Tod auf der Piste - Nicola Förg - E-Book
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Tod auf der Piste E-Book

Nicola Förg

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Beschreibung

Die Garmischer Kommissarin Irmi Mangold, die gerne mit der Motorsäge ins Holz fährt und auch mal im Stall ihres Bruders mithilft, und ihre junge Kollegin Kathi Reindl, allein erziehende Mutter mit chronisch schlechtem Gewissen, haben diesmal eine besonders harte Nuss zu knacken. Kurz vor Ende der Skisaison – im Tal ist längst Frühjahr – wird auf der Kandaharpiste ein Toter gefunden, ermordet per Kopfschuss. Das Merkwürdige daran: Der Mann trägt ein altmodisches Skioutfit mit einer WM-Startnummer von 1978. Weshalb musste er sterben? Und was hat es nur mit der seltsamen Montur auf sich? Ausgerechnet beim Dirndlkauf stößt Irmi auf eine heiße Spur …  Der Auftakt zu einer neuen Krimiserie der Bestsellerautorin Nicola Förg!

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www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

10. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95948-3

© 2009 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

Catherine Ledner / Getty Images, BY / plainpicture, Igor Stevanovic / iStockphoto

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Tradition ist die Weitergabe des Feuers,nicht die Anbetung der Asche. GUSTAV MAHLER

Prolog

Langsam lief sie rot an. Das Gebrüll hörte man wahrscheinlich noch in Lermoos. Sie schnappte nach Luft, und fast schien es, als würde sie hyperventilieren. Man muss ihr eine Tüte über den Kopf ziehen, fiel Kathi spontan ein. Aber man zog seiner eigenen Tochter nun mal keine Tüte über den Kopf, auch nicht wenn sie gerade mal wieder eine ihrer legendären Trotzattacken auslebte. Heute ging es um eine Übernachtung in einem Stadel am Waldrand.

»Alle dürfen!«, schrie Sophia.

»Du aber nicht!«, brüllte Kathi zurück.

»Du bist so blöd, du bist die blödeste Mutter auf der Welt«, kreischte das Mädchen.

»Du bist blöd, an so was überhaupt zu denken. Du bist acht Jahre alt, du hast morgen Schule, es ist April und hat nachts Minusgrade. Keine vernünftige Mutter erlaubt so was.« Kathi war auf hundertachtzig, denn Sophia war ein richtiger Sturschädel.

»Du bist eh keine vernünftige Mutter. Du bist ja nie da!« Sophia stampfte auf wie Rumpelstilzchen.

Grete, Kathis Mutter, kam langsam auf sie zu. »Sie beruhigt sich schon wieder, du darfst dich nicht so provozieren lassen.«

»Danke, die Superoma hat gesprochen.« Schon in dem Moment, als der Satz vollendet war, wusste Kathi, dass sie besser erst denken und dann hätte reden sollen. Grete setzte nämlich sofort diesen waidwunden Geprügelte-missverstandene-Mama-Blick auf, diesen Ich-tu-doch-so-viel-für-dich-Blick.

Und es stimmte ja leider auch: Grete tat viel für sie. Ohne Grete hätte Kathi ihrem Job nicht nachgehen können. Ohne Grete hätte Sophia kein Zuhause mit Mittagessen und Hausaufgabenhilfe, mit einem riesigen Kinderzimmer in einem ehemaligen Außerferner Bauernhaus. Ohne Grete, die ab und zu in der Krone bediente, wäre Sophia nicht das Maskottchen der Wirtschaft, das beim Kuchenbacken helfen durfte. Ohne Grete, die ein aktives Mitglied im Skiclub war, wäre Sophia nicht dauernd in Bichlbach auf der Piste. Ohne Grete, die wahrscheinlich demnächst die goldene Außerfernbahn-Fahrgast-Medaille bekommen würde, hätte es keine ständigen Ausflüge nach Reutte gegeben, keine Ritterfeste auf Burg Ehrenfels. Ohne Grete hätte Sophia keine so kunterbunte Kindheit.

Doch noch ehe Kathi etwas zurechtrücken konnte, intonierte ihr Handy einen Song von The Rasmus. Sie meldete sich mit »Hier Kathi Reindl«, lauschte mit zunehmender Verwunderung und sagte dann: »Ja, ich komme so schnell es geht. Ruft ihr Irmi an?«

Grete schenkte ihr einen fragenden Blick.

»Ich muss weg«, erklärte Kathi. »Die Sacher müsst ihr allein essen.«

»Siehst du!«, kam es von hinter ihr. »Du bist nie da!«

»Ach, Madel«, sagte Kathi und machte eine linkische Bewegung in Richtung ihrer Tochter. Aber die hatte längst dem Terriermischling gepfiffen und rannte davon. Kathis Blick blieb an den Überresten eines zusammengeschmolzenen Schneemanns hängen. Sie war wütend. Der Tag war definitiv im Eimer.

Kathi Reindl startete ihren Panda mit Allradantrieb, denn Frau Holle konnte hier am Tiroler Zugspitzplateau manchmal ganz schön Schnee ausschütteln. Wie oft war sie die Strecke nach Garmisch wohl gefahren? Durch Lermoos, am Golfplatz entlang, durch die Unterführung, an der spacigen Tankstelle im Nowhere-Land vorbei, runter ins Schattenloch Griesen. Jedenfalls so oft, dass sie bei jeder Kurve wusste, mit welcher maximalen Geschwindigkeit man diese gerade noch nehmen konnte.

Der Ast schnalzte zurück und peitschte regelrecht ihre Schulter. Das war knapp gewesen. Hätte sozusagen ins Auge gehen können. Irmi Mangold stellte die Stihl ab und musste grinsen. Das war ihr kleines persönliches Revoluzzertum: Sie hatte wieder mal keine Schnittschutzhose an und keine Schutzbrille. Nur den Helm mit den Schallschutzhasenohren, die eh nicht richtig die Ohren umschlossen, weil die Bügel schon so verorgelt waren. Bernhard, ihr Bruder, ermahnte sie beständig, nicht allein ins Holz zu gehen, und wenn, dann in vernünftiger Schutzkleidung. Er hatte natürlich recht, aber bisher war es immer gut gegangen. Wie gerade eben auch. Und das löste in ihr eine gewisse diebische Freude aus.

Sie warf den Rest der Dachsenprügel auf den Anhänger und startete den alten Deutz. Der holperte und röhrte so laut los, dass sie den Anruf nur durch die Vibration des Handys in ihrer Cargo-Jeans spürte.

»Was? Ich versteh nix. Moment, ich stell den Bulldog ab!«

Irmi hörte eine Weile zu. »Na, so schnell wird das nicht gehen«, sagte sie schließlich und zog die Stirn kraus. »Ich bin im Holz. Halb in Grafenaschau drüben.« Sie hielt das Handy etwas vom Ohr weg, denn der Anrufer brüllte regelrecht hinein.

»Habt ihr Kathi angerufen?«, erkundigte sie sich. Himmel, war der laut am anderen Ende. »Was? Ach so, die ist in Lähn. Sie kommt aber?«

Der Anrufer hatte sich anscheinend etwas beruhigt.

»Ja, ich komm auch, so schnell es halt geht«, versprach sie und beendete das Gespräch.

Auf das, was sie da eben gehört hatte, konnte sie sich keinen Reim machen. Diesen Sonntag hatte sie sich definitiv anders vorgestellt. Sie hätte zu Hause die Dachsenprügel geschnitten und an der Sonnenseite des Hauses aufgeschichtet. Sie liebte Holz, sie hätte stundenlang Holz aufschichten können, obwohl ihr das Kreuzschmerzen und Schwielen an den Fingern einbrachte, denn Irmi zog nie Arbeitshandschuhe an.

Anstatt ihre Arbeit zu Ende zu bringen, stellte sie Bulldog und Hänger im Hof ab und tauschte das Fleecehemd gegen eine gefütterte Cordjacke, die sie nachlässig auf das Hausbankerl gepfeffert hatte. Die Jacke hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber sie wollte ja auf keine Schönheitskonkurrenz.

Sie startete ihr altes Audi Cabrio, auch das eine Art Revoluzzertum: ein Cabrio zu fahren, wenn man auf gar keinen Fall schicke Sonnenbrillentussi war. Wobei eine Sonnenbrille jetzt nicht schlecht gewesen wäre. Irmi blinzelte ins gleißende Licht, als sie auf die Bundesstraße bei Eschenlohe abbog.

1

Brauner Dreck verschmutzte den Parkplatz. Überall rannen kleine Bäche Schmelzwasser dahin, die sich einen Weg zwischen Rollsplitt und letzten Resten von verpapptem Altschnee bahnten. Es war warm, fast schon heiß, in der Sonne hatte es sicher gute fünfzehn Grad, und die Skifahrer, die mit halb offenen Skistiefeln und um den Bauch gewundenen Anoraks unter der Last ihrer Skier schwitzten, wirkten erbärmlich auf Irmi. Was sollte dabei der Spaß sein?, fragte sie sich. Zwei langhaarige Kerle schlenderten oben ohne auf einen VW-Bus zu, mit Skiern so breit wie Schalbretter und so bunt wie Bollywood-Kino.

Das war definitiv nicht ihre Welt. Irmi war als Kind mal ein bisschen Ski gefahren, aber da hatten die Skier anders ausgesehen, die Bindungen mit Drahtzug waren echte Knochenkiller gewesen, und prompt hatte sie sich auch den Unterschenkel gebrochen. Ski wurde dann nicht mehr gefahren, es war kein Geld da gewesen und keine Zeit, und so richtig traurig war Irmi auch nicht gewesen. Schule, Landwirtschaft, Musikkapelle, Schützenverein – sie hatte das Skifahren nie vermisst.

Nur auf die blöden Sprüche in der Ausbildung hätte sie verzichten können: Was? Alle Bayern fahren doch Ski! Klar, so wie sie unentwegt Lederhosen tragen und Dirndl. Irmi hatte seit ungefähr fünf Jahren kein Dirndl mehr getragen – was aber auch daran liegen mochte, dass sie denen aus ihrer Jugend um gut drei Kleidergrößen entwachsen war.

Ein Problem, das ihre Kollegin Kathi ganz sicher nicht kannte. Kathi war schlank, fast schon zu schlank. Ihre Cargo-Hüfthose hing lässig auf den Knochen, der Ansatz des Stringtanga war zu sehen, ein Teil vom Arschgeweih auch. Sie hatte wie so oft ihre langen brünetten Haare nachlässig am Hinterkopf verzwirbelt, was ihre hohe Stirn freigab, die natürlich völlig faltenlos war. Kathi wirkte ein kleines bisschen freakig, sah immer ein paar Jahre jünger aus als die achtundzwanzig, die sie nun mal war. Kathi konnte natürlich Ski fahren, Dirndl trug sie hingegen auch nie. »Wenn sich im dritten Jahrtausend Frauen freiwillig Schürzen umbinden, ist das ja wohl krank«, pflegte sie zu sagen. Solche Sätze machten Irmi immer sprachlos.

»Servus«, meinte Kathi und kam auf Irmi zugeschlendert, während sie noch schnell ihre Selbstgedrehte in einer Pfütze austrat. »Hast du kapiert, was hier eigentlich los ist?«

»Nicht wirklich. Ein Geist aus den späten Siebzigern, der irgendwo rumliegt? Christian Neureuther hat zum Kostümball aufgerufen? Aber da ist ja schon der Kollege Sailer, und der redet jetzt mal langsam und verständlich, damit wir Mädels auch kapieren, um was es geht. Gell, Sailer?« Irmi sah ihn aufmunternd an.

Sailer war nämlich einer, der jeden Satz bedächtig begann, dann immer schneller wurde und das Satzende in einer seltsamen Schnappatmung verschluckte wie ein Goldfisch auf dem Trockenen.

Sailer gab sich alle Mühe, und so erzählte der erregte Goldfisch dann von einem Toten, der »derschossn« mitten auf der Piste liege. Namentlich auf der Kandahar, und der Mann habe einen altmodischen Skidress an, eine Startnummer umgebunden, und seine Skier seien auch museal.

»Des san koane Carver«, beschloss er seinen Bericht.

»Aha«, meinte Irmi. »Sonst noch was?«

»Ja!« Das kam wie eine Gewehrsalve. Sailer strahlte. »I kenn den.«

»Ach!«

»Ja.«

»Und, Herr Sailer?«

»Das ist der Ernstl.«

»Ernstl und wie weiter?« Irmi gab sich alle Mühe, dem Kollegen nicht an die Gurgel zu gehen.

»Ja, der Ernst, der Schuilehrer.«

»Sehr schön. Der Ernst. Und weiter?«

»Na, der Schuilehrer in Ettal.«

»Lieber Herr Sailer. Wie heißt denn der Schullehrer in Ettal mit Nachnamen? Maier oder Huber oder Petersen?«

»Petersen hoaßt ma bei uns ned!«

»Nein, es sei denn, man ist ein Tourist aus Norddeutschland. Herrgott, Sailer, wie heißt der Mann?«

»Ach so, ja, der schreibt sich Buchwieser.«

»Danke, Herr Sailer.« Irmi atmete tief durch. Sie blickte bergwärts. »Und wie kommen wir da jetzt hin?«

Sailer wies auf zwei Skidoo-Schneeschlitten, auf denen je ein Bergwachtler lümmelte.

»Damit?« Irmi beäugte die Gefährte kritisch. Der ganze Tag hatte schon schlecht begonnen. Aber es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig.

Sie saß auf, und Kathi bestieg das andere Höllending. Die beiden Jungs schienen das Ganze wohl als Rennen missverstanden zu haben, außerdem hatte Irmi den Eindruck, dass der eine unbedingt seine Beifahrerin Kathi beeindrucken wollte. Mit sich aufbäumender Front schossen die Skidoos davon. Rums, das war die Bandscheibe.

»So pressiert es auch wieder nicht. Der ist schon tot«, brüllte Irmi ihrem Fahrer zu. Er drosselte das Tempo etwas, und einige weite Waldschleifen später erreichten sie einen kleinen Menschenauflauf. Die Piste war abgesperrt, zwei Bergwachtler mit Walkies hielten eine Skifahrermeute in Schach. Schlingernd kamen die Skidoos zum Stehen.

Die Piste war vereist wie ein Eisstadion, Irmi hätte sich fast hingelegt. Von einem jungen Typen in Basti-Schweinsteiger-Blond an der Absperrung kam der Ruf: »Zwoa Bulletten, jetzt geht’s auf!«

Schnell wie eine Raubkatze war Kathi bei ihm. »Pass auf, Bürscherl! Obacht geben – länger leben. Noch so ’n Spruch – Kieferbruch!« Ihre braunen Augen funkelten, und der Typ machte einen Schritt rückwärts.

Die beiden Frauen traten näher. Oberhalb und unterhalb des Mannes hatte jemand Ski über Kreuz in den Schnee gesteckt, Absicherung einer Unfallstelle. Bloß sah das hier nicht wie ein Unfall aus. Eher wie eine Hinrichtung. Der Mann lag in einer seltsam verdrehten Haltung da, über seiner Schläfe befand sich ein Einschussloch. Blut hatte den umliegenden Schnee getränkt. Sein Gesicht war nicht vollständig zu erkennen, aber es war offensichtlich, dass er seitlich von hinten erschossen worden war.

Er lag nicht weit vom Waldrand entfernt. Irmis Blick glitt an den Bäumen entlang, dann zückte sie ihr Handy. Ihre Anweisungen an die Spurensicherung waren klar und präzise. »Nehmt euch am besten Steigeisen mit«, empfahl sie, ehe sie das Gespräch beendete. »Es ist hier überall arschglatt.«

Ihr Blick ging zurück zum Toten. Dann zu einem der Bergwachtler.

»Habt ihr ’nen Arzt informiert?«, erkundigte sie sich.

»Na, der is maushi. Was soll da ein Doktor?«

Das war wohl wahr, aber den Tod musste dennoch einer feststellen. Sie zog erneut ihr Handy raus. »Der ist zwar mausetot, aber den Doc könnt ihr trotzdem mitbringen.«

Unmerklich schüttelte sie den Kopf, während sie den Toten fixierte. Ihr Blick kreuzte den von Kathi.

»Das sieht echt aus wie ein Kostümfest, oder?«, sagte die.

Ernst Buchwieser trug einen seltsamen Dress und hatte eine Startnummer um, die Zahl siebzehn. Darunter befand sich der Aufdruck Ski-WM 1978. 1978 – da war Irmi zwanzig gewesen und Kathi noch nicht mal auf der Welt. Damals war Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen gewesen, aber weil Skifahren in ihrer Familie kein Thema war, fehlte Irmi jede Erinnerung.

»Warum erschießt hier einer ein skifahrendes Gespenst aus der Vergangenheit, und das an einem Sonntag mitten auf der Piste? Was ist das denn für ein Krampf!«, rief Kathi und sah richtig wütend aus.

Ja, warum? In dieser Gegend wurden eher selten Leute erschossen, vielleicht mal aus Versehen, weil ein kurzsichtiger oder besoffener Jäger einen anderen mit einem Hirsch verwechselt hatte. Aber Jäger trugen Bundhosen und Jägergrün, kein Ski-Outfit aus Omas Sportmottenkiste.

»Wer hat ihn denn gefunden?«, fragte Irmi den Bergwachtler.

»Der da.« Der Mann wies auf die Schweinsteiger-Kopie.

»Na dann!«, rief Kathi, und das klang wie ein Schlachtruf. »Den hol ich mir!«

Irmi ließ sie gewähren. Kathi war eine aufbrausende Natur, aber in dem Fall konnte es ja nicht schaden, dass jemand das Jüngelchen mal etwas ausbremste.

»Name?«

»Sebastian Rauh.«

»Von wo?«

»Mittenwoid.«

»Um Gotts Wuin, a Mittenwoider, na dann wundert mi nix mehr. Eich druckt doch das Karwendel schwer aufs Hirn, oder«, sagte Kathi und machte ein unschuldiges Gesicht. Außerdem war da dieses »oder«. Es ist eine Schweizerische und auch Außerferner Eigenheit, immer ein »oder« an das Ende eines Satzes zu hängen. Er war zum Niederknien, dieser Dialekt, den Kathi draufhatte. Aber Kathi war leider eine Frau, einem Mann mit diesem Dialekt hätte Irmi alles zu Füßen gelegt.

Dann rief sie sich zur Räson, sie hatte sich auf den Toten zu konzentrieren und auf Kathi. Irmi warf ihrer Kollegin nun doch einen warnenden Blick zu, für so was konnte der Typ eine Beleidigungsklage anleiern. Tat er aber nicht, es schien eher so, dass die streitbare Kathi ihn beeindruckte, zumal sie mal wieder ihr Haar gelöst hatte und die Mähne samt dem »oder« in dem Fall auch die gewünschte Wirkung erzielte.

»Und du bist des gleiche Mistviech wie früher. Du bist ja eh a halbe Tirolerin. Du bist doch die Reindl Kathi, oder? Du warst mit meim Bruader in der Schui«, sagte der Typ.

Kathi überlegte kurz. »Du bist der kloane Bruader vom Rauh Markus, oder?«

Irmi wandte sich ab, während die beiden ihre Jugenderinnerungen auffrischten. Sie beschloss, die Zeit zu nutzen und den Kollegen in Weilheim Bescheid zu geben. Genau genommen war die Station in Garmisch-Partenkirchen der Kriminalpolizeilichen Inspektion in Weilheim unterstellt.

Der Kollege in Weilheim hörte aufmerksam zu: »Das klingt ja alles sehr mysteriös. Mädels, wenn ihr zusätzliches Personal benötigt, weil eine Soko gebildet werden muss, dann meldet euch, ja? Ich hoffe aber, ehrlich gesagt, ihr schafft das allein. Wir sind personell total unterbesetzt.«

»Schaun mer mal«, meinte Irmi.

»Ja, schaut mal. Bei euch da unten im wilden Werdenfels kommt ihr sicher besser zurecht als wir. Der Werdenfelser… Ich weiß ja nicht.« Er lachte. »Alles Gute!«

»Danke.« Irmi ärgerte sich, aber nur ein bisschen. Immer diese ironischen Bemerkungen über ihre Landsmannschaft von den Flachländern da draußen in Weilheim. Die hatten ja nicht mal richtigen Schnee im Winter!

Sie betrachtete erneut den Toten, der dalag wie eine dieser Figuren im Künstlerbedarf, deren Holzgelenke man in alle Richtungen drehen konnte. Als Sailer vorher den Namen Ernst Buchwieser erwähnt hatte, da hatte sie nicht schnell genug geschaltet. Aber jetzt wurde ihr bewusst, dass sie durchaus wusste, wer er war. Jeder zwischen hier und München kannte wahrscheinlich seinen Namen, sofern er den Merkur, die Süddeutsche oder auch nur den Kreisboten konsumierte. Ernst Buchwieser, der Mann, der einfach alles tat, um die Ski-WM 2011 zu torpedieren und Sand ins Getriebe zu streuen. Was hieß da streuen? Das waren schon eher Wanderdünen, die Buchwieser in Gang gesetzt hatte.

Seine Aktionen hatten die Zeitungen gefüllt. Vor allem seine letzte Attacke: In einer Nacht- und Nebelaktion hatte er die ganzen Säulen am Eingang zum Landkreis, die die WM-Werbung trugen, umgestürzt. Natürlich nicht allein, nicht von Hand. Nein, er hatte einige Schüler verführt, ihm zu helfen. Schüler, die sich Papas Bulldog ausgeliehen hatten. Ein ländliches Geschwader war das gewesen – gerüstet mit Fendt, Claas und Deutz Power. Das hatte ihm die Schule übelgenommen, und einige der Väter auch. An den großen Artikel erinnerte sich Irmi nur zu gut, das war erst vor einigen Tagen gewesen.

Kathi kam zurück. »Das ist ja ein Ding, das war der Bruder von einem Kumpel von mir.«

»Hab ich angesichts eurer Dialektentgleisungen feststellen dürfen. Ich wusste gar nicht, dass du so ein breites Tirolerisch kannst!«

Kathi grinste. »Die lokale Sprache zu beherrschen, lockert eben Zungen. Also, der Basti sagt Folgendes: Er stand mit seinem Kumpel etwas weiter oben am Pistenrand, sie haben mal verschnauft, und auf einmal haben sie Schüsse gehört. Das kam ihnen erst mal nicht komisch vor, na ja, die Mittenwalder wildern ja auch alle. Als sie weiterfuhren, sahen sie den Mann da liegen. Sie haben das erst gar nicht mit dem Schuss in Verbindung gebracht, sondern an einen Unfall gedacht. Aber wie er da so lag und das viele Blut, da ist ihnen gekommen, dass der erschossen worden sein könnte. Sie haben die Unfallstelle abgesichert und die Polizei angerufen.«

»Haben sie ihn angefasst?«

»Basti sagt, nein.«

»Haben die beiden denn jemanden gesehen?«

»Das hab ich auch gefragt. Es sind natürlich noch andere Skifahrer des Weges gekommen, einige sind auch stehen geblieben. Die stehen immer noch da, dieses sensationslüsterne Pack. Andere sind weitergefahren, wahrscheinlich, weil sie Angst hatten, was helfen zu müssen. Typisch, oder? Entweder sind die Menschen voll geil auf Unfälle oder aber Schisser ohne Ende.«

Wenn auch verbal wenig feinsinnig, war das für Kathis Verhältnisse fast schon gesellschaftskritisch-philosophisch, dachte Irmi leicht amüsiert.

»Das heißt, der Mörder hätte seelenruhig davonschwingen können inmitten von anderen Deppen, die sich freiwillig diese rutschigen Latten unter die Füße schnallen?«, fragte sie eher rhetorisch, denn die Antwort war klar.

Kathi nickte: »Ich hätte heute früh gar nicht aufstehen dürfen. Hätte ich gewusst, dass das so ein Krampftag wird. Buchwieser. Ausgerechnet der. Ein stadtbekannter Querulant wird erschossen. Ach was, ein bayernweit bekannter Querulant. Weißt du, wie viele Verdächtige es da gibt? Halb Garmisch! Und der gesamte Deutsche Skiverband wird ihn gehasst haben, oder.«

Wieder schlingerten die Skidoos heran, diesmal mit der Spurensicherung an Bord. Der Chef der Truppe sah aus, als hätte er Zahnweh oder Schlimmeres.

»Willst du etwa sagen, dass wir hier auf dem Eis rumrutschen sollen?«

»Hasibär!« Irmi lächelte ihn an. Der Kollege hieß Bernd Hase und hasste den Spruch »Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts« abgrundtief, weswegen er bei Irmi eben Hasibär hieß. »Ich hatte dir nicht leichtfertig zu Steigeisen geraten. Glaub mir halt mal was!«

Er seufzte. »Glaub einer Frau, und du fällst ab vom Glauben.« Er seufzte nochmals. »Volles Programm?«

»Ja, wir brauchen den Schusswinkel. Woher wurde geschossen? Die Spuren in der Umgebung. Wer war zur Tatzeit am Berg? Und so weiter und so fort.«

Inzwischen war auch der Arzt nähergetreten, so elegant, als wandle er immer nur auf dem Eis herum. Der Figur nach ein sehniger Bergfex, der wahrscheinlich nach dem Dienst mal schnell eine Siebenerwand kletterte oder rasch noch tausend Höhenmeter joggte. Er hatte extrem blaue Augen, und Irmi fragte sich, ob wohl Bergsteiger immer so blaue Augen hatten.

»Was wollts von mir?«, fragte er. Nicht unfreundlich, eher desinteressiert.

»Der Bürokratie Genüge tun, oder.« Kathi strahlte ihn an und löste das hochgesteckte Haar, fuhr sich durch die langen Strähnen und verzwirbelte das Ganze wieder wie zufällig am Hinterkopf.

Er schien für ihre Reize aber nicht empfänglich zu sein. Stattdessen nahm er seinen Rucksack vom Rücken, beugte sich zu dem Mann hinunter und machte ein paar schnelle Handbewegungen. Anschließend schrieb er ein paar Notizen nieder und drückte dann Kathi das obligatorische Blatt in die Hand: »Kein natürlicher Tod. War’s das?«

Irmi nickte. »Ja, danke. Ich lass Sie mit dem Skidoo wieder runterbringen.«

»Nicht nötig.« Er zog aus seinem Rucksack ein Paar sogenannte Figln, die er in Affengeschwindigkeit anschnallte, um dann in zwei weiten Bögen von dannen zu zischen. Seine Haltung war perfekt, obwohl es auf dem Eis wahrscheinlich selbst mit scharf geschliffenen Kanten von Carvern schon schwer war, vernünftig auszusehen. Aber mit diesen Firngleitern?

Selbst Kathi war sprachlos, vor allem weil er sie so dermaßen ignoriert hatte – das passierte ihr wohl eher selten. Irmi wandte sich an den Hasen, der gerade mit seiner Nikon werkelte.

»Hasibärchen, kann der Tote weg? Habt ihr so weit alles?«

»Ja, ich bin versucht zu sagen: leider. Der Schuss muss vom Waldrand gekommen sein, ich freu mich schon richtig auf diese Eiskletterei…«

Irmi lachte. »Wann hören wir von dir?«

»Wenn wir fertig sind!«

Irmi verkniff sich einen Kommentar, veranlasste, dass Buchwieser in einem Rettungsschlitten ins Tal gebracht wurde, und bestieg den einen Skidoo, nicht ohne den Fahrer zu warnen: »Wenn du wieder fährst wie eine Sau, lass ich dich verhaften.«

Unten angekommen, stiegen die beiden Kommissarinnen gerade von den beiden Höllenmaschinen, als Kathis Handy ging.

Irmi lauschte dem Gespräch mit einem Ohr.

»Jetzt beruhig dich doch, Mama… Ja, Kruzifix, ich bin in Garmisch, wo sonst… Mama, ja, ich komm, so schnell es geht.«

Irmi sah sie fragend an.

Kathis Stimme bebte leicht. »Meine Tochter ist abgehauen und immer noch nicht heimgekommen. Und meine Mutter dreht völlig durch.«

Das sollte cool klingen, aber Irmi spürte, dass Kathi am Limit war. Wenn das eigene Kind verschwand, verursachte das eine Panik, die klares Denken binnen Sekunden ausschaltete.

»Fahr heim«, sagte Irmi. »Such sie. Sie ist bestimmt bei einer Freundin. Ich kann auch allein zur Familie von Ernst Buchwieser fahren. Wirklich!«

»Bestimmt?«, fragte Kathi fast kleinlaut.

»Ja, sicher. Was du aber machen kannst: Du hast auch daheim über deinen Laptop Zugang zum Polizeicomputer. Recherchier doch mal, was 1978 im Werdenfelser Land so passiert ist. Was Ernst Buchwieser da gemacht hat. Geht das?«

»Sicher. Danke.« Kathi ging im Eilschritt zu ihrem Auto, sie rannte beinahe. Am Wagen drehte sie sich noch mal um. »Danke!«

»Passt scho!«, rief ihr Irmi hinterher. Dann wandte sie sich an ihren Kollegen: »Sailer, haben Sie die Adresse von Ernst Buchwieser? Kennen Sie seine Lebensumstände?«

»Er ist verheiratet mit einer Maria Buchwieser. Keine Kinder.«

»Gut, danke!«

Langsam ging Irmi auf ihr Auto zu. Sie riss sich nicht gerade darum, eine Familie über den Tod ihres Angehörigen zu informieren, aber es musste nun mal sein.

2

Maria Buchwieser wohnte im Husarenweg. Auf dem Weg dahin kam Irmi in der Lazarettstraße an einem kleinen Bauernhof vorbei, vor dem der Misthaufen dampfte. Obwohl sie umgeben war von anderen Landwirten, erschien es ihr immer wieder verwunderlich, dass es zwischen Richard-Strauss-Festival und Weltcup, zwischen Casino und Kongresshaus noch echte Bauern gab. Mitten in Garmisch.

Das Haus der Buchwiesers war keine Protzburg, aber es lag auf einem großen Grundstück am Abhang des Kramerspitz.

Auf Irmis Klingeln hin öffnete eine ausgesprochen attraktive Frau.

»Sind Sie Frau Buchwieser?«, erkundigte sich Irmi.

Ihr Gegenüber nickte. Maria Buchwieser war Mitte bis Ende vierzig, schätzte Irmi, schlank und etwa einen Meter fünfundsiebzig groß. Ihre Kleidung bestand aus Jeans, Shirt und Weste – bestimmt teure Marken, die sie aber lässig und unaffektiert trug. Sie sah Irmi freundlich und fragend an. Ihr Gesicht war umrahmt von brünetten schulterlangen Haaren. Auffällig waren ihre dunklen Augen mit schier endlosen Wimpern. Die waren natürlich, da war sich Irmi sicher.

Die Wimpern erinnerten sie an Irmi Zwo. Irmi Zwo war ihre Lieblingskuh, eine mittlerweile ältere Dame, die trockenstand und das Gnadenbrot bekam. Irmi hatte sie seinerzeit als Kalb in Steißlage allein holen müssen, weil die Männer auf irgendeinem Dorffest verschollen gewesen waren. Aber Männer waren ja immer unauffindbar, wenn es drauf ankam. Irmi fand den Vergleich mit einer Kuh keineswegs unpassend: Auch Irmi Zwo war eine elegante Erscheinung, eine Murnau-Werdenfelserin mit Augen zum Drinversinken.

Als junges Mädchen, in ihren Zwanzigern, war die schöne Maria Buchwieser wahrscheinlich eine Elfe, nein, eine Fee gewesen. Irmi schluckte. Solchen Feen sagte man die Wahrheit noch schwerer.

»Ich bin Irmi Mangold von der Kriminalpolizei. Darf ich kurz reinkommen?«, fragte sie.

Maria Buchwieser nickte und ging vor. Sie kamen in einen großen hellen Raum, an dessen Wänden sich Bücherregale bis zur Decke erstreckten. Auf einem hellblauen Teppich standen zwei dunkelblaue Ledersessel – mit Blickrichtung in den Garten. Die Terrassentür stand offen, es roch nach Frühling.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann Ernst tot ist«, sagte Irmi schließlich. »Er wurde erschossen.«

So, nun war es raus. Irmi sah Maria Buchwieser prüfend an. Die Reaktionen von Menschen waren nicht vorhersagbar. Nach außen völlig toughe Personen konnten ihrer Erfahrung nach zusammenbrechen und verhuschte Hascherl plötzlich zu übermenschlicher Stärke heranwachsen. Maria Buchwiesers Reaktion allerdings verblüffte Irmi.

»Dann ist es endlich passiert«, sagte sie in einem Tonfall, der so neutral klang wie die Konservenstimme, die in der Trambahn die nächste Haltestelle ankündigt. Wie eine Stimme im Baumarkt, die erklärt, dass der Markt in zehn Minuten schließen werde. »Wollen Sie einen Cappuccino?«, fragte sie und wies auf den einen Sessel.

Irmi konnte nur nicken und sank in die Tiefe des Lederfauteuils. Aus der Küche hörte man ein paar zischende Geräusche, wenig später kam Maria Buchwieser mit dickbäuchigen Cappuccinotassen zurück. Der Milchschaum war so perfekt, dass er jedem Barista zur Ehre gereicht hätte. Und Irmi war sich sicher, dass es der zweitbeste Cappuccino ihres Lebens war. Den besten gab es immer noch im Autogrill gleich hinter Sterzing.

Maria Buchwieser setzte sich auf die Sessellehne und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, ganz kurz nur. Dann sagte sie: »Ernst hat sein Leben lang Menschen provoziert. Er hat immer Grenzen verletzt. Er hat so viele Drohungen erhalten, er hatte so viel Streit mit Gott und der Welt.« Sie schwieg.

»Es gab also ziemlich viele Feinde?«, fragte Irmi nach und nahm noch einen Schluck von dem göttlichen Cappuccino.

»Ja, viel Feind, viel Ehr. Ernst hat immer gesagt, dass nur der zu echten Höhen aufsteigen kann, der es aushalten kann, angefeindet zu werden. Bei ihm war jede Lebensäußerung in irgendeiner Philosophie begründet.« Sie machte eine Handbewegung zur Bücherwand hin. »Nichts als Philosophen. Er hat Altgriechisch studiert, er kennt seine Denker. Es ist schwer, mit jemandem zu diskutieren, der nichts einfach so sagt, der nichts einfach so tut. Er hatte immer eine Begründung für sein Tun – eine gute, eine heroische.«

Die wenigen Tränen, die aus ihren Augen traten, waren keine Tränen der Verzweiflung. Es waren Tränen der Melancholie, Tränen, die man weint, wenn die hektische Anspannung in bleierne Trauer mündet.

»Es war also schwierig, mit ihm zusammenzuleben?«

Sie nickte. »Ernst sagte mal im Scherz: ›Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein‹, natürlich als Anspielung auf den Film. Aber wissen Sie, es ist noch schwerer, mit einem Gott zu leben. Unfehlbarkeit ermüdet.«

Beide Frauen tranken schweigend ihren Cappuccino.

»Gibt es denn ganz aktuell Feinde?«, fragte Irmi schließlich.

Maria Buchwieser stand auf, durchschritt den Raum und verschwand durch eine Tür, die von Büchern eingerahmt war und von ihnen erdrückt zu werden schien. Als sie zurückkam, hatte sie einige Papiere dabei, die mit bunten Buchstaben beklebt waren. Irmi hatte eigentlich gedacht, so etwas gäbe es nur in Filmen oder bei Enid Blyton. Drohbriefe mit ausgeschnittenen Lettern – wer machte heute denn noch so was?

Verpiss dich!

Kümmer dich um deinen Scheiß!

Wenn du weiter störst, mach ich dich kalt!

Du lebst nicht mehr lang, du eingebildeter Arsch!

»Ich habe sie nach der Reihenfolge sortiert«, sagte Maria Buchwieser. »Ernst fand das wahnsinnig witzig. Er wollte sich ausschütten vor Lachen.«

»Haben Sie eine Idee, von wem das stammen kann?«

Maria Buchwieser lachte ein bitteres Lachen. »Wie viel Zeit haben Sie? Ich kann Ihnen eine Liste machen. WM-Komitee, Hoteliersverein, Lehrerkollegium, Eltern von Schülern.«

Irmi ließ den Blick nochmals über die Blätter gleiten. Die Sprache war eher derb, aber das konnte natürlich dazu dienen, die wahre Identität des Absenders zu verschleiern. »Wann kam denn der letzte?«, fragte sie.

»Vorgestern«, sagte Maria Buchwieser leise.

»Haben Sie die Umschläge noch?«

»Nein, Ernst hat sie verfeuert. Aber sie kamen über das Briefzentrum Starnberg, man kann ja heute nicht mehr sehen, wo ein Brief eingeworfen wurde.«

»Ich nehme diese vier Machwerke mal mit, vielleicht können wir was sichern. Als Vergleichsprobe bräuchte ich bitte Ihre Fingerabdrücke und DNA, auch eine von Ihrem Mann, wenn das geht. Haare aus der Haarbürste eventuell? Ich würde nachher jemanden vom Erkennungsdienst schicken.« Irmi betrachtete ihr Gegenüber. Solche Fragen, solche Vorgehensweisen machten einen Mord auf einmal so endgültig.

Aber Maria Buchwieser nickte nur und fragte dann: »Erschossen, sagen Sie? Wo denn?«

»Das ist das Seltsame daran. Ihr Mann befand sich zum Zeitpunkt der Tat auf der Kandahar-Piste. Er trug Skier. Uralte Skier und dazu eine Uraltmontur: einen Skianzug mit einer WM-Startnummer von 1978, der Nummer siebzehn. Können Sie sich darauf einen Reim machen?«

Zum ersten Mal wirkte Maria Buchwieser wirklich entsetzt. Es war, als hätte sie viele Szenarien im Kopf durchgespielt, als hätte sie sich gewappnet über die Jahre. Als hätte sie ihr Herz verhärtet. Aber nun war sie völlig konsterniert.

»Die Nummer siebzehn?«

»Ja.«

Maria Buchwieser stand auf und trat an die offene Terrassentür. Das Licht spielte mit ihren Haaren, eine rötliche Aura umgab ihren Kopf. Ihre Schultern zuckten. Irmi ließ ihr Zeit.

Endlich wandte sie sich um und sagte leise: »Das ist das Gwand vom Kurtl. Und seine Startnummer.«

Irmi beobachtete sie genau. Sie hatte sich wieder im Griff. »Und wer ist der Kurtl?«

»Das ist sein Bruder. Oder besser gesagt: war sein Bruder. Der Kurt hat sich 1983 umgebracht«, sagte Maria Buchwieser. Ihr Blick verdüsterte sich. Irmi spürte, dass da plötzlich eine Woge Vergangenheit heranrollte, so mächtig, dass die zarte Frau ihr nicht gewachsen war. Irmi schwieg. Es verging eine Weile, bis Maria Buchwieser Irmis Blick suchte.

»Der Kurt war sein jüngerer Bruder. Er hat immer im Schatten vom Ernst gestanden, aber eigentlich hat jeder in seinem Schatten gestanden. Ich ja auch. Ernst hatte immer schon etwas von einem Guru. Er hatte nicht nur Feinde, sondern auch seine Anhängerschaft. Solange die Anhänger nur schwach waren.« Sie stockte.

»Sie auch? Fühlten Sie sich schwach neben dem Philosophen?«, fragte Irmi vorsichtig nach.

»Ja, als ich Ernst kennenlernte, war ich wie verzaubert. Er konnte so gut reden. Er wollte die Welt verändern, er war komplett anders als die Jungs, die ich sonst kannte. Wir saßen stundenlang an der Loisach, warfen Steine ins Wasser, und Ernst hat seine Theorien von einer besseren Welt ausgebreitet. Ich konnte ihm immer nur zustimmen, seine Sätze waren klar, so voller Leuchtkraft. Seine Freunde und ich, wir konnten nicht so schön formulieren wie er, wir konnten nur nicken und applaudieren.«

In diesem Wort »applaudieren« schien so viel zu liegen. »Aber ständiger Applaus korrumpiert doch, oder?«, meinte Irmi.

»Ja, ich denke auch, das ging in Richtung Größenwahn. Alles flog ihm zu. Er war ohne Anstrengung einer der Besten in der Schule, er hatte seinen Fanclub, er hatte Mädchen…« Sie stockte und lachte bitter auf.

»Nicht bloß Sie?«

»Nein, aber ich wollte das nicht sehen. Letztlich war ich ja immerhin seine Offizielle. Und ich war cool, so cool, wie wir alle waren in den Achtzigern. Wir haben uns das Hirn weggekifft, die Welt gerettet, und Sex war nichts als ein Spiel.« Ihr Lächeln war eine Mischung aus Wehmut und Bitternis.

Irmi kam ein Lied in den Sinn. Von Kid Rock: »We were smoking funny things, making love out by the lake to our favourite song, sipping whiskey out the bottle, not thinking ’bout tomorrow.«

»Ja, genau so war es. Aber heute in der Rückschau weiß ich natürlich, dass das wohlige Schauern, zur Topclique zu gehören, eine böse Falle gewesen ist. Ich habe schon damals einen hohen Preis bezahlt. Und Kurtl auch.«

Irmi kannte diese Frau erst eine halbe Stunde und fühlte sich ihr dennoch sehr nah. Es war ein gutes Gespräch, sie musste nicht mal korrigierend eingreifen, nicht bitten oder insistieren, Maria Buchwieser kam ganz von selbst wieder auf Kurt zu sprechen.

»Kurt musste sich alles hart erarbeiten. Er war nicht brillant und visionär, er war ein erdiger Typ.« Sie stockte. »Ich hätte damals ihn nehmen sollen. Mit Kurt wäre man nicht so hoch geflogen, aber auch nicht so tief gefallen. Mit Ernst flog man bis zu den Sternen und war plötzlich einsam, weil die greifbare Welt so weit weg war. Mit ihm erreichte man die Sonne und verbrannte. Wir alle in seiner Umgebung waren nicht für den Flug durch den Orbit geboren. Wir hatten Angst und Brandblasen, aber ihm machte das alles nichts aus, und er hatte auch keinen Blick dafür, dass sich die Menschen an seiner Seite verletzten. Und vor allem sah er nicht, dass er schuld war an diesen Verletzungen! Kurt hat ihn genauso bewundert wie ich.«

Irmi lauschte ihren Worten nach. Maria Buchwieser fuhr fort.

»Aber dann hatte Kurt etwas Eigenes. Etwas, wo er Ernst überrunden konnte. Er wurde im Skisport richtig gut, eben weil er so hart trainierte. Er war verlässlich im Riesenslalom und tanzte wie ein Gott durch die Tore. In der Saison 1977/78 fuhr er den ganzen Winter Top-Ten-Platzierungen ein. Dann war da diese Heim-WM in Garmisch. Alle wollten Kurt Buchwieser ganz oben auf dem Siegertreppchen sehen. Er hätte das Zeug gehabt, Frommelt und Gros, ja sogar Stenmark zu schlagen.«

Irmi überlegte, aber außer beim Namen Stenmark taten sich bei ihr da keinerlei Fenster auf. Skisport hatte sie nie interessiert.

»Nach dem ersten Durchgang lag Kurt auf Platz zwei. Hinter Stenmark. Es war, als hätte der ganze Gudiberg vibriert. Ich fühle die Gänsehaut noch heute, es war unbeschreiblich. Und dann startete Kurt in den zweiten Durchgang. Er war wahnsinnig schnell, er hatte plötzlich Rücklage, er rettete sich in einem Kamikazemanöver, es war dramatisch. In der Vertikalen fuhr er, als käme er aus einer anderen Welt, die Zwischenzeit war gigantisch. Der Berg tobte. Doch als er über einen Geländeübergang kam, riss es ihm beide Stöcke ab. Er hatte nur noch die Schlaufen. Er fuhr ohne Stöcke weiter, allein das war eigentlich sensationell.« Maria Buchwieser stockte, und Irmi spürte, dass das alles für sie so präsent war, als sei es gestern gewesen. »Am Ende wurde er Vierter hinter Stenmark, Gros und Frommelt.«

»Sabotage?«, fragte Irmi nach einer Weile.

Maria sah sie überrascht an. »Seltsam, dass das Ihr erster Gedanke ist. Na gut, Sie sind Kommissarin. Uns ist das erst später aufgegangen. Ernst hatte die Idee, dass da jemand die Stöcke manipuliert haben könnte. Das wirklich zu beweisen war uns aber nie möglich.«

»Hatte Kurt denn einen Verdacht?«

»Nein, der war einfach wie paralysiert. Er war so nah dran gewesen. Er selbst glaubte nicht an Sabotage. Er glaubte nur, dass er wieder einmal Pech gehabt hatte. Ach was: Er wusste, dass er kein Günstling der Götter war. Es war so typisch: Ernst brachte die Sabotage-Idee auf, weil in seinem Weltbild Eigenversagen oder gar Pech nicht vorkamen. Kurt hingegen fügte sich in das Schicksal, mal wieder verloren zu haben. Er war das ja gewohnt. Ich glaube, ihm wäre es sogar lieber gewesen, wenn Ernst mit seinen Verschwörungstheorien aufgehört hätte. Aber dann brachte auch noch jemand den Ausdruck ›DvG Buchwieser‹ auf.«

»Wofür steht die Abkürzung?«

»Depp vom Gudiberg, DvG, ganz Garmisch wollte sich ausschütten vor Lachen. Kurt Buchwieser war der DvG. Daran ist er komplett zerbrochen.«

Irmi überlegte eine Weile. »War das denn so schlimm?«, sagte sie dann. »Ich meine, das war sicher nicht nett, es hört sich an wie so typisches unüberlegtes boarisches Blöd-Daherreden, aber dass man daran gleich zerbricht?«

Ende der Leseprobe