Tintenküsse - Anna Matheis - E-Book

Tintenküsse E-Book

Anna Matheis

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Beschreibung

Auf die Stifte, fertig, los! Für die 16-jährige Sofia geht ein Traum in Erfüllung, als sie für den Schreibwettbewerb der Ferienakademie Tintenwelt nach Transsilvanien reist, um für ihren Vampir-Roman zu recherchieren. Eigentlich könnte alles perfekt sein, wäre da nicht ihr Geheimnis, das sie unbedingt vor den anderen Studierenden geheim halten muss. Als Sofia auf der Reise der sprechenden Fledermaus Felia begegnet, ahnt sie schon, dass sich hinter dem Vampirmythos vielleicht mehr verbirgt. Im sagenumwobenen Dracula Park trifft sie auf dessen Inhaber Vlad, von dem sie sogleich fasziniert ist. Als sich die Ereignisse plötzlich überschlagen, wird der jungen Autorin klar, dass Vampire doch nicht nur in Romanen existieren und sie zu allem Überfluss auch noch ihre Hilfe brauchen...

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Dieses Buch widme ich Irmgard, der weltbesten Freundin, die man sich nur vorstellen kann.

Und für Bianca Post (von B.P. Illustration), die zehn wunder schöne Illustrationen für „Tintenküsse“ gezeichnet hat. Aus ihrer Feder stammt die Idee vom Edlen Tropfen. Die Vampire und ich heben dort die Gläser und stoßen auf dich an. Auf dich, Bianca, danke für deine Zeit und dein kreatives Talent.

Und für euch, liebe Leserinnen und Leser. Besonders für Manuela Engelhardt. Ein großes Fledermaus-Danke für die vielen lieben Nachrichten, dass ihr einem neuen Buch von mir entgegenfiebert. Hier ist es. Ich hoffe, dass sich das Warten ge lohnt hat und es euch vom ersten bis(s) zum letzten Satz gefällt.

Seid ihr bereit für eine Reise in Draculas Heimat?

Dann macht in euren Gedanken den Vorhang jetzt auf …

Inhalt

Ein Brief von Zsófia Szalay für Dich

1. Kapitel Herzlich willkommen in der Tintenwelt

2. Kapitel Der Seminar-Start

3. Kapitel Weitere Notlügen und ein Abstecher nach Hause

4. Kapitel Die Reise in Draculas Heimat beginnt

5. Kapitel Eine fliegende Begegnung

6. Kapitel Die Blutbezahlung

7. Kapitel Check-in im Dracula Resort

8. Kapitel Zsófias Geheimnis

9. Kapitel Die Karte von Transsilvaniens Dracula Park

10. Kapitel Draculas Neffe

11. Kapitel Den Vollmond als Wegweiser

12. Kapitel Tintenpost

13. Kapitel Ein falscher Verdacht

14. Kapitel Ein Retter in der Bären-Not

15. Kapitel Vampir-Image vs. Bayerisches Königshaus

16. Kapitel Felia und ihr goldener Käfig

17. Kapitel Felias Farbe

18. Kapitel Herzschläge lügen nicht

19. Kapitel Ein blutiges Abendessen

20. Kapitel Die rechte Hand von Draculas Erben

21. Kapitel Drága szivem – Mein teures Herz

22. Kapitel Sonnenaufgang in Transsilvanien

23. Kapitel Bissgeschick zur Mittagszeit

24. Kapitel Tintenküsse

25. Kapitel Eine unerwartete Abreise

26. Kapitel Ein Pflock durch mein Bücherherz

27. Kapitel Mein zerplatzter Büchertraum

28. Kapitel Herzgeflatter vor der Abschlussfeier

29. Kapitel Interview mit einem Vampir

30. Kapitel Noch ein Brief von Zsófia Szalay für Dich

Danksagung

»Jeder schreibt seine eigene Geschichte, aber man findet nicht immer den Mut, um sie einem anderen Menschen vorzulesen.«Christin Thomas

Ein Brief von Zsófia Szalay für Dich

Hallo liebe Leserin, hallo lieber Leser, ich habe lange auf die gute Fee gewartet, die meinem Leben eine märchenhafte Wendung zaubert, aber sie kam nicht. Deshalb beschloss ich, das mit dem Happy End selbst in die Hand zu nehmen. Ich dachte mir, als Tochter eines berühmten Autors kann das nicht so schwierig sein. In meinen Adern fließt schließlich neben Blut auch erblich bedingt genügend Tinte, um die Dinge so zu formulieren wie ich sie dringend brauche. Aber … Ist es überhaupt möglich, die Feder selbst in Hand zu nehmen und die eigene Geschichte umzuschreiben? Findest du es gemeinsam mit mir heraus? Ich könnte deine Unterstützung gut gebrauchen. Mach es dir gemütlich, wo auch immer du gerade auf dieser Welt bist, und hilf mir, dass bis(s) zur letzten Seite niemand mein Geheimnis erfährt.

Sicher möchtest du dafür erst einmal wissen, um was es geht. Ich werde es dir in diesem Buch schon bald verraten, versprochen. Ach ja, eine Sache noch, bevor es losgeht: Als meine Abenteuer-Begleitung solltest du die Nacht mögen und alles was in der Dunkelheit zu Hause ist. Es könnte nämlich sein, dass wir zwischen den Kapiteln Vampire treffen. Was? Du hast Angst vor den bluttrinkenden Geschöpfen? O nein! Klapp das Buch bitte nicht panisch zu und wirf es nicht weit weg von dir. Ich brauche dich hier. Ich bleibe auch bis zum letzten Buchstaben bei dir und beschütze dich, wenn dich jemand zum Anbeißen schön findet. Abgemacht? Dann treffen wir uns gleich auf der nächsten Seite am Starnberger See in der Nähe von München …

Deine Zsófia

1. Kapitel

Herzlich willkommen in der Tintenwelt

Mit klopfendem Herzen kritzelte ich mit dem kristallbesetzten Kugelschreiber Spinnennetze auf die leere Seite des Notizblocks. Es war kaum zu glauben, aber der alles entscheidende Tag war gekommen und in wenigen Minuten würden wir die diesjährige Aufgabe des Tintenwelt-Schreibwettbewerbs erfahren.

Ich betete schon seit Tagen zu allen Göttern, die mir einfielen, dass es sich um ein Projekt im Genre Fantasy handeln würde, denn das würde mir einen gewissen Heimvorteil verschaffen. Seit jeher faszinierten mich Geschöpfe, die fernab von jenen waren, die uns im Alltag begegnen. Was maßgeblich daran lag, dass ich praktisch damit aufgewachsen war. Mein Vater hatte einst paranormale Aktivitäten studiert und als Forscher für übernatürliche Phänomene gearbeitet. Seine außergewöhnlichen Erlebnisse hatte er verschriftlicht und in gegenwärtige Literatur eingewoben. Seine Bücher verkauften sich millionenfach und bereiteten Menschen weltweit magische Stunden auf dem Papier und auf der Kinoleinwand. Nun war ich meinem Traum ein Stück näher und auf dem besten Weg, in seine Fußstapfen zu treten. Deshalb konnte und durfte ich so kurz vorm Ziel nicht scheitern.

»Sofia?«

Bevor ich schmerzende Erinnerungen an meinen Vater in meinem Gedächtnis wecken konnte, widmete ich Wilhelmina meine Aufmerksamkeit. Wie viele andere sprach sie meinen ungarischen Herkunftsnamen Zsófia deutsch aus. Richtig wäre das Zs wie ein S auszusprechen, das ó wie ein oh klingen zu lassen und mit einer Portion Dialekt zu betonen. Aber das machte mir nichts aus.

»Ja?«

»Weißt du, wie lange die Veranstaltung heute geht?«

Die Veranstaltung. Über ihre Wortwahl musste ich schmunzeln. Bei ihr klang es nicht danach, als würde ihre Zukunft davon abhängen, sondern lediglich wie eines der organisierten Charity-Events ihrer Mutter, bei denen sie zwar pflichtbewusst teilnahm, aber die Minuten zählte, bis sich die Gäste der Reihe nach verabschiedeten.

»Hast du es eilig?«, fragte ich augenzwinkernd und deutete auf ihr freizügiges rotes Kleid. Ihr Outfit ließ erahnen, dass sie sich für eine Party gestylt hatte. Oder von einer kam. Bei Wilhelmina wusste man das nie so genau. Sie kicherte.

»Hast du meine Instagram-Story nicht gesehen?«

O nein! Ich hatte völlig vergessen, mich auf den neuesten Stand zu bringen, weil ich mit Elly, unserer treuen Haushälterin, bis weit nach Mitternacht unsere Villa von Staub befreit hatte. Falls mir keine Ausrede einfiel, wenn mich einer von meinen Mitstreitenden spontan besuchen möchte. So könnte ich die Räume von ihrer schönsten Seite präsentieren und hoffen, dass niemanden auffiel, wie es hinter der Fassade meiner Welt wirklich aussah. Das wäre die Wahrheit gewesen, aber die konnte ich Wilhelmina natürlich nicht verraten.

»Leider nicht. Ich musste gestern mit meiner Mutter nach München auf eine Gala.«

Wilhelmina warf mir einen verständnisvollen Blick zu. »Ich kenne das. Meine Mutter brummt mir auch andauernd Termine auf. Erst kürzlich hat sie mir – ungefragt – eine neue Stylistin eingestellt. Es haben sich acht Leute beworben, acht, und ich musste mich von allen neu einkleiden lassen. Der ganze Tag war im Eimer.«

Gespielt mitfühlend stimmte ich ihr zu, als wären das die echten Probleme an diesem Morgen, und lenkte dann wieder von mir ab.

»Jetzt erzähl mir, was ich verpasst habe.«

»Erinnerst du dich noch, dass meine Eltern es dem Bavaria Filmstudio gestattet haben, auf unserem Schlossgelände Szenen für einen Kinofilm zu drehen? Es ist schon eine Weile her, dass die ganze Crew anrückt ist. Jedenfalls waren wir gestern auf der Premiere in Berlin eingeladen.« Sie stützte ihr Kinn mit den Händen ab und schwärmte. »Auf dem roten Teppich fühle ich mich einfach zu Hause. Ich stand mit den anderen Prominenten im Blitzlicht-Gewitter und wollte gar nicht mehr fortgehen …«

Zwischen meiner Aschenputtel-Nacht und dem luxuriösen Leben von Wilhelmina lagen wahrlich Welten.

»Du warst in Berlin?« Ich versuchte es beiläufig klingen zu lassen.

»Ja und ich bin erst vor zwei Stunden wieder in München gelandet. Warte, ich zeige dir die Fotos.« Wilhelmina kramte in ihrer hochwertigen Handtasche nach dem Smartphone. Währenddessen erzählte sie mir, dass sie gerade dabei war, einen Vollmond-Ball zu organisieren und er noch in diesen Sommerferien stattfinden sollte.

»Dann kann meine neue Stylistin gleich mal zeigen, was sie kann«, fügte Wilhelmina zwinkernd hinzu und lud mich zu ihrem Event ein. Ich holte gerade Luft, um dankend abzulehnen, doch in diesem Moment betrat die Literaturprofessorin Cilli Gmeiner mit einer ledernen Aktentasche das Klassenzimmer. Sie war die Leiterin der Elite-Schreibakademie Tintenwelt. Unwissentlich verschaffte sie mir Zeit, um mir eine glaubhafte Ausrede auszudenken, warum ich nicht auf Wilhelminas Ball gehen würde. Ich durfte allein deshalb schon nicht daran teilnehmen, weil ich niemals ein Outfit auftreiben könnte, das dem Dresscode gerecht werden würde. Ich würde in der geladenen Gesellschaft herausstechen wie ein Tretboot zwischen all den Yachten, die im Besitz von Wilhelminas Familie waren. Wilhelmina verstummte und hörte auf, in ihrer Tasche zu kramen. Erleichtert atmete ich aus.

»Reden wir später«, flüsterte ich meiner Schreibfreundin zu und sie nickte lächelnd. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Frau Gmeiner die anderen zwei Mitstreitenden gefolgt waren. Isabell hob zum Gruß schüchtern die Hand und beeilte sich, zu ihrem Schreibtisch links neben Wilhelmina zu gelangen. Magnus ließ sich rechts neben mir nieder und begrüßte mich mit einem knappen »Hallo.«

Wilhelmina zog die Augenbraue in die Höhe. Ist der immer noch beleidigt?, formte sie lautlos mit den knallrot bemalten Lippen. Ich zuckte mit den Schultern. Wie es aussieht …

Schweren Herzens hatte ich ihm in den Osterferien während des Grammatik-Seminars einen Korb gegeben. Als wir in einer Partnerarbeit unsere Texte gegenseitig korrigieren mussten, gestand Magnus mir, dass er sich in mich verliebt hatte. Ich war ein Einzelkind, aber wenn ich einen beschützenden großen Bruder hätte, würde ich ihn mir wie Magnus vorstellen. Das hatte ich ihm auch genauso gesagt, weil ich ehrlich zu ihm sein wollte. Es war natürlich nicht die Antwort, die Magnus sich erhofft hatte. Deshalb verhielt er sich seitdem äußerst distanziert. Ich seufzte leise.

Außerdem gab es da noch mein Geheimnis, das weder er noch die anderen erfahren durften. Für mich war es am besten, dass ich seine Gefühle nicht erwiderte, somit konnte ich zumindest verhindern, dass er mir und meinem Leben zu nahekam. Es durfte nämlich unter keinen Umständen auffliegen, dass ich mir die unvorstellbar hohen Studiengebühren der Tintenwelt in Wirklichkeit gar nicht leisten konnte. Andernfalls würde ich in hohem Buchstabenbogen rausfliegen.

Cilli Gmeiner ergriff das Wort und ich konzentrierte mich auf sie.

»Meine Lieben, herzlich willkommen zurück in der Tintenwelt.«

Sie sah uns mit ihren freundlichen schilfgrünen Augen der Reihe nach an und ihr Blick blieb einen Augenblick lang an Wilhelmina hängen. Wilhelmina erwiderte diesen provozierend. Frau Gmeiner musterte ihre Aufmachung, entschied sich dann aber offenbar dagegen, diese zu kommentieren. Stattdessen schlenderte sie neben ihrem Pult auf und ab und meine innerliche Anspannung wuchs ins Unermessliche.

»Ihr alle habt erzählerisches Talent bewiesen. Jetzt kommt es darauf an, ob ihr dieses auch für ein breit gefächertes Publikum nutzen könnt. Die letzte Aufgabe wird uns zeigen, ob ihr Ideen für ein eigenes Buchprojekt entwickeln könnt, ob es euch gelingt, Figuren zum Leben zu erwecken und ihnen eine authentische Welt zu erschaffen. Traditionell prüfen wir das in Form eines Schreibwettbewerbs. Ihr alle bekommt dasselbe Genre mit einem oberflächlichen Plot vorgegeben. Verlangt wird, dass ihr dazu ein Exposé ausarbeitet und eine aussagekräftige Leseprobe von zehntausend Wörtern verfasst.«

Zehntausend Wörter in dieser kurzen Zeit? Ungläubig starrte ich die Literaturprofessorin an. Die letzten Studierenden hatten meines Wissens nach nur vier Stunden für die Aufgabe Zeit gehabt und weniger als ein Viertel des genannten Wortziels erreichen müssen! Wie sollten wir das schaffen? Das war unmöglich! Auch Isabell wirkte beunruhigt. Nervös drückte sie ihre Brille auf den Nasenrücken. Magnus würdigte mich keines Blickes, aber seine Hand krampfte um seinen Stift, dass die Knöchel hervortraten und einzelne Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Nur bei Wilhelmina schien diese Neuerung nicht im geringsten Stress auszulösen. Sie betrachtete eingehend einen künstlichen Fingernagel nach dem anderen.

»Bevor jetzt Panik ausbricht – lasst mich ausreden«, meinte Frau Gmeiner beschwichtigend und fuhr fort. »Derjenige, der uns überzeugen kann, bekommt für dieses Projekt einen Verlagsvertrag von unserem marktführenden Tintenwelt-Buchkonzern. Obendrauf erhält der Gewinner das begehrte Einzelstudium, in dem er für die Ausarbeitung der Geschichte ein kompetentes Team an die Seite gestellt bekommt. Bisher wurde jeder Studierende mithilfe dieses Programms zu einem Bestseller-Autor gemacht. So weit, so gut.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und zog eine schwarze Mappe aus ihrer Ledertasche.

»Wie ihr soeben feststellen konntet, wurde die Wortanzahl im Vergleich zu euren Vorgängern deutlich erhöht. Das liegt daran, dass in diesem Jahr die Ausarbeitungszeit auf vier Wochen verlängert wurde.«

Ich horchte auf, als Frau Gmeiner verkündete, dass es erstmals ein Zusatz-Seminar geben würde.

»Moment mal!« Wilhelmina sprang empört auf. Offensichtlich nahm sie diese Information nicht so gleichgültig zur Kenntnis wie die erste.

»Ein weiteres Seminar? Das soll wohl ein Scherz sein! Wieso sagen Sie uns das erst jetzt?«

Entschuldigend hob Frau Gmeiner die Hände. »Es tut mir äußerst leid, dass ich euch das nicht früher mitteilen konnte. Es war geplant, dass das Seminar erst für die kommenden Schreibschülern zur Verfügung gestellt wird, aber kurzfristig konnten wir alle Formalitäten klären und wir haben beschlossen, es euch nicht vorzuenthalten. Ich denke, ihr werdet für eure Zukunft – wie auch immer sie in der großen Bücherwelt aussehen mag – sehr davon profitieren können.«

»Findet dieses Seminar zumindest online statt?«

»Natürlich nicht.«

Wilhelmina schnaubte. »Das darf doch nicht wahr sein! Ich wollte diese Ferien nicht schon wieder in diesem …«

Ich hielt die Luft an und Frau Gmeiner blickte sie erwartungsvoll an. Bitte, Wilhelmina, sag jetzt nichts, was du hinterher bereust. Was auch immer sie sagen wollte, sie umschrieb es Gott sei Dank neutral.

»In diesem Haus verbringen.«

Geduldig bedeutete Frau Gmeiner Wilhelmina wieder Platz zu nehmen und richtete sich an uns alle: »Niemand von euch ist gezwungen, an diesem Zusatz-Seminar teilzunehmen. Euch steht es frei zu gehen. Damit scheidet ihr automatisch aus dem Wettbewerb aus. Überlegt euch, wo ihr eure Prioritäten setzt. An Partys, die es auch noch nach diesem Seminar geben wird, oder für eure Karriere. Mir ist bewusst, dass ihr dieses Seminar nicht einplanen konntet, deshalb wird die Tintenwelt euch selbstverständlich alle Ausgaben für Flüge, Hotels oder andere Freizeitaktivitäten finanziell ausgleichen. Also, mit wem kann ich rechnen?«

Wilhelmina verschränkte die Arme und setzte eine mürrische Miene auf. »Dann bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig!«

»Heißt das, du bleibst?«

»Ja.«

»Was ist mit dir, Isabell?«

Isabell lächelte verlegen. »Ich … Ich bin sehr dankbar, dass Sie uns diese Chance geben, und freue mich sehr, dass ich sie ergreifen kann und …« Sie lugte unsicher hinter ihren großen Brillengläsern hervor und räusperte sich. Wilhelmina schlug sich mit der Hand auf die Stirn.

»O Gott! Sag doch einfach in einem Satz, dass du weiterhin teilnimmst und fertig. Außerdem halte ich deine leise Pieps-Stimme echt nicht länger aus! Ich wäre froh gewesen, wenn ich sie ab heute nicht mehr ertragen …«

»Es reicht!« Frau Gmeiner schnitt ihr in einem scharfen Ton das Wort ab. Wilhelmina schwieg, aber in ihren Augen tobte ein Sturm. Frau Gmeiner sah mich an und ich nickte ihr zu.

»Ich bin dabei.«

»Magnus?«

»Ich auch.«

»Sehr gut! Dann lasst und keine Zeit verlieren. Ich gebe nun das diesjährige Genre bekannt.« Frau Gmeiner wandte sich an die Tafel.

Bitte. Fantasy.

Sie nahm sich eine weiße Kreide aus dem Fach.

Bitte. Fantasy.

Sie setzte an und der erste Buchstabe war ein F. Mit angehaltenem Atem wartete ich, bis die weiteren sechs Buchstaben an der Tafel standen.

Ich schloss einen Herzschlag lang die Augen und atmete tief durch, um nicht jubelnd auf dem Schreibtisch zu tanzen. Wilhelminas Stimmung schien sich ebenso wieder zu heben, denn Fantasy war auch ihr insgeheimer Favorit. Wobei wir uns manchmal alle nicht sicher waren, ob sie tatsächlich selbst die Tastatur zum Glühen brachte oder einen Ghostwriter bezahlte, dem sie die Arbeit übertrug.

Die anderen zwei wirkten eher semi-begeistert. Magnus kaute an seiner Lippe und Isabell schrieb hektisch Notizen auf ihren herzförmigen Block. Sie blinzelte verhältnismäßig oft. Verkniff sie sich etwa Tränen? Ich zügelte mich wieder. Schließlich durfte ich mich auch nicht zu früh freuen. Selbst wenn Isabell ihre Feder bevorzugt in Tinte tauchte, um romantische Liebesgeschichten auf dem Papier zu verewigen und Magnus’ Leidenschaft brutalen Verbrechen galt, so waren sie beide talentiert und ernstzunehmende Konkurrenten. Am Ende konnte nur einer von uns vieren gewinnen. Ich erinnerte mich an Ellys mahnende Worte heute Morgen, als ich das Haus verlassen hatte: Gib auf dich acht, Sofia. Wenn Menschen erkennen, dass auf der Erfolgsleiter nur noch für einen Platz ist, können aus den besten Freunden die schlimmsten Feinde werden.

Ich hoffte, dass das bei uns nicht zutreffen würde.

2. Kapitel

Der Seminar-Start

Frau Gmeiner ließ sich auf dem gemütlichen Sessel mit dem flauschigen weißen Überzug hinter ihrem Pult nieder und überkreuzte die Beine.

»Fantasy. Nun ist es raus. Wir wollen von euch eine Vorlage für einen Vampir-Roman. Die Vampire sollen sich in diesem Projekt an allen bekannten Klischees bedienen. Entsprechend soll die Handlung überwiegend vor der schaurigen Kulisse Transsilvaniens spielen. Und wo könnte man besser auf Ideensuche gehen als am Ort des Geschehens selbst?«

»Wir sollen nach Transsilvanien reisen?«, schlussfolgerte Magnus und schien über das Reiseziel nicht sonderlich erfreut, aber Frau Gmeiner sah über seine gequälte Miene hinweg.

»Ja, und hiermit lade ich euch zum Zusatz-Seminar zum Thema Recherche ein«, bestätigte die Literaturprofessorin und strahlte uns an. »In den vergangenen Pfingstferien haben wir uns intensiv mit der Umgebungsbeschreibung befasst. Wir knüpfen nun daran an.«

Ich erinnerte mich an das Seminar. Wie alle anderen war es passend auf die bayerischen Schulferien zugeschnitten gewesen. Am Ende eines jeden Seminars gab es Prüfungen und wer sie nicht bestand, wurde von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen. Neben den Kosten zahlten wir Studierenden einen weiteren hohen Preis: Die Freizeit schrumpfte auf eine kleine Notizzettel-Größe. Mir machte das nichts aus. Kaum waren die Ferien vorbei, fieberte ich schon den nächsten entgegen und war gespannt, welche neuen Lerninhalte rund um das Thema Buchautor werden uns erwarten würden. Umso mehr freute es mich, dass es ein Zusatz-Seminar gab.

»Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass euch der spätere Schreibprozess leichter von der Hand gehen wird, wenn ihr mit der Umgebung vertraut seid. Also – beginnt dieses Buchprojekt damit, dass ihr euch vom Schauplatz inspirieren lasst.«

Frau Gmeiner klappte die schwarze Mappe auf und nahm vier Karten aus einem Umschlag. »Jeder von euch erhält ein Ticket für den sagenumwobenen Dracula Park in Transsilvanien.«

In meinem Bauch begann es zu kribbeln. Wilhelmina und ich sahen uns mit offenen Mündern an und kreischten los. Vor Freude hüpfend fielen wir uns in die Arme. Als Vampirfan stand bei mir ein Besuch im Dracula Park ganz oben auf meiner Das-will-ich-unbedingt-machen-Liste. Mein Vater hatte mir diesen Wunsch vor fünf Jahren erfüllen wollen. Kurz davor erfüllte er sich als leidenschaftlicher Fallschirmspringer selbst noch einen Traum. Er reiste nach China, um mit einem Flügelanzug durch das Himmelstor zu fliegen. Ich durfte ihn leider nicht begleiten, weil die Schulferien zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen hatten, deshalb war ich ihm nur über einen Video-Anruf zugeschaltet. Als er am Gipfel eines nahegelegenen Berges gestanden hatte, sendete er mir einen letzten Gruß.

»Gleich werde ich wissen, wie sich Fledermäuse fühlen, wenn sie fliegen.« Er winkte aufgeregt in die Kamera und drückte dann das Handy einem Mitarbeiter der Fluggesellschaft in die Hand, damit dieser das Erlebnis für mich mitfilmen konnte. Mein Vater bekam auf Englisch kurze Anweisungen und sprang dann von der Plattform. Wie auch bei seinen zweihundert Fallschirmsprüngen zuvor pausierte mein Herzschlag in dem Augenblick des freien Falls, ohne zu wissen, dass sich mein Leben für immer verändern würde, wenn es dieses Mal weiterschlug. Mein Vater war auf dem Bildschirm nur noch ein kleiner schlingender Punkt. Ein ungutes Gefühl überkam mich. War die Art, wie er flog, normal? Unter den Mitarbeitern machte sich Unruhe breit. Schließlich schrien sie in ihrer Landessprache wild durcheinander. Das Letzte, was ich sah, bevor das Handy fallen gelassen und der Bildschirm schwarz wurde, war wie mein Vater steil nach unten abstürzte. Er starb noch an der Unfallstelle.

Für einen Moment hielt ich in Gedanken die Welt an, ließ die Erinnerung zu und unterdrückte die Tränen, die schon lange darauf warteten, auszubrechen. Während mich Wilhelmina jubelnd an sich drückte, sah ich einen Wimpernschlag lang dankbar aus der Glasfront Richtung Himmel, auf dessen reiner hellblauer Leinwand an diesem Morgen nur wenige Wolkentupfer gemalt waren. Papa, hast du das mit den Tickets von da oben aus eingefädelt? Irgendwann werden wir uns wiedersehen, da bin ich mir sicher. Und dann werde ich dir bis ins kleinste Detail berichten, was ich im Dracula Park erlebt habe ….

»Habt ihr es jetzt dann?«, fragte Magnus gereizt und holte mich damit zurück in das Klassenzimmer.

»Ja«, erwiderte ich leise und löste mich aus der Umarmung.

»Ich würde nämlich gern weitermachen!«, setzte er hinzu und funkelte uns an.

»Wir haben es kapiert!«, giftete Wilhelmina zurück und wir rückten unsere Stühle zurecht. Frau Gmeiner klatschte in die Hände.

»Ich mache es kurz, damit wir anfangen können: Ihr werdet euch in Zweierteams auf den Weg nach Transsilvanien machen. Denkt daran: Auch die Reise kann bereits für besondere Erlebnisse sorgen, die ihr später in euere Handlung ausgeschmückt mit einflechten könnt. Haltet also eure Stifte und Notizblöcke jederzeit griffbereit.«

»Sofia und ich sind ein Team«, beschloss Wilhelmina und Frau Gmeiner schüttelte lächelnd den Kopf.

»Die Konstellation der Teams ist bereits festgelegt. Die Tintenwelt-Kommission und ich haben sie ausgelost.« Die Literaturprofessorin zog ihre Brille von der Stirn und setzte sie sich auf die Nase. Dann blätterte sie in ihrer Mappe, bis sie fand, wonach sie suchte. »Ah, hier habe ich es notiert. Wilhelmina und Isabell. Sofia und Magnus.«

Obwohl ich den anderen nicht in die Augen sah, wusste ich, dass sie gleichermaßen entgeistert dreinblickten wie ich. Frau Gmeiner ließ für Beschwerden keine Zeit. Eher einer von uns Luft holen konnte, um zu protestierten, fuhr sie unbeirrt fort. »Wilhelmina und Isabell, ihr beiden bekommt ein Auto zur Verfügung gestellt. Mit diesem werdet ihr gemeinsam nach Transsilvanien fahren.«

»Na schön, aber du fährst«, stellte Wilhelmina gegenüber Isabell klar. »Dann kann ich mich wenigstens nebenbei filmen und die Fahrt für meine Follower aufzeichnen.«

Isabell, die sich sichtlich unwohl bei der Vorstellung fühlte, mit Wilhelmina über einen längeren Zeitraum in ein und demselben Gefährt festzusitzen, nickte stumm.

»Gut, nachdem ihr das geklärt habt, bedenkt bitte, dass das Navigationssystem nicht vollständig bis zum Ziel funktionieren wird«, merkte Frau Gmeiner an.

»Wieso?«

»Es ist allgemein bekannt, dass in Transsilvanien ein großflächiges Funkloch herrscht. Ihr werdet besonders auf den letzten hundert bis zweihundert Kilometern bis zum Ziel kaum noch Empfang haben, deshalb liegt im Auto eine aktuelle Landkarte für euch bereit.«

»Eine Landkarte?«, wiederholte Wilhelmina entsetzt und blickte Frau Gmeiner an, als wäre sie einem Mittelalter-Roman entsprungen.

»Das wäre sonst zu einfach gewesen. Ihr wollt doch etwas erleben, oder?«, erwiderte Frau Gmeiner. Seit ich Wilhelmina kannte, war es das erste Mal, dass ihr die Worte fehlten, denn sie sank ohne einen Kommentar in ihren Stuhl zurück und atmete laut aus.

»Und was ist mit uns?«, erkundigte sich Magnus, der den Moment des Schweigens nutzte und Frau Gmeiner informierte uns, dass wir mit dem Flugzeug von München nach Cluj-Napoca, der zweitgrößten Stadt Rumäniens fliegen würden und danach mit dem Vampirexpress bis zum Dracula Park fahren dürften. Laut Frau Gmeiner war der Vampirexpress eine Art Shuttlebus, der in regelmäßigen Abständen gelandete Passagiere die verbleibenden dreihundertzweiundzwanzig Kilometer zum Freizeitpark transportierte. Amüsiert teilte uns Frau Gmeiner das Wortspiel mit, mit dem das Unternehmen warb: Ihre Mitfluggelegenheit zum Dracula Park.

Okay, das werden wir verkraften, redete ich mir gut zu. Auf der Fahrt müssen Magnus und ich nicht großartig zusammenarbeiten, um den Park zu erreichen.

»Damit es fair bleibt, wird die Rückfahrt genau andersherum verlaufen. Wilhelmina und Isabell nehmen den Vampirexpress und fliegen nach München zurück und ihr beiden bekommt den Wagen. Magnus, das Fahren müsstet du übernehmen, weil Sofia erst sechzehn Jahre alt ist und noch keinen Führerschein hat.«

O je, da hatte ich mich zu früh gefreut …

»Und wie lange werden wir dortbleiben?« Die Frage kam von Isabell.

»Dazu komme ich gleich.« Frau Gmeiner warf einen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. »Es ist jetzt zehn Uhr. Der Flug von Sofia und Magnus geht um dreizehn Uhr fünfzehn. Ihr beiden«, sie deutete auf Wilhelmina und Isabell, »könnt direkt im Anschluss losfahren. Von hier aus sind es über tausend Kilometer bis Transsilvanien und mit aktuellem Verkehr gerechnet und ohne Stopps seid ihr circa fünfzehn Stunden unterwegs. Wenn es euch in einem Schwung zu viel ist, legt unbedingt eine Schlafpause ein. Ich habe euch schon Herbergen auf der Strecke rausgesucht und in der Landkarte markiert. Ihr braucht dort nur anrufen und …«

Ich schluckte. Mindestens fünfzehn Stunden würde ich auf der Rückfahrt mit Magnus in einem Auto sitzen. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er wandte sich demonstrativ von mir ab. Ob sich seine abweisende Haltung mir gegenüber bis dahin ändern würde? Möglicherweise konnte ich spätestens da mit ihm reden, wenn er nicht weglaufen konnte und wir allein waren.

»Wenn ihr im Park ankommt, checkt im Dracula Resort ein. In diesem Hotel haben wir für jeden von euch ein Einzelzimmer gebucht, damit ihr nach abenteuerlichen Freizeitparkstunden ungestört arbeiten könnt.«

Dracula Resort. Wie aufregend der Hotelname schon klang.

Frau Gmeiner machte eine bedeutungsvolle Pause. »Dieses Zusatz-Seminar dauert vier Wochen. Die Türen des Tintenwelt-Ferienakademie bleiben in der Zeit geschlossen. Dafür sind die Tore in Transsilvanien für euch weit geöffnet. Die Antwort auf deine Frage, Isabell: Ihr werdet den vollen Umfang der Zeit dort verbringen. In regelmäßigen Abständen reiche ich euch Tipps zur Recherchearbeit ein und werde mit euch im engen Austausch über eure Fortschritte bleiben. Zur Abschlussfeier, bei der als Höhepunkt der Gewinner bekannt gegeben wird, versammeln wir uns allerdings wieder hier. Der Inhaber des Dracula Parks hätte uns zwar eine Genehmigung für eine Veranstaltung erteilt, aber wir haben uns letztendlich dazu entschieden, dass für die zahlreichen Gäste die An- und Abreise in Bayern leichter zu organisieren ist. Die Lage des Freizeitparks ist doch äußerst abgeschieden … Umso mehr sind die Gäste auf euren anschließenden Bericht gespannt. Das war es von meiner Seite zum groben Rahmenprogramm. Jetzt seid ihr dran: Macht euch nun auf den Weg. Spitzt eure Federn und füllt eure Tintenfässer. Leere Blätter warten darauf, dass ihr sie mit einer Geschichte einkleidet.«

3. Kapitel

Weitere Notlügen und ein Abstecher nach Hause

Sollen wir warten, bis dein Chauffeur dich abholt?«, wollte Wilhelmina wissen, als wir uns draußen in der Einfahrt des Tintenwelt-Anwesens versammelt hatten. Dort parkte bereits ein schicker schwarzer BMW, den wir für die bevorstehende Hin- und Rückfahrt nach Transsilvanien von der Tintenwelt zur Verfügung gestellt bekamen.

»Das ist sehr lieb von dir, aber ihr habt noch so einen langen Weg vor euch. Verliert wegen mir keine Zeit.«

»Quatsch. Erstens macht es mir nichts aus und zweitens dauert es bestimmt nicht lange. Dein Chauffeur müsste doch jeden Moment hier sein«, erwiderte sie.

Es ist als würde ich dich bitten, mir Gesellschaft zu leisten, bis der berühmte Zauberlehrling Harry Potter lebendig wird. Wir würden bis zum Sankt Nimmerleinstag in der Einfahrt der Tintenwelt verweilen, weil das nicht geschehen wird.

Ich hatte keinen Chauffeur von der Sorte, der in einem schicken Auto vorfuhr. Der fein gekleidet war und einem mit einem weißen Handschuh die Tür zum Einsteigen aufhielt. Stattdessen würde ich Elly kontaktieren, sobald ich mich außer Hörweite von den anderen befand. Wie auch schon die letzten Male würde sie zu einem vereinbarten Platz kommen, der ein Stück von der Tintenwelt entfernt lag, denn die anderen dürften das Transportmittel unter keinen Umständen zu Gesicht bekommen. Der klapprige, zum größtenteils von Rost übersäte Ford Fiesta, ein Modell aus den Siebzigern, machte nicht den Eindruck, als würden meine Mutter und ich noch ein Leben führen, in dem luxuriöse Standards herrschten, so wie es die anderen erwarteten. Leider musste ich meine Außenwelt aber in dem Glauben lassen, denn arme Leute konnten ihr Talent auf der Elite-Schreibakademie nicht beweisen.

Mein Vater, der mich zu Lebzeiten anmeldete, hatte die Anzahlung von zehntausend Euro getätigt, sonst wäre ich erst gar nicht als Studentin aufgenommen worden. In der Einladung hatte ein Vermerk gestanden, dass weitere Gebühren anfallen würden, deren Abrechnung erst am Schluss erfolgte, da sie der Gewinner nicht bezahlen muss. Ich machte mir darüber keine Sorgen, denn mein Vater hatte mir eigens dafür ein Sparbuch angelegt. Als meine Mutter nach seinem Tod seine finanziellen Rücklagen verschwenderisch ausgab, wollte ich es sicherheitshalber an mich nehmen. Doch es war zu spät. Sie hatte auch dieses Geld ausgegeben und mein Traum zerplatzte wie eine Seifenblase, die einen Buchumschlag berührte. Tagelang saß ich weinend neben dem Telefon. Ich traute mich nicht, Frau Gmeiner anzurufen und ihr zu beichten, dass ich die Rechnungen nicht begleichen konnte, wenn ich am Ende auf dem Siegertreppchen nicht ganz oben stand. Ich zögerte es solange hinaus, bis Elly mir mitteilte, dass ein Mitarbeiter der Tintenwelt mit seinem Wagen in der Einfahrt stand, um mich für das nächste Seminar abzuholen. In diesem entscheidenden Augenblick erinnerte ich mich an eine Widmung, die in einem Buch meines Vaters stand: Für Zsófia. Schreib die Welt, wie sie dir gefällt, meine kleine Schriftstellerin.

Kurzerhand beschloss ich, das Schicksal herauszufordern und einfach so zu tun, als würden wir uns die Tintenwelt-Gebühren leisten können. Dafür bastelte ich mir in der Realität eine Welt mit Worten, in der das möglich war. Ich erstellte mir sogar einen Blog in den sozialen Netzwerken und berichtete dort mit bearbeiteten Bildern von meinem Leben als einzige und allein erbende Tochter meines berühmten Vaters. Niemand zweifelte an dem Wahrheitsgehalt.

Trotzdem fällt es mir nicht leicht, dich und die anderen anzuschwindeln, weil du mit all deinen Eigenarten so etwas wie eine Freundin für mich geworden bist. Auch wenn ich tief im Inneren weiß, dass du einen weiten Bogen um mich machen würdest, wenn du sehen könntest, dass meine Realität von deiner ähnlich weit entfernt ist wie die Erde zum Mond. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.

»Und genau deshalb kannst du ohne Bedenken losfahren. Ich werde jeden Moment abgeholt«, entgegnete ich und verstaute mein schlechtes Gewissen unter einem imaginären Stapel Bücher.

»Ich mache mir eher Sorgen wegen dem hier.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Magnus. »Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich nur mit Buchstaben mordet. Wenn ich mir seine Blicke anschaue, die dich regelmäßig treffen, bin ich davon überzeugt, dass er damit auch töten kann.«

»Ich komme schon klar. Ehrlich. Die restliche Fahrt muss ich auch irgendwie …«, ich suchte nach Worten, »überleben.«

Sie kicherte.

»Mädels, ich kann euch hören. Wenn ich dieser Fähigkeit mächtig wäre, würde ich mit dir anfangen, Wilhelmina«, meinte Magnus gelassen, der unweit von uns entfernt an der steinernen Mauer lehnte und den Tabak seiner Zigarette inhalierte. Wilhelmina funkelte ihn wütend an und baute sie sich vor ihm auf.

»Hast du vergessen, dass die Familie meiner Mutter zum ältesten adeligen Geschlecht Bayerns gehört? So redest du nicht mit einer Adeligen und so redest du auch nicht mit ihrer Freundin!«

»Verzeihung. Wie konnte ich nur«, erwiderte er gleichgültig.

»Beachte ihn einfach nicht. Sei froh, dass du mit Isabell in einer Gruppe bist«, sagte ich besänftigend und zog sie von ihm weg. Bevor es zu einem Streit kam, versicherte ich Wilhelmina mehrmals, dass ich ohne sie zurechtkommen würde. Es war für alle Beteiligten besser, wenn sich Magnus und sie sich nicht länger in Hörweite befanden. Schließlich ließ sie sich überzeugen. Wir umarmten uns zum Abschied und sie stieg in den schwarzen BMW, in dem Isabell schon auf sie wartete. Da das Fenster heruntergekurbelt war, hörte ich noch, dass Wilhelmina anordnete, ihr Schloss in München als erstes Ziel anzuvisieren, damit sie ihren Koffer abholen konnte. Selbstverständlich wurde dieser bereits von einer Angestellten gepackt. Wobei sie das Wort Schloss extra betonte und Richtung Magnus schleuderte. Als Isabell den Wagen aus der Einfahrt lenkte, wandte ich mich an Magnus. »Hast du die Flugtickets?«

Er zog den Geldbeutel aus seiner ausgeblichenen blauen Jeans und hob ihn zur Bestätigung kurz hoch.

»Super. Wir treffen uns dann direkt am Flughafen. Bis später.« Ich wandte mich zum Gehen. Er nahm noch einen Zug seiner Zigarette und rief mir dann hinterher: »Wo gehst du hin? Dein Fahrer ist doch noch gar nicht da.«

Ich schloss kurz die Augen und drehte mich wieder zu ihm um, als mir eine passende Erklärung einfiel. »Es wird wohl auch noch eine Weile dauern. Als ich ihn angerufen habe, hat er gesagt, dass er am Luise-Kiesselbach-Tunnel im Stau steht. Meine Mutter hatte einen Termin bei einem Star-Friseur in München. Sie befinden sich gerade auf dem Rückweg, aber mir dauert das jetzt zu lange. Ich nehme den Zug und gehe das letzte Stück zu Fuß. Wir sind schließlich vier Wochen lang weg. Ich will mir selbst auch noch ein paar Sachen einpacken, bevor der Flug geht.«

Überrascht schaute er zu mir auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie du mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt.«

»Wieso nicht?«, entgegnete ich und wollte abermals losgehen. Ich hielt inne, als er mir anbot, dass er mich mitnehmen konnte.

»Ich bin mit dem Motorrad hier.«

Ein Annäherungsversuch. Von ihm aus? Ich war ohnehin überrascht, dass er mehr als ein Wort mit mir wechselte. Umso schwerer fiel es mir, ihn zurückzuweisen, aber ich musste mich zusammenreißen. Was wäre, wenn er mit in die Villa kommen wollte? Niemand dort war auf Besuch vorbereitet. Keiner wusste, dass die Bedingungen des Schreibwettbewerbs geändert worden waren. Sie rechneten frühestens heute Abend damit, dass ich jemanden mitbrachte. Elly las um diese Zeit gern ein Buch im Garten. Welche Erklärung hätte ich, dass unsere Angestellte es sich in der Hängematte gemütlich machte, anstatt verblühte Rosenblätter zusammenzufegen? Und wie sollte ich erklären, dass wir überhaupt nur eine Angestellte hatten und nicht ein Dutzend wie Wilhelmina? Oder was wäre, wenn meine Mutter in ihrer grauen Lieblingsjogginghose auf der Couch lag, auf dem Fernsehbildschirm Fotos durchlaufen ließ und der Zeit nachtrauerte, als sie sämtliche Privilegien durch den Reichtum meines Vaters genossen hatte? Meistens ertränkte sie ihre Gefühle in reichlich Rotwein. Mittlerweile war sie oft schon tagsüber betrunken. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie auch in diesem Augenblick nicht mehr Herr über ihre gesprochenen Worte war. Wie leicht konnte sie sich verplappern und kurz vorm Ziel die Mauer, die ich jahrelang kraftvoll aufrechterhalten hatte, zum Einstürzen bringen? Das durfte ich nicht riskieren.

»Du brauchst nichts sagen.« Magnus’ Gesichtszüge verhärteten sich. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich kaum hörbar und warte keine Reaktion ab, sondern sah, dass ich zügig Abstand zwischen uns brachte. Schnellen Schrittes ging ich an der hochgewachsenen Hecke entlang und bog um die Ecke. Nach wenigen Schritten vernahm ich das Brummen eines Motors. Nachdem Magnus an mir vorbeigebraust war, rief ich Elly an und bat sie, mich abzuholen.

Während ich auf dem abgenutzten Beifahrersitz saß und von Elly nach Hause gefahren wurde, quetschte sie mich über das Zusatz-Semester aus und ich erzählte ihr aufgeregt von der bevorstehenden Reise.

Sie lenkte den Wagen an eine abgelegene Stelle am Ufer des Starnberger Sees. Unsere Villa befand sich einige Kilometer von der Tintenwelt entfernt, in der Nähe vom ländlich gelegenen Possenhofen. Vor einer zugewucherten Einfahrt kam das Fahrzeug zum Stehen. Lediglich das Tor war zu sehen. Der verwilderte Waldgarten versteckte das ehemals prachtvolle Anwesen dahinter. Die Presse vermutete in sämtlichen Artikeln, dass wir absichtlich keine Gärtner mehr beauftragten, um vor neugierigen Blicken geschützt zu sein. In Wirklichkeit fehlte uns das Geld, um die Leistung zu bezahlen. Elly hatte anfangs versucht, die diversen Pflanzen zu pflegen, aber für eine Person allein, die sich auf dem Gebiet nicht auskannte, war das Areal nicht zu bändigen.

»Ich warte im Auto, in Ordnung?«, fragte sie und ich nickte.

»Ich beeile mich.«

Ich stieg aus und fand ein ähnliches Szenario vor, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nur dass meine Mutter ihre Verfassung mit lauter Musik kombinierte, die mir bereits entgegendröhnte. Bedauernd sah mich Elly an.

»Du kannst ja nichts dafür«, sagte ich wie immer. Ich schob das quietschende Eisentor auf und lief den erdigen Weg entlang. Als das Blätterdach die Sicht auf die Villa freigab, erblickte ich meine Mutter, die mit einem Weinglas in der Hand vor der breiten Glasfront des Wohnzimmers stand. Als sie mich sah, gefror ihre Miene. Das Glas, das sie in der Hand hielt, fiel zu Boden und zerbrach auf dem Boden. Sie riss die Tür auf, stürmte die weißen Marmorstufen der Terrasse hinab und lief auf mich zu.

»Du kommst schon nach zwei Stunden zurück? Hast du dich denn gar nicht angestrengt?«