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Das Buch analysiert eingehend die perfiden Mechanismen der Gewalt im kommunistischen Straf- und Besserungslager auf der Insel Goli otok im ehemaligen Jugoslawien und vergleicht die Methoden in diesem Lager mit jenen in nationalsozialistischen und sowjetischen Lagern. Das totalitäre kommunistische Regime in Jugoslawien versuchte bei den in diesem Lager inhaftierten tatsächlichen und vermeintlichen Regimegegnern jeden Funken von Individualität und Selbstbestimmung sprichwörtlich auszutreiben und setzte sich die „Umerziehung“ der Inhaftierten zum Ziel. Dafür schien jedes Mittel recht. Von roher Gewalt, Hunger, unmenschlicher Zwangsarbeit, völliger Isolation bis hin zu perfiden Überwachungsmethoden und dem massiven Schüren von Angst waren alle Varianten der physischen und psychischen Gewalt vertreten. Letztlich jedoch ging es dem Regime um die Machterhaltung, die auch mit dem Versuch, die Gedanken der tatsächlichen und potentiellen Gegner zu kontrollieren und zu manipulieren, erreicht werden sollte.
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Seitenzahl: 576
Veröffentlichungsjahr: 2014
TITOS GULAG AUF DER INSEL GOLI OTOK
von Božidar Jezernik
Aus dem Slowenischen und Serbokroatischen von Karin Almasy
Titel der slowenischen Originalausgabe:
Božidar Jezernik, Goli otok – Titov gulag
© Modrijan založba, d. o. o., 2013, Ljubljana, und Božidar Jezernik, Ljubljana
Božidar Jezernik: Titos Gulag auf der Insel Goli otok
Aus dem Slowenischen und Serbokroatischen von Karin Almasy
Lektorat: Christina Halfmann
Redaktion: Hanzi Filipič
Layout: HercogMartini
Foto auf dem Buchcover: Đorđe Andrejević-Kun, [‚Das Lager Bileća‘. Die Polizisten aus Bileća, schlagen und verprügeln, auf Befehl aus Belgrad, Moša Pijade im Gebäude der Kreishauptmannschaft], in: 1940, Književne novine, 19. 4. 1950, S. 3.
© der deutschsprachigen Ausgabe Hermagoras Verlag/
Mohorjeva založba, Klagenfurt/Celovec – Ljubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2014
Gesamtherstellung: Hermagoras Verein/Mohorjeva družba, Klagenfurt/Celovec
1. Auflage 2014
Erstellt mit Unterstützung der Öffentlichen Agentur für Forschung der Republik Slowenien / Javna agencija za raziskovalno dejavnost (štev.: 6316-9/2013-215)
ISBN 978-3-7086-0784-9
Für Jože Jurančič, einen der größten Helden in der slowenischen Geschichte
Anmerkungen der Übersetzerin
Zur Aussprache slowenischer und serbokroatischer Wörter
C wie z in Zimt
Č wie tsch in rutschen
Ć weiches tsch
Đ wie dsch in Dschungel
H gesprochenes H wie ch in Fach
Š wie sch in Schule
V meist wie w in Wasser
Z stimmhaftes s wie in der bundesdeutschen Aussprache von Sonne und leise
Ž stimmhaftes sch wie in Gelee und Journalist
Zitate aus deutschen Originalen oder deutschen Originalübersetzungen wurden, wenn vorhanden, aus dem Original übernommen. Slowenische und serbokroatische Eigennamen wurden weitgehend im Original belassen.
Im Anhang befindet sich als kleine Hilfestellung ein Glossar mit den wiederkehrenden Hauptbegriffen des sozialistischen Jugoslawiens, seiner Institutionen, seiner Persönlichkeiten sowie den wichtigsten Schlagwörtern der ‚Lagerterminologie‘.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort zur deutschen Ausgabe:
Geleitwort zur Geschichte und Genese von ‚Goli Otok‘
Vorwort – Die Morfologie von Goli Otok
Stalin rauf, Stalin runter
Politische und imaginative Geografie
Der Vater ein Hund, die Mutter eine Hure
Eine Maschinerie, um die eigenen Hände in Unschuld zu waschen
Die Vertikalstruktur des gesellschaftlichen Bodensatzes
Ein Brotmesser
Die unerträgliche Macht der Machtlosen
Der Schlag bestimmt das Bewusstsein
‚Geschwänzte‘ Menschen
Gemeinsam einsam
Das Potemkin’sche Dorf R-101
Der marxistische Dogmatismus des Küchenzettels
Der Sultan im Harem
Sisyphos auf der gemeinnützigen Arbeit
Tierbeschau im Käfig
Fliegende Untertassen über Goli Otok
Alles vergeht – außer den Ermittlungen
Mit dem Kopf durch die Wand
Ein endloses Ende
Literatur- und Quellenverzeichnis
Bilderverzeichnis
Glossar sozialistischer Begriffe, Institutionen, Persönlichkeiten und der Goli-Otok-‚Lagerterminologie‘
|10|Vorwort zur deutschen Ausgabe:
GELEITWORT ZUR GESCHICHTE UND GENESE VON ‚GOLI OTOK‘
Zu Beginn des vorliegenden Buches steht ein Witz, über den alle Jugoslawen lauthals gelacht haben. Doch handelt dieses Buch nicht von Witzen. Ich thematisiere darin Goli Otok und andere Konzentrationslager des titoistischen Jugoslawiens (1948–1956), die der ‚Umerziehung‘ der sogenannten Informbüro-Anhänger dienten.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und ihrer Machtübernahme liquidierte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) unter der Führung von Josip Broz in den 1940er Jahren Angehörige der bewaffneten Kollaborationsmächte wie Ustašas, Četniks und Domobranci. Die ‚Säuberungen‘ wurden 1946 mit den Gerichtsprozessen gegen den Četnik-General Dražo Mihailović in Belgrad und Erzbischof Alojzije Stepinac in Zagreb – wegen seiner Zusammenarbeit mit dem Ustaša-Regime – weitergeführt. Der Liquidierung der bewaffneten Opposition folgten nämlich Gerichtsprozesse gegen Anhänger der politischen Opposition, später auch gegen kroatische und slowenische Geistliche der katholischen Kirche, wovon viele zu langjährigen Haftstrafen und einige zum Tode verurteilt wurden. Die Atmosphäre aus Angst und Ungewissheit, die das Land regierte, verdichtete sich 1948 noch weiter, als es zum Bruch zwischen Tito und Stalin kam.
Nach der Abrechnung mit der militärischen und politischen Opposition blieb nur noch die innere Opposition übrig. Mit diesen potentiellen Gegnern wurde in der letzten, durch die Informbüro-Resolution losgetretenen Säuberungswelle |11|‚aufgeräumt‘. Nach der Beseitigung der tatsächlichen oder vermeintlichen bewaffneten Opposition (Ustašas, Četniks, Domobranci usw.) kamen Mitglieder der KPJ an die Reihe, die ihrer Führung nicht blind vertrauten. Jeder Zweifel, und war er auch noch so gut gemeint, war strengstens verboten und jegliches Zuwiderhandeln wurde rigoros geahndet und bestraft. Man konnte im Kaffeehaus einen ‚russischen Tee‘ bestellen und wurde dafür als vermeintlicher Stalinist für die ‚Umerziehung‘ ins Lager geschickt.
Die Machthaber im sozialistischen Nachkriegsjugoslawien handelten genau so, wie es schon die Nationalsozialisten in Deutschland nach ihrer Machtergreifung getan hatten. Auch damals wusste man von Dachau und späteren Lagern, aber es durfte nicht darüber gesprochen werden. Ebenso wusste man von Goli Otok, doch umgab dieses Thema etwas Geheimnisvolles, an dem man besser nicht rüttelte. Die Menschen verstanden diese ‚Lehre‘ sehr gut. Noch in den 1970er Jahren etwa, ‚verstanden‘ alle an der Universität Ljubljana und überhaupt in ganz Slowenien nur zu gut, was es bedeutete, als vier Professoren von der damaligen Fakultät für Soziologie, Politologie und Journalismus (FSPB) auf das Soziologieinstitut versetzt und von der Lehre ausgeschlossen wurden: dass man den Mund halten musste. Bei der Verfolgung der sogenannten Informbüro-Sympathisanten handelte es sich demnach eigentlich um eine spezielle Prävention, um die Einschüchterung der eigenen Staatsbürger. Mit anderen Worten: um Staatsterrorismus.
Das Lager auf der Insel Goli Otok und andere KZs für die Informbüro-Sympathisanten waren nicht nur eine der brutalsten Strafanstalten im damaligen Nachkriegsjugoslawien, sie waren auch eine effektive Abschreckung. Menschen verschwanden über Nacht, ohne dass ihnen der Prozess gemacht worden wäre. Als sie zurückkamen – wenn sie denn zurückkehrten, denn nicht alle waren so glücklich – durften sie über ihr Martyrium, Schuld und Unschuld nicht sprechen. Sonst hätte man sie noch einmal abgeholt. Und ‚Zweimotorigen‘, wie man solche Rückkehrer auf Goli Otok nannte, blühte dann noch Übleres.
Die einstigen jugoslawischen Machthaber rechtfertigten die zahlreichen Arretierungen, Verurteilungen und Haftstrafen mit der sowjetischen Gefahr. An den Staatsgrenzen würden sowjetische Panzer stehen und auf einen günstigen Zeitpunkt für eine Invasion warten. Die Gefahr eines sowjetischen Angriffs war erfunden, oder zumindest stark übertrieben. Man kann ohne weiteres sagen:|12| Wenn es keine Panzer an den Grenzen gegeben hätte, dann wäre eben etwas anderes geschehen. Eine wirklich unschöne Eigenart des titoistischen Systems war es, dass es keine Opposition ertrug.
Die Suche nach so genannten inneren Feinden – das waren ‚linienuntreue‘ Parteimitglieder – war schon seit Tito in den 1930er Jahren die Führungsposition in der Partei ergriffen hatte, seine ständige Praxis. Bis zu Titos Tod 1980 blieb sie auch in Gebrauch.
Durch die Festigung seiner Stellung schuf Tito andererseits aber natürlich auch sehr gute Bedingungen für einen effektiven Modernisierungsprozess. Hinter der Maske des Kampfes gegen den Stalinismus versteckte er seinen brutalen ‚Antistalinismus‘ erfolgreich vor der Welt. Als er sich nicht mehr mit inneren ‚Schwierigkeiten‘ herumschlagen musste, konnte er sich dem Ausbau des ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ widmen und sein gutes Ansehen im Ausland allmählich verfestigen: Er wurde eine der Ikonen des attraktiven Sozialismus und eine der Leitfiguren der Blockfreien-Bewegung.
Das vorliegende Buch hat seinen Beginn im weit entfernten Jahr 1982. Damals schloss ich die Arbeit an einem Buch über die italienischen Konzentrationslager für slowenische und kroatische Internierte während des Zweiten Weltkrieges ab. In einem davon, nämlich im Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab geschah Anfang September 1943 etwas Unfassbares, etwas Beispielloses in der Weltgeschichte. Zweitausend Internierte entwaffneten 2200 italienische Carabinieri und Soldaten. Und hatten dafür nicht eine einzige Pistole. Mehr noch: Sie liquidierten nicht einen einzigen Soldaten oder Carabiniere. Um zu verstehen, was das eigentlich bedeutet, muss man sich die Ereignisse in den befreiten nationalsozialistischen Konzentrationslagern in Erinnerung rufen wie z. B. in Dachau und Mauthausen, wo die SS-Leute vor der Ankunft der Alliierten geflohen waren und sechzehnjährige Buben als Wachen zurückgelassen hatten und die amerikanischen Soldaten alle Wärter, die sie finden konnten, liquidierten. Einige entschuldigen die Exekutionen ohne Gerichtsprozesse zu Kriegsende, in denen die neuen jugoslawischen Machthaber an die 200 000 gefangene Angehörige der Quisling-Einheiten ermordeten, noch heute damit, dass „diese Zeiten damals eben so gewesen“ seien. Die Ereignisse auf Rab im Jahr 1943 mitten während des Zweiten Weltkrieges und nicht nach Kriegsende im Mai |13|1945, sind der Beweis dafür, dass es nicht zwangsläufig und selbstverständlich zu Exekutionen kommen musste.
Ich wollte erfahren, wie sich so etwas zutragen konnte und machte deshalb den Führer der Befreiungsfront im Lager und Politkommissar der ‚Raber Brigaden‘ (die militärische Einheit, die sich aus den ehemaligen Lagerinsassen zusammensetzte), Jože Jurančič, ausfindig, der damals verhindert hatte, dass auch nur ein einziger italienischer Carabiniere oder Soldat aus dem Lager Rab gelyncht oder getötet wurde. Ich besuchte ihn bei ihm zu Hause, doch über die Ereignisse auf Rab unterhielten wir uns nur etwa zehn Minuten. Jože Jurančič, damals Mitglied des jugoslawischen Bundesparlaments und stellvertretender Bildungsminister der Teilrepublik Slowenien, ging nämlich 1949 Zigaretten holen. Von diesem Einkauf kam er erst nach sechs Jahren zurück. Das erste Jahr musste er in einem Gefängnis in Ljubljana verbringen – unter fremden Namen, weil er als Bundesabgeordneter ja Immunität besessen hatte. Danach wurde er in die Strafanstalt Bileća und daraufhin nach Goli Otok gebracht. Er wurde eines Fluchtversuches über die Grenze bezichtigt. Auch seine vier Söhne aus erster Ehe gerieten nach Goli Otok. Seine Frau internierte man im Konzentrationslager auf der nahe gelegenen Insel Sveti Grgur – weil sie sich nicht von ihm scheiden lassen wollte.
Jože Jurančič vertraute mir so viele unglaubliche Geschehnisse aus seiner sechsjährigen ‚Abwesenheit‘ an, dass ich noch jahrelang die Frage mit mir herumtrug: Wie war das nur möglich? Etwa, dass man ihm in seiner Gefängniszelle, in der er unter fremden Namen eingesperrt war, über Lautsprecher die Radioübertragung von seinem eigenen Begräbnis – mit allen militärischen Ehren – vorspielte. Der Sarg mit seinen angeblichen sterblichen Überresten an der Spitze der Trauerprozession war mit einer jugoslawischen Flagge bedeckt – und auch mit all seinen Orden geschmückt. Neben der trauernden Familie folgte eine ganze Reihe ehemaliger Bekannter und Freunde der Prozession. Am offenen Grab sprach der Präsident der slowenischen Regierung Miha Marinko. 1953, als der Konflikt zwischen Jugoslawien und Italien wegen der Grenzziehung zwischen den beiden Staaten, insbesondere um die Stadt Triest, ausbrach, erinnerten sich die damaligen jugoslawischen Machthaber an das faschistische Konzentrationslager auf Rab und instrumentalisierten das Leid der damaligen Internierten für ihre antiitalienische Propaganda. Man schickte den bekannten |14|Architekten Edo Ravnikar nach Rab, der den Internierten, die für immer dort geblieben waren, ein Denkmal errichtete und zwar in Gestalt eines völlig neuen ‚Friedhofes‘. Er war so derart neu, dass auf Ravnikars Friedhof die sterblichen Überreste überhaupt nicht dort liegen, wo die Grabsteine stehen. Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass auch die Internierten auf Goli Otok, darunter auch Jože Jurančič, dieses Denkmal mit errichten mussten. Das bedeutet, dass er sich 1953 selbst ein Denkmal setzte.
Jože Jurančič und seine zweite Frau Olga Virens-Jurančič besuchte ich mehr als eine Woche lang, jeden Nachmittag für mehrere Stunden. Von Goli Otok wusste ich damals natürlich schon, da damals bereits viel darüber geschrieben wurde, aber das, was ich von den beiden hörte, erstaunte und erschütterte mich. Ihre Geschichte durfte ich damals aber nicht veröffentlichen, weil sie sich versprochen hatten – so haben sie es mir gesagt – nicht darüber zu sprechen. Heute weiß ich, dass sie noch immer in Angst lebten. Jahrelang fragte ich mich, wie sie meine Besuche gesehen und verstanden haben.
Auf eine ganz andere Dimension der Antiinformbüro-Repressionen traf ich im akademischen Jahr 1987/88, als ich mich für meine Postdoc-Studien an der London School of Economics aufhielt. In der dortigen Bibliothek fand ich zahlreiche Bücher des zu Fall gekommenen hohen jugoslawischen Parteifunktionärs Milovan Đilas, die in Jugoslawien verboten waren. Darin fand ich Antworten auf so manch eine Frage des Typs „Was Sie schon immer über … wissen wollten und nie fragen konnten“. Für meine weiteren Forschungen war wohl jene Angabe am wichtigsten, nach der die ‚Selbstverwaltung‘ zum ersten Mal auf Goli Otok benutzt und erprobt wurde. Also dass genau dort jenes Selbstverwaltungssystem experimentell erprobt wurde, das dann in Titos Jugoslawien herrschte.
Die Häftlinge sollten von all jenem abgeschnitten werden, was als normaler Bestandteil menschlichen Lebens galt. Zu diesem Zwecke mussten die Wohnräume extrem ungeeignet sein und wurden die Verpflegung und das mit Schiffen herbei gebrachte Wasser begrenzt. Die sozialistische Parole Der Arbeit Ehre und Macht wurde insofern erfüllt, indem nicht das Resultat wichtig war; denn Marmor konnte auf Goli Otok gar nicht abgebaut werden. Wichtig war nur die Arbeit selbst. Auch nicht schlimm, wenn die Internierten mit nackten Füßen auf den glühend heißen Felsen Steine von einem Haufen auf den nächsten |15|schleppen mussten: Hauptsache sie ‚arbeiteten‘. Anstatt dass man ihnen zum Steinklopfen Hämmer gegeben hätte, mussten sie das mit Steinen machen. Die Arbeit musste sinnlos sein, denn nur so konnte sie ein Instrument der Entmenschlichung bzw. – wie man das nannte – der ‚Umerziehung‘ sein. Auch die Wohnverhältnisse waren ebenso elendig. In die Baracken stopfte man so viele Menschen, dass ihnen dadurch auch jede noch so kleine Privatsphäre genommen wurde.
Wenn Menschen miteinander unter gleichzeitigem psychischen Druck von außen leben müssen, werden sie aggressiv, insbesondere gegenüber Schwächeren. Diesen Umstand nutzte das Lagersystem natürlich eifrig aus. In dieser Not gab es auch keinen, an den sich ein Opfer mit der Bitte um Hilfe hätte wenden können. Die Leidensgenossen waren nur eine zusätzliche Bedrohung. Denunziationen wurden von der Lagerverwaltung belohnt. Wenn man im Spalier einen anderen heftig verprügelte, bekam man Pluspunkte, machte man das mit zu wenig Eifer, wurde man in der Lagerhierarchie degradiert. Das Goli-Otok-System war in diesem Punkt eigentlich nicht besonders innovativ. Das beherrschten alle Lagerbehörden von Dachau bis Novosibirsk. Die ‚Erfolgsformel‘ ist letztendlich sehr simpel. In einen Kessel für hundert Leute gibt man nur Essen für achtzig. Das macht man Tag für Tag. Menschen, die hungrig bleiben, werden im Gegenüber auf kurz oder lang nur noch eine Bedrohung sehen. Einige Personen werden sich mehr Nahrung verschaffen, als ihnen zusteht und beginnen damit zu handeln. Und das Fundament für die Hölle ist gegossen.
Für die Mehrheit der Goliotočani war das Schlimmste daran, dass ihnen – Kommunisten – andere Kommunisten so etwas antaten. Genossen also. In den nationalsozialistischen Lagern konnte man sich trotz allem noch seine Anschauung, seine innere Überzeugung bewahren. Geschlagen wurde man ja schließlich von den Feinden. Auf Goli Otok gab es diesen Gegensatz nicht. Außerdem waren die meisten Internierten überhaupt keine überzeugten Stalinisten. Die Betroffenen fragten sich daher viel nach ihrer eigenen Schuld, danach, was sie denn falsch gemacht hatten, da sie nun von ihren eigenen Leuten geschlagen wurden. Viele wohlmeinende Kommunisten und Idealisten, die geglaubt hatten, dass es im neuen sozialistischen Jugoslawien mehr Gerechtigkeit geben würde, zerbrachen psychisch an diesem Dilemma. Eine große Belastung stellte auch der Umstand dar, dass mit der Ankunft ins Lager die ‚Ermittlung‘ gegen sie nicht |16|abgeschlossen war. Man musste seine Kameraden, im Lager und zu Hause, seine Angehörigen und sich selbst denunzieren.
Dieser Druck war so stark, dass am Höhepunkt all dessen die Geheimpolizei UDBA selbst einsah, dass das System nicht funktionierte, weil die Internierten übertrieben und sich ihre Anschuldigungen ausdachten. Zahlreiche Selbstanklagen waren geradezu lächerlich-lustig. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahr erzählte mir ein Offizier der jugoslawischen Volksarmee albanischer Nationalität, wie er unter Zwang in seinem Geständnis geschrieben hatte, dass er schon von der Wiege an – auf der das albanische Wappen gemalt gewesen wäre – Opfer des albanischen Nationalismus gewesen sei. Ich habe im Leben noch niemanden außer ihm getroffen, der sich an seine Wiege hätte erinnern können. Dieser Offizier aber ‚erinnerte‘ sich auch an den Nationalismus seiner Volksgenossen auf der Akademie: Alle wurden dann zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. An einem gewissen Punkt war allen, den ‚Ermittlern‘ und jenen, die die Geständnisse dann erhielten, klar, dass die Lagerinsassen lügen. Wenn alles, was die Internierten in ihren Geständnissen zu Papier brachten, wahr gewesen wäre, hätte man halb Jugoslawien einsperren müssen… Die erhaltenen Dokumente von Titos Geheimpolizei zeugen davon, dass man bereits 1951 in Belgrad wusste, dass sich die Internierten ihre Sünden ausdachten.
Die Lagerverwaltungen und die in den Lagern tätigen ‚Ermittler‘ mussten sich demnach die Hände gar nicht selbst schmutzig machen, all das erledigten die Internierten selbst. Jože Jurančič, dem es auf Rab gelungen war, zweitausend Menschen zusammenzubringen, konnte sich auf Goli Otok mit niemandem zusammentun. Derart fürchterlich zynisch und effektiv war dieses System.
Die verkehrte Welt von Goli Otok erreichte ihren paradoxen Höhepunkt, als Aleksandar Ranković – Marko, jugoslawischer Geheimdienst- und Polizeichef, Goli Otok einen Besuch abstattete, um sich persönlich von den Verhältnissen dort zu überzeugen. Während seines Besuches präsentierten und inszenierten ihm die Lagerbehörden eine stark beschönigte Version der tatsächlichen Verhältnisse; die Insassen skandierten sogar „Tito!“ und „Marko!“
Trotz dieser und ähnlicher Inszenierungen lautet meine Einschätzung, dass die Politspitze der Kommunistischen Partei gut wusste, was in den Lagern geschah und es geschehen ließ. Hätten die Lagerverwaltungen wirklich etwas getan, was der Parteiführung nicht recht war, wären sie doch sofort dafür abgestraft |17|worden. Vielleicht kannten Josip Broz und Aleksandar Ranković wirklich nicht jedes Detail, doch das System funktionierte genau so, wie es sich die Führungsspitze wünschte. Die Intensität der Repressionen veränderte sich auch ständig. Wenn Tito, Ranković und andere wollten, dass das System seine Gangart verschärfte, verschärfte es sich auch; wenn sie die Zügel etwas locker lassen wollten, wurde jemand versetzt, bestraft und so das gewünschte Resultat erzielt. Vielleicht hat Ranković wirklich nicht schwarz auf weiß diesen oder jenen Befehl erteilt; doch auf alle Fälle hat er die ‚Umerziehung‘ der Stalinisten „auf Biegen und Brechen“ befohlen.
Eines der verbindenden Elemente und Grundprinzipien der jugoslawischen Kommunisten war es, vor dem Klassenfeind nicht in die Knie zu gehen. Diesen Grundsatz demonstrierte Tito selbst, als er 1928 im Strafprozess vor dem Zagreber Gericht wegen seiner illegalen kommunistischen Agitation seine berühmten Worte sprach: „Ja ne priznajem ovaj sud“ [Ich erkenne dieses Gericht nicht an]. In der Partei wusste man demnach sehr gut, mit welchen Leuten man es zu tun hatte und dass sie sich gegenüber ihren Vernehmern wie gegenüber ‚Klassenfeinden‘ verhalten würden. Mutig und unbeirrbar. Den Internierten musste demnach um jeden Preis die Möglichkeit genommen werden, die Haft als Helden hinter sich zu bringen und ihr ‚wie ein wahrer Mann‘ gemäß den am Balkan herrschenden patriarchalen Männlichkeitsvorstellungen entgegenzutreten. Deshalb mussten sie körperlich und seelisch erniedrigt werden. In die Freiheit kamen sie demnach verängstigt, psychisch zerschlagen zurück und viele von ihnen hatten zuvor sehr hohe Positionen bekleidet. Für alle Fälle aber mied man sie lieber: Freunde verschwanden von der Bildfläche, ihre Frauen verließen sie, vielfach auf Befehl der Partei hin. So derart vereinsamte, gebrochene Menschen wirkten wie ein lebendes Mahnmal dafür, was mit einem geschieht, wenn man von der ‚richtigen Linie‘ abweicht.
Meine Geschichte über die ‚Umerziehung‘ auf Goli Otok und die anderen Informbüro-Lager schrieb ich im Wesentlichen auf Grundlage persönlicher Erinnerungen. Amtliche Dokumente sind bis heute nicht zugänglich. Erinnerungen verändern sich mit der Zeit und passen sich dem Zeitgeist an. Es kann geschehen, dass jemand irgendwo etwas liest und sich daraufhin daran erinnert, als wäre es ihm selbst passiert. Einmal traf ich eine Gruppe von etwa dreißig oder vierzig slowenischen ehemaligen Goli-Otok-Internierten. Interessant |18|war, dass sich alle daran erinnerten, wie sie von anderen Mithäftlingen verprügelt worden waren; niemand aber erinnerte sich daran, selbst so etwas gemacht zu haben… Manchmal kann man das Verhalten jener, die sehr laut die UDBA verschiedener Verbrechen beschuldigen, auch als Versuch lesen, mit dem eigenen Verhalten abzurechnen. Manchmal können Opfer sich einfach nicht mit ihren eigenen Taten aussöhnen, auch wenn sie zu diesen gezwungen worden sind. Es darf aber trotz allem niemals vergessen werden, dass die Opfer Opfer waren. Und dass für ihre Handlungen in erster Linie jene verantwortlich zu halten sind, die sie dazu gezwungen hatten. Es ist bedauerlich, dass niemand der Verantwortlichen dafür jemals gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurde. Der General der Geheimpolizei Jovo Kapidžić (1919-2013), einer der hauptverantwortlichen Ausführenden der Antiinformbüro-Repressionen, führte als Besitzer beliebter Kaffeehäuser in Belgrad bis zu seinem Tod ein unbehelligtes Leben und beschuldigte in seinen öffentlichen Auftritten sogar zynisch die ehemaligen Insassen, was für schlechte Menschen sie doch gewesen seien und wie unmenschlich sie einander behandelt hätten.
Heute distanzieren sich alle aus dem zerfallenen Jugoslawien hervorgegangenen Staaten von Goli Otok. So als hätten wir nichts mehr mit Jugoslawien zu schaffen. Doch das haben wir. Wir könnten und sollten mehr darüber sprechen, auch über unsere gemeinsame Geschichte und unsere Mitverantwortung dafür. Das Goli-Otok-Regime setzte sich aus unseren Vorfahren zusammen, sei es, dass sie UDBA-Agenten, sei es, dass sie Insassen waren. Wir sind die Erben ihrer Kultur, im Guten wie im Schlechten. Wenn wir das negieren, verhalten wir uns so, wie es die Österreicher lange gegenüber dem Nationalsozialismus getan haben – so als wäre das nicht unser Problem. Dann sieht man die eigenen Fehler auch viel schwieriger ein. Wenn wir sie aber nicht einsehen, können wir sie auch nur schwer wieder gutmachen.
|20|VORWORT – DIE MORFOLOGIE VON GOLI OTOK1
von Adam Michnik
Das Bild, das man sich von Jugoslawien vor 1989 in Polen machte, war sehr unvollständig und trügerisch. Man wusste, dass es ein Land war, in dem die Kommunisten regieren, aber irgendwie anders, weil es von der Sowjetunion unabhängig und kein Mitglied des Warschauer Paktes war. Man wusste etwas über den relativen Liberalismus in Kultur und Wissenschaft, obwohl man von der Gefängnisstrafe gehört hatte, die über Milovan Đilas wegen der Veröffentlichung des Buches über die „Neue Klasse“ verhängt worden war. Man hörte auch, dass es dort erlaubt war, Stalin, nicht aber Tito zu kritisieren; hörte etwas über die Idee der Selbstverwaltung und der Offenheit gegenüber dem Westen. Kurzum: Wir wussten nicht viel. Vielleicht waren gerade deshalb der Zerfall Jugoslawiens und die mehrjährigen Kriege ein so großer Schock.
Das vorliegende Buch des slowenischen Anthropologen, Soziologen und Kulturhistorikers Božidar Jezernik schockiert uns auf andere Weise. Es erzählt von der Grausamkeit des antistalinistischen Stalinismus.
1948 geschah wegen der Politik Jugoslawiens etwas, wofür es noch keinen Präzedenzfall gab: Tito und andere Führungspersönlichkeiten der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) versagten Stalin den Gehorsam und fügten |21|sich nicht der Resolution des Informationsbüros (des sogenannten Kominform, des Informationsbüros der Kommunistischen Parteien).
Es kam zu einem offenen Konflikt, der zum Abbruch der Kontakte zwischen Moskau (und seinen Satellitenstaaten) und Belgrad führte. Im November 1949 verkündete Moskau, dass „sich die Führung der KPJ wegen des Terrors der Tito-Clique gegen die gesunden Kräfte in der KPJ nun in der Gewalt von Spionen und Mördern“ befände.
Das war der erste – zwischenstaatliche – Konflikt innerhalb der kommunistischen Bewegung. „Die gesunden Kräfte“ der KPJ wurden zum Sturz der Regierung dieser „Clique von Spionen und Mördern“ aufgerufen.
„Die Tito-Clique“ antwortete mit den Worten ihres Chefs im Jahr 1952. Am VI. Parteitag der KPJ warf Tito Stalin (ich zitiere aus dem wertvollen Werk Komunizm, federacja, nacjonalizmy. System władzy w Jugosławii 1943–1991 von Michał Jerzy Zacharias) die völlige Abkehr von den Grundwerten des Marxismus-Leninismus und „imperialistische und kontrarevolutionäre“ Agitation vor. Er behauptete, in der UdSSR habe sich „eine allmächtige Bürokratenkaste entwickelt, die sich durch Leiharbeit bereichert und sich auf diese Weise in einen Ausbeuter verwandelt“ habe. „Stalin ersetzte eine Art der Ausbeutung mit einer anderen, mit der bürokratischen und staatlich-kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiter. […] Millionen Sowjetbürger sterben in Todeslagern an der Zwangsarbeit.“ Staatsbürger nichtrussischer Völker hätten keinerlei Rechte. Sie würden „in die sibirische Taiga geschickt und dort vernichtet“. Stalin habe in den 1930er-Jahren die bolschewistischen Partei- und Armeekader ermordet. Jetzt ermorde er die Kader in den Ländern Mitteleuropas. „Was ist heutzutage eine Partei in der UdSSR? Ein gewöhnlicher Anhang des NKWD2, ein bürokratischer Apparat für die Unterwerfung und die Unterjochung der Völker, nicht nur jener innerhalb der UdSSR, sondern auch für jene jenseits der Grenzen.“ Die nichtrussischen Völker hatten einst ihre eigenen Staaten, „heute sind diese vollkommen vom Antlitz der Erde gefegt, und das auf so grausame Art, dass sich Hitler noch etwas hätte abschauen können“. Der großrussische Chauvinismus habe den Internationalismus verdrängt. Die UdSSR sei zu einem typisch |22|imperialistischen Land geworden. Das sei auch der Sinn der vollkommen aggressiven, hegemonistischen Politik Stalins gegen Jugoslawien. So – antistalinistisch – war das Antlitz des Tito-Regimes. Doch dies war nur die eine Seite der Medaille.
Auf die Drohung vonseiten Moskaus reagierte das Tito-Regime mit einer enormen Repressionswelle gegen seine Gegner in den Reihen der KPJ, die auf Stalins Seite gewechselt hatten. Davon gab es nicht wenige, die Repressionskampagne betraf alle, die in den Augen der Machthaber unzuverlässig waren. „Die Ereignisse in Jugoslawien nach 1948“, schreibt Jezernik, „erinnern in großen Teilen an die Entwicklung der Geschehnisse in Deutschland in den 1930er- Jahren. Die repressiven Behörden, insbesondere die Geheimpolizei, durchzogen die Gesellschaft, auf dem gesamten Staatsgebiet entstanden Gefängnisse. Agenten waren an der Regierung.
Den Namen der Geheimpolizei sprach man nur flüsternd aus. Im Namen der Landesverteidigung drang die Geheimpolizei in die persönlichen Angelegenheiten aller Bürger ein, gegen die man nur den kleinsten Verdacht hegte, dass sie eine kritische Haltung zur Politik haben könnten.“
Angst regierte in Jugoslawien. In diesem Klima entstand das Konzentrationslager auf der Adriainsel Goli Otok. Von diesem Lager und den damaligen Sträflingen erzählt diese erschütternde Geschichte von Božidar Jezernik. Der kühlsachliche Erzählton des Wissenschaftlers steigert das Entsetzen während der Lektüre. Dieses Buch ist eine äußerst geeignete Ergänzung zu den Hauptvertretern der sogenannten „Lagerliteratur“: Alexander Solschenizyn („Der Archipel Gulag“), Warlam Schalamow („Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma“), Tadeusz Borowski („Bei uns in Auschwitz“), Gustaw Herling-Grudziński („Welt ohne Erbarmen“), Imre Kertész („Roman eines Schicksallosen“), Primo Levi („Ist das ein Mensch?“) und Viktor Frankl („… trotzdem Ja zum Leben sagen“).
Dennoch ist es ebenso ein Portrait des Kommunismus im Kleinen; des Kommunismus der Stalinjahre, die noch immer so wenig im kollektiven Gedächtnis präsent sind.
Milovan Đilas – einer der damaligen Führer der KPJ und späterer mutiger Kritiker und Gefangener des Tito-Regimes – beschrieb viele Jahre später Goli |23|Otok als „dunkelste und schändlichste Seite des jugoslawischen Kommunismus. Sogar böser und furchtbarer als der Kommunismus selbst.“
Noch zwei weitere Ansichten: Edvard Kardelj, eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten in der KPJ und engster Mitarbeiter Titos, schrieb: „Wir waren im Umgang mit den Agenten des Kominform in Jugoslawien brutal, aber wir konnten nicht anders handeln, weil wir ansonsten Stalin geradewegs Tür und Tor geöffnet hätten.“
Der Tito-Vertraute und Tito-Biograf Vladimir Dedijer behauptete: „Wenn wir nicht ein solches Lager geschaffen hätten, hätte Stalin ganz Jugoslawien in ein einziges großes Lager verwandelt.“
Angesichts solcher Aussagen ist der Leser hilflos. Sind also grausames Leiden, das Treten der Menschenwürde und das Brechen von Wesen dringende und zulässige Methoden für die Abwehr einer Bedrohung für den Staat? Solche Fragen beginnen sich bei der Lektüre dieses Buches in aller Brutalität zu stellen … Das Thema Goli Otok fällt unter die verleugneten und verbotenen Themen. Erst nach Titos Tod 1980 begann man, laut darüber zu sprechen. Danach fand sich das Thema erneut im Abseits – nationalistische Emotionen hatten es an die Seite geschoben. Gut also, dass Jezernik heute der interessierten Leserschaft eine Erzählung – verfasst mit der kühlen Präzision eines Chirurgen – über diese grausame Insel anbietet.
1 Dieses Vorwort erschien im Januar 2013 unter dem Titel Morfologia Nagiej Wyspy in der polnischen Ausgabe dieses Buches Naga Wyspa. Gułag Tity bei Verlag Czarne.
2Narodny kommissariat wnutrennich del, dt. Volkskommissariat für innere Angelegenheiten [das Innenministerium der UdSSR]
|25|STALIN RAUF, STALIN RUNTER
Ein englischer Berichterstatter begann sein Buch über Titos Jugoslawien einst mit einem Witz über eine unbekannte Person, über den in diesen Zeiten alle Jugoslawen gelacht haben sollen. Kurz nach Kriegsende nämlich schrie einer „Nieder mit Stalin!“ und wurde dafür lange Jahre eingesperrt. Als er die Strafe abgesessen hatte, war er entschlossen, denselben Fehler nicht noch einmal zu begehen. So rief er „Es lebe Stalin“, und wurde sofort wieder für die nächsten vier Jahre eingesperrt. (Newman 1952: 11)
Die Nachkriegsgeneration lernte später dann die Fortsetzung dieses Witzes kennen. Der Pechvogel sehnte sich ob der kargen Gefängniskost die ganze Zeit danach, einmal etwas Süßes naschen zu können. Und als er das zweite Mal aus dem Gefängnis kam, führte ihn sein erster Weg deshalb schnurstracks in eine Konditorei, wo er sich Baklava bestellte. Als ihn der Kellner fragte, ob er griechisches oder türkisches Baklava wünsche, überlegte er es sich erschrocken anders und bestellte gar nichts; für alle Fälle, um nicht wieder etwas falsch zu machen.
Die kollektive Erinnerung an ein historisches Geschehen, die sich in der mündlichen Überlieferung hält, ist selbstverständlich keine Geschichtsschreibung, denn dies ist eine Tätigkeit, die die Niederschreibung einer Geschichte voraussetzt. Wegen Rationalisierungs- bzw. Assimilationsprozessen, d.h. wegen der Verknüpfung neuer Situationen mit bereits zuvor bestätigten Erfahrungsschemata, hält sich in einer mündlichen Überlieferung nur ein allgemeines, emotional orientiertes Schema; aus diesem Narrativ werden unbedeutende und unwichtige Details ausgeschieden. Während dieses Prozesses kommt es zu bedeutenden Veränderungen des ‚sinnvollen‘ und ‚sinnlosen‘ Materials. Bestimmte Epochen, bestimmte soziale Gruppen, diverse Individuen sehen nämlich |26|einzelne Teile oder die ganze Geschichte durch ihre Brille und fokussieren deshalb ihre Aufmerksamkeit auf Punkte, die ihren Nachfolgern wiederum unbedeutend erscheinen können. Inhaltseinheiten, die die einzelnen Reproduzenten nicht in ihre Erinnerungsschemata einfügen können, fallen aus dieser Nacherzählung heraus oder werden verfälscht. Doch die Verkürzung einer Geschichte betrifft nie ihre ‚wichtigen‘ Bestandteile; das sind ‚Tatsachen‘, die die Erwartungen und die Standpunkte der einzelnen Reproduzenten bestätigen und ihnen damit helfen, ihr Narrativ zu erstellen. Das Leben einer bestimmten Geschichte in der mündlichen Überlieferung ist demnach ein Prozess einer ständigen Wertbestimmung; in den Geschichten selbst spiegeln sich ideologische, politische, ethnische und andere Konzeptionen wider, im Lichte derer interpretiert und bewertet wird, was noch aktuell und was schon Vergangenheit ist, was wichtig und was nicht mehr wichtig ist (Jezernik 1979: 239).
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