelical Lutheran Church in America werden sollte. Die Kellers besuchten jeden Sonntag den Gottesdienst und ließen Tim sogar noch einmal lutherisch taufen. Louise fing an, Bibelstunden zu leiten, und wurde zu einer „Säule“ der Gemeinde, die nur eine Meile von ihrem Haus entfernt lag. Theologie war für Louise nicht besonders wichtig, aber sie spielte mit ihren Kindern regelmäßig Bibelquiz. So lernte Tim die Namen aller Könige von Israel und Juda auswendig.

Als Teenager in den frühen 1960er-Jahren besuchte Tim den Konfirmandenunterricht in der lutherischen Kirche. In dieser kleinen Gemeinde blieben die Pfarrer nicht lange im Amt. Sein erster Lehrer, ein Pastor im Ruhestand namens Rev. Beers, vermittelte seinen Gemeindemitgliedern einen orthodoxen Zugang zu christlicher Geschichte und Theologie und eine sehr klassische Glaubenspraxis. Er ließ seine Konfirmanden den Aufbau des Augsburger Bekenntnisses auswendig lernen. Die Lehre von Gericht und Erlösung durch Glauben an Jesus allein vermittelte er anhand des Akronyms SOS: „The law shows our sins, the gospel shows our Savior“ (Das Gesetz zeigt unsere Sünden, das Evangelium zeigt unseren Erlöser). Es war das Jahr 1963 und Tim Keller hörte zum ersten Mal in klaren Worten vom Evangelium der Gnade.

Damals war diese Botschaft für Tim jedoch nicht mehr als ein weiterer interessanter Gedanke, den er als Lernstoff beherrschen musste, um einen Kurs zu bestehen. Und doch war ein Samen gepflanzt worden, den später ein anderer Pastor, Jack Miller, begießen sollte, als er Martin Luther zitierte. Aus diesem Samen des Evangeliums erwuchs die Kraft, die schließlich Tims Leben veränderte und dazu beitrug, dass er die Verkündigung des Evangeliums als Befreiung von zwei Arten von Gesetzlichkeit verstand.

Die erste Art der Gesetzlichkeit – Erlösung durch gute Werke – lernte er bei seinem zweiten Konfirmandenlehrer, einem frischgebackenen Absolventen des lutherischen Seminars in Gettysburg (Pennsylvania). Zur Enttäuschung seiner Mutter und Großmutter setzte sich dieser Pfarrer auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Umbrüche im Jahr 1964 für die Bürgerrechtsbewegung ein. Ähnlich wie die Professoren, denen Tim später am College begegnete, stellte auch dieser Pfarrer die biblische Autorität und die aus seiner Sicht überholten Lehren infrage. Themen wie die christliche Lehre oder das Leben der Kirche beschäftigten ihn wenig. Christsein war eine gesellschaftspolitische Angelegenheit: Es galt, sich zu engagieren, um die Welt zu verbessern.

Der Kontrast zwischen seinem ersten und zweiten Konfirmandenjahr irritierte Tim:

Es war fast, als hätte man uns zwei verschiedene Religionen präsentiert: Im ersten Unterrichtsjahr standen wir vor einem heiligen, gerechten Gott, dessen Zorn man nur mit Mühe besänftigen konnte. Im zweiten Jahr hörten wir von einem Geist der Liebe, der das Universum durchwehte und der von einem erwartete, dass man für die Menschenrechte und die Befreiung der Unterdrückten kämpfte. Ich hatte große Lust, die beiden Pastoren zu fragen: „Wer von euch beiden lügt?“, aber das traute ich mich mit meinen 14 Jahren dann doch nicht und hielt lieber den Mund.9

Nach einem Jahrzehnt bei den Lutheranern fand Louise Keller eine Gemeinde, die ihrer eigenen religiösen Prägung und ihren Vorstellungen entsprach: Die Evangelical Congregational Church, die das menschliche Bemühen um das Heil und das Erreichen der sündlosen Vollkommenheit betonte. Zu Hause wie in der Gemeinde lernte Tim Keller diese zweite Form von Gesetzlichkeit kennen: die fundamentalistische Variante. Als Tim von zu Hause auszog, um aufs College zu gehen, wusste er über Martin Luther nicht nur Bescheid, sondern konnte sich persönlich mit ihm identifizieren – auch er war geplagt von einem krankhaft überkritischen Gewissen, das von ihm Perfektion erwartete, weil er versuchte, seinen Maßstäben und seinem Potenzial gerecht zu werden.

Diese äußeren Anforderungen wurden noch verstärkt, als seine Eltern sich mit Bischof John Moyer anfreundeten, einem Pastor ihrer kleinen Konfession, die deutschsprachige Wurzeln in der methodistischen Tradition hatte. Als Tim 1968 seinen Abschluss an der Louis E. Dieruff High School machte und an die Bucknell University ging, stellte sich seine Mutter vor, dass er eines Tages an die Spitze der Evangelical Congregational Church zurückkehren würde. Vielleicht würde eine solch hohe kirchliche Position ihres Sohnes ihren Wert als Mutter unter Beweis stellen.

Aber Tim war sich nicht so sicher, ob er überhaupt etwas mit dem christlichen Glauben zu tun haben wollte. Ein Kreislauf von Scham ließ ihn nach einer Gemeinschaft lechzen, in der er aufgenommen und akzeptiert, ja sogar bewundert werden konnte. Und wenn das hieß, dass er die Kirche verlassen musste, dann war das eben so.10

Kapitel2Der absurde Mensch

Bucknell University

Der 1968 an der Bucknell University aufgenommene Jahrgang absolvierte 1972, also vier Jahre später, mit 650 Studenten. Von ihrem Abschlussjahr an der Highschool bis zum Tag ihres College-Abschlusses hatte sich die Welt vor ihren Augen verändert.

Als sie sich auf ihren Highschool-Abschluss vorbereiteten, wurde Martin Luther King am 8. April in Memphis (Tennessee) ermordet. Keine zwei Monate später, am 6. Juni, fiel Robert F. Kennedy in Los Angeles einem Attentat zum Opfer. Als sie an das College wechselten, unterdrückte die Sowjetunion eine Reformbewegung und marschierte am 20. August in die Tschechoslowakei ein. Und zwischen dem 26. und 29. August sah die Nation mit Entsetzen und Begeisterung zu, wie Chicagos Bürgermeister Richard Daley die Polizei brutal gegen Demonstranten vorgehen ließ, die anlässlich des Parteitags der Demokraten protestierten.

Bucknell, eine kleine, eher allgemeinbildende Hochschule im ländlichen Lewisburg (Pennsylvania), blieb weitgehend traditionell und konservativ. Etwa 2800 Studenten lebten in drei Wohnheimen, die nur wenige Gehminuten voneinander entfernt waren. Über weite Teile der 1960er-Jahre wurde von den Studenten noch erwartet, dass sie sich an die Sperrstunde hielten, und die Rocklänge der Frauen war reglementiert. In den Wohnheimen mussten Männer angekündigt und begleitet werden, wenn sie Frauen auf ihren Zimmern besuchen wollten.

Die Gegenkultur kam 1968 mit Tim Kellers Jahrgang. Die Studenten spalteten sich nun in zwei Gruppen, die schon äußerlich sehr leicht voneinander zu unterscheiden waren: auf der einen Seite die langhaarigen Hippies, die ihren Drogenkonsum und ihre sexuelle Befreiung offen zeigten, auf der anderen Seite die traditionellen Studenten, die die griechischen Buchstaben ihrer Studentenverbindungen trugen. Als schüchterner Nerd riskierte Keller es nie, von den Wirtschafts- oder Naturwissenschaftlern und angehenden Ingenieuren in deren Burschenschaften abgewiesen zu werden. Aber er passte auch nicht zu den Hippies, obwohl sie in den Geisteswissenschaften viele Kurse gemeinsam belegten.

In Kellers Augen stellten sich die Hippies wie Sportler zur Schau.1 Die Ortsgruppe der Students for a Democratic Society war relativ klein. Philip Berrigan, ein römisch-katholischer Priester und Antikriegsaktivist, saß in Lewisburg im Bundesgefängnis, nachdem er mit anderen geplant hatte, Einberufungsunterlagen mit selbst gemachtem Napalm zu verbrennen. Doch in dieser kleinen Stadt im Herzen Pennsylvanias mit weniger als 6000 Einwohnern gab es keine studentische Massenbewegung, die gegen seine Inhaftierung protestiert hätte.

Lewisburg war nicht das Zentrum der Anti-Vietnam-Proteste, aber Bucknell war akademisch am Puls der Zeit. Die Wurzeln von Bucknell reichen bis ins Jahr 1846 zurück, als die Schule von Baptisten gegründet wurde. Doch als Keller dort studierte, förderte die Schulleitung nicht mehr die traditionellen Formen des christlichen Glaubens. Es war die Ära des Mainline-Protestantismus, in der die Dogmen in den Hintergrund getreten waren, um Gutes zu tun, und die Christliche Vereinigung auf dem Campus ihren Namen in Concern for Action änderte. Der Fachbereich Psychologie hatte sich längst von Sigmund Freud gelöst, aber bei den Religionswissenschaftlern wurden seine Lehren immer noch regelmäßig behandelt. Nur zwei Jahre zuvor hatte die Veröffentlichung von Thomas J. J. Altizers und William Hamiltons Radical Theology and the Death ofGod („Radikale Theologie und der Tod Gottes“)2 das Time Magazine fragen lassen: „Is God Dead?“ („Ist Gott tot?“). In Bucknells Fachbereich Religion wurden Altizers und Hamiltons Thesen in den Lehrveranstaltungen aufgenommen und propagiert.

Ein weiteres beliebtes Kursthema war John A. T. Robinsons Honest to God (dt.: Gott ist anders). Als das Buch 2013 anlässlich seines 50. Jahrestages neu aufgelegt wurde, schrieb der Verlag, das Buch sei als das „meistdiskutierte theologische Werk des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet worden. Existenzialisten wie Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Albert Camus galten als bahnbrechende Denker dieser Zeit. Robinson, ein anglikanischer Bischof, plädierte für eine existenzialistische Neuausrichtung der Gottesvorstellung und lehnte jedes Verständnis von Gott als „da draußen“ ab. Robinson wollte die Arbeiten von Paul Tillich, Dietrich Bonhoeffer und Rudolf Bultmann zusammenführen, um das Christentum für das Atomzeitalter neu zu verstehen. Im Rückblick nach 50 Jahren erklärt der Verlag, warum das Buch so viel Aufsehen erregte:

Es verkörperte auch den revolutionären Geist einer neuen, herausfordernden Sichtweise auf die Welt, die in den 1960er-Jahren den Zerfall etablierter Lehren und gesellschaftlicher, politischer und theologischer Normen bewirkte. Es artikulierte die Ängste einer Generation, die diese traditionellen Gegebenheiten nicht länger als akzeptabel oder unbedingt glaubwürdig ansah.3

Als Student mit dem Hauptfach Religion las Tim Keller diese und viele andere Texte. In einer Vorlesung über die Bibel als Literatur hörte er die gängige Darstellung, dass die Evangelien als mündliche Überlieferungen von Gemeinden rund um das Mittelmeer verstreut zusammengestellt worden seien. Kellers Professoren lehrten, dass die Gemeinden nicht so sehr die geschichtliche Wirklichkeit bezeugen wollten, sondern eine Erzählung schufen, die ihre eigene Situation thematisierte und ihre Führungsrolle zementierte. Im Laufe der Jahre wurden diese mündlich überlieferten Geschichten immer fantasievoller. Erst dann wurden sie aufgeschrieben und standardisiert. Die Vorstellung von einem historischen Jesus ist nach diesem Verständnis nur eine Fabel. Die meisten Mainstream-Theologen des 20. Jahrhunderts haben den historischen Jesus nach ihrem eigenen Bild geformt – ein besonders dynamischer Weisheitslehrer, der Gerechtigkeit fordert und sich mit Autoritäten anlegt.4

Die Fachbereiche für Geschichte und Soziologie in Bucknell waren nicht weniger radikal, da sie sich Herbert Marcuse und der neomarxistischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule verschrieben hatten. Keller stimmte mit einigen Aspekten der Kritik an der amerikanischen bürgerlichen Gesellschaft überein, in der er in Allentown aufgewachsen war, aber die Philosophie hinter dieser Form des Marxismus verwirrte den Teenager. Er konnte nicht verstehen, wie sich das Streben nach sozialer Gerechtigkeit mit einer relativistischen Moral vereinbaren ließ. Die seltsame Verschmelzung von Freud und moderner Therapie mit marxistischer Kulturanalyse befriedigte ihn intellektuell nicht.

Seine Verwirrung verstärkte sich noch, weil Keller sah, wie Christen, die für eine individuelle Moral eintraten, auf soziale Probleme völlig ungerührt reagierten. Er konnte sich nicht mit einem Christentum zufriedengeben, das die Apartheid in Südafrika oder die Rassentrennung im Süden der USA befürwortete.5 Er war entsetzt über die Gewalt in den Südstaaten, die im Namen Jesu gegen Schwarze und ihre Verbündeten in der Bürgerrechtsbewegung ausgeübt wurde. Besonders erschütternd war für Keller als junger Teenager ein Foto von James Meredith, der erschossen wurde, als er 1966 für die Bürgerrechte demonstrierte. Der Schütze kümmerte sich weder um Meredith noch um die Folgen seiner Tat. Keller fiel es schwer zu glauben, dass eine ganze Gesellschaft, zumal eine so durch und durch christliche, das Übel der Rassentrennung rationalisieren konnte.

Zum ersten Mal erkannte ich, dass die meisten älteren weißen Erwachsenen in meinem Leben Ansichten vertraten, die völlig falsch waren. Das Problem waren nicht „ein paar Unruhestifter“, sondern die Schwarzen wurden ungerecht behandelt und hatten ein recht auf Wiedergutmachung und Reformen.

Ich war mit (und in) der Kirche aufgewachsen, aber als ich studierte, verlor das Christentum für mich seine Anziehungskraft. Einer der Gründe dafür war, dass ich es nicht auf die Reihe brachte, dass meine nichtreligiösen Freunde für die Bürgerrechtsbewegung eintraten, während viele gläubige Christen in Martin Luther King, Jr. eine Bedrohung für das Land sahen. Warum, so frage ich mich, glaubten die Nichtchristen so leidenschaftlich an gleiche Rechte und Gerechtigkeit, während den Frommen, die ich kannte, diese Dinge egal waren?6

Während dieser Collegejahre, die sich intellektuell und moralisch so sehr von der Evangelical Congregational Church seiner Jugendzeit absetzten, begann Tim am Christentum zu zweifeln. Aber es war nicht nur ein intellektuelles Problem für ihn; er konnte einfach nichts Reales daran erkennen. Zwei Jahre lang war er hin- und hergerissen zwischen dem starren evangelikalen Glauben seiner Mutter, den er nicht spüren konnte, und der progressiven existenzialistischen Theologie seiner Professoren, die ihn intellektuell nicht zufriedenstellte.

Wiedergeboren

Im Hauptfach Religion belegte Keller Kurse über Judentum, Islam, Hinduismus, Konfuzianismus und Buddhismus. Er wollte vor allem eine Alternative zu den christlichen Ansichten über das ewige Gericht, die Verdammnis und die ewige Qual im Höllenfeuer finden. Er suchte nach einer Religion, die niemanden verurteilt, egal, was er tat oder glaubte. Er wusste, dass er an einen Gott der Liebe glaubte. Er wusste nur nicht, welche Religion (wenn überhaupt eine) ihn am besten mit diesem Gott bekannt machen konnte.

Keller schätzte die buddhistische Betonung der Selbstlosigkeit und des hingebungsvollen Einsatzes für andere, aber der Buddhismus ließ keinen Raum für einen personalen Gott, während Tim zu dem Schluss kam, dass nur eine Person lieben könne. In den heidnischen Religionen gab es diesen liebenden Gott nicht und ihre Schöpfungsmythen waren voll von launischen und gar bösartigen Göttern, die sich gegenseitig bekämpften. Nur in der Bibel begegnete er einem Gott, der die Welt zu seiner eigenen Freude schuf, um der Liebe willen. Das Studium anderer Religionen half Tim zu erkennen, dass nicht alle religiösen Ansichten einen liebenden Gott kennen.7

Also wandte er seine Aufmerksamkeit den historischen Argumenten gegen das Christentum und insbesondere die Vertrauenswürdigkeit des Neuen Testaments zu. Ihm wurde klar, dass das Christentum eher ungewöhnlich ist mit seiner These, seine Kernüberzeugungen stünden und fielen damit, dass seine geschichtlichen Behauptungen wahr seien.8 Als Tim untersuchte, was er im Unterricht lernte, überzeugten ihn die Argumente gegen die frühesten schriftlichen Berichte des Christentums nicht. Er kam zu dem Schluss, dass seine Bucknell-Professoren und die theologisch revolutionären Bücher, die sie lesen ließen, falschlagen.9

Keller stimmte nun dem Time Magazine nicht mehr zu, dass Gott tot sei, aber er hatte noch nicht das Gefühl, dass Jesus lebendig sei. Die Jahre in der Kirche hatten ihn nicht zu einer persönlichen Erfahrung mit Gott geführt. Er betete nicht mit einem Gefühl der Gegenwart Gottes und fühlte sich in einer Identitätskrise gefangen. Er spürte die hohen Erwartungen seiner Mutter, hatte aber nicht den Wunsch, sie zu erfüllen. Lange vor den Tagen des Smartphones telefonierte Tim nicht mehr als ein- oder zweimal pro Monat mit seinen Eltern. Und wenn seine Mutter ihm Briefe schickte, antwortete er in der Regel nicht. Er fühlte sich dem Christentum, das er aus seinen Teenagerjahren kannte, wenig verbunden und war immer noch auf der Suche nach einem Ort, wo er hinpasste und hingehörte. Er schätzte die philosophische Objektivität des Vorlesungssaals, aber im Nachhinein erkannte er sein wahres Bedürfnis – dass es ihm weniger um Wahrheit als um Zugehörigkeit ging. Zu dieser Zeit fühlte er sich einsam und ungeliebt.10

Im zweiten Studienjahr wohnte sein Freund Bruce Henderson außerhalb vom Campus im dritten Stock einer Wohnung, deren Decken so niedrig waren, dass Tim mit seiner Körpergröße nicht bequem stehen konnte. Deshalb hielt er sich oft außerhalb der Wohnung am oberen Ende der Treppe auf, mit dem Rücken an der Wand. Tim schaute dauernd bei Bruce vorbei und verwickelte ihn oft in hitzige Debatten, wobei er so lebhaft wurde, dass Bruce befürchtete, Tim würde mit seinen großen Armen und Händen ein Loch in die Wände des Wohnungsflurs schlagen. Bruce, der als Student drei Jobs hatte, machte oft in den Diskussionen einen Rückzieher, weil er nicht für den materiellen Schaden aufkommen wollte. Aber er gab nicht ganz auf, denn die beiden jungen Männer debattierten über Identität, wie es nur Collegestudenten im zweiten Jahr tun – autoritätsüberdrüssig, aber noch nicht erfahren genug, um ihren eigenen Weg zu finden.

Bruce und Tim hatten sich in der Studentengruppe der InterVarsity Christian Fellowship kennengelernt und angefreundet. Tim hatte 1969 während seines ersten Studienjahres an der Frühjahrsfreizeit teilgenommen. Jim Cummings, ein Student, der auf dem gleichen Flur im Studentenwohnheim wohnte, hatte Tim zu den InterVarsity-Treffen eingeladen. Mit seinem lutherischen Hintergrund und dem Hauptfach Religion bot er sich für diese evangelistisch eingestellten Studenten an. Durch seine Erfahrungen in der Evangelical Congregational Church konnte er die Sprache von InterVarsity sprechen. Er benahm sich sogar wie ein Christ, weil er so verzweifelt nach Freunden suchte.

Es dauerte nicht lange, bis die InterVarsity-Studenten ihm ein paar Bücher von C. S. Lewis in die Hand drückten. Bald darauf brachten die Werke von John Stott Tim zurück zu Martin Luthers Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Der Mensch konnte entweder versuchen, sich selbst durch gute Werke zu erlösen, oder die Erlösung als Geschenk der Gnade empfangen. Was Tim als 14-Jähriger bei der Konfirmationsprüfung aufgesagt hatte, erschien ihm nun mit 20 Jahren revolutionär. Allmählich erkannte er, dass die starre Religion seiner Mutter nicht die einzige Möglichkeit war, ein Christsein zu leben, das in den Lehren der Christenheit verankert war und sich an der Bibel ausrichtete.

Obwohl Keller bereits an mehreren InterVarsity-Veranstaltungen teilgenommen hatte, war er nicht Teil des inneren Kreises der Gruppe, die ihre Frühjahrsfreizeit in einer Scheune abhielt, die sich ein Bucknell-Dozent zum Sommerhaus umgebaut hatte. Es gab allerdings bei InterVarsity keinen größeren „äußeren“ Kreis. Im Frühjahr und Herbst 1969 gehörten nicht mehr als 15 aktive Studenten zur Bucknell-Gruppe und selbst in dieser kleinen Gruppe waren sie nie alle gleichzeitig zusammen. Tim war noch nicht bereit, der Gruppe beizutreten, aber er hatte eine Gemeinschaft gefunden, die ihm bei seiner Suche nach Antworten auf seine vielen Fragen helfen würde. Zumindest war man dort bereit, mit ihm zu diskutieren und ihm dabei zu helfen, seine Überzeugungen zu finden und zu überdenken. Als er das Interesse älterer Studenten weckte, ging er darauf ein. Aber er sagte ihnen nicht, dass er außerhalb von InterVarsity ein anderes Leben führte, das sich von dem Christsein unterschied, das er für die InterVarsity-Gruppe angenommen hatte.

Im Januar 1970, im zweiten Studienjahr, wusste Tim, dass er sein Doppelleben nicht länger fortsetzen konnte. Er hatte die InterVarsity-Bücher gelesen und sich mit InterVarsity-Studenten angefreundet. Es gab nur noch eine Hürde: Was, wenn er eine Person kennenlernte, die er liebte – die das Leben lebenswert machte, aber mit der er wegen des Glaubens nicht zusammen sein konnte? Würde diese Ablehnung einen einsamen jungen Mann nicht noch einsamer machen?

Bruce Henderson erinnert sich an einen entscheidenden Moment: Es war der 21. April 1970, sein 20. Geburtstag. Als er aufwachte, saß Tim still am Fußende seines Bettes auf dem Boden und wartete auf ihn. Bruce wusste, dass etwas Entscheidendes mit Tim geschehen war. Sein Ringen war vorbei. Tim hatte seine Sünden bereut und glaubte an Jesus. Er hatte den Glauben und das Vertrauen seines Herzens auf Christus allein gesetzt, um gerettet zu werden.

Was war passiert? Warum hatte er sich verändert? Seine intellektuellen Bedenken über das Böse, das Leid und das Gericht verschwanden nicht plötzlich. Aber nachdem er in anderen Religionen nach Antworten gesucht und mit Christen diskutiert hatte, hatte Tim schließlich erkannt, dass er Gott brauchte. Es war keine neue Methode zur spirituellen Erleuchtung, sondern er war am Ende seiner selbst angekommen. Überwältigt von seiner Sünde fand Tim im Angesicht seiner Fehler und Schwächen den Gott der Liebe, der sich in Jesus Christus und seinem Wort offenbart.11 Er würde sich nicht länger anmaßen, Gott zu beurteilen. Jetzt würde er dem Gott folgen, der gerecht ist und zugleich Sünder gerecht spricht. Der Gerechte hatte ihm seine Sünden vergeben. Der Religionsstudent war zum Jünger Jesu geworden.

„Aber als ich dann Student war, wurde die Bibel für mich auf eine Art lebendig, die sich nicht beschreiben lässt“, erinnert er sich in seinem Buch Jesus the King (dt.: Jesus: Seine Geschichte – unsere Geschichte). „Am besten lässt es sich wohl so ausdrücken, dass vorher ich die Bibel studiert, hinterfragt und analysiert hatte, während jetzt die Bibel (oder vielleicht jemand durch die Bibel) mich studierte, hinterfragte und analysierte.“12 Seine Mutter und ihre Gemeinde hatten ihm in seiner Jugend beigebracht, dass die Bibel Gottes Wort ist. Aber bis zu dieser persönlichen Begegnung erschien ihm die gute Nachricht der Evangelien nicht als ultimative Wirklichkeit.13

Keller kann sich an keine dramatischen Veränderungen im Zuge seiner Bekehrung erinnern. Er spürte eine neue Realität in seinem Gebetsleben und er gab sein Doppelleben der „Freiheit“14 ohne Gott auf. Aber seine Freunde bezeugen eindeutig, dass eine Veränderung in ihm vorging.

„Tim hat sich am College auf jeden Fall verändert“, sagt Bruce Henderson. „Er war viel freundlicher und man konnte ihn emotional erreichen. Plötzlich war er präsent. Er war da.“15

Intellektuell glaubwürdig und existenziell befriedigend

Keller behielt diese Erfahrung nicht für sich. InterVarsity wurde für ihn nicht nur eine Quelle geistlicher Nahrung, sondern er wurde auch selbst aktiv. In den nächsten zwei Jahren in Bucknell halfen ihm die InterVarsity-Studenten, eine Leidenschaft für Evangelisation zu entwickeln. Von ihnen lernte er, in der Bibel zu forschen und seine Einsichten an andere weiterzugeben. Sie halfen ihm, sein Denken und Handeln in Gott selbst zu gründen und nicht in subjektiven oder flüchtigen Eindrücken über die Welt.16

Keine zwei Wochen nachdem Bruce Henderson mit Tim am Fußende seines Bettes aufgewacht war, hockten die InterVarsity-Studenten in einer nationalen Krise zusammen. Es war Ende April 1970 und der Höhepunkt der Protestbewegung gegen die Ausweitung des Vietnamkriegs durch die Invasion in Kambodscha unter Präsident Nixon. Am 4. Mai 1970 eröffneten Soldaten der Nationalgarde das Feuer auf protestierende Studenten auf dem Campus der Kent State University und töteten vier Menschen. Studenten an allen US-Universitäten, einschließlich Bucknell, reagierten mit Streiks und blieben den Vorlesungen fern. Keller und die anderen InterVarsity-Studenten in Bucknell (insgesamt nicht mehr als 15) beteten und berieten sich, ob sie sich an dem friedlichen Streik beteiligen sollten. Die Lehrveranstaltungen waren abgesagt worden und die meisten Bucknell-Studenten versammelten sich jeden Tag auf dem Hof. Ein offenes Mikrofon lud zu Meinungsäußerungen ein, wobei eher liberale und progressive begünstigt wurden. Die InterVarsity-Studenten waren unsicher, wie sie am besten zum Gespräch auf dem Campus beitragen konnten.

Schließlich machte einer der Studenten ein Schild – weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund – und stellte es am Rande der Menschenmenge auf. In den nächsten ein, zwei Tagen sprach Tim zusammen mit einem anderen Studenten jeden an, der sich dem Schild näherte, auf dem stand: „Die Auferstehung Jesu Christi ist intellektuell glaubwürdig und existenziell befriedigend.“ Es gab nicht viel Resonanz, eher Spott und Augenrollen. Ein Student, mit dem er etwas befreundet war, überraschte Keller mit dem Ausruf: „Tim, fuck Jesus Christus!“ Aber er erinnerte sich auch an viele substanzielle Gespräche mit verunsicherten Studenten. Ihm fiel auf, dass jeder, der über das Christentum nachdachte, rationale Einwände und Fragen mitbrachte – genau wie er selbst vor seiner persönlichen Begegnung mit Gott.17 Am Büchertisch von InterVarsity verteilte er viele der Bücher, die ihm auf seinem eigenen Glaubensweg geholfen hatten.

Keller stürzte sich mit ganzem Herzen in die Leitung von InterVarsity. Tim und Bruce, die neuen InterVarsity-Mitarbeiter in Bucknell, fuhren im Sommer 1970 nach Upper Nyack (New York) zu einer einwöchigen Schulung mit dem legendären InterVarsity-Mitarbeiter C. Stacey Woods. Die Bucknell-Studenten waren für Woods eine Gebetserhörung. InterVarsity wollte eine Gruppe in Lewisburg eröffnen, woran ein feindseliger Pfarrer sie jahrelang gehindert hatte.

Bruce kann sich nicht mehr an viel von dem erinnern, was sie auf der Schulung lernten. Aber er weiß noch, wie sie in den sechs Stunden Hin- und Rückfahrt und den gemeinsam verbrachten Zeiten am Ufer des Hudson River die Aktivitäten von InterVarsity für ein ganzes Jahr erarbeiteten. Sie planten Freizeiten, suchten Gastredner und organisierten Kleingruppen – alles in einer Woche.

Zu diesen Plänen gehörte auch ein Rockkonzert mit evangelistischer Ausrichtung. Bruce kannte in Pittsburgh eine Gruppe namens John Guest and the Exkursions. Im Herbst 1970 gab die Gruppe drei Konzerte in Bucknell, in denen Guest, der auch Pastor in einer episkopalen, anglikanischen Gemeinde war, kurze evangelistische Ansprachen hielt. Der in Oxford geborene Guest hatte sich 1954 mit 18 Jahren bei einer Predigt von Billy Graham bekehrt. Später wurde er selbst ein bekannter Evangelist, wirkte bei der Gründung der Trinity Episcopal School of Ministry mit und war Mitglied des Vorstands der National Association of Evangelicals.

Die Rockkonzerte von Guest in Bucknell trugen keine unmittelbaren evangelistischen Früchte. Aber sie führten zu mehr als hundert Karteikarten von Studenten, die ihr Interesse an geistlichen Gesprächen bekundeten. Der kleine Mitarbeiterstamm von InterVarsity-Studenten an der Bucknell-Universität musste sich nun an die Arbeit machen, interessierten Studenten nachzugehen.

„Das war Tims Spezialgebiet“, erzählt Bruce. „Er nahm die Kärtchen und besuchte jeden Einzelnen. Ich weiß nicht, wie er überhaupt seine Aufgaben im Studium geschafft hat. Es hat ihm wirklich Spaß gemacht, sich dieser jungen Leute anzunehmen. Er liebte es.“18

Sein Notendurchschnitt stand für Tim plötzlich ganz unten auf der Prioritätenliste. Bruce erinnert sich daran, dass sie zusammen im Kurs in Sozialpsychologie saßen und Tim keinerlei Eifer oder Neigung zum Schreiben an den Tag legte. Aber das spielte keine Rolle. Tim hatte seine Berufung zum öffentlichen Wirken gefunden.

Kleine Gruppen, die von Keller und den anderen InterVarsity-Mitarbeitern betreut wurden, breiteten sich auf dem ganzen Campus aus. Zum ersten Treffen der Gesamtgruppe kamen 70 Studenten anstatt der vorigen 10. Tims eigener Glaube blühte auf in der geistlich aufgeladenen Umgebung dieser wachsenden InterVarsity-Treffen. Sein Zimmergenosse Frank King, mit dem er die ganzen vier Jahre zusammenwohnte, fand erst im letzten Studienjahr zum Glauben an Christus und war allmählich frustriert über den ständigen Strom von Studenten, die zu jeder Tageszeit vorbeikamen. Jüngere Studenten fragten Tim um geistlichen Rat. Oft konnte er persönlich auf ihre Hoffnungen und Ängste eingehen.

„Aus seiner eigenen Lebenserfahrung heraus hat er eine Gefühlstiefe, die in seinen Predigten durchscheint und die für die Menschen authentisch klingt“, sagt Janet Essig, die im Herbst 1970 neu nach Bucknell kam. „Er hat nicht auf die Leute eingeredet. Er hörte den Leuten wirklich zu und sie fühlten sich ermutigt.“19

Essig wuchs in Summit (New Jersey) auf, etwa 37 km östlich von Manhattan. Sie entschied sich für Bucknell, um den Unruhen an so vielen anderen Universitäten zu entgehen, die für sie infrage gekommen wären.20 Es waren turbulente Zeiten an vielen Colleges und erst im Dezember 1972, dem Abschlussjahr von Keller, endeten die Einberufungen zum Vietnamkrieg. Sue Pichert (geb. Kristy), die zum Jahrgang von Essig gehörte, hat Bucknell eher als einen Ort in Erinnerung, wo es den Studentenverbindungen ums Feiern ging. Sie entschied sich für Bucknell, weil sie wusste, dass es dort eine florierende Gruppe von Young Life Leaders gab. Sie war mit 16 Jahren durch ein Young-Life-Camp Christin geworden.

Sue hörte zum ersten Mal von Tim Keller, als sie im Sommer vor ihrer Immatrikulation einen handschriftlichen Brief von ihm erhielt. Die InterVarsity-Mitarbeiter teilten alle 800 Studienanfänger unter sich auf und luden sie schriftlich ein, sich ihre Gruppe anzusehen. In dieser Zeit ohne Smartphones, E-Mails und SMS war sie die einzige Studienanfängerin, die zurückschrieb – nachdem ihre Schwester Kathy den Brief gelesen und die Gruppe für gut befunden hatte. Die zwei Jahre ältere Kathy ging auf das Allegheny College und hatte bereits eine ganze Reihe von theologischen Vorlesungen und Kursen mit Professoren und Pastoren hinter sich, die selbst nicht zu glauben schienen und alles andere als echtes Christentum unterstützten.

In der Einführungswoche richtete sich Sue gerade im vierten Stock des Mädchenwohnheims ein, als sie von zwei Jungs aus höheren Semestern angesprochen wurde. Das war nicht so üblich und die anderen Frauen waren beeindruckt. Einer der Besucher war Tim.21 Da die Studenten so nahe beieinanderwohnten, konnte Tim seine Liste mit interessierten Erstsemestern problemlos abarbeiten.

Während des John-Guest-Konzerts spürten viele Erstsemester, dass Gott auf überraschende und kraftvolle Weise wirkte. Janet Essig erinnert sich an das Konzert, das direkt vor ihrem Erstsemesterwohnheim stattfand. Dort begegnete sie auch einem anderen Erstsemesterstudenten, der frisch zum Glauben an Jesus gekommen war und den sie später heiratete. Ihr Mann Jim Pichert erinnert sich, dass Guest den Unterschied erklärte, ob man nur von Jesus weiß oder ihn wirklich kennt.22 Hunderte kamen zu der Veranstaltung. Die Erstsemester konnten nicht glauben, wie viele andere Christen auf dem Campus waren, die alle auf „den einen Weg“ zu Gott durch Jesus hinwiesen. In jenem Jahr wuchs InterVarsity an der Bucknell von nur 10 oder 15 Studenten auf mehr als 100 an, was vor allem an leidenschaftlichen Gläubigen in diesem neuen Jahrgang lag. Viele Studenten fanden zum Glauben an Christus, obwohl es kein organisiertes Evangelisationsprogramm gab. Für Tim und seine Freunde war das alles unfassbar und wunderbar.

Die Jesus-Bewegung war nach Bucknell gekommen.

Gemeinsames Leben

Tims letzte zwei Jahre an der Bucknell University waren geprägt von intensiven und häufigen Diskussionen über Jesus mit Studenten, die über den christlichen Glauben nachdachten.23 Diese Erfahrung und die ständige Erwartung einer Erweckung sollten Keller für den Rest seines Lebens begleiten.

Im Frühjahr 1971 lud Tim im Namen von InterVarsity Ed Clowney, den ersten Präsidenten des Westminster Theological Seminary, nach Bucknell ein, um einen evangelistischen Vortrag zu halten. Angesichts der Popularität des Existenzialismus bat Keller Clowney, über „Der Christ und der absurde Mensch“ zu sprechen und sich mit Albert Camus und Jean-Paul Sartre zu beschäftigen. Camus war zu dieser Zeit bei den Professoren so beliebt, dass sein Roman Der Fremde in einem Semester von Tim gleich in drei verschiedenen Seminaren Unterrichtsstoff war. Er hatte die richtige Person eingeladen. Clowney hatte seinen Master of Sacred Theology in Yale über den dänischen Christen und Existenzialisten Søren Kierkegaard gemacht.

Clowney hatte erwartet, nach seiner dreistündigen Fahrt von Philadelphia von einer Handvoll Studenten begrüßt zu werden. Stattdessen waren etwa 150 gekommen. Bei der Veranstaltung gab es nur Stehplätze.

Keller erinnert sich an den Vortrag als einen der besten, den er je gehört hat. Clowney ging mit Camus konform in der Beschreibung der Entfremdung, in der die Menschen leben. Im Vergleich zu optimistischen Liberalen sah Camus das Leben viel realistischer. Dann argumentierte Clowney, dass diese „absurde Existenz“ nicht den Adel des Menschen ausmacht, sondern durch einen Fluch entstanden sei. Entfremdung ist nicht einfach so da, sondern unser Urteil, unser Fluch, weil wir versuchen, getrennt von Gott zu leben. Er zeigte, wie christlicher Glaube eine bessere Erklärung dafür bietet, warum diese Welt die Bedürfnisse des Menschen nicht befriedigen kann. Er ging durch die biblische Geschichte von der Schöpfung über den Sündenfall, bis er zur Erlösung kam.

InterVarsity lud die Zuhörer ein, an der Frühjahrsfreizeit am folgenden Wochenende teilzunehmen. Tim glaubte nicht, dass irgendjemand kommen würde. Clowney plante, über die Kirche zu sprechen, mit fünf Bibelarbeiten zu 1. Petrus 2,9-10. Tim war der Meinung, dass man aus der Kirche austreten müsse, um lebendiges geistliches Leben zu finden, und fuhr nur mit, weil er Gruppenleiter war. Zu seiner Überraschung nahmen etwa 20 Studenten teil. Eine Frau fand nach einem Gespräch mit Clowney zum Glauben an Jesus.24

„Es hat mich umgehauen“, sagte Keller später über Clowneys Lehre über die Kirche. „Ich habe es nie vergessen.“25

Bruce Henderson, Tims Freund und Leiter der InterVarsity-Gruppe, war ebenfalls von Clowney beeindruckt. „Clowney war wunderbar. Er war einfach fantastisch. Er konnte mit dir reden. Er konnte auf Augenhöhe reden. Er zeigte echtes Interesse an jedem Einzelnen. Er gehörte zu den Leuten, für die man auch 80 km fährt, um sie zu hören.“26

Zusätzlich zur Freizeit mit Clowneys Vorträgen boten InterVarsity-Studenten in Bucknell evangelistisches Bibellesen an. Und sie veranstalteten einen Büchertisch vor der Cafeteria im Studentenwerk. Vor allem Keller liebte es, den Büchertisch zu betreuen. „Wie Sie sich vorstellen können, war er ständig mit Büchern beschäftigt“, sagt Sue Pichert.27 Die Bücher boten Diskussionsstoff für Christen wie Nichtchristen und Tim unterhielt sich gerne mit jedem, der gesprächsbereit war.

Die Bücher von InterVarsity Press wurden bei den Gruppentreffen und Info-Veranstaltungen für Studienanfänger an prominenter Stelle vorgestellt. F. F. Bruce’s The New Testament Documents: Are They Reliable? (dt.: Sind die neutestamentlichen Dokumente zuverlässig?), das ursprünglich 1943 veröffentlicht wurde, stellte sich gegen das vorherrschende Denken im Fachbereich Religion der Bucknell University. Colin Browns Philosophy and the Christian Faith („Philosophie und der christliche Glaube“) erschien 1969 bei InterVarsity und behandelte Schriften von Thomas von Aquin, René Descartes, David Hume, Immanuel Kant, Georg W. F. Hegel, Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein, Karl Barth und Francis Schaeffer. Brown, Professor am Fuller Theological Seminary, fasste deren Positionen zusammen, gab aber auch christliche Antworten. Andere prominent herausgebrachte Autoren von InterVarsity Press waren Paul Little, Francis Schaeffer, J. I. Packer und John Stott.

Packers Knowing God (dt.: Gott erkennen), das Keller 1971 las, führte ihn an die reformierte Theologie heran. Er lernte, dass Lehre und Frömmigkeit im Christsein Hand in Hand gehen sollten. Natürlich war Mere Christianity (dt.: Pardon, ich bin Christ) von C. S. Lewis der wohl beliebteste Titel, den Keller am Büchertisch empfahl. Neben dem Inhalt bewunderte Keller auch Lewis’ einzigartigen Stil – seine Fähigkeit, klare Prosa mit einprägsamen Illustrationen und überzeugender Logik zu verknüpfen. Vorstellungskraft und Vernunft ließen sich packend und schön miteinander verbinden.

Einem intellektuell frühreifen Studenten wie Keller zeigte das hohe philosophische Engagement dieser InterVarsity-Autoren, dass man intellektuell redlich und gleichzeitig Christ sein konnte. Tim repräsentierte quasi die Frucht der Arbeit von InterVarsity seit den 1940er-Jahren auf dem College-Campus: Hatten Evangelikale vor dem Zweiten Weltkrieg Schwierigkeiten mit der Evangelisation unter Studenten gehabt und litten deshalb unter dem Ruf des Anti-Intellektualismus, begegnete Keller in den späten 1960er-Jahren in Bucknell nun etwas ganz anderes.28 Für den Rest seines Lebens würde sich sein Dienst nie weit von dem entfernen, was er am Büchertisch lernte – vor allem von britischen Autoren wie Stott, Lewis und Packer.

„Hier blühte Tim auf“, sagt Bruce Henderson. „Seine extrovertierte Seite kam zum Vorschein. Seine Arme fingen an, sich zu bewegen. Er liebte es zu diskutieren. Ich glaube, das war für die intellektuelle Entwicklung vieler von uns wirklich wichtig.“29

InterVarsity machte Keller mit einer besonders reflektierten Strömung evangelikalen Christentums bekannt. Mit Autoren wie Packer, der seine theologischen Schwerpunkte prägte, und Stott, der ihm ein erstes Vorbild fürs Predigen war. Mit der Praxis einer täglichen Stillen Zeit, also mit Gebet und Bibellesen. Mit der Priorität von Kleingruppen, die sich wöchentlich trafen, um intensiv in der Bibel zu lesen, sich auszutauschen und Gott anzubeten. Und mit dem bleibenden Wert tiefer christlicher Freundschaften – die Art von „gemeinsamem Leben“, die Dietrich Bonhoeffer anpries. Inspiriert vom Gemeinschaftsleben in Bonhoeffers verbotenem Predigerseminar während des Nationalsozialismus in Deutschland, trafen sich die InterVarsity-Studenten jeden Tag um 5 Uhr in kleinen Gruppen zum Gebetsfrühstück. Diese geistliche Form ähnelte dem kommunitären Zusammenleben der Mönche. Niemals sollte Keller eine intensivere, prägendere christliche Gemeinschaft kennenlernen.30 In der Zeit vor den sozialen Medien und der Informationsflut des Internets waren die Studenten in den verletzlichen und intimen Momenten dieser Übergangsjahre auf den Austausch untereinander angewiesen.

Besonders Bruce Hendersons Freundschaft und Führungsqualitäten waren für Tim wichtig in diesen anfangs verwirrenden, schließlich klärenden Zeiten und Bruce wurde sein Trauzeuge. Keller erinnerte sich später: „Seine Liebe war beständig und ich erinnere mich, dass er mich als Freund voll und ganz unterstützte, auch wenn er mich manchmal mit Problemen in meinem Leben konfrontierte, von denen er glaubte, dass ich mich ihnen noch nicht wirklich gestellt hatte.“31

Bucknell und sein Ehemaligen-Netzwerk hatten sein Leben lang Einfluss auf Keller. Mako Fujimura, ein früher Ältester der Redeemer Presbyterian Church in New York und ebenfalls Bucknell-Absolvent, schreibt dem interdisziplinären Ausbildungsansatz an der Ausbildungsstätte eine entscheidende Rolle für Kellers späteren beruflichen Erfolg zu.32 Der Bucknell-Absolvent Dick Kaufmann wurde später an der Seite Kellers geschäftsführender Pastor bei Redeemer, als die Gemeinde größer und komplexer wurde und sich in einem entscheidenden Veränderungsprozess befand.

Mit vielen seiner Mitstudenten blieb Keller nach Bucknell nicht lange in Kontakt, vor allem, weil er und seine zukünftige Frau Kathy so enge Freundschaften mit Paaren am Theologischen Seminar und in ihrer ersten Gemeinde schlossen. Aber Tim erinnerte sich immer daran, was er als Neubekehrter über das Leben als Christ von der Bucknell-Crew gelernt hatte, zu der Jon Voskuil, Betsy Hess, Bob Pazmiño, David Reimer, Janet Kleppe und Lora Graham gehörten.

Weit über unseren Horizont hinaus

Tims Freund Bruce Henderson blieb drei Jahre nach ihrem Abschluss in Lewisburg und übernahm sogar die Leitung der First Presbyterian Church, der beliebtesten Gemeinde bei den Bucknell-Studenten und auch bei Keller. In der langen und ehrwürdigen Geschichte der First Presbyterian Church, die auf die zweite große Erweckungsbewegung von 1833 zurückgeht, wird Richard (Dick) Merritt in der langen Liste der Pastoren der Gemeinde nur die obligatorische Erwähnung zuteil. Doch Ehemalige aus Kellers Bucknell-Zeit sehen viel „Merrit“ in Kellers Dienst – und zwar während seiner ganzen Zeit in New York.33

Bevor er ins Zentrum von Pennsylvania kam, hatte Merritt am Princeton Theological Seminary absolviert, wo er bei dem renommierten Professor Bruce Metzger studiert hatte. Wer sowohl Keller als auch Merritt hat predigen hören, für den sind die Ähnlichkeiten in mehreren wichtigen Punkten offensichtlich:

Auch Merritt würzte seine Predigten mit literarischen Bezügen: „Dick Merritt war ein sehr gebildeter, belesener Mensch“, erinnert sich Bruce Henderson, „Er war wahrscheinlich der niveauvollste Mensch, den ich je getroffen habe, was die Breite und Tiefe seiner Lektüre angeht. Und der wohl beste Prediger, den ich je gehört habe. Er war ein unbekannter Pastor in einer kleinen Universitätsstadt im Zentrum von Pennsylvania. Aber er hätte landesweite Bekanntheit erreichen können, so gut war er. Ich denke, dass sich in Tims Stil viel von Dick Merritts Ansatz widerspiegelt.“34

Ob von Clowney oder von Merritt: In Bucknell lernte Keller den Ansatz evangelikaler Predigt, dessen Verkörperung er selbst in den kommenden Jahrzehnten werden würde. Kein groß Gedöns. Immer die Grundbotschaft des Evangeliums bringen: Christus ist der Herr der Welt und er ist der Weg zu Gott, denn nur er kann uns von unseren Sünden erlösen.

„Das war Dick Merritt und Edmund Clowney gemeinsam – die Fähigkeit, dir zu sagen, dass du ein Sünder bist, sodass du es glaubst; aber auch den Ausweg zu zeigen, und dieser Weg ist Christus“, sagt Henderson.35

Merritts Predigten waren jedoch nicht sein einziger Beitrag zum geistlichen Wachstum der Bucknell-Studenten. Er betete auch mit den älteren Jahrgängen von InterVarsity für den neuen Jahrgang 1970. In der Woche der Abschlussprüfungen öffnete Merritt die First Presbyterian Church und sein Büro in der Gemeinde für Studenten, die einen ruhigen Ort suchten. Am Sonntagabend, wenn Bucknell sein schlechtestes Essen servierte, lud die Gemeinde die Studenten zum Abendessen ein. Die Familien aus der Gemeinde wechselten sich beim Kochen ab und Keller war einer der Stammgäste. Merritt hatte kein Programm geplant. Er verbrachte einfach Zeit mit den Studenten und ging auf ihre Fragen ein.

Merritts Stil und Inhalt waren prägend für Keller. Zusammen mit InterVarsity bot die First Presbyterian Church einen geistlichen Zufluchtsort vor dem religionswissenschaftlichen Fachbereich von Bucknell, der laut Aussage von Studenten wie Bruce Henderson Evangelikalen gegenüber aktiv feindlich eingestellt war.

Vor einigen Jahren war der schottische Theologe Andrew Purvis bei Henderson zu Gast, der einen Lehrstuhl für reformierte Theologie am Pittsburgh Theological Seminary innehat und sich für eine evangelikale Erneuerung in seiner Kirche einsetzt. Während sein Sohn an der Bucknell University studierte, wurde Purvis auf den Campus eingeladen, um in der Rooke Chapel zu predigen. „Das wäre zu unserer Zeit undenkbar gewesen“, sagt Henderson. „Rückblickend betrachtet hat Gott uns eindeutig gesegnet, obwohl das alles weit über unseren Horizont hinausging.“36

Kapitel3Die Frau, die ihn lehrte, die Bibel zu lesen

InterVarsity Christian Fellowship