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Eine Gruppe besorgter Großreeder ersucht Juan Cabrillo und seine Crew von der Oregon um Hilfe. Denn in letzter Zeit gehen auf den Meeren Asiens immer häufiger gigantische Frachter und ihre gesamten Besatzungen spurlos verschwunden. Schon bald weisen alle Spuren auf eine unglaubliche globale Verschwörung hin, die nur ein einziges Ziel kennt – die absolute Vorherrschaft im internationalen Sklavenhandel. Und die Hoffnung vieler Unschuldiger ruht allein auf den Schultern Juan Cabrillos. Denn der ist fest entschlossen, dem unmenschlichen Geschäft ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben …
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Seitenzahl: 628
Veröffentlichungsjahr: 2015
Clive Cussler
& Jack Du Brul
Todesfracht
Roman
Aus dem Englischen von Michael Kubiak
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Dark Watch« bei Putnam, New York.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2005 by Sandecker, RLLLP
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By arrangement with
Peter Lampack Agency, Inc.
551 Fifth Avenue, Suite 1613
New York, NY 10176-0187 USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Jörn Rauser
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15203-1
www.blanvalet.de
1
Der betagte Dassault Falcon Executive Jet sank majestätisch vom Himmel herab und setzte auf dem Sunan International Airfield, zwanzig Kilometer nördlich von Pjöngjang, auf. Die MiG, die ihn seit seinem Eintritt in den nordkoreanischen Luftraum fast auf Tuchfühlung begleitet hatte, schwenkte ab – was lediglich an den Flammensäulen aus ihren Düsen zu erkennen war, die durch die Nacht schnitten. Ein Lastwagen erschien, um die Falcon zu ihrem Abstellplatz zu geleiten. Auf seiner Ladefläche war ein Maschinengewehrschütze postiert, der nichts anderes tat, als die Cockpitfenster ständig im Visier zu behalten. Das Flugzeug rollte zu einer freien Betonfläche am Ende des Flughafengebäudes, und noch bevor seine Räder mit Bremsklötzen fixiert waren, hatte eine Schwadron bis an die Zähne bewaffneter Soldaten einen Halbkreis um die Maschine gebildet – die AK-47er im Anschlag und bereit, auf die geringste Provokation zu reagieren. Und all das, obwohl die Passagiere an Bord offiziell eingeladene Würdenträger und wichtige Kunden des abgeschiedenen kommunistischen Landes waren.
Wenige Minuten nachdem die Strahltriebwerke ausgelaufen und verstummt waren, öffnete sich die Kabinentür. Zwei der Wächter, die am nächsten standen, nahmen erwartungsvoll Haltung an. Dann wurde die Kabinentür heruntergeklappt, und die auf der Innenseite integrierte Treppe kam zum Vorschein. Ein Mann in olivgrüner Uniform mit einer flachen Mütze auf dem Kopf erschien in der Türöffnung. Seine scharf geschnittenen Gesichtszüge signalisierten unbeugsame Härte. Dazu passten seine fast schwarzen Augen und die gekrümmte Nase, die an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte. Die Haut hatte die Farbe dünnen Tees. Er strich sich mit einem Finger über seinen dichten schwarzen Schnurrbart und musterte den Ring, den die Soldaten bildeten, mit gleichgültigem Blick, ehe er lässigen Schritts die Treppe hinunterging. Ihm folgten zwei Männer mit ähnlich scharf geschnittenen Gesichtern. Einer trug einen traditionellen orientalischen Mantel und ein Kopftuch, der andere einen eleganten Anzug.
Drei nordkoreanische Offiziere marschierten durch den Kordon und näherten sich der Flugzeugtreppe. Der höchstrangige Offizier grüßte militärisch und wartete, dass ein anderer Mann, ein Dolmetscher, seine Worte ins Arabische übersetzte.
»General Kim Dong Il heißt Sie, Colonel Hourani, in der Demokratischen Volksrepublik Korea willkommen und hofft, dass Sie einen angenehmen Flug von Damaskus hierher hatten.«
Colonel Hasni Hourani, der stellvertretende Chef der strategischen Raketenstreitmacht Syriens, deutete zum Zeichen des Danks eine Verneigung an. »Richten Sie dem General unseren Dank aus, dass er uns um diese späte Stunde persönlich empfängt. Teilen Sie ihm mit, dass unser Flug tatsächlich sehr angenehm war, da uns der Kurs über Afghanistan führte, wo wir den Inhalt der Flugzeugtoilette über den amerikanischen Invasoren abladen konnten.«
Die Koreaner brachen in lautes Gelächter aus, sobald der Dolmetscher die Worte übersetzt hatte. Dann fuhr Hourani fort, indem er sich gezielt an den Dolmetscher wandte: »Ich bin beeindruckt, wie gut Sie sich in unserer Sprache ausdrücken können, aber ich denke, unsere Verhandlungen würden um einiges glatter verlaufen, wenn wir Englisch sprächen.« Hourani schaltete also auf diese Sprache um. »Soweit ich weiß, General Kim, beherrschen wir beide die Sprache unseres gemeinsamen Feindes.«
Der General blinzelte. »Ja, ich meine, es verschafft mir gegenüber den Imperialisten einen Vorteil, ihre Sitten und Gebräuche besser zu kennen, als sie anzunehmen«, erwiderte er. »Ich spreche auch ein wenig Japanisch«, fügte er hinzu, um sein Gegenüber zu beeindrucken.
»Und ich etwas Hebräisch«, erwiderte Hourani schnell und bewies, dass auch er die Kunst beherrschte, seinem jeweiligen Gesprächspartner stets um eine Nasenlänge voraus zu sein.
»Es scheint, als verträten wir nicht nur die Interessen unserer Länder, sondern als hätten wir auch noch ein gemeinsames Anliegen.«
»Die Vernichtung Amerikas.«
»Die Vernichtung Amerikas«, echote General Kim und erkannte im glühenden Blick des Arabers, dass auch in dessen Brust das Feuer des Hasses brannte.
»Viel zu lange schon üben sie ihren Einfluss in allen Winkeln der Erde aus. Sie zerstören den Planeten, indem sie zuerst ihre Soldaten vorschicken und danach die Menschen mit ihrer Dekadenz vergiften.«
»Sie haben an den Grenzen Ihres wie auch meines Landes Truppen stationiert. Aber sie wagen es nicht, mein Land anzugreifen, weil sie wissen, dass die Vergeltung schnell und tödlich erfolgen würde.«
»Und bald«, sagte Hourani mit einem öligen Grinsen, »werden sie auch unsere Vergeltung fürchten. Mit Ihrer Hilfe, natürlich.«
Kims Lächeln entsprach ganz dem des Syrers. Diese beiden Männer, durch einen halben Erdball voneinander getrennt, waren Brüder im Geiste und von einem glühenden Hass gegen alles Westliche erfüllt. Jahre der Indoktrinierung hatten sie Stück für Stück geformt, und von diesem Hass waren sie geprägt. Es machte keinen Unterschied aus, dass der eine nach den übertrieben streng ausgelegten Prinzipien einer ehrbaren Religion lebte und der andere von einem unerschütterlichen Glauben an die Unfehlbarkeit des Staates geleitet wurde. Die Folgen waren die gleichen. Sie berauschten sich an Barbarei und fanden im Chaos Inspiration.
»Wir haben Vorbereitungen getroffen, um Ihre Delegation zur Marinebasis Much’on in der Nähe von Wosan an der Ostküste zu bringen«, erklärte General Kim seinem Besucher Hasni Hourani. »Benötigen Ihre Piloten in Pjöngjang ein Quartier?«
»Das ist sehr großzügig, General.« Hourani strich sich wieder über den Schnurrbart. »Aber das Flugzeug wird in Damaskus dringend gebraucht. Einer der Piloten hat während des Fluges hierher die meiste Zeit geschlafen, daher kann er nach Syrien zurückfliegen. Wenn Sie arrangieren könnten, dass die Maschine gleich wieder aufgetankt wird, sähe ich es am liebsten, sie würden umgehend starten.«
»Wie Sie wünschen.« General Kim sprach mit einem Untergebenen, der den Befehl sofort an den Chef des Wachtrupps weiterleitete. Während Houranis beide Assistenten die letzten Gepäckstücke ausluden, erschien ein Tankwagen, und Arbeiter begannen, den Tankschlauch auszurollen.
Der Wagen, der zu ihrer Weiterfahrt bereitstand, war eine Limousine aus chinesischer Produktion mit mindestens dreihunderttausend zurückgelegten Kilometern auf dem Buckel. Die Sitze waren derart durchgesessen, dass sie den kleinwüchsigen nordkoreanischen General beinahe verschluckten, das Innere aber stank nach kaltem Zigarettenrauch und in Essig eingelegtem Kohl. Die Autobahn durch das Kumgang-Gebirge, die Pjöngjang mit Wosan verband, war eine der besten des Landes, dennoch beanspruchte sie die Federung der Limousine fast bis zum Zusammenbruch, als der Wagen sich durch die engen Serpentinen quälte und an tiefen Schluchten entlangtastete. Die Autobahn verfügte nur über wenige Leitplanken, die Scheinwerfer des Wagens leuchteten zudem nicht stärker als schwache Taschenlampen. Ohne den fahlen Schein des Mondes wäre die Fahrt unmöglich gewesen.
»Vor zwei Jahren«, erzählte Kim, während der Wagen sie höher hinauf ins Gebirge brachte, das sich wie ein Stachelkamm über die gesamte Länge des Landes erstreckte, »erteilten wir einer Firma im Süden die Erlaubnis, Touristenausflüge in dieses Gebirge zu veranstalten. Die Berge hier werden von vielen als heilig betrachtet. Wir verlangten, die Firma solle die Straßen und Wege wie auch die Restaurants und die Hotels bauen. Sie musste sogar ihre eigenen Hafenanlagen schaffen, wo dann später ihre Ausflugsschiffe anlegten. Eine Zeit lang gab es viele Leute, die die angebotene Reise buchen wollten, aber die Firma musste fünfhundert Dollar pro Passagier verlangen, um ihre Investitionen hereinzubekommen. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Nostalgiker nicht allzu zahlreich waren, also brach das Geschäft sehr bald ein – vor allem nachdem wir entlang der Reiserouten Wachen aufstellten und die Touristen, so gut wir konnten, drangsalierten. Jetzt kommen keine Touristen mehr hierher, aber die Firma zahlt uns immer noch die Milliarde Dollar, die sie unserer Regierung damals garantiert hat.«
Dies rief bei Colonel Hourani, dem einzigen Syrer, der die englische Sprache beherrschte, ein Lächeln hervor.
»Das Beste an der ganzen Sache ist«, fuhr Kim fort, »dass ihr Hotel in eine Kaserne umgewandelt wurde und in ihrem Hafen eine Korvette der Najin-Klasse stationiert ist.«
Diesmal reagierte Hourani mit schallendem Gelächter.
Zwei Stunden nach Verlassen des Flugplatzes ließ die Limousine das Kumgang-Gebirge hinter sich, überquerte die Küstenebene, bog nach Norden ab und erreichte den äußeren Zaun der Marinebasis Munch’on.
Wächter salutierten, als die Limousine durchs Tor fuhr. Danach rollte der Wagen im Schritttempo durch die Anlage und fuhr an mehreren Respekt einflößenden Wartungsgebäuden und an einem fast einen Kilometer langen Kai vorbei. Vier schlanke Schnellboote lagen an ihm, und ein einzelner Zerstörer ankerte in dem etwa vier Quadratkilometer großen Hafenbecken. Weißer Qualm kräuselte sich aus seinen Schornsteinen in den nächtlichen Himmel. Der Fahrer umrundete einen auf Schienen fahrenden Ladekran und parkte vor einem rund einhundertdreißig Meter langen Frachtschiff am Ende des Kais.
»Die Asia Star«, verkündete General Kim.
Colonel Hourani blickte auf seine Uhr. Es war ein Uhr morgens. »Und wann legen wir ab?«
»Die Gezeiten sind hier in der Yonghung-man Bay nur sehr mäßig, deshalb können Sie jederzeit abreisen. Das Schiff ist beladen, aufgetankt und mit genügend Proviant ausgestattet.«
Hourani wandte sich an einen seiner Männer und fragte auf Arabisch: »Was denken Sie?« Er hörte sich die ausführliche Antwort an, nickte mehrmals und richtete seinen Blick dann wieder auf den General, der ihm in der Limousine gegenübersaß. »Assad Muhammad ist unser technischer Experte für die Nodong-1-Rakete. Er würde gern einen Blick auf sie werfen, ehe wir aufbrechen.«
Kims Miene blieb unverändert, doch es war klar, dass er sich mit dem Gedanken an eine Verzögerung nicht anfreunden konnte. »Sie können Ihre Inspektion doch gewiss auch auf See durchführen. Ich versichere Ihnen, dass sich alle zehn Raketen, die Ihr Land gekauft hat, an Bord befinden.«
»Ich fürchte, Assad ist für Seereisen nicht geschaffen. Er würde die Raketen lieber jetzt überprüfen, weil damit zu rechnen ist, dass er so gut wie die ganze Reise in seiner Kabine verbringen wird.«
»Schon seltsam, dass ausgerechnet ein solcher Mann die Raketen zurück nach Syrien begleiten soll«, stellte Kim kühl fest.
Houranis Blick wurde eisig. Sein Land bezahlte fast hundertfünfzig Millionen dringend benötigter Dollar für die strategischen Mittelstreckenraketen. Kim hatte nicht das Recht, seine Entscheidungen in Frage zu stellen. »Er ist hier, da er die Raketen kennt. Er hat bei den Iranern gearbeitet, als sie ihre Nodongs von Ihnen erwarben. Dass er leicht seekrank wird, geht Sie nicht das Geringste an. Er wird alle zehn Exemplare genauestens inspizieren, und im Morgengrauen stechen wir dann in See.«
General Kim hatte Befehl, bei den Syrern zu bleiben, bis das Schiff ablegte. Er hatte seiner Frau erklärt, er würde nicht vor dem nächsten Morgen nach Pjöngjang zurückkehren, aber da er bei den Orientalen bleiben musste, zerschlug sich seine Hoffnung auf ein paar ungestörte Stunden in den Armen seiner neuesten Geliebten. Er seufzte innerlich, als er sich klarmachte, welche Opfer er für den Staat brachte. »Na gut, Colonel. Ich werde den Hafenmeister darüber informieren, dass die Asia Star ihren Liegeplatz zumindest bis zum Tagesanbruch nicht verlassen wird. Also warum gehen wir nicht an Bord? Ich zeige Ihnen Ihre Kabinen, damit Sie Ihr Gepäck unterbringen können. Danach kann Mr. Muhammad Ihre neuen Spielzeuge in Augenschein nehmen.«
Der Fahrer öffnete die hintere Tür, und während Kim auf der Sitzbank zum Ausstieg rutschte, legte Hourani eine Hand auf seinen Arm. Ihre Blicke trafen sich. »Ich danke Ihnen, General.«
Kims Lächeln wirkte echt. Trotz ihrer kulturellen Unterschiede, des Misstrauens und der Geheimniskrämerei, die diese Mission umgab, konnte er feststellen, dass ihm der Colonel wirklich sympathisch war. »Es bedeutete keine Mühe.«
Jeder der drei Syrer hatte eine eigene Kabine, aber nur eine Minute, nachdem man ihnen ihre Quartiere gezeigt hatte, trafen sie sich in der Kabine von Colonel Hourani. Assad Muhammad saß auf der Koje und hatte neben sich einen Aktenkoffer liegen, während Hourani an dem Tisch unter dem einzigen Bullauge des Raums Platz nahm. Der Älteste der drei, Professor Walid Khalidi, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte an einer Kabinenwand. Dann tat Hourani etwas sehr Seltsames. Er tippte mit dem Finger auf einen Augenwinkel und schüttelte den Kopf, nun deutete er auf sein Ohr und nickte. Er zeigte auf die Deckenlampe in der Mitte der Kabine und auf die billige, am Tisch befestigte Lampe aus Messing.
»Was meinen Sie, wie lang die Inspektion dauern wird, Assad?«, fragte er dann.
Assad Muhammad hatte mittlerweile einen kleinen Kassettenrekorder aus der Jackentasche geholt und die Starttaste betätigt. Eine digital modifizierte Stimme, genau genommen aber die von Hourani selbst, da er der Einzige im Team war, der Arabisch sprechen konnte, erwiderte: »Ich denke, nicht mehr als ein paar Stunden. Am zeitraubendsten dürfte das Entfernen der Abdeckungen sein, um an die Inspektionspunkte heranzukommen. Die einzelnen Schaltkreise zu testen ist dann ein Kinderspiel.«
Mittlerweile hatte Hourani ebenfalls einen Kassettenrekorder aus der Innentasche seines Jacketts hervorgezaubert und auf den Tisch gelegt. Sobald Assad verstummte, drückte auch er auf die Starttaste, und das Gespräch setzte sich fort, während die Männer selbst stumm blieben. An einem festgelegten Punkt der Unterhaltung machte Walid Khalidi den Schwindel mit seinem eigenen Kassettenrekorder komplett. Sobald die drei Geräte, auf denen jeweils elektronisch veränderte Versionen von Houranis Stimme aufgenommen worden waren, in Betrieb waren, zog das Trio »Syrer« sich leise in den fernsten Winkel der Kabine zurück.
»Nur zwei Wanzen«, murmelte Max Hanley erstaunt. »Die Koreaner haben wirklich großes Vertrauen zu ihren syrischen Kunden.«
Juan Cabrillo, der Vorsitzende der Corporation und gleichzeitig Kapitän des Handelsschiffes Oregon, riss sich den falschen Schnurrbart von der Oberlippe. Die Haut darunter war heller als die dicke Schicht Bräunungscreme, mit der er seinen Teint dunkler gefärbt hatte. »Erinnert mich daran, Kevin im Zauberladen Bescheid zu sagen, dass sein kosmetischer Kleber Mist ist.« Er angelte eine Flasche mit dem minderwertigen Kleber aus der Tasche und verteilte einige Tropfen auf der Rückseite seines falschen Schnurrbarts.
»Du hast ausgesehen wie Snidely Whiplash, als du dich bemüht hast, das Ding an Ort und Stelle zu behalten.« Das kam von Hali Kasim, dem Amerikaner, dessen Familie vor nunmehr drei Generationen aus dem Libanon nach Amerika gekommen war. Auf der Oregon leitete er die Abteilung Sicherheit und Überwachung und war das einzige Mitglied der Mannschaft, das keine Schminke und kein Latex brauchte, um als Orientale durchzugehen. Das Problem war nur, dass er nicht einmal genug Arabisch beherrschte, um sich in einem Restaurant etwas zu essen bestellen zu können.
»Sei bloß froh, dass die Koreaner ihren Dolmetscher auf dem Flughafen zurückgelassen haben«, sagte Cabrillo mit einem leichten Grinsen. »Du hast dich während des kleinen Monologs, den du auswendig gelernt und während der Autofahrt zum Besten gegeben hast, ziemlich verhaspelt. So wie du dich zu der Inspektion der Raketen geäußert hast, würde eher ein Proktologe seinen Patienten bitten, sich unten herum frei zu machen, damit er ihm einen Finger hinten reinschieben kann.«
»Tut mir leid, Juan«, sagte Kasim, »ich hatte noch nie viel für Fremdsprachen übrig, und egal wie intensiv ich übe, in meinen Ohren klingt das immer noch wie völlig sinnloses Kauderwelsch.«
»Für jeden, der Arabisch spricht, ebenfalls«, sagte Juan Cabrillo mit unverhohlenem Spott in der Stimme.
»Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte Max Hanley. Hanley war der Präsident der Corporation und zuständig für sämtliche Schiffsangelegenheiten, vor allem für ihre chromblitzenden magneto-hydrodynamischen Maschinen. Während Cabrillo die Verträge der Corporation aushandelte und den größten Teil der Planung ihrer Einsätze erledigte, fiel Max die wichtige Aufgabe zu, dafür zu sorgen, dass die Oregon und ihre Crew jederzeit einsatzfähig waren. Während man die einzelnen Angehörigen der Besatzung der Oregon genau genommen als Söldner ansehen durfte, waren sie in ihrer Gesamtheit doch wie ein klassisches Wirtschaftsunternehmen organisiert. Abgesehen von seinen Pflichten als Chefingenieur des Schiffes kümmerte sich Hanley um die tägliche Administration und war so etwas wie der Personalchef der Firma.
Unter seinem wallenden Gewand und dem Kopftuch war Hanley etwas mehr als mittelgroß – mit leichtem Bauchansatz. Seine braunen Augen blickten ausgesprochen kritisch und wach in die Welt, und was an Haaren auf seinem geröteten Schädel noch spross, war kastanienbraun. Er arbeitete seit Gründung der Corporation mit Juan zusammen, und Cabrillo war überzeugt, dass er ohne seine Nummer zwei schon vor Jahren den Laden hätte schließen müssen.
»Wir müssen davon ausgehen, dass Gunderson mit der Dassault so schnell wie möglich gestartet ist. Mittlerweile dürfte er in Seoul sein«, sagte Cabrillo. »Eddie Seng hatte zwei Wochen Zeit, seine Position einzunehmen. Wenn er mit dem U-Boot jetzt nicht neben diesem Frachter liegt, dann wird er es niemals schaffen. Er wird nicht auftauchen, bevor wir ins Wasser springen, und dann wird es zu spät sein, um die Mission abzubrechen. Da die Koreaner bisher nichts davon haben verlauten lassen, dass ein Mini-U-Boot im Hafen gesichtet und aufgebracht wurde, können wir wohl davon ausgehen, dass er bereit ist.«
»Okay, und wenn wir die Bombe scharf gemacht haben?«
»Bleibt uns eine Viertelstunde Zeit, um mit Eddie Kontakt aufzunehmen und uns in Sicherheit zu bringen.«
»Das wird richtig wehtun«, stellte Hali grimmig fest.
Cabrillos Augen nahmen einen harten Glanz an. »Denen mehr als uns.«
Dieser Kontrakt war wie viele andere, die die Corporation abschloss, durch geheime Kanäle von der Regierung der Vereinigten Staaten zu ihnen gelangt. Während die Corporation eindeutig als gewinnorientiertes Unternehmen betrachtet werden musste, waren die Frauen und Männer, die auf der Oregon ihren verschiedenen Aufgaben nachgingen, zum überwiegenden Teil ehemalige Angehörige des amerikanischen Militärs und neigten dazu, Aufträge anzunehmen, die den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten nützten oder zumindest amerikanische Interessen nicht verletzten.
Da mit einem Ende des Krieges gegen den Terror auf lange Zeit nicht zu rechnen war, gab es eine nicht enden wollende Serie von Kontrakten für ein Team wie jenes, das Cabrillo zusammengestellt hatte – allesamt Spezialisten für verdeckte Missionen, die ohne die Beschränkungen der Genfer Kommission oder die Kontrollen politischer Interessenvertreter operieren konnten. Damit soll natürlich nicht angedeutet werden, die Mannschaft sei eine Bande von halsabschneiderischen Piraten gewesen, die grundsätzlich keine Gefangenen machten. Sie waren sich deutlich dessen bewusst, was sie taten, waren sich aber gleichzeitig auch darüber im Klaren, dass sich gewisse Grenzen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts verschoben hatten.
Dafür war diese Mission ein perfektes Beispiel.
Nordkorea hatte jedes Recht, zehn einstufige taktische Raketen an Syrien zu verkaufen, und die Vereinigten Staaten hätten – wenn auch nur widerwillig – die Transaktion über die Bühne gehen lassen. Geheimdienstliche Erkenntnisse deuteten jedoch darauf hin, dass der echte Colonel Hasni Hourani geplant hatte, die Asia Star umzuleiten, sodass zwei der Nodong-Raketen und ein Paar mobile Startrampen in Somalia ausgeladen und der Al-Qaida übergeben werden könnten. Diese würden sie nur wenige Stunden später auf Ziele in Saudi-Arabien, speziell die heiligen Städte Mekka und Medina, lenken, um, einer eigenen verqueren Logik folgend, das saudische Königshaus zu schädigen. Außerdem lag der bislang noch unbewiesene Verdacht nahe, dass Hourani mit dem stillschweigenden Einverständnis der syrischen Regierung handelte.
Die Vereinigten Staaten konnten ein Kriegsschiff aussenden, um die Asia Star in Somalia zu stoppen. Der Kapitän des Schiffes brauchte jedoch nur zu behaupten, dass der Umweg aufgrund notwendiger Reparaturen erfolgt sei, und die zehn Raketen würden in Damaskus landen. Die bessere Alternative wäre, die Asia Star auf ihrer Fahrt zu versenken. Wenn aber die Wahrheit ans Licht käme, gäbe es internationale Proteste und sofortige Vergeltungsaktionen durch von Damaskus gesteuerte Terrorzellen. Es war Langston Overholt IV, ein hochrangiger Vertreter der CIA, der mit der besten Alternative aufwartete: Die Corporation wurde eingeschaltet.
Cabrillo hatte gerade vier Wochen Zeit gehabt, einen Plan zu entwickeln, wie sich das Problem so glatt und mit so wenig Aufsehen wie möglich lösen ließe. Er hatte intuitiv erkannt, dass der beste Weg, dafür zu sorgen, dass die Raketen ihre Kunden nicht erreichten – seien sie nun seriös oder nicht –, darin bestand zu verhindern, dass sie Nordkorea überhaupt verließen.
Sobald die Oregon vor der Yonghung-man Bay in Position gegangen war, flogen Cabrillo, Hanley und Hali Kasim zur Bagram Airbase vor den Toren Kabuls in Afghanistan. Dazu benutzten sie eine Dassault Falcon, die mit jener identisch war, die Colonel Hourani zu benutzen pflegte.
CIA-Agenten in Damaskus bestätigten die Flugdaten für Houranis Ausflug nach Pjöngjang, und ein eigens darauf angesetzter AWACS-Aufklärer hatte den Firmenjet verfolgt, während er um die halbe Erde flog. Sobald er in den afghanischen Luftraum eindrang, war ein F-22 Raptor, der für diese eine Mission in die Region verlegt worden war, in Bagram gestartet. Die Falcon der Corporation hatte kurz darauf mit Kurs nach Süden, also weg von den Syrern, abgehoben. Während die Vereinigten Staaten sämtliche Radaranlagen kontrollierten, die das Geschehen überwachen konnten, schien es zwingend notwendig, dass der Austausch absolut unbemerkt erfolgte.
In einer der wenigen Zonen, die radartechnisch nicht überwacht werden konnten, schwenkte Tiny Gunderson, der Chefpilot der Corporation, nach Norden um. Nur war diesmal die Dassault Falcon nicht mehr allein. Sie erhielt durch einen B-2-Bomber von der Whitman Air Force Base in Missouri Gesellschaft. Weil der Bomber zwar größer war als die Falcon, vom Radar aber trotzdem nicht erfasst werden konnte, hielt Tiny seine Maschine etwa zwanzig Meter über dem Bomber. Kein erdgebundenes Radarsystem der Welt konnte eine B-2 aufspüren, und indem sie die Falcon abschirmte, blieb der Jet der Corporation unbemerkt, während sie sich Houranis Flugzeug näherten.
Bei vierzigtausend Fuß hatte die syrische Falcon ihre maximale Flughöhe erreicht, während der Raptor, der sich rasend schnell näherte, noch gute sechs Kilometer höher steigen konnte. Das Timing war von entscheidender Bedeutung. Als sich die B-2 knapp einen Kilometer hinter Houranis Maschine befand, aktivierte der Raptor seine Waffensysteme und feuerte zwei AIM-120C-AMRAAM-Raketen ab.
Hätte der syrische Jet über ein Suchradar verfügt, wären die Raketen wie aus dem Nichts auf dem Radarschirm aufgetaucht. Das ältere in Frankreich gebaute Flugzeug verfügte jedoch über kein solches System, sodass die beiden Raketen ohne die geringste Vorwarnung in die Garrett-TFE-731-Triebwerke einschlugen. Noch während die Dassault in der Luft explodierte, tauchte der Pilot der B-2 von Tiny Gundersons Falcon weg. In dieser Höhe hätte jeder Beobachter auf der Erde, der den kurzen Feuerblitz gesehen hätte, diesen für eine Sternschnuppe gehalten. Und jeder Radarbeobachter hätte bemerkt, dass die syrische Maschine plötzlich für einen kurzen Augenblick vom Radarschirm verschwand, um kurz darauf einen Kilometer weiter westlich wieder aufzutauchen und ihren Weg fortzusetzen. Mögliche Zeugen dieses Vorgangs hätten allenfalls auf einen kleinen Fehler in ihren Systemen getippt, falls sie überhaupt einen Gedanken an die Erscheinung verschwendet hätten.
Nun, da sich Cabrillo, Hanley und Kasim an Bord der Asia Star befanden, musste nur noch die Bombe deponiert werden, das Verlassen des Schiffs unbemerkt vonstatten gehen, das Rendezvous mit Eddie Seng im Mini-U-Boot stattfinden, der am besten bewachte Hafen in Nordkorea verlassen und die Oregon erreicht werden, ehe jemand begriff, dass die Star sabotiert worden war.
Nicht gerade ein typischer Arbeitstag für die Angehörigen der Corporation. Aber so grundsätzlich atypisch war er nun auch wieder nicht.
2
Ein Schrei weckte Victoria Ballinger.
Er rettete ihr auch das Leben.
Tory war die einzige Frau an Bord des Forschungsschiffes Avalon der Royal Geographic Society, nachdem ihre Kabinengefährtin eine Woche zuvor wegen einer akuten Blinddarmentzündung in ein Krankenhaus in Japan gebracht worden war. Eine Kabine für sich allein zu haben trug entscheidend zu ihrem Seelenheil bei.
Das Schiff befand sich seit einem Monat auf See. Es beteiligte sich an einem internationalen Programm zur Erforschung der Strömungen im Japanischen Meer, einer weithin unbekannten Region, weil Japan und Korea ihre Fischereirechte eifersüchtig schützten und glaubten, dass jede Form von Kooperation sie gefährden konnte.
Im Gegensatz zu ihrer Mitbewohnerin, die einige Koffer voller Kleidung und persönlicher Utensilien mitgebracht hatte, lebte Tory ausgesprochen spartanisch auf dem Schiff. Abgesehen von ihrem Bettzeug und einer kleinen Kollektion von Jeans und Rugbyshirts, die für eine Woche reichte, war ihre Kabine leer.
Der Schrei kam aus dem Korridor vor ihrer Kabinentür. Es war ein männlicher Schrei entsetzlicher Qual, der sie aufgeschreckt hatte. Noch während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb und ihre Umgebung zunehmend deutlicher erkannte, hörte sie gedämpfte Schüsse. Ihre Sinne schärften sich: Sie konnte Maschinengewehrfeuer, laute Rufe und weitere Schreie unterscheiden.
Jedermann an Bord der Avalon war gewarnt worden, dass es eine Bande moderner Piraten auf Schiffe im Japanischen Meer abgesehen hatte. Die Seeräuber hatten während der vergangenen beiden Monate vier Schiffe angegriffen, die Frachtschiffe versenkt und es den wenigen noch lebenden Matrosen überlassen, sich mit Rettungsbooten selbst in Sicherheit zu bringen. Bisher hatten nur 15 von insgesamt 172 Personen diese Angriffe überlebt. Erst gestern waren sie darüber informiert worden, dass ein Containerschiff praktisch spurlos verschwunden war. Wegen der Piratengefahr war auf der Kommandobrücke ein Waffenschrank aufgestellt worden, doch die beiden Schrotflinten und die einzige Pistole konnten gegen die Sturmgewehre, die die Gruppe Wissenschaftler und Seeleute mit einem Kugelhagel überschütteten, nicht das Mindeste ausrichten.
Der Fluchtinstinkt übernahm das Kommando, und Tory schwang sich schnell aus der Koje. Sie verschwendete zwei wertvolle Sekunden damit, eine Wahl zu treffen, die sie gar nicht hatte. Es gab keinen Ort, den sie in diesem Augenblick hätte aufsuchen können. Die Piraten befanden sich irgendwo im Korridor vor ihrer Kabine und schossen in die Räume hinein, wenn sie den Lärm richtig deutete. Sie würde in dem Moment niedergeschossen werden, in dem sie die Tür öffnete. Sie konnte nicht fliehen, und in ihrem Raum gab es nichts, was sie als Waffe hätte einsetzen können.
Das Licht eines vollen Mondes, das durch das Bullauge drang, fiel auf das abgezogene Bett gegenüber ihrem eigenen und brachte sie auf eine Idee. Sie riss die Decken und Laken von ihrem Bett und stopfte sie unter den Bettrahmen. Dann holte sie ihre Kleider aus dem Spind und achtete darauf, seine Tür ebenso offen stehen zu lassen, wie beim Spind ihrer abwesenden Mitbewohnerin. Sie vermutete, dass sie keine Zeit mehr hätte, ihre Toilettenutensilien aus dem Bad zu holen. Sie kroch unter das Bett, drückte sich in die fernste Ecke und verteilte die Kleider um ihren Körper.
Sie hatte Mühe, einen gleichmäßigen Atemrhythmus beizubehalten, als sich der erste Panikanfall am Rand ihres Bewusstseins ankündigte. Tränen sickerten aus den Winkeln ihrer blauen Augen. Sie unterdrückte ein Schluchzen, als ihre Kabinentür aufgestoßen wurde. Dann sah sie einen Taschenlampenstrahl durch den Raum wandern. Er huschte zuerst über Judys leeres Bett, ehe er ihr eigenes kontrollierte und schließlich auf den beiden leeren Spinden verharrte.
Die Füße des Piraten kamen in Sicht. Er trug schwarze Kampfstiefel, und sie konnte die Umschläge seiner schwarzen Hosenbeine sehen, die in die Schäfte gestopft waren. Der Pirat ging zum winzigen Bad und leuchtete kurz hinein. Sie hörte das Rascheln des Duschvorhangs, als er dahinterschaute. Entweder sah er Torys Seife, das Haarshampoo und die Pflegespülung nicht, oder er hielt ihr Vorhandensein nicht für wichtig. Beim Hinausgehen schlug er die Kabinentür hinter sich zu, offensichtlich überzeugt, dass der Raum leer war.
Tory blieb regungslos liegen, während sich der Kampflärm den Korridor hinunter entfernte. Auf dem Schiff befanden sich nur dreißig Personen. Die meisten lagen schlafend in ihren Kabinen, denn nachts wurde der Maschinenraum von einer Automatik überwacht, und auf der Brücke hielten nur zwei Matrosen Wache. Da ihre Kabine eine der letzten des Korridors war, musste sie davon ausgehen, dass die Piraten die gesamte Besatzung ausgelöscht hatten.
Die Besatzung. Ihre Freunde.
Wenn sie aus dieser Sache irgendwie lebendig herauskommen wollte, durfte sie nicht zulassen, dass sich dieser Gedanke in ihrem Gehirn festsetzte. Wie lange würden sie brauchen, um das Schiff zu plündern? Es gab nur wenig, das für die Piraten von Wert war. Ihre teure Ausrüstung, die wissenschaftlichen Geräte, das alles war zu voluminös, um es einfach zu stehlen. Die Unterwassersonden waren für Nichtwissenschaftler zudem absolut wertlos. Es gab ein paar Fernsehgeräte und Computer, aber sie mitzunehmen schien kaum der Mühe wert.
Dennoch, Tory rechnete sich aus, dass die Piraten wahrscheinlich eine halbe Stunde brauchen würden, um die 130 Fuß lange Avalon zu durchstöbern, ehe sie die Bodenventile öffneten und sie auf den Meeresgrund schickten. Sie zählte anhand der leuchtenden Punkte auf dem Zifferblatt der Herren-Rolex, die sie trug, die Minuten und gönnte sich den Luxus, in den winzigen Kosmos phosphoreszierender Ministerne einzutauchen, um nicht doch noch in Panik zu geraten.
Nur eine Viertelstunde verstrich, ehe sie spürte, wie sich die Bewegungen des Schiffs veränderten. Die Nacht war ruhig, und die Avalon rollte mit der sanften Dünung, ein normalerweise angenehmes Schwanken, das sie jede Nacht in den Schlaf wiegte. Tory glaubte zu spüren, dass dieses Schwanken sich verändert, verlangsamt hatte – so als wäre das Schiff schwerer geworden.
Die Piraten hatten die Bodenventile geöffnet. Sie waren bereits im Begriff, das Forschungsschiff zu versenken. Tory versuchte, die Logik in dieser Aktion zu erkennen, doch sie ergab irgendwie keinen Sinn. Sie konnten das Schiff unmöglich so schnell durchsucht haben. Sie versenkten die Avalon, ohne sie auch nur andeutungsweise ausgeraubt zu haben!
Sie konnte nicht warten. Tory schlängelte sich unter ihrem Bett hervor und stürzte zum Bullauge. Am Horizont sah sie etwas, das ihr zuerst wie eine flache Insel vorkam, doch schnell erkannte sie, dass es sich um irgendein großes Schiff handelte. In seiner Nähe befand sich ein anderes, kleineres Schiff. Es sah so aus, als wären sie im Begriff zu kollidieren, aber dieser Eindruck musste eine Folge des trügerischen Mondscheins sein. Im Vordergrund erkannte sie das Heck und die Kiellinie eines großen Schlauchboots. Das Dröhnen seiner Außenbordmotoren wurde leiser, während es sich von dem zum Tode verurteilten ozeanografischen Forschungsschiff entfernte. Sie stellte sich die Piraten darauf vor und empfand rasende Wut.
Tory verließ den Platz am Bullauge und stürzte aus der Kabine. Im Korridor waren keine Leichen zu sehen, doch der Boden war von leeren Patronenhülsen übersät, und in der Luft lag ein beißender Geruch irgendwelcher Chemikalien. Sie bemühte sich, nicht auf die Blutspritzer an der langen Korridorwand zu achten. Von ihrem ersten Rundgang, nachdem sie an Bord gekommen war, hatte Tory noch in Erinnerung, dass sich im Zodiac-Rettungsboot in der Nähe des Bugs der Avalon Überlebensanzüge befanden. Daher machte es ihr keine Sorgen, dass sie im Augenblick nur ein langes T-Shirt trug. Ihre nackten Füße klatschten auf die stählernen Bodenplatten, während sie durch den Korridor eilte. Dabei legte sie einen Arm über ihren Oberkörper, um ein in diesem Augenblick lästiges Hüpfen ihrer Brüste zu verhindern.
Sie erklomm die schmalen Stufen zum Hauptdeck. Am Ende eines weiteren Korridors befand sich eine Tür, die nach draußen führte. Zwischen ihr und dem Schott befand sich eine Leiche. Tory wimmerte, während sie sich ihr näherte. Der Mann lag auf dem Bauch. Glänzendes Blut tränkte sein dunkles T-Shirt und tropfte auf den Boden. Sie erkannte ihn an seiner Gestalt. Es war der zweite – temperamentvollere – Ingenieur, für dessen Versuche, mit ihr zu flirten, sie sich schon bald mit unverhohlenem Entgegenkommen revanchiert hatte. Sie konnte sich nicht überwinden, ihn zu berühren. Die Blutmenge verriet ihr alles, was sie wissen musste. Sie presste sich krampfhaft an die Korridorwand, während sie sich an der Leiche vorbeischob. Als sie das Ende des Ganges erreichte, blickte sie durch das kleine Fenster des Schotts nach draußen, um festzustellen, ob sich auf dem dunklen Vorderdeck noch jemand aufhielt. Sie sah niemanden, legte die Hand auf die Türklinke und wollte sie hinunterdrücken. Doch sie rührte sich nicht. Also verstärkte sie ihren Griff und versuchte erneut ihr Glück, stützte sich dann sogar mit ihrem ganzen Gewicht auf den blockierten Mechanismus. Er gab nicht nach.
Tory blieb ganz ruhig. Sie sagte sich, dass es noch viele andere Möglichkeiten gab, den Decksaufbau zu verlassen, und dass sie auf der Kommandobrücke immer noch die Scheiben einschlagen konnte, falls die Seitentüren ebenfalls versperrt sein sollten. Zuerst untersuchte sie die anderen Türen auf dem Hauptdeck, ehe sie eine weitere Treppe zur Kommandobrücke hinaufstieg. Sie wusste, dass sie sich aus dieser Lage würde befreien können, aber während sie sich der Tür näherte, die zum Brückendeck führte, breitete sich eine düstere Vorahnung in ihr aus. Obgleich sie die gesamte Besatzung getötet hatten, war es ihnen auch noch wichtig gewesen, das Schiff wie einen Sarg zu versiegeln. Eine derart offensichtliche Fluchtmöglichkeit hatten sie gewiss nicht unbeachtet gelassen. Ihre langen, schlanken Finger zitterten, als sie sich um den Knauf legten. Er drehte sich.
Tory stemmte sich gegen die massive Stahltür, aber sie wollte nicht aufgehen. Sie gab noch nicht einmal einen Laut von sich. Es gab keine größeren Fenster, durch die sie hätte klettern, kein Bullauge, durch das sie sich hätte zwängen können. Sie saß in der Falle, und diese Erkenntnis zerschlug jegliche Fassung, die sie bisher mit Mühe hatte bewahren können. Sie warf sich gegen die Tür, rammte die Schulter dagegen, wieder und wieder, bis ihr Oberarm bis hinunter zum Ellbogen völlig lädiert war. Sie schrie, bis ihre Kehle streikte und kein Krächzen mehr von sich geben wollte, und ließ sich einfach auf den kalten Stahlboden sinken. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte verzweifelt, während ihre Haare wie ein Vorhang über ihre Hände fielen.
Plötzlich durchlief die Avalon ein Ruck, und die Beleuchtung flackerte. Das Wasser, das in ihre unteren Kammern strömte, hatte offenbar einen Weg in einen anderen Teil des Schiffes gefunden. Diese Erschütterung löste bei Tory einen Schock aus, der sie aufrüttelte. Noch war sie nicht tot, und falls sie es schaffte, das Schiff vor dem Versinken zu bewahren, hätte sie auch Zeit, um nach einem Ausweg zu suchen. Sie hatte in einer der Werkstätten einen Schneidbrenner gesehen. Wenn sie ihn wiederfand, könnte sie sich einen Weg nach draußen brennen.
Daraufhin, nunmehr wieder genauso entschlossen und zielstrebig wie in den ersten schrecklichen Sekunden, als sie den Schrei gehört hatte – sie war sich jetzt sicher, dass es Dr. Halverson gewesen war, ein stets liebenswürdiger Ozeanograph, der kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag gestanden hatte –, raffte sich Tory vom Fußboden auf und rannte auf dem Weg zurück, auf dem sie hergekommen war. Sie durchquerte den Bereich mit den Mannschaftsquartieren und kam zu einer Treppe, die in die Maschinenräume hinunterführte. Als sie den unteren Absatz erreichte, traf sie der erste kalte Lufthauch. Das Rauschen des hereinströmenden Wassers ähnelte dem Getöse eines gigantischen Wasserfalls.
Sie fand sich in einem Vorraum mit einer wasserdichten Tür wieder, durch die man den Maschinenraum erreichen konnte. Sie legte die Hand auf das Metall. Es war noch warm von den riesigen Dieselmotoren. Aber als sie ihre Hand nach unten schob, bis ganz dicht über den Boden, fühlte sich der Stahl geradezu eisig an. Sie war noch nie im Maschinenraum gewesen und hatte keine Ahnung von seiner räumlichen Aufteilung. Trotzdem wollte sie es versuchen.
»Also los.« Ihre Stimme zitterte, als sie sich Mut zusprach, während sie das Schott entriegelte.
Wasser ergoss sich über ihre nackten Füße, und innerhalb von Sekunden stand es kniehoch und stieg schnell höher. Eine Stahltreppe führte hinunter auf den Grund des hell erleuchteten Maschinenraums. Jenseits des Durcheinanders von Leitungsrohren, Stromleitungen und anderen Röhren konnte Tory erkennen, dass die riesigen Motoren, jeder so groß wie ein Kleinbus, bereits zur Hälfte vom Wasser umspült wurden. In Wellen schlug es gegen ihre Gehäuse.
Sie tat einen Schritt über die Lukenkimming und stieg die Treppe beherzt hinunter. Für einen kurzen Moment verschlug es ihr den Atem: Das Wasser erreichte ihre Brust. Wahrscheinlich war es immer noch an die achtzehn Grad Celsius warm, aber sie begann schnell zu frösteln. Auf der untersten Stufe musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um den Kopf über Wasser zu halten. Halb gehend, halb schwimmend schickte sie sich an, den höhlenartigen Raum zu durchqueren, und hoffte dabei, feststellen zu können, auf welchem Weg das Wasser ins Schiff eindrang.
Während die Avalon weiterhin auf mehr oder weniger ebenem Kiel sank, schwankte sie im Rhythmus des Wellengangs. Diese Bewegung machte es Tory unmöglich, im Wasser Strömungen aufzuspüren und zu lokalisieren, wo sie am stärksten waren und sie vermuten konnte, dass sich dort irgendwelche Öffnungen befanden. Das Wasser im überfluteten Maschinenraum schäumte und brodelte wie in einem riesigen Kochtopf. Nach nur wenigen Minuten hektischer Suche verloren ihre Zehen den Kontakt mit den Deckplatten. Tory schwamm noch gut eine Minute fruchtlos herum. Es gab nichts, was sie hätte tun können. Selbst wenn sie die Bodenventile fände, sie wüsste doch nicht, wie sie zu bedienen waren.
Die Beleuchtung flackerte wieder, erlosch kurzfristig, und als die Lampen erneut aufflammten, waren sie nur noch halb so hell. Das war für sie das Zeichen, diesen Ort schnellstens zu verlassen. Im Dunkeln würde sie niemals aus dem labyrinthartigen Gangsystem herausfinden. Sie glitt mit kräftigen Schwimmzügen durch das Wasser und schwamm geradewegs in den Vorraum. Als sie wieder Grund unter den Füßen fand und sich aufrichtete, stellte sie fest, dass der Wasserspiegel jetzt schon ihre Taille erreichte. Sie musste ihre gesamte Kraft aufbieten, um die Tür zum Maschinenraum zu schließen. Im Stillen betete sie, dass – sobald die Tür geschlossen war – das Schiff noch lange genug schwimmfähig blieb, bis ein anderes vorbeikäme.
Kalt und fröstelnd kehrte Tory nach oben zum zweiten Deck zurück und tappte zu ihrer Kabine. Sie trocknete sich im Bad ab, raffte ihr schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog ihre wärmsten Kleider an. Die Luft hatte sich merklich abgekühlt. Sie hatte es nicht bemerkt, aber irgendwo im Maschinenraum hatte sie sich einen Schnitt am Mundwinkel zugezogen. Mit dem Handtuch wischte sie sich die wässrige Blutspur von der Unterlippe ab. Unter normalen Umständen boten ihre prägnanten Gesichtszüge einen fesselnden Anblick, vor allem in Kombination mit den leuchtend blauen Augen. Als Tory sich nun im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete, erblickte sie jedoch den gehetzten Ausdruck von jemandem, der sich auf seinem letzten Gang zum Galgen befand.
Sie wandte sich hastig ab und ging zum Bullauge. Sie konnte nun weder den Mond oder auch nur seinen milchigen Schein noch das Boot der Piraten oder die großen Schiffe sehen, die sie vorhin am Horizont entdeckt hatte. Die Nacht war tiefschwarz, trotzdem wollte sie ihren Platz am einzigen Fenster zur Außenwelt nicht verlassen.
Wenn sie irgendwelche Schmiere oder einen Vorrat an Bratfett fände, könnte sie ihren Körper damit einschmieren und sich durch das Bullauge zwängen. Sie dachte, dass die Fenster in der Messe eine Etage höher ein wenig größer waren. Auf jeden Fall war es einen Versuch wert. Sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als etwas Dunkles draußen vorbeihuschte. Sie versuchte, etwas zu erkennen, und strengte ihre Augen so sehr an, dass sie zu tränen begannen.
Dann glaubte sie, die Erscheinung noch einmal zu bemerken. Sie befand sich etwa drei Meter vom Schiff entfernt. Ein Vogel? Es bewegte sich zumindest genauso, aber ganz sicher war sie sich nicht. Und dann tauchte es vor dem Bullauge auf und füllte es ganz aus. Tory wich mit einem Schrei zurück. Vor ihrer Kabine verharrte ein grauer Fisch mit weit aufgerissenem Maul. Für einen Moment war deutlich zu erkennen, wie das Wasser durch seine Kiemen gepumpt wurde. Der riesige Seebarsch betrachtete sie mit seinen gelben Augen noch ein paar Sekunden länger, angelockt vom Licht in der Kabine, ehe er davonschwamm.
Was Tory Ballinger von ihrer Kabine tief unten im Schiffsrumpf aus nicht sehen konnte, war, dass das Oberdeck der Avalon bereits überspült wurde. Wellen leckten über das Heck und die Frachtluken am Bug. In wenigen Minuten würde das Wasser bis zur Kommandobrücke steigen und sich über dem Schiff schließen, sodass sein am Heck aufgestellter Ladekran aus dem Meer ragte – wie ein knochiger Arm, der verzweifelt einen rettenden Halt sucht. Ein paar Minuten danach würde der Ozean auch den einzigen Schornstein des Forschungsschiffes verschlingen, und die Avalon würde den unaufhaltsamen Abstieg zum Meeresboden beginnen, mehr als drei Kilometer tief.
3
Als ein Paar nordkoreanischer Agenten von der brutalen State Safety & Security Agency erschien, um ihre syrischen Kunden abzuholen, lasen zwei von ihnen im Koran, während der dritte in Konstruktionspläne der Nodong-Raketen vertieft war. Einer der Wächter forderte das Trio mit einer Geste, die gleichzeitig einen ungehinderten Blick auf eine Pistole in einem Schulterhalfter gestattete, auf, ihm zu folgen. Cabrillo und Hali Kasim steckten die kleinen Gebetbücher weg, während Hanley die Pläne wieder in seinem gewichtigen Aktenkoffer verstaute und die Zahlenschlösser zudrückte.
Sie folgten einem verschlungenen Weg durch die Asia Star, einen in Panama registrierten Schüttgutfrachter, der zum Containerschiff umgebaut worden war. Äußerlich alt und ein wenig abgenutzt wirkend, befand sich das Innere doch in einem sorgsam gepflegten Zustand: Die Schotts waren mit frischer Farbe versehen worden. Außerdem wirkte das Schiff bis auf die beiden Spione, die als Eskorte fungierten, leer und verlassen.
An einem Schott unter dem Hauptdeck öffnete einer der Wächter eine Luke. Dahinter erstreckte sich eine dunkle Höhle aus Stahl, in der es schwach nach Bilgenwasser und altem Metall roch. Der Mann knipste einige Reihen Deckenlampen an, und ihr fluoreszierendes Leuchten gab den Blick auf zehn Nodong-Raketen frei, die in speziellen Gestellen ruhten und deren Umrisse von einer dicken schwarzen Abdeckplane aus Plastik verhüllt wurden. Jede Rakete war gut zwanzig Meter lang, hatte einen Durchmesser von knapp anderthalb Metern und wog fünfzehn Tonnen, wenn ihre Flüssigtreibstofftanks gefüllt waren. Auf der ehrwürdigen russischen Scud-D-Rakete basierend, konnte die Nodong eine Nutzlast von einer Tonne an die tausend Kilometer weit transportieren.
Im muffigen Laderaum des Frachters verloren die verhüllten Raketen nichts von ihrer Aura der Bedrohung und des Todes. Und das Wissen, was mit zwei dieser Raketen geplant war, steigerte die Entschlossenheit der Angehörigen der Corporation noch um einiges.
Die drei Männer stiegen über eine Reihe von Metalltreppen in den Laderaum hinunter. Max Hanley, in der Rolle des Raketenexperten, trat sofort zur ersten Rakete. Er wandte sich in barschem Ton an die Agenten, die am Schott stehen geblieben waren, und verlangte von ihnen, dass sie die Plastikplane von den Nodongs entfernten.
General Kim erschien in dem Augenblick, als Max soeben eine Abdeckplane von der ersten Rakete entfernt hatte und sich nun mit einem Schaltkreisprüfer in der Hand über die Öffnung beugte. »Wie ich sehe, konnten Sie es nicht abwarten, unsere neuesten Waffen zu untersuchen.«
»Sie sind beeindruckend«, erwiderte Cabrillo, dem in diesem Augenblick nichts anderes einfallen wollte.
»Unsere Experten haben die alte sowjetische Konstruktion grundlegend überarbeitet, die Gefechtsköpfe sind erheblich wirkungsvoller.«
»Welche beiden sollen in Somalia ausgeladen werden?«
Der Nordkoreaner gab die Frage an einen der beiden Wächter weiter, der auf zwei Raketen im hinteren Teil des Laderaums deutete. »Diese beiden da unter der roten Plastikplane. Wegen der eingeschränkten – wenn nicht gar primitiven – technischen Möglichkeiten in Mogadischu wurden die Gefechtsköpfe bereits montiert. Der Treibstoff für diese beiden kann aus den Tanks im vorderen Frachtraum entnommen werden, um den engen Zeitplan für den Start einzuhalten, vorausgesetzt, sie fügen die korrodierende Substanz nicht zu früh hinzu. Drei Tage vor der Ankunft in Somalia ist früh genug.«
»Ich denke, ein ganzer Tag ist sicherer«, widersprach Juan. Er wusste, dass Kim mit seiner Bemerkung lediglich hatte testen wollen, wie gut er sich in Raketentechnik auskannte. Die Flüssigkeit drei Tage vor dem Start einzufüllen würde zur Folge haben, dass sich die dünnen Aluminiumtanks der Rakete auflösten und die Asia Star höchstwahrscheinlich auf hoher See in die Luft flog.
»Wo habe ich meinen Kopf? Entschuldigen Sie. Jede Frist, die länger als einen Tag dauerte, wäre verhängnisvoll.« In Kims Worten lag wenig Wärme.
Cabrillo hoffte im Stillen, dass der General sich noch an Bord befand, wenn die Raketen explodierten. Max Hanley rief ihn zu sich herüber, um sich etwas im elektronischen Gehirn der Nodong anzusehen. Hali Kasim trat neben ihn, und für die Dauer einer geschlagenen Viertelstunde starrten die Männer stumm in das Gewirr aus Drähten und Schaltkreisen. Wie beabsichtigt und erhofft konnten sie hören, wie Kim sein Gewicht ungeduldig von einem auf den anderen Fuß verlagerte und vor sich hin murmelte. »Ist irgendetwas?«, fragte er schließlich.
»Nein, alles scheint in Ordnung zu sein«, erwiderte Cabrillo, ohne sich umzudrehen.
Sie spielten dieses Spiel weitere fünfzehn Minuten lang. Gelegentlich zog Max zur Überprüfung eines bestimmten Details die Pläne zu Rate, die er mitgebracht hatte, doch ansonsten spielten die Männer konsequent die Rolle stummer und regloser Standbilder.
»Ist das wirklich nötig, Colonel Hourani?«, fragte Kim mit einem Ausdruck unverhohlener Ungeduld.
Cabrillo fuhr sich mit einem Finger über den falschen Bart, um sich zu vergewissern, dass er sich noch an Ort und Stelle befand, ehe er sich umdrehte. »Es tut mir leid, General. Mr. Muhammad und Professor Khalidi sind sehr gründlich, obwohl ich allerdings annehme, dass sie sich bei den anderen Raketen beeilen werden, wenn sie sich ausgiebig davon haben überzeugen können, dass diese erste Rakete hundertprozentig funktionsfähig ist.«
Kim warf einen Blick auf die Uhr. »Ich könnte diese Gelegenheit wahrnehmen und in der Kabine des Kapitäns einiges an Papierkram erledigen. Sie können mir dort Bescheid sagen, nachdem Sie Ihre Inspektion abgeschlossen haben. Diese Männer bleiben bei Ihnen für den Fall, dass Sie irgendetwas brauchen.«
Juan unterdrückte ein Grinsen. »Wie Sie wünschen, General Kim.«
Die drei Angehörigen der Corporation begaben sich zehn Minuten später zur zweiten Rakete. Die beiden Wächter hatten sich auf der Treppe niedergelassen, von wo aus der gesamte Laderaum zu überblicken war. Einer rauchte eine Zigarette nach der anderen, während der zweite die Araber beobachtete, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Beide hatten die Jacken geöffnet, um nötigenfalls schnell nach ihren Waffen greifen zu können. Kim mochte die ganze Operation als langweilig empfinden, aber die beiden Geheimpolizisten ließen in ihrer Wachsamkeit keine Sekunde lang nach.
Es war kein fester Zeitpunkt für das Rendezvous mit Eddie Seng festgelegt worden. Falls alles nach Plan gelaufen war, hätte er das Mini-U-Boot in eine Position in nächster Nähe des Hecks der Star gebracht, sodass das raffinierte Passivsonar des kleinen Tauchboots die Geräusche auffangen würde, wenn die drei Männer ins Wasser sprangen. Die Enge des Zeitplans ergab sich aus Juans Bestreben, die Oregon noch vor Tagesanbruch in internationale Gewässer zu bringen.
Bis zum Morgengrauen blieben ihnen noch drei Stunden. Er berechnete die Zeit, die sie brauchen würden, um das U-Boot zu besteigen, aus der Yonghung-man Bay zu fliehen und die Oregon zu erreichen. Danach hing alles von den magnetohydrodynamischen Maschinen des Schiffes ab, in die Cabrillo sein uneingeschränktes Vertrauen setzte. Die Technologie, aus dem Meerwasser extrahierte freie Elektronen zum Antrieb zu verwenden, befand sich noch in ihrem Experimentierstadium, aber in den zwei Jahren seit seiner Auslieferung hatte ihn das komplexe System tiefgekühlter Magneten, das die notwendige Energie erzeugte, um die Pumpen der vier Impuls-Wasserjets anzutreiben, noch nie im Stich gelassen.
Es wurde Zeit. Cabrillo verspürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Es war keine richtige Angst, sondern eine Anspannung, hervorgerufen durch seinen alten Feind, Murphys Gesetz. Es hatte beinahe religiösen Charakter für ihn. Er war ein hervorragender Techniker und Stratege wie auch ein absoluter Meister der Planung, aber er war sich auch der Unwägbarkeiten des Zufalls bewusst – eine Fehlerquelle, die man niemals völlig außer Acht lassen durfte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Operation glatt abgelaufen, was jedoch die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass bald irgendetwas schiefging.
Er bezweifelte nicht, dass sie ihren Schwindel aufrechterhalten könnten, bis das Schiff in Somalia einträfe. Doch das hätte ein Scheitern bedeutet: Und dies war nur ein weiterer von Cabrillos Erzfeinden, den er sogar noch mehr hasste als Mr. Murphys berühmte Regel. Aber er wusste, dass es kein Zurück gäbe, sobald sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt hätten. Falls ihnen das Glück nicht hold war, würden er und Max und Hali sterben. Eddie Seng hätte die Chance zu fliehen, aber damit wäre kaum zu rechnen. Wenn ihnen das Glück jedoch treu blieb, dann würden dem Konto der Corporation auf den Cayman-Inseln in ein paar Stunden zehn Millionen Dollar gutgeschrieben, überwiesen aus dem Geheimetat Uncle Sams.
Cabrillo tippte auf seine Armbanduhr, ihr geheimes Zeichen, und plötzlich verflog jegliche Unsicherheit und Nervosität. Juan schaltete sich sozusagen selbst auf Autopilot und vertraute dabei auf seine Fertigkeiten, erlernt in der ROTC, dann verfeinert im Trainingszentrum der CIA im ländlichen Virginia und perfektioniert durch fünfzehn Jahre aktiven Einsatz an vorderster Front.
Hali veränderte seine Position ein wenig und versperrte so dem Wächter die Sicht auf Max Hanley, während dieser zwei versteckte Schlösser seines Aktenkoffers aufschnappen ließ. Juan wandte sich von der Rakete ab, fing den Blick des nikotinsüchtigen Wächters auf und vollführte eine unmissverständliche Geste, mit der er ihm andeutete, dass er gern eine Zigarette von ihm hätte. Er schickte sich an, den Frachtraum zu durchqueren, während der Nordkoreaner eine fast leere Schachtel aus seiner Jacke holte.
Außer Sicht der abgelenkten Wächter angelte Max Hanley die Bombe aus dem Geheimfach seines Aktenkoffers. Der Sprengkörper war kleiner als eine CD-Hülle und ein wahres Wunderwerk an Miniaturisierung, das die Wucht einer Claymore-Mine entfalten würde.
Juan hatte sich der Treppe bis auf knapp zwei Meter genähert, als der Raucher aufstand und die Stufen herunterkam. Juan hatte darauf gebaut, dass der Mann neben seinem Partner sitzen blieb. Verdammter Murphy. Er nahm die angebotene Zigarette, schob sie sich zwischen die Lippen und beugte sich vor, damit der Wächter sie mit seinem heißgeliebten Zippo-Feuerzeug anzündete.
Juan nahm einen Zug, behielt den Rauch eine Sekunde lang im Mund und stieß ihn dann in einem heftigen Hustenanfall so explosionsartig aus, als wäre der Tabak stärker, als er erwartet hatte. Der Wächter lachte spöttisch über Cabrillos Reaktion und blickte zu seinem Partner hin, um eine Bemerkung zu machen.
Er bemerkte nicht, dass Cabrillos Hustenanfall ihm gestattet hatte, seinen Körper wie eine Sprungfeder zu verdrehen, sodass der Schlag, mit dem Juan ihn attackierte, jede Unze Kraft seiner eins achtzig großen Gestalt enthielt. Die Faust landete genau auf dem Punkt am Kinn des Wächters und schickte ihn zu Boden, als wäre er von einem tödlichen Schuss getroffen worden. Juan konnte über die Reflexe des zweiten Wächters nur ungläubig staunen. Er hatte mit wenigstens zwei Sekunden gerechnet, die er brauchen würde, um überhaupt zu begreifen, was geschah.
Stattdessen stürmte der Mann bereits die kurze Treppe hinauf und griff in sein Schulterhalfter, als Cabrillo hinter ihm herhechtete. Juan nahm zwei, drei Stufen und streckte sich nach den Füßen des Mannes. Der Lauf der Automatik glitt aus dem Halfter, als sich Cabrillos Hände um die Unterschenkel des Koreaners schlossen. Cabrillo prallte mit seinem ganzen Gewicht auf die Stahltreppe, krachte mit dem Kinn auf die scharfe Kante einer Stufe, doch sein Schwung riss den Nordkoreaner von den Füßen und ließ ihn rückwärts die Treppe hinunterstürzen. Dabei landete die Pistole klappernd auf dem oberen Absatz.
Cabrillo kämpfte sich auf die Füße. Blut sickerte aus der Wunde an seinem Kinn, und Adrenalin rauschte durch seine Adern. Selbst wenn der Koreaner mit seiner Pistole nicht richtig zielen konnte, der Knall eines einzigen Schusses würde Kim aufscheuchen und eine ganze Armee von Sicherheitsleuten zum Schiff rufen. Hinter den kämpfenden Männern war Max Hanley zu der Rakete gerannt, die das heilige Mekka in Schutt und Asche legen sollte. Er musste die Bombe dicht genug am Gefechtskopf platzieren, um eine zweite Detonation auszulösen. Hali Kasim zog ein Stilett aus dem Einband seines Korans und rannte zur Treppe. Er wusste, dass der Kampf beendet wäre, ehe er den Chef der Corporation erreichte, aber er sprintete trotzdem los.
Juan versuchte, seinen Ellbogen in den Unterleib des Koreaners zu rammen, während er sich auf allen vieren die Treppe hinaufschob. Der Stoß ging daneben, als sich der geschmeidige Wächter wegdrehte, und Juan spürte, wie sein Arm vom Ellbogen abwärts taub und gefühllos wurde, während er auf den Boden krachte. Er fluchte und schaffte es schließlich, das rechte Handgelenk des Mannes zu packen, ehe seine Finger sich um die Pistole schließen konnten. Trotz seiner überlegenen Größe und Kraft befand sich Cabrillo in einer ungünstigen Position und spürte, wie der Koreaner der Waffe immer näher kam.
Hali war drei Meter von der Treppe entfernt, als sich der Wächter ruckartig nach der Pistole streckte. Juan ließ sich von dem Mann mitziehen, und sein nutzloser Arm prallte wie ein Uhrpendel seitlich gegen den Kopf des Koreaners und betäubte ihn für einen kurzen Moment. Der Wächter schüttelte unwillig den Kopf und stieß Juans rechtes Bein mit einem Tritt gegen das Treppengeländer. Ein scharfes Krachen, als wäre ein Knochen gebrochen, überlagerte das heftige Keuchen der Kämpfenden. Der Wächter war sicher, dass der Syrer außer Gefecht war, und konzentrierte sich wieder darauf, an seine Waffe zu kommen. Aber Cabrillo war noch nicht einmal angekratzt. Während der Koreaner den Lauf seiner Pistole ergriff, packte Juan sein Handgelenk und schmetterte es mehrmals auf den Boden. Beim dritten Aufprall flog die Automatik davon und hüpfte klappernd die Treppe hinunter. Hali fing sie auf und rannte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und erwischte den Wächter mit dem Griff der Pistole seitlich am Kopf. Die Augen des Koreaners verdrehten sich, er streckte sich einmal und rührte sich dann nicht mehr.
»Bist du okay, Boss?«, fragte Kasim und half Cabrillo beim Aufstehen.
Max kam die Treppe schneller heraufgestürmt als jemand, der nur halb so alt war wie er. »Frag ihn später. Die Bombe tickt, wir haben nicht mehr als fünfzehn Minuten.«
Vertraut mit den Lageplänen aller Arten von Schiffen, eilten die drei Männer mit schlafwandlerischer Sicherheit zum Hauptdeck, wo sie einen Augenblick innehielten, um sich zu vergewissern, dass in diesem Bereich keine Wächter Dienst taten. Sie konnten den schlanken Zerstörer mitten in der Bucht liegen sehen, dessen 10-Zentimeter-Kanonen auf den äußeren Hafen zielten. An Deck war niemand zu sehen, daher sprinteten die drei zur Reling und sprangen ohne viel Aufhebens ins Wasser.
Das Wasser war kalt und schmeckte wie Benzinsuppe. Max spuckte einen Mundvoll aus, während er das weite Gewand über seinen Kopf zog. Darunter trug er eine Badehose und eine hautenge Wärmejacke. Juan befreite sich von seinen Stiefeln, blieb aber in Uniform. Er war sozusagen in der Brandung von Südkalifornien aufgewachsen und fühlte sich im Wasser genauso wohl wie auf festem Land. Hali Kasim, das jüngste Mitglied des Angriffsteams, schlüpfte aus seiner Jacke, trennte sich von seinen Schnürstiefeln und drückte sie unter Wasser. Sie schwammen leise zum Schiffsheck und duckten sich unter den gewölbten Rumpf, um von oben nicht zu sehen zu sein.
Man musste zwischen Tempo und Heimlichkeit abwägen. Eddie – mit der elf Meter langen Discovery 1000 – hätte auf Tauchstation bleiben können, und die Männer hätten durch die Luftschleuse einsteigen können, was sogar unter den besten Bedingungen ein zeitraubender Prozess war. Juan hatte entschieden, Eddie sollte sich mit dem U-Boot zeigen, damit die Männer durch die obere Luke klettern konnten. Sie wären nicht länger als eine halbe Minute zu sehen, und in nächster Nähe des akustischen Durcheinanders von Wellen, die gegen die stillstehende Schraube und das Steuerruder der Asia Star schlugen, würden alle anderen Geräusche sie vor koreanischen Überwachungssystemen abschirmen.
Die Wartezeit dauerte nicht länger als eine Minute, ehe direkt hinter der Asia Star Luftblasen aufstiegen. Sie waren schon unterwegs zu der Stelle, bevor die flachen Aufbauten des Mini-U-Boots aus den Wellen auftauchten. Hali erreichte das Tauchboot als Erster und schwang sich an Bord. Er machte sich an der Lukenabdeckung zu schaffen, während die letzten Wasserreste vom mattschwarzen Rumpf des Bootes abliefen. Der Verschluss öffnete sich mit einem hörbaren Zischen, und er ließ sich einfach ins dunkle Innere des U-Boots fallen, dicht gefolgt von Max und Juan. Cabrillo und Max hatten die Luke nur einen Augenblick später bereits geschlossen, wobei sie mehr nach Gefühl agierten als mit Sicht, da das einzige Licht in der Discovery 1000 das matte Schimmern der elektronischen Geräte im Cockpit war.
Juan betätigte einen Schalter in der Mitte eines Schotts, und zwei rote Leuchten flammten auf. Die Discovery war nicht dafür konstruiert, tiefer als fünfunddreißig Meter zu tauchen, und konnte nicht länger als vierundzwanzig Stunden unter Wasser bleiben, ohne nach einer solchen Zeitspanne die Batterien aufzuladen und die Kohlendioxidfilter auszuwechseln. Für diese Mission waren die Sitze für acht Personen ausgebaut worden, um Platz für jede Menge Batterien zu schaffen, allesamt klobige Kisten, die mit Bündeln bunter Stromkabel und Drähte untereinander verbunden waren. Kisten voller Ersatzfilter sowie Proviant für Eddie Seng nahmen den restlichen verfügbaren Raum ein. Hinzu kam eine chemische Toilette, die aus einem Durcheinander von leeren Lebensmittelpackungen ragte. Die Luft war feucht und hatte den typischen Umkleideraumgeruch.
Eddie war in dem U-Boot die ganze Zeit allein gewesen, seit es fünfzehn Tage zuvor von der Oregon aus auf die Reise geschickt worden war. Da der Hafen mit einem Unterwasser-Abhörsystem versehen worden war und regelmäßig mit einem Aktivsonar abgesucht wurde, hatte Eddie Seng so lange gebraucht, sich in dem rundum geschützten Gelände treiben zu lassen. Er war während der leichten Ebbe auf Grund gegangen und hatte sich mitschieben lassen, wenn die Flut wieder in den Hafen drückte. Dabei hatte er die Elektromotoren nur im Schutz eines einlaufenden Schiffs oder eines Patrouillenboots eingeschaltet. Es gab keine andere Möglichkeit, das U-Boot in den Marinestützpunkt zu bringen, ohne aufgespürt zu werden.
Während es in der Mannschaft der Oregon auch noch andere U-Boot-Fahrer gab, wollte Eddie als Chef der Landeoperationen nicht zulassen, dass jemand anders das Risiko einging. Seng war ebenfalls ein CIA-Veteran, allerdings war ihm Juan nie begegnet, als sie beide für die Agency gearbeitet hatten. Er hatte die meiste Zeit seiner Tätigkeit für die CIA im Mittleren Osten verbracht, während Eddie Seng bei der amerikanischen Botschaft in Peking mehrere erfolgreich operierende Spionageringe aufgebaut und geleitet hatte. Etatänderungen und politische Korrekturen als Reaktion auf den 11. September hatten ihn an einen Schreibtisch in der Heimat geführt. Immer noch hungrig nach dem, was er »das Kerngeschäft« nannte, war Seng der Corporation beigetreten und hatte sich schnell als unentbehrliches Mitglied etabliert.
Cabrillo kroch über Batterien und leere Kisten und ließ sich auf den Copilotensitz rechts neben Eddie gleiten. Eddies schwarze Haare glänzten fettig, weil sie so lange nicht gewaschen worden waren, und Bartstoppeln verunzierten sein sonst glattes Gesicht. Der emotionale und physische Stress der vergangenen zwei Wochen hatte seine meist strahlenden Augen müde und stumpf werden lassen.
»Hi-ya, Boss.« Seng grinste. Nichts konnte seinem unbeschwerten Charme etwas anhaben. »Willkommen an Bord.«
»Danke«, sagte Juan, als er feststellte, dass das Boot bereits auf zehn Meter gesunken war. »Die Uhr tickt, deshalb nimm Kurs aus dem Hafen und gib Gas. Wir haben elf Minuten.«
Die Motoren der Discovery liefen hoch, und die einzelne Schraube fraß sich regelrecht ins Wasser. Es gab nichts, was sie gegen den Lärm hätten tun können. Sie mussten so weit wie möglich von der Asia Star wegkommen, denn Wasser kann nicht komprimiert werden, wodurch die bevorstehende Druckwelle eine doppelt brutale Wirkung entfalten würde.
Cabrillo behielt das Sonar des Tauchboots im Auge, und nur eine Minute nachdem sie ihre Flucht begonnen und sich von dem zum Untergang verurteilten Frachter entfernt hatten, kam es zum Kontakt. »Mr. Murphy reckt sein hässliches Haupt.«
»Was haben wir?« Hanley trat hinter Juan und beugte sich über seine Schulter.
Der Computer analysierte das akustische Signal, und Cabrillo las das ernüchternde Ergebnis laut vor. »Patrouillenboot der Sinpo-Klasse. Zwölf Mann Besatzung. Zwei 37-mm-Schnellfeuerkanonen und Abwurfvorrichtungen für Wasserbomben. Höchstgeschwindigkeit vierzig Knoten, und unser Kontakt läuft bereits mit zwanzig Knoten genau auf uns zu.«
Eddie wandte sich an Juan. »Das ist eine reine Routinefahrt. Das tun sie schon, seit ich mich in den Hafen geschlichen habe. Alle zwei Stunden jagt ein einzelnes Patrouillenboot am Pier entlang. Ich glaube, sie halten nach Matrosen Ausschau, die versuchen, auf das Schiff zu kommen und außer Landes zu fliehen.«
»Wenn der Eimer seinen Kurs beibehält, läuft er genau über uns hinweg.«
»Verfügt diese Bootsklasse über ein Sonar?«, wollte Max wissen.
Juan zog wieder den Computer zu Rate. »Davon ist hier nichts zu finden.«
»Was soll ich jetzt tun?« Eddies Stimme blieb ruhig und klang professionell. »Soll ich weiter Fahrt machen oder mich auf den Meeresgrund hocken und ihn passieren lassen?«
Cabrillo blickte wieder auf seine Uhr. Sie hatten kaum einen halben Kilometer zurückgelegt. Zu wenig. »Gib Gas. Wenn sie uns hören oder unsere Kiellinie entdecken, werden sie bremsen und umkehren müssen, um uns wieder zu finden. Wir brauchen nur sechs Minuten.«
Wenige Sekunden später konnten die Männer im U-Boot das Wirbeln der Schiffsschrauben im Wasser über sich hören. Es war ein wütendes Geräusch, das zunehmend bedrohlicher klang, je mehr sich das Schiff ihrer Position näherte. Als es über sie hinwegrauschte, ließen die Schwingungen und der Lärm den Rumpf erzittern, und die Männer warteten gespannt, ob das Boot zwecks einer intensiveren Suche zurückkäme. Die Sekunden dehnten sich wie ein zum Zerreißen gespanntes Gummiband. Max und Hali atmeten zischend aus, als das Patrouillenboot seine Fahrt fortsetzte. Cabrillos Augen klebten jedoch weiterhin am Schirm des Sonars.
»Sie machen kehrt«, stellte er wenige Augenblicke später fest. »Sie kommen zurück, um nachzusehen. Hali, setz dich ans Funkgerät und versuch herauszukriegen, ob sie senden.« Hali Kasim war der Chef der gesamten Kommunikation auf der Oregon und konnte wie ein Konzertpianist auf Funkgeräten spielen.
Die Kommunikationszentrale an Bord der Oregon