Tödliche Besessenheit - Elke Schwab - E-Book

Tödliche Besessenheit E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

"Der barbarischen Rohheit des Vierteilens fielen vor allem Verräter und Attentäter zum Opfer. Ein Schmunzeln huschte bei diesen Gedanken über sein Gesicht. Er ließ den Blick durch das düstere Gewölbe schweifen und spürte, wie ihn sein Plan mit großer Zuversicht und Freude erfüllte. Seine unübertreffliche Intelligenz hatte ihn nach Fertigstellung der Maschine, die das Vierteilen vollziehen sollte, restlos überzeugt: Er war ein Genie. Niemand konnte ihm das Wasser reichen. Der Frevler, für den er diese Kostbarkeit aufgehoben hatte, durfte keinen einfachen Tod sterben, schließlich hatte er sich des Verrats schuldig gemacht. Er hatte versucht, seiner gerechten Strafe zu entgehen. Aber niemand durfte sich seinem Meister entziehen." Die tote Frau am Fuße eines Saarbrücker Hochhauses scheint ein Routinefall für die Kommissare Baccus und Borg zu werden. Doch als nur wenig später die enthauptete Leiche eines einflussreichen Immobilienmaklers gefunden wird, dämmert den beiden, dass sie es mit dem Beginn einer Reihe grausamer Ritualmorde zu tun haben ... Von mittlerweile insgesamt neunzehn Krimis der Saarländerin Elke Schwab ist "Tödliche Besessenheit" der fünfte Teil der bislang sechsbändigen Krimireihe mit Lukas Baccus und Theo Borg (Prequel "Gewagter Einsatz", "Mörderisches Puzzle", "Eisige Rache", "Blutige Mondscheinsonate", "Tödliche Besessenheit", "Tickende Zeitbombe"). Die beiden übermütigen Kriminalkommissare klären mit lockeren Sprüchen spektakuläre Fälle auf.

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Seitenzahl: 426

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Im Nordosten von Frankreich in einem alten elsässischen Bauernhaus entstehen die spannenden Krimis der gebürtigen Saarländerin Elke Schwab. In der Nähe zur saarländischen Grenze schreibt und lebt sie zusammen mit ihrem Mann samt Pferden, Esel und Katzen. Sie wurde 1964 in Saarbrücken geboren und ist im Saarland aufgewachsen. Nach dem Gymnasium in Saarlouis arbeitete sie über zwanzig Jahre im Saarländischen Sozialministerium, Abteilung Altenpolitik. Schon als Kind schrieb sie über Abenteuer, als Jugendliche natürlich über Romanzen. Später entschied sie sich für Kriminalromane. 2001 brachte sie ihr erstes Buch auf den Markt. Seitdem sind fünfzehn Krimis und sechs Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden. Ihre Krimis sind Polizeiromane in bester „Whodunit“-Tradition. 2013 und 2014 erhielt sie den Saarländischen Autorenpreis der „HomBuch“ in der Kategorie „Krimi“. 2013 wurde ihr der Kulturpreis des Landkreises Saarlouis für literarische Arbeit mit regionalem Bezug überreicht..

Bisher erschienen:

•Tödliche Besessenheit – Solibro Verlag, 2015

•Pleiten, Pech und Leichen – Sutton Verlag, 2014

•Blutige Mondscheinsonate – Solibro Verlag, 2014

•Urlaub mit Kullmann – Ub-Verlag, 2013

•Eisige Rache – Solibro Verlag, 2013

•Blutige Seilfahrt im Warndt – Conte Verlag, 2012

•Mörderisches Puzzle – Solibro Verlag, 2011

•Galgentod auf dem Teufelsberg – Conte Verlag, 2011

•Das Skelett vom Bliesgau – Conte Verlag, 2010

•Hetzjagd am Grünen See – Conte Verlag, 2009

•Tod am Litermont – Conte Verlag, 2008

•Angstfalle – Gmeiner Verlag, 2006

•Grosseinsatz – Gmeiner Verlag, 2005

•Kullmanns letzter Fall – Conte Verlag, 2004

•Ein ganz klarer Fall – Eigenverlag, 2001

Elke Schwab

TÖDLICHEBESESSENHEIT

Ein Baccus-Borg-Krimi

SOLIBRO Verlag Münster

1. Sprado, Hans-Hermann: Risse im Ruhm.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2005

ISBN 978-3-932927-26-5 • eISBN 978-3-932927-67-6 (eBook)

2. Sprado, Hans-Hermann: Tod auf der Fashion Week

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007

ISBN 978-3-932927-39-3 • eISBN 978-3-932927-68-3 (eBook)

3. Elke Schwab: Mörderisches Puzzle

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011

ISBN 978-3-932927-37-9 • eISBN 978-3-932927-64-5 (eBook)

4. Elke Schwab: Eisige Rache

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2013

ISBN 978-3-932927-54-6 (TB) • eISBN 978-3-932927-72-0 (eBook)

5. Elke Schwab: Blutige Mondscheinsonate

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2014

ISBN 978-3-932927-85-0 (TB) • eISBN 978-3-932927-86-7 (eBook)

6. Elke Schwab: Tödliche Besessenheit

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2015

ISBN 978-3-932927-95-9 (TB) • eISBN 978-3-932927-96-6 (eBook)

eISBN 978-3-932927-96-6

1. Auflage 2015

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2015

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Michael Rühle

Coverfoto: © iStockphoto.com/knape

Foto der Autorin: Alida Scharf, Köln

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www.solibro.deverlegt. gefunden. gelesen.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Buchempfehlungen

Prolog

Der barbarischen Rohheit des Vierteilens fielen vor allem Verräter und Attentäter zum Opfer. Wie Robert-François Damiens, ein Mann „mit Adlernase, sehr tief liegenden Augen und krausen Haaren“. Er hatte 1757 ein Attentat auf Ludwig XV. unternommen. In einem Musterprozess wurde er zum Tode durch Vierteilung seines Körpers nach vorher durchzuführenden Folterungen verurteilt: Er sei am ganzen Körper mit glühenden Zangen zu reißen; anschließend seien geschmolzenes Blei, siedendes Öl und brennendes Pechharz, Wachs und geschmolzener Schwefel in seine Wunden zu gießen. Schließlich sollten vier Pferde den Körper des Malträtierten zerreißen; Glieder und Rumpf seien anschließend zu verbrennen und ihre Asche in alle vier Winde zu zerstreuen.

Ein Schmunzeln huschte bei diesen Gedanken über sein Gesicht.

Er ließ den Blick durch das düstere Gewölbe schweifen und spürte, wie ihn sein Plan mit großer Zuversicht und Freude erfüllte. Es war ihm gelungen, anstatt der vier Pferde eine andere Konstruktion zu erfinden, die ihre Verrichtung zuverlässiger ausübte – und platzsparender. Der Gedanke, vier Rösser für eine Exekution anzuspannen, hatte ihm nicht behagt. Das machte die Vollendung seines Werkes von niederen Lebewesen abhängig. Und wie sich schon in der Geschichte herausgestellt hatte, garantierten solche Methoden nur selten Erfolg. Der zum Tode Verurteilte war ihm erst einmal entkommen – ein unverzeihliches Vergehen.

Aber seine unübertreffliche Intelligenz hatte ihn nach Fertigstellung der Maschine, die das Vierteilen vollziehen sollte, restlos überzeugt: Er war ein Genie. Niemand konnte ihm das Wasser reichen. Er war zu schlau. Der Frevler, für den er diese Kostbarkeit vorgesehen hatte, war jede Minute wert, die er mit Arbeit und Schweiß in diese Entwicklung gesteckt hatte. Er durfte keinen einfachen Tod sterben, schließlich hatte er sich des Verrats schuldig gemacht. Er hatte versucht, seiner gerechten Strafe zu entgehen. Aber niemand durfte sich seinem Meister entziehen. Das war die schlimmste Freveltat, die der höchsten und grausamsten Strafe bedurfte.

„Zu allen Zeiten hat es den Menschen Lust bereitet, das Blut von seinesgleichen zu vergießen; und um seine Lust zu stillen, hat er diese Leidenschaft bald unter dem Schleier der Gerechtigkeit, bald unter dem der Religion versteckt. Aber der Untergrund, das Ziel, war zweifellos stets das erstaunliche Vergnügen, das er dabei empfand.“

Die Vorstellung, wie der Delinquent an den Strängen litt und um Gnade winselte, ließ sein Herz vor Freude höher schlagen. Lange sollte er leiden, bevor der Tod ihn erlöste. Nur so würde ihm der volle Genuss des Rituals zugutekommen.

Kapitel 1

Miriam stand am Fenster und schaute hinaus auf die herrliche Blumenpracht in ihrem Garten. Alles blühte, was sie im Frühling angepflanzt hatte. Ihre Bourbon Queen, eine Strauchrose in hellem Rosa, bildete einen schönen Blickfang. Als sie eingepflanzt wurde, bestand sie nur aus nackten Ästen. Nie hätte Miriam erahnt, wie schön sie werden konnte. Rosarote Blüten mit einem betörenden Duft zierten inzwischen den größten Teil des Gartens. Der Rhododendron blendete in kräftigem Pink, Magnolien schimmerten in Blutrot, der Hibiskus in Lila. Ihre Arbeit trug Früchte – Früchte, die ihr Herz höher schlagen lassen sollten. Aber sie konnte sich nicht wirklich an der Schönheit ihres Werks erfreuen. Ihr Mann stand neben ihr, bewunderte ebenfalls die bunte Farbenpracht. Aber sein Gesicht blieb skeptisch. Sie hatten alles, was sie wollten: ein Häuschen am Stadtrand, einen Garten, nette Nachbarn. Doch ihr Glück war überschattet, ihr Leben ein einziger Trümmerhaufen.

„Wie konnte es nur so weit kommen?“, grübelte er. „Wie bist du auf den Gedanken gekommen, das Problem allein lösen zu können?“ Während er sprach, zuckte sein rechtes Auge, eine Eigenschaft, die erst in den letzten Wochen aufgetreten war.

Miriam schaute weiter auf das Blumenmeer und blieb still. Der Vorwurf in seiner Stimme schmerzte, aber das Verständnis, das er ihr entgegenbrachte, noch viel mehr.

„Wie konntest du dich zu einer solchen Sache hinreißen lassen?“, murmelte er, während er sich nervös an den Ellenbogen kratzte. „War das Haus wirklich so wichtig?“

Ihr Blick schweifte vom Garten hinüber zu ihrem Mann. Er war groß und sportlich gebaut, hatte ein markantes Gesicht, blondes, lockiges Haar, blaue Augen und einen dunklen Teint. Ein Mann, der durch sein glänzendes Äußeres auffiel. Doch nun war sein Gesicht von Sorgen gezeichnet, seine Ellenbogen wund gekratzt und sein rechtes Auge zuckte unablässig.

Miriam gab sich allein die Schuld an seinem Zustand. Sie hatte ihm all seine Illusionen genommen – mit einem einzigen Satz: Sie hatte gestanden, mit einem anderen Mann ins Bett gegangen zu sein – in der Hoffnung, damit ihre finanzielle Notlage überwinden zu können.

Schwermütig setzte Georg Hammer sich. Der Brief lag immer noch auf dem Küchentisch. Beide hatten das Foto kaum gesehen, da ahnten sie schon, welche Ausmaße Miriams Fehltritt angenommen hatte. Dieses zeitliche Zusammentreffen unterstrich das Groteske ihrer Situation: Just in dem Augenblick, als Miriam ihr Geständnis abgelegt hatte, kam dieser Brief, der alles nur noch schlimmer machte.

„Ich hätte dich besser kennen müssen. Ich hätte wissen müssen, was du tust“, tadelte Georg sich selbst.

„Leider habe ich mich selbst nicht genug gekannt, um zu erahnen, wieweit ich gehen würde“, bemerkte Miriam reumütig. „Ich wollte uns retten und habe uns nur noch tiefer ins Elend gestürzt. Jetzt hat er uns endgültig in der Hand. Das wollte ich bestimmt nicht.“

„Ja! Jetzt wird es niemals enden. Er kann mit uns machen, was er will. Es sei denn, wir tun etwas dagegen“, bestätigte Georg.

„Was können wir schon tun? Wir sind machtlos.“ Miriam setzte sich neben ihren Mann und nahm sanft seine Hände in ihre, um ihn daran zu hindern, sich weiter an den Ellenbogen zu kratzen.

„Das stimmt nicht ganz. Ich bin am Ende, habe nichts mehr zu verlieren. Aber glaub mir, ich werde eine Lösung finden.“

***

Wütend schlug Lukas Baccus mit der geballten Faust gegen den Kaffeeautomaten. Er fluchte wie ein altes Waschweib: „Scheiß Technik! Wenn man was braucht, klappt’s nicht. Wie komm ich jetzt zu meinem Koffeinschub?“

Plötzlich stieg ihm angenehmer Kaffeeduft in die Nase. Fragend schaute er sich um. Neben ihm stand sein Kollege Theo Borg – in seiner Hand eine Tasse dampfenden Kaffees.

„Probier es mal damit!“

„Danke“, murmelte Lukas, nahm den Kaffee und verschwand.

Im gleichen Augenblick hörte er, wie Theo an dem von ihm ergebnislos traktierten Automaten einen Knopf drückte und geräuschvoll eine Tasse voll laufen ließ, die er aus dem unteren Fach herauszog.

Kopfschüttelnd klemmte sich Lukas hinter seinen Monitor und versuchte, nicht darüber nachzudenken, weshalb sich die Technik ausgerechnet gegen ihn verschworen hatte. Seine Laune war ohnehin schlecht genug.

Er warf einen Blick durch den Raum. Das Büro glich einer Schaltzentrale der NASA. Das hektische Treiben, die Kakofonie der verschiedenen Rechner – nicht zu vergessen die ständig sirrende Klimaanlage. Die Tische der Kollegen standen parallel aufgereiht, wie in einem Schulzimmer, alle mit Blick auf einen überdimensional großen Flatscreen, die neueste Errungenschaft der Hausspitze.

„Was für eine Laus ist dir denn heute über die Leber gelaufen?“, fragte Theo.

„Marianne hat schon wieder damit angefangen, dass sie Kinder haben will“, erklärte Lukas nach einem kurzen Moment nachdenklichen Zögerns.

Theo zog seine Stirn in Falten, schaute mit kritischem Blick zu seinem Kollegen und Freund herüber, der sich seine rotblonden Locken mit beiden Händen zerzauste.

„Was ist daran so schlimm? Ihr seid vier Jahre verheiratet, da kann man schon mal an Kinder denken.“

„Du musst mich gerade in Sachen Familienplanung beraten“, entgegnete Lukas gereizt. „Du hast zwar ständig neue Bettgefährtinnen, aber nicht die geringste Ahnung, was es heißt, als Bulle, der keine geregelten Arbeitszeiten kennt, ein Familienleben zu führen. Eine Frau allein ist schon anstrengend genug.“

„Dann hättest du nicht heiraten sollen.“

„Danke für den Tipp! Aber ich liebe Marianne nun mal, egal, wie nervig sie manchmal ist. Doch ein Kind halse ich mir nicht auf.“

„Marianne ist immerhin schon 32. Sie kann nicht mehr ewig warten. Hast du dir das auch schon mal überlegt?“

„Ich weiß, wie alt sie ist. Aber ich will jetzt kein Kind. Und in fünf Jahren auch nicht. Thema erledigt. Basta.“

Die Tür zum Büro des Abteilungsleiters wurde aufgerissen. Josepha Kleinert, die Sekretärin, kam mit hoch erhobenem Haupt heraus spaziert, eine Haltung, mit der sie glaubte, ihre Körpergröße von nur 1,48 Meter überspielen zu können. Sie trug wie immer ein graues, einfaches Kleid und Stöckelschuhe, die halsbrecherisch aussahen. Ihre graumelierten Haare hatte sie wie üblich streng zu einem konservativen Knoten zurückgebunden.

„Ach du lieber Gott, die Kleinert schon wieder“, murrte Lukas in Theos Richtung.

Die beiden wussten: Wenn die kleine Frau derart gebieterisch auftrat, bedeutete das Arbeit.

„Der Chef lässt euch bitten!“

„Wir stehen untertänigst zu seinen Diensten.“ Theo erhob sich und salutierte.

Im Gänsemarsch trotteten die beiden Polizeibeamten in das Büro des Ersten Hauptkommissars. Hinter ihnen schloss Josepha Kleinert die Tür. Schlagartig waren alle Geräusche aus dem Großraumbüro verstummt, eine bedrückende Stille machte sich breit. Der Dienststellenleiter saß mit einer Banane in der wurstigen Hand und einer Hornbrille auf dem halben Nasenrücken hinter seinem Schreibtisch und schaute seine Mitarbeiter an, als wollten die ihm seine Banane abnehmen.

„Guten Morgen, Chef!“, erwiderten Lukas und Theo wie aus einem Mund seinen knappen Gruß.

Wendalinus Allensbacher wehrte erwartungsgemäß ab: „Sie wissen, dass ich sowas nicht hören will. Das klingt nach Hierarchie. Und die gibt es nicht in Behörden wie unserer. Und schauen Sie nicht so gierig auf meine Banane, ich mache Diät!“, fügte er grimmig hinzu. Sein Gesicht leuchtete rot, sein wulstiger Hals hing aus seinem viel zu eng geknöpften Kragen, und wie fast immer lief ihm von den Schläfen in Strömen der Schweiß herunter.

„Eine gute Entscheidung“, kommentierte Theo, wofür er einen besonders bösen Blick erntete.

Allensbacher bat die beiden, Platz zu nehmen. In aller Ruhe aß der korpulente Mann seine Banane auf und warf die Schale in einen Abfalleimer, bevor er sich seinen Mitarbeitern widmete. Gespannt warteten Lukas und Theo darauf, was nun käme.

***

Juliane saß auf dem Chintz bezogenen Sofa, dessen Muster sie vor einiger Zeit selbst ausgesucht hatte. Sie spürte, wie die pastellfarbenen Blumen abermals begannen, sich in ihr Gemüt zu schleichen. Sie bohrten sich regelrecht in ihre Seele, brannten dort ihre Abdrücke hinein. Auch wenn Juliane die Augen schloss, sah sie ständig dieses Muster.

Verzweifelt richtete sie den Blick zum Fenster. Die Sonne knallte unbarmherzig hinein, aber das Blumenmuster blieb vor ihrem inneren Auge. Irritiert überlegte sie, weshalb sie sich ein derart aufdringliches Muster ausgesucht hatte. War ihre Stimmung damals bunter und fröhlicher gewesen? Heute sah sie nur noch schwarz; wenn sie ihr Haus noch einmal einrichten müsste, wäre die gesamte Einrichtung schwarz.

Der Schlüssel in der Haustür drehte sich. Überrascht schaute sie auf die Uhr. Es war erst halb zehn. Um diese Zeit kam die Hauswirtschafterin noch nicht vom Einkaufen zurück. Also konnte es nur ihr Mann sein. Verwirrt schaute sie zur Wohnzimmertür, da trat Udo auch schon ein. Seine stechend blauen Augen blieben auf ihrem Gesicht haften.

„Ich weiß nicht, was du erwartest, aber ich glaube, ich werde dich enttäuschen. Ich habe meine Meinung nämlich nicht geändert“, bemerkte er anstelle eines Grußes.

„Wir werden ja sehen, wer hier wen enttäuscht“, erwiderte Juliane trotzig. Sie spürte, wie ihr Kampfgeist erwachte.

„Ich vergaß, auf wen ich mich eingelassen habe.“

„Was machst du um diese Zeit hier?“, überging sie seine boshafte Bemerkung.

„Das geht dich nichts an.“ Mit diesen Worten eilte er durch das Wohnzimmer und zerrte hastig an seiner Krawatte.

„Ich ziehe mich nur um und fahre zurück zur Arbeit. Sorge bitte dafür, dass der Anzug in die Reinigung kommt und die übrigen Sachen sofort gewaschen werden!“

Juliane wunderte sich über die Eile, in der die Kleidungsstücke gereinigt werden sollten, aber sie enthielt sich eines Kommentars. Nachdenklich schaute sie ihrem Mann nach, wie er mit eleganten Bewegungen auf die Treppe zueilte und, zwei Stufen auf einmal nehmend, in den ersten Stock sprintete. Sein Aussehen hatte sie schon immer fasziniert. Seine Figur und seine Ausstrahlung hatten im Lauf der Jahre nicht das Geringste von ihrem Reiz eingebüßt. Aber sein Charakter hatte sich erst mit der Zeit offenbart. Er konnte nur dann charmant sein, wenn er etwas brauchte – dann jedoch war er absolut unwiderstehlich. Seine ständige Gier nach immer neuen Perversionen machte ihn einerseits interessant, andererseits flößte sie Juliane aber auch Furcht ein. Niemals war etwas bei ihm wie am Tag zuvor, nie konnte man sich auf eine seiner Gewohnheiten einstellen. Sein ganzes Leben war unstet.

Auch deshalb hatte Juliane sich angewöhnt, regelmäßig selbst für Überraschungen zu sorgen.

***

„Es handelt sich um einen Selbstmord“, erklärte Allensbacher seinen Mitarbeitern. „Einen zweifelhaften Selbstmord.“

„Was ist ein zweifelhafter Selbstmord?“, fragte Lukas irritiert und fügte ironisch hinzu: „Hat er sich aus zehn Metern Entfernung erschossen?“

Theo stimmte in sein Lachen ein, aber ihr Chef fand die Bemerkung überhaupt nicht komisch. Böse fauchte er: „Baccus, wenn Sie so weitermachen, versetze ich Sie in den Innendienst.“

„Und Sie machen dann meine Arbeit?“, fragte Lukas schnippisch und konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. „Das will ich sehen.“

Die Schweißperlen des Vorgesetzten wurden größer.

„Sie werden noch sehen, was mit Ihnen passiert“, drohte der Chef, aber die beiden Kommissare hörten nicht auf zu lachen. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie sich beruhigt hatten.

Josepha Kleinert betrat das Zimmer und verkündete: „Herr Allensbacher, Kriminalrat Ehrling ist am Telefon und möchte sofort mit Ihnen sprechen.“

Allensbacher nahm den Hörer vom aufleuchtenden Telefon und meldete sich mit einer Stimme, die vor Unterwürfigkeit nur so troff.

„Ja, Herr Ehrling! Selbstverständlich, Herr Ehrling! Am Wochenende?“ Dabei tat er so, als schaute er in einem Terminkalender nach, der gar nicht existierte. „Sicher, da habe ich Zeit für Sie. Kein Problem. Ich bringe den Dünger selbst mit.“

Als er das Gespräch beendet hatte, blickte Allensbacher in zwei noch immer grinsende Gesichter.

„Wenn Sie weiter so dämlich lachen, kommen Sie beide zur Streife und dürfen Knöllchen verteilen.“

„So lange wir keinen Dünger für den Kriminalrat schleppen müssen, ist uns alles recht“, gab Lukas zurück, der wie immer seinen Mund nicht halten konnte.

Allensbacher bemühte sich, die Bemerkung zu überhören, was ihm sichtlich schwer fiel. Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Also, wir haben einen zweifelhaften Selbstmord.“

„Das wissen wir bereits …“

„Halten Sie endlich die Klappe!“

„Sehr wohl, Chef!“

Der Kopf des Dicken wurde immer röter, doch er bemühte sich um Beherrschung. Baccus und Borg zählten zu den besten Ermittlern in seiner Abteilung, die zudem noch hoffnungslos unterbesetzt war. Deshalb war er auf sie angewiesen. Also schluckte er die Aufsässigkeit und fuhr mit seinen Erläuterungen fort: „Es handelt sich um eine junge Frau namens Franzi Waltz, 27 Jahre alt, verheiratet. Sie hat sich aus dem Fenster im zwölften Stock gestürzt.“

„Und was ist daran zweifelhaft?“, fragte Theo.

„Sie hatte vor dem Selbstmord vermutlich Ecstasy in hoher Dosis genommen und daraufhin viel geredet, besser gesagt geschrien. Ein Nachbar sagte, er habe gehört: Du Schwein, dich mache ich fertig, du kriegst mich nicht. Oder so ähnlich …“

„Und das halten Sie für zweifelhaft?“, gab sich Theo weiterhin skeptisch.

„Ja, niemand bringt sich um, nachdem er gesagt hat, du kriegst mich nicht“, beharrte Allensbacher leicht brüskiert.

„Das kann man auch anders sehen: Vielleicht wollte jemand etwas von ihr, was sie ihm nicht geben wollte. Und durch ihren Freitod bekommt er es nun auch nicht mehr.“

Verwirrt schaute Allensbacher zu Theo hinüber. Man sah ihm an, dass er über diese Theorie erst einmal nachdenken musste.

„Stimmt!“, gab er schließlich zu. „Überprüfen Sie beide Möglichkeiten!“ Damit war für ihn die Sache erledigt.

„Dürfen wir vielleicht auch erfahren, wo sich diese Franzi Waltz aus dem Fenster gestürzt hat? Wir sind ja gut, aber Hellseher sind wir noch nicht“, fragte Lukas nach.

„Stimmt.“ Allensbacher kratzte sich an der Stirn und griff dann zu einem Zettel auf seinem Schreibtisch. „Hier habe ich alles aufgeschrieben.“

Lukas und Theo eilten die Treppe hinunter in den Polizeihof, wo der neue Dienstwagen für sie bereitstand. Als Lukas den silber-metallic blinkenden Mercedes sah, rief er: „Ich fahre.“

„So ein Mist, jetzt war ich zu langsam“, nölte Theo, als er den Wagen bemerkte. „Seit wann haben wir solche Dienstfahrzeuge?“

„Seit ich die letzte Kiste zu Schrott gefahren habe“, erwiderte Lukas frech grinsend.

„Du kostest den Staat mehr Geld, als du einbringst. Hast du dir das schon mal überlegt?“

„Du bist nur sauer, weil ich schneller war und jetzt fahren darf. Also spar dir deine Kommentare.“

Lukas schwang sich hinter das Steuer und startete den Motor, der leise summend zum Leben erwachte. „Ist das ein Luxus. Echter Komfort. Und so was bei der Polizei!“

Theo schnallte sich an und tat so, als würde ihn das alles nicht sonderlich interessieren.

„Warum bist du nur so schlecht gelaunt?“, spottete Lukas fröhlich weiter.

„Weil ich deinen Fahrstil nicht abkann, egal, was für ein Auto wir haben. Du schaffst es garantiert, die Fahrt in einem Mercedes genauso unerträglich zu machen wie in einer Ente.“

„Fahre ich dir zu schnell?“

„Unter anderem.“

„Wenn Marianne im Auto sitzt, darf ich kaum Gas gaben, schon nörgelt sie. Deshalb nutze ich jede Gelegenheit, in der mir niemand in den Ohren liegt.“

„Rede nicht ständig so schlecht über Marianne!“, tadelte Theo seinen Freund. „Ich finde sie toll. Sie kann prima kochen.“

„Das ist für dich wichtig, was? Du läufst ja immer mit leerem Magen durch die Welt.“

„Das ist nicht wahr“, wehrte Theo schwach ab, aber im Grunde genommen hatte Lukas recht.

„Und es ist doch wahr. Deine Bettgespielinnen wissen anscheinend nichts mit dem Herd anzufangen.“

„Ich lasse sie gar nicht erst dorthin. Was soll ich noch mit ihnen anfangen, wenn sie sich die Finger verbrannt haben.“

Jetzt lachten beide wieder.

***

Doris kam erschöpft nach Hause. Ihr Mann war zum Glück noch nicht da. Sie betrat ihre Eigentumswohnung, die in Saarbrückens ruhiger Höhenlage Am Triller lag, genau dort, wo sie beide schon immer hatten leben wollen. Zitternd zog sie ihre hochhackigen Schuhe aus. Sie war nicht nur erschöpft, sie war verzweifelt. Was hatte sie nur getan? Wie konnten sie glauben, sie hätten ihr Ziel erreicht? Ihr Blick wanderte durch die luxuriöse Wohnung, die im fünften Stockwerk lag. Alles, was diese Räume schmückte, war teuer gewesen, sogar das Panoramafenster, das einen herrlichen Blick über die Stadt freigab, hatte seinen Preis gefordert. Aber das schien es wert gewesen zu sein, sie wollten nur noch genießen. Doch dann war alles anders gekommen.

Geschwind zog sie sich aus und lief zur Dusche. Sie wollte ihrem Mann nicht in dieser Verfassung gegenübertreten, wenn er nach einer zusätzlichen Schicht heimkehrte.

Kaum stand sie unter dem angenehmen Wasserstrahl, wurde die Tür aufgesperrt. Sie drehte den Wasserhahn ab und trat aus der Duschkabine heraus. Günter sah erschöpft aus, dabei musste er in wenigen Stunden zu seiner zweiten Arbeitsstelle. Das war der Preis, den sie für diese Wohnung zahlen mussten – aber das Geld reichte immer noch nicht. Sie hatten sich hoffnungslos verkalkuliert.

„Ich glaube, ich schaffe das nicht mehr lange“, stöhnte Günter und ließ sich auf sein Bett fallen. Erst jetzt bemerkte er, dass Doris’ Seite unbenutzt war. Hellwach drehte er sich um und schaute sie fragend an. In ein Handtuch gehüllt stand sie vor dem Bett. Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. Schuldbewusst wich sie seinem Blick aus. Sie brauchte nichts zu erklären, ihr Mann hatte bereits verstanden.

„Aber warum? Wir hätten es auch so geschafft.“

„Eben nicht“, gab Doris zerknirscht zurück und hielt ihm einen Brief unter die Nase. „Er droht mit Zwangsversteigerung. Da habe ich keine andere Lösung gesehen.“

„Und was hast du erreicht?“ Günter hatte sichtlich große Mühe, seinen Groll zu unterdrücken.

„Zumindest einen Aufschub.“

„Und einen neuen Termin mit ihm?“

„Nein, ich werde nie wieder dort hingehen.“

„Dieser Kerl ist doch tatsächlich in der Lage und nimmt mir alles, was ich habe, sogar meine Frau“, tobte er. Seine Müdigkeit war von einer Sekunde auf die andere verflogen. „Aber dem werde ich es zeigen. Bei mir hat sich dieses Schwein verrechnet. Pfeiffer hat mich unterschätzt …“

Kapitel 2

Das Hochhaus war weiträumig mit grün-weißem Flatterband abgesperrt, vor dem sich zahlreiche Schaulustige drängten. Polizeiautos mit blinkendem Blaulicht, ein Krankenwagen, ein Feuerwehrwagen und eine Menge von Polizisten untermauerten den Eindruck, dass hier etwas von immenser Wichtigkeit vor sich ging.

Nachdem Lukas und Theo sich durch die Menschenmasse hindurch gedrängt hatten, sahen sie, wie ein schwarzer Plastiksack weggetragen wurde.

„Der Mann mit dem Sack soll warten“, befahl Theo.

Die beiden Kommissare richteten ihre Blicke auf die daliegende Tote. Es war kein schöner Anblick. Der Kopf der jungen Frau war zertrümmert, vom Gesicht nichts mehr zu erkennen. Langes blondes Haar verteilte sich in der Blutlache. Der Körper der Toten wirkte unversehrt, sie war bis auf einen knappen Slip und Nylonstrümpfe nackt. Blaue Flecken übersäten den Leib, besonders an den Innenseiten der Oberschenkel.

„Was glaubst du?“, fragte Lukas leise. „Vergewaltigung?“

„Könnte sein. Oder Sadomaso Sex. Wenn jemand auf Ecstasy ist, ist alles möglich“, rätselte Theo, während er sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht strich.

„Na, ihr zwei degenerierten Schwachköpfe. Habt ihr euch mal wieder tüchtig an einer Toten aufgegeilt?“, schallte es ihnen plötzlich in einer Lautstärke entgegen, dass jeder Umstehende es deutlich verstehen konnte.

Entsetzt schauten sich die beiden Polizeibeamten um und sahen Berthold Böhme mit seinem dicken Bauch auf sie zugewatschelt kommen. Er sah aus wie immer: Seine Uniform war übersät mit Fettflecken, seine Haare, oder das was davon übrig war, hingen strähnig aus seiner Kappe heraus und in seinem fast zahnlosen Mund steckte eine Pfeife, die niemals brannte.

„Das hätte ich nicht von euch gedacht, dass ihr so viel Spaß an einer zerfetzten Leiche habt. Schöne Brüste hat die Kleine, das muss man ihr lassen. Wirklich schade, die hätte ich gerne vernascht.“

Lukas bemühte sich, dem Fiesling nicht ins Gesicht zu schlagen. Theo, der den Groll seines Kollegen bemerkte, hielt seine Hand besänftigend vor Lukas und sagte an Böhme gewandt: „Na, werter Herr Kollege, hat die Waschmaschine mal wieder eine Reparatur nötig?“

Verblüfft schaute der ungepflegte Polizist auf Theo. Fast wäre ihm die Pfeife aus dem Mund gefallen.

„Sie pinkelfeiner Snob. Wenn Sie glauben, dass Sie mit Eitelkeit Fälle lösen können, haben Sie sich geirrt. Wenn Sie mal die Drecksarbeit machen müssten, die wir hier ständig erledigen, käme kein einziger Fall zum Abschluss“, schimpfte er, als er seine Fassung zurückgewonnen hatte. „Sie sind sich doch zu schade für das, was wir tun. Ihr kommt euch doch nur eine Nase voll holen und spielt euch auf wie Graf Koks.“

„Es reicht!“, wies Lukas den Dicken giftig zurecht. „Wenn Sie einen Verweis wollen, können Sie uns das auch direkt sagen. Wir veranlassen dann das Nötigste.“

„Ach ja. Sie veranlassen dann das Nötigste! Das Nötigste! Mein Gott, wie haben wir es heute so nötig“, spottete Böhme. „Lukas Baccus. Wer ihn nicht kennt, hat die Welt verpennt.“

Mehr sagte er nicht. Er wusste, wo seine Grenzen lagen. Zwanzig Dienstjahre hatten nicht dazu gereicht, ihm zu einer besseren Position als Kommissar zu verhelfen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als immer wieder vor jüngeren Beamten kuschen zu müssen.

„Was habt Ihr bis jetzt herausgefunden?“, kam Theo auf den dienstlichen Teil zu sprechen.

„Dass diese Puppe sich aus dem Fenster gestürzt hat und seitdem nicht mehr so gut aussieht wie vorher.“

Gleichzeitig drehten sich Lukas und Theo um und ließen Böhme allein mit seinen Weisheiten zurück. Sie steuerten das Hochhaus an, in dem die Tote gewohnt hatte.

Ein hoch gewachsener, dünner Mann in Uniform kam ihnen mit schlaksigen Bewegungen entgegen. Schon von weitem winkte er, sie sollten auf ihn warten. Es war Karl Groß, der wegen seines Namens und seiner tatsächlichen Körpergröße ständig als „Karl der Große“ gehänselt wurde. Karl arbeitete mit Böhme in einem Team und wurde darum von niemandem beneidet.

„Die Tote hatte hier eine Wohnung zusammen mit ihrem Mann. Den konnten wir noch nicht ausfindig machen. Er ist nicht auf seiner Dienststelle, nicht bei seinen Eltern, genauso wenig bei ihren Eltern – nirgends. Hat sich anscheinend in Luft aufgelöst.“

„Besteht die Möglichkeit, dass er seine Frau aus dem Fenster gestoßen hat?“, fragte Lukas.

„Die Nachbarn haben einen Streit gehört. Es wäre also möglich. Aber niemand hat gesehen, mit wem sie sich gestritten oder ob sie vielleicht sogar Selbstgespräche geführt hat. Wie es in der Wohnung aussieht, nahm sie regelmäßig Drogen, man sollte also keine Möglichkeit ausschließen.“

Im 12. Stock wimmelte es ebenfalls nur so von Polizisten, die damit beschäftigt waren, die Nachbarn zu befragen. Das Team der Spurensicherung bevölkerte in seinen Astronautenanzügen die Wohnung. Lukas, Theo und Karl hatten Mühe, angesichts dieser Menschenmassen in die Wohnung der Toten zu gelangen.

„Der Ehemann heißt Robert Waltz, 36 Jahre alt und ist gestern Abend das letzte Mal von Nachbarn gesehen worden“, teilte ein Polizist mit.

„Danke, Dieter. Mach weiter so!“, sagte Karl.

„Weitere Ecstasy-Tabletten haben wir nicht entdeckt. Aber wir suchen noch“, rief ein anderer junger Uniformierter Karl dem Großen zu, als dieser die Wohnung betrat.

„Für wen arbeiten die Jungs hier eigentlich?“, fragte Theo erstaunt. „Für dich oder für Böhme?“

„Den Bericht verlangt Böhme, aber die Jungs geben ihn mir, damit ich ihn weiterreiche.“

„Das sind die wahren Helden des 21. Jahrhunderts“, stellte Lukas spöttisch fest.

In der Wohnung herrschte Chaos. Die geisterhaft verhüllten Männer und Frauen von der Spusi ließen keinen Winkel unbeachtet. Sämtliche Schränke waren geöffnet, deren Inhalte durchwühlt, Schubladen herausgezogen und ebenfalls auf dem Fußboden entleert worden. Das Sofa bestand nur noch aus seinen Einzelteilen. Dort lagerte der gesamte Vorrat an Ecstasy-Tabletten.

„Also, die hätte sich gar nicht aus dem Fenster zu stürzen brauchen“, bemerkte eine junge Polizistin, die vor dem Sofa kniete und die Tabletten aufsammelte. „Bei der Anzahl von Tabletten wäre es auch einfacher gegangen.“

„Toll, Marie-Claire! Deinen Sarkasmus habe ich schon immer geschätzt“, bemerkte Karl.

„Ist Ecstasy die einzige Droge, die Sie finden konnten?“, fragte Theo die Polizistin. Als Marie-Claire Leduck zu ihm aufsah, stellte er mit Entzücken fest, dass sich unter dem Schutzanzug eine bildhübsche junge Frau verbarg.

„Wer sind Sie, dass Sie solche Fragen stellen?“, fragte sie frech.

„Theodor Borg von der Dienststelle für Tötungsdelikte und Sexualverbrechen.“

Marie-Claire schaute sich suchend nach einer anderen Kollegin um, die das Gespräch belauscht hatte. Die beiden kicherten wie pubertierende Schulmädchen. Sie drehte sich zu Theo um und meinte: „Ja!“

„Was, wie bitte?“, stotterte Theo. Er hatte offenbar seine Frage vergessen.

„Außer Ecstasy wurde hier keine andere Droge gefunden.“

„Ach so, ja. Vielen Dank!“

Der Teppichboden wurde hochgehoben, um nachzusehen, ob sich darunter womöglich ein Versteck befand; ebenso wurden die Bodenleisten untersucht.

„Habt ihr eigentlich bedacht, dass hier noch jemand wohnt?“, fragte Lukas einen Beamten, der gerade den Kronleuchter im Wohnzimmer abschraubte.

„Natürlich. Der arme Kerl wird sich freuen, wenn er zurückkommt.“

Tolle Antwort. Lukas staunte.

„Wir haben den Auftrag, alles zu durchsuchen und das machen wir auch.“

***

Udo wirkte entspannt, als er die Treppe heruntereilte. Beschwingt schritt er auf seine Frau zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: „Vergiss die Reinigung nicht! Bring den Anzug bitte selbst dorthin! Ich möchte nicht, dass du Theresa damit beauftragst.“

Juliane erwiderte nichts. Sie würde ihrem Mann diesen Gefallen tun, auch wenn ihr die Eile, die er wegen dieser Kleinigkeit an den Tag legte, weiterhin seltsam erschien. Sie schaute Udo nach, wie er auf die Tür zusteuerte. Er trug einen Seidenanzug in Maronrot mit lachsfarbenem Seidenhemd und passender Krawatte, dazu braune, glänzende Schuhe – ein perfektes, elegantes Outfit. Seine Figur wirkte athletisch, seine Bewegungen geschmeidig. Sein Haar war ganz kurz, schon fast geschoren, was ihm eine unbestreitbare Autorität verlieh, die er genoss. Seine Ausstrahlung und seine Bewegungen drückten Überlegenheit aus. Er spürte die Verunsicherung, die er bei anderen durch sein Auftreten auslösen konnte.

Schon früh hatte Udo Wege gefunden, aus seinem Aussehen und Auftreten Kapital zu schlagen. Seine Berufswahl verdankte er nicht dem Zufall. Er war Immobilienmakler, und zwar der erfolgreichste der ganzen Stadt. Zudem machte er es sich zum Hobby, Spenden für wohltätige Zwecke zu überreichen, was seine Popularität förderte. Ständig schrieb die Zeitung lobend über ihn: Udo Pfeiffer, der gute Engel, stiftet für die einkommensschwache Bevölkerung Wohnungen, womit er der Obdachlosigkeit entgegenwirkt. Diese Berichte waren Balsam für sein Ego; sein Selbstbewusstsein wuchs mit jeder guten Tat.

„Vergiss die Reinigung nicht, Liebes!“

„Ich leide noch nicht an Alzheimer.“

„Gut zu wissen, denn ich komme heute Abend später nach Hause. Dann weißt du wenigstens, wer durch die Tür tritt.“

***

Lukas und Theo näherten sich ihrem Dienstwagen. Plötzlich löste sich ein junger Mann mit Mikrofon in der Hand und einem Kameramann im Schlepptau aus der Zuschauermenge und eilte ihnen entgegen. In eifrigem Ton fragte er: „Stimmt es, dass dieser Fenstersturz gar kein Selbstmord ist, sondern Mord?“

Ratlos schauten Lukas und Theo sich an. Sie hatten keine Order, Auskünfte an die Presse zu geben.

„Sie müssen doch sagen können, ob das Opfer allein war, als es passierte“, bohrte der Journalist weiter.

„Hören Sie! Wir haben gerade ein paar Minuten dort verbracht. Deshalb ist es uns nicht möglich, Aussagen zu machen. Wir müssen erst ermitteln“, versuchte Lukas den Journalisten abzuwimmeln.

„Aber Sie müssen doch wissen, was passiert ist. Wurde die Frau erpresst? Nahm sie Drogen? Hat der Erpresser sie aus dem Fenster geworfen oder ihr Ehemann?“

Theo und Lukas bewegten sich stur auf ihr Auto zu.

„Wenn Sie etwas erfahren, dann sagen Sie es mir bitte!“, rief er den Beamten nach, als sie bereits ins Auto einstiegen. Hastig steckte er Theo eine Visitenkarte zu.

Die Ermittler schlugen die Autotüren zu. Lukas brauste mit hohem Tempo los.

„So eine Scheiße“, schimpfte er. „Diese Pressefuzzys wissen anscheinend schon wieder mal mehr als wir.“

„Ja, ich frage mich auch, wie die das immer schaffen. Ich glaube, wir haben den falschen Beruf. Als Journalist kommt man schneller an Informationen.“ Theo zerfledderte die Visitenkarte in tausend Fetzen. „Ich hoffe nur, dass er Unrecht mit der Erpressungstheorie hat. Denn dann bekämen wir viel Arbeit.“

Die Sonnenstrahlen hatten den Innenraum des Autos stark aufgewärmt. Die beiden gerieten mächtig ins Schwitzen. Der Verkehr floss nur schleppend, jede Ampel schaltete auf rot, gerade wenn sie ankamen.

„Kannst du dir keinen Weg aussuchen, der weniger verstopft ist?“, murrte Theo, während er sich umständlich seine Jacke auszog.

„Klar, ich hätte auch über Land fahren können“, entgegnete Lukas gelassen.

„Jetzt haben wir so einen feudalen Wagen, aber hat der auch eine Klimaanlage?“

„Hat er. Aber gib der Technik eine Chance. So schnell kann sie die erhitzte Luft nicht abkühlen.“

Die Ampel schaltete auf Grün, die stockende Fahrt ging weiter bis zur nächsten Ampel. An dieser Kreuzung im Herzen Saarbrückens prangten den Wartenden von allen Seiten Reklameschilder entgegen. Theo und Lukas schauten sich gelangweilt um. Nach einer Weile erspähte Lukas das Schild der Immobilienagentur Pfeiffer.

„Sieh mal! Dort ist der Häuserfritze, den meine Frau aufgesucht hat“, kommentierte er.

„Toll! Wie aufregend.“ Theo gähnte demonstrativ.

„Sagt dir das nichts?“

„Doch! Sie will ein Haus kaufen.“

„Genau!“ Lukas knurrte. „Ein Haus, damit wir mehr Platz für Kinder haben.“

„Marianne denkt halt vorausschauend. Außerdem habt ihr dann auch mehr Platz für mich. In eurer kleinen Wohnung muss ich mich immer auf dem unbequemen Sofa abquälen. Das würde dann aufhören“, stellte Theo lachend fest.

„Na toll! Daran habe ich noch gar nicht gedacht, dann kannst du vielleicht gleich bei uns einziehen.“

„Habt ihr schon ein Angebot?“, fragte Theo, dessen Neugier nun geweckt war.

„Ja, mehrere. Dieser Pfeiffer hat leider nur ziemlich teure Häuser im Angebot. Deshalb wurden wir uns noch nicht einig.“

„Nehmt mich das nächste Mal mit! Ich kann euch bei der Suche helfen“, schlug Theo vor. „Ich werde darauf achten, dass das Gästezimmer groß genug ist und nach Osten zeigt. Ich werde gerne von der Sonne geweckt.“

„Wenn du bei uns pennst, bist du noch nie mit der Morgensonne aufgewacht. Meistens am späten Nachmittag und mit einem dicken Kater.“

***

Berthold Böhme beobachtete, wie Theo und Lukas vor dem Journalisten flüchteten. Das war seine Chance, den beiden Schnöseln einen Strich durch die Rechnung zu machen. Zielstrebig näherte er sich dem jungen Zeitungsreporter, der ratlos dem funkelnagelneuen Mercedes nachschaute. Die Hände in den Taschen blieb Böhme dicht hinter ihm stehen und paffte an seiner nicht angezündeten Pfeife.

Es dauerte nicht lange, bis der Reporter den Polizisten bemerkte. Im Eiltempo lief er auf ihn zu und fragte: „Können Sie uns etwas über den Fenstersturz sagen? Ist es Selbstmord oder Mord oder was glauben Sie, was dort vorgefallen ist?“

Wichtigtuerisch atmete Böhme tief durch und richtete seinen Blick theatralisch in Richtung Himmel, bevor er antwortete: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich eine so hübsche junge Frau aus dem Fenster wirft. Sie war gerade mal 27 Jahre alt, stand mitten im Leben.“

„Gibt es Anzeichen für Mord?“

„Auf jeden Fall. Die Nachbarn haben einen Streit belauscht. Das lässt doch tief blicken.“

„Tief blicken?“

„Das Opfer war nicht allein“, erklärte Böhme. „Außerdem ist ihr Ehemann spurlos verschwunden. Merkwürdig, finden Sie nicht auch?“

„Sehr sogar. Wie kommt es, dass nur von Selbstmord gesprochen wird? Was will die Polizei vertuschen?“ Der Jagdinstinkt des Journalisten war geweckt worden.

„Vielleicht will man falsche Spuren legen“, überlegte Böhme, wobei sein nachdenkliches Gesicht schon fast echt wirkte.

„Und warum sollte die Polizei das tun?“

„Vermutlich will man den Täter in Sicherheit wiegen, damit er aus seinem Versteck herauskommt.“

„Als Täter steht also der Ehemann des Opfers im Verdacht, stimmt das?“

„Auf jeden Fall!“

„Wurde das Opfer erpresst?“

Verblüfft schaute Böhme den jungen Mann an. Krampfhaft überlegte er, aber es wollte ihm absolut keine passende Antwort einfallen. Also verneinte er diese Frage einfach.

„Nahm das Opfer Drogen?“

„Ja, Ecstasy wurde in der Wohnung gefunden.“

„Vielen Dank, Herr …! Wie heißen Sie denn?“, fragte der Reporter.

„Ich glaube, für Sie ist es wichtiger, andere Dinge herauszufinden als meinen Namen. Das könnte sich auszahlen.“

***

Im Landeskriminalamt herrschte reges Treiben. Allensbacher stand mit der Kollegin Peperding zusammen, es sah danach aus, als gäbe es Ärger. Theo und Lukas wollten sich davonschleichen, doch Andrea hatte sie bereits entdeckt. Mit ihrer dunklen Stimme rief sie so laut, dass sie unmöglich überhört werden konnte: „Da sind ja die beiden Hallodris! Glaubt bloß nicht, ihr könntet diese Geschichte ungeschehen machen.“

„Was für eine Geschichte?“ Lukas und Theo schauten sich staunend an.

„Haben Sie noch keine Nachrichten gehört?“, fauchte Allensbacher die beiden mit hochrotem Kopf an. „Gerade vor einer viertel Stunde haben sie es in einem Sonderbericht gebracht.“

„Wir haben mit niemandem von der Presse gesprochen“, stellte Theo klar. „Und was überhaupt soll denn gebracht worden sein?“

„Sehen Sie nun endlich ein, dass die beiden Nichtsnutze für unseren Job ungeeignet sind? Die denken doch nur mit dem Schwanz“, keifte Andrea.

„Nicht so ordinär, Frau Peperding. Erst müssen wir die Angelegenheit klären, bevor wir mit Vorwürfen um uns schmeißen“, wies Allensbacher die junge Kommissarin zurecht.

„Was war denn nun in den Nachrichten?“, fragte Theo, dem es allmählich unbehaglich wurde.

„Ich habe es aufgezeichnet“, erklärte Andrea sichtlich stolz. Sie präsentierte den Kollegen ein kleines Tonbandgerät und schaltete es ein. Eine blecherne Stimme berichtete:

„Am heutigen Vormittag brachte eine junge Frau auf dem Eschberg die ganze Stadt in Aufregung. Die 27-jährige Schönheit stürzte halbnackt aus dem Fenster eines Hochhauses im zwölften Stock. Die Polizei glaubt offenbar nicht an Selbstmord. Sollte es sich aber tatsächlich um ein Gewaltverbrechen handeln, können wir nur hoffen, dass unsere Freunde und Helfer ihr Möglichstes tun werden, den Fall schnell aufzuklären. Denn, wo soll sich ein Mensch noch sicher fühlen können, wenn nicht zu Hause in den eigenen vier Wänden?

Weiterhin wurde festgestellt, dass das Opfer die Droge Ecstasy in großen Mengen in seiner Wohnung lagerte. Dies gibt Anlass, einen Appell an die Drogenfahndung unserer hiesigen Polizei zu richten, diesem und anderen Missbrauchsfällen endlich Einhalt zu gebieten. Und nun weiter mit unserer Sendung ‚Autoren im Gespräch‘!“

Verblüfft starrten Theo und Lukas das Tonbandgerät an.

„Was fällt Ihnen ein, solche Informationen an die Presse zu geben, wo Sie doch genau wissen, wer bei uns für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist?“ Allensbachers Kopf glühte hochrot, als stünde er kurz vor einen Hirnschlag. „Sie haben den ganzen Polizeiapparat lächerlich gemacht, die Ermittlungen behindert, Fakten bekannt gegeben, die streng vertraulich sind … Sie haben …“

Die Tür zu Allensbachers Vorzimmer ging auf und Josepha Kleinert tippelte ihm mit einem Glas Wasser entgegen. „Herr Allensbacher, hier habe ich Ihre Tablette, damit Sie keinen Herzinfarkt bekommen.“

Schlagartig herrschte Stille im Raum. Jeder starrte auf das Wasserglas und auf den Dienststellenleiter. Der nahm verwirrt das Glas entgegen, trank es in einem Zug aus und gab es der kleinen Frau zurück. Dann schaute er sich verwundert um. „Haben Sie nichts Besseres zu tun, als mich anzugaffen?“

Sofort machten alle Anwesenden Anstalten, zu ihren Plätzen zurückzukehren und ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Auch Theo und Lukas wollten sich verziehen, aber Allensbacher hielt sie zurück.

„Halt! Wir waren noch nicht fertig. Kommissar Marx von der Drogenabteilung ist schon informiert. Er ist auch nicht gerade glücklich über diese voreiligen Auskünfte, weil er bereits verschiedene Spuren verfolgt hat und nun befürchten muss, dass durch Ihre Redseligkeit seine Arbeit behindert wird.“

„Wir haben nichts gegenüber der Presse gesagt“, verteidigte sich Lukas. „Wir haben gesagt, dass wir ermitteln müssen, dann sind wir abgehauen.“

„Und woher haben die Journalisten dann diese Informationen, die verblüffend authentisch sind?“

„Das wissen wir nicht!“, sagte Theo.

„Ach, das wissen Sie nicht!“ Allensbacher keuchte. „Ich gehe jetzt zum Kriminalrat und erkläre ihm, die beiden Kommissare wüssten von nichts. Bestimmt wird ihn das zufriedenstellen und er geht beruhigt ins Wochenende.“

„Sagen Sie es ihm doch, während Sie seinen Vorgarten düngen. Dann ist er bestimmt milder gestimmt“, gab Lukas ebenso unfreundlich zurück. Hastig versuchte Theo ihn zum Schweigen zu bringen, doch es war zu spät. Die freche Bemerkung war niemandem entgangen.

„Das hat Folgen!“ Allensbacher eilte davon.

Als Lukas und Theo ihre Schreibtische ansteuerten und sich hinter die Monitore ihrer Computer kauerten, waren alle Augen auf sie gerichtet.

„Jetzt habt ihr endlich mal gezeigt, was in euch steckt, nämlich gar nichts“, schimpfte Andrea und baute sich drohend vor den beiden auf. „Nur weil ihr Typen seid, seid ihr befördert worden. Dabei war von Anfang an klar, dass ich qualifizierter bin als ihr Idioten, die nur Sex im Kopf haben.“

Plötzlich tauchte ein Schatten neben Lukas auf. Zunächst dachte er, es sei wieder Andrea, aber vor ihm stand die junge Polizeipsychologin Silvia Tenner. Ihre blonden, lockigen Haare leuchteten, ihre blauen Augen strahlten.

„Glaubst du nicht, es wäre besser, dich mal bei mir auszusprechen? Mit deinen Aggressionen bringst du nicht nur dich in Schwierigkeiten, sondern auch Theo. Ich glaube, dass du dringend ein Gespräch brauchst.“

Verdutzt schaute Lukas sie an. Warum kam Silvia gerade jetzt mit diesem Vorschlag?

„Die Idee ist gar nicht so übel“, antwortete Lukas mit zuckersüßer Stimme.

Erstaunt schaute Theo am Tisch gegenüber auf.

„Ich ziehe mich aus, lege mich auf deine Couch und lasse mir von dir einen blasen. Das wird meine Weltanschauung mit Sicherheit verbessern.“

„Idiot!“, fauchte die Psychologin und eilte davon.

„Du brauchst auch eine Therapie. In dir schlummern ungeahnte Aggressionen“, rief Lukas ihr hinterher.

„Lass sie in Ruhe!“, funkte Theo dazwischen. „Silvia tut nur ihre Arbeit.“

„Ich weiß. Sie kommt immer im richtigen Augenblick“, spottete Lukas weiter.

Wütend sprang Theo auf und stürmte ohne ein weiteres Wort aus dem Büro. Verblüfft über diese heftige Reaktion, folgte Lukas seinem Freund und holte ihn erst im Treppenhaus wieder ein. Völlig außer Atem fragte er: „Was ist denn mit dir los? Habe ich dich etwa empfindlich getroffen?“

Theo wollte wortlos weitergehen, doch Lukas hielt ihn an der Schulter zurück. „War da was mit euch beiden?“, fragte er.

„Du merkst auch alles“, murrte Theo. „Nur leider erst dann, wenn es zu spät ist.“

„So ein Mist! Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht verletzen. Ich habe doch einfach nur so dahingeredet.“

Jetzt musste Theo schmunzeln. „Die Entschuldigung ist dir bestimmt schwergefallen. Aber du kannst dich wieder beruhigen. Wir sind nicht mehr zusammen. Es hätte sowieso nicht gepasst. Sie kann ihren Psychokram noch nicht mal im Bett vergessen. Das ging mir schnell auf die Nerven.“

Als sie ins Büro zurückkamen, wartete Allensbacher dort auf sie. „Frau Peperding und Frau Blech werden den Fall Franzi Waltz weiterbearbeiten“, erklärte der Dienststellenleiter. „Sie beide dürfen sich der Schreibtischarbeit widmen, bis der Kriminalrat entschieden hat, wie es mit Ihnen weitergehen soll.“

Mit diesen Worten ließ er die verdutzten Beamten stehen.

„Mene, Tekel, Phares!“ Plötzlich stand Dieter Marx, der Kollege aus der Drogenabteilung, hinter Theo und Lukas.

Konnte es noch schlimmer kommen? Es konnte.

„Mene, Tekel, Phares“, wiederholte Marx geheimnisvoll.

„Ich verstehe nur Ene, mene, muh“, grummelte Lukas.

Endlich lieferte Marx ihnen die Erklärung seiner Worte: „Mene bedeutet: gezählt! Gezählt sind eure Tage, an denen ihr euch auf Kosten anderer mit Erfolg schmücken konntet. Tekel heißt: gewogen! Das Glück war euch die längste Zeit gewogen, deshalb war es ein Genuss, euch den Fall abzunehmen. Und Phares bedeutet: geteilt. Geteilt wird eure Aufgabe und zwar aufgeteilt unter den Kollegen, die es besser verstehen. Das heißt nichts anderes, als dass ihr es verdient habt, dass man euch den Fall entzieht. Ihr habt euch gegen den Herrn des Himmels erhoben und euch selbst die Macht verliehen, ein Urteil über einen Nächsten abzugeben – dazu noch ein falsches.“

„Und deshalb bist du nun hierher gekommen: Um uns zum letzten Gericht zu führen und uns mit deinem biblischen Gequatsche zu foltern“, gab Theo böse zurück.

„Nein, ich bin gekommen, um zu sehen, wie Gott für Gerechtigkeit sorgt. Ein gewissenloser Bote richtet Unheil an. Ihr habt unsere jahrelange Arbeit zerstört. Nur dem Schuldlosen ist der Herr eine Zuflucht, Verderben aber den Übeltätern!“ Dabei hob er drohend seinen langen, dünnen Zeigefinger.

„Amen!“, setzte Theo hinzu.

„Und wenn wir dir sagen, dass wir überhaupt nicht mit der Presse gesprochen haben?“, fragte Lukas den großen Mann, der wie immer schwarz gekleidet war.

„Wenn ihr sagt, dass ihr frei von Sünde seid, dann führt ihr euch selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in euch. Wenn ihr eure Sünden bekennt, ist der Herr treu und gerecht; er vergibt und reinigt euch von allem Unrecht.“

„Mein Güte, sollen wir uns das noch lange anhören. Weshalb bist du gekommen?“ Lukas wurde ungeduldig. „Haben wir nicht schon genug Ärger am Hals?“

„Ich bin nur gekommen, um euch mitzuteilen, dass wir nicht jeden einzelnen kennen können, der im Besitz von Ecstasy ist. Das Ehepaar Waltz ist uns in keinem Zusammenhang mit Drogen bisher aufgefallen. Jeder, der auch nur einmal mit einem Drogendealer in Verbindung gestanden hat, ist in unseren Akten vermerkt. Von den beiden aber gibt es absolut nichts. Deshalb bin ich überrascht über die große Menge dieser Droge in ihrer Wohnung. Aber, nur verständiger Sinn nimmt die Gebote an, wer Törichtes redet, kommt zu Fall. Es liegt nicht an euch, die Arbeit anderer zu beurteilen. Seht euch vor!“

„Vielleicht nimmt dein verständiger Sinn neben den Geboten auch noch die Wahrheit an“, erwiderte Lukas.

„Der Zuchtlose sucht Weisheit, doch vergebens, dem Verständigen fällt die Erkenntnis leicht. Ich brauche mir eure Boshaftigkeiten nicht anzuhören, denn der Gute findet Gefallen beim Herrn, den Heimtückischen aber spricht er schuldig. Macht nur weiter so und ihr werdet sehen.“

Mit diesen Worten verschwand der gottesfürchtige Kollege der Drogenpolizei und hinterließ eine Woge des Unbehagens im Großraumbüro.

„Meine Güte, jetzt werden wir auch noch mit Flüchen belegt. Reicht es denn nicht, dass wir mit unseren irdischen Kollegen Probleme haben?“

Theo erhob sich von seinem Platz und verkündete: „Ich finde, es ist Zeit zum Mittagessen. Mit vollem Magen und ein paar kühlen Bierchen kann ich besser überlegen, wie es weitergehen soll.“

Lukas stimmte zu. Gemeinsam steuerten sie auf die Tür zu, als die ihnen mit Schwung entgegenkrachte. Der für Öffentlichkeitsarbeit zuständige Kollege stürmte ins Großraumbüro. Sein Auftritt war bühnenreif. Der Mann, der seine Freizeit, seinem Äußeren nach zu urteilen, auf der Hantelbank und unter dem Solarium verbrachte, genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

„Da seid ihr ja.“ Er baute sich breitbeinig vor Lukas und Theo auf.

„Aber nicht mehr lange“, entgegnete Theo gereizt. „Wir gehen in die Mittagspause.“

„Das würde euch so passen. Der Kriminalrat hat mich angerufen und beauftragt, euch hier festzuhalten, bis er eintrifft. Er möchte sich persönlich mit euch unterhalten.“

„Wir haben Mittagspause und ein Recht darauf“, protestierte Lukas.

Das Grinsen des Kollegen wurde noch breiter. „Umso ärgerlicher! Ihr werdet hungrig warten müssen.“

Kapitel 3

Es wollte nicht dunkel werden. Es war bereits 22 Uhr. Lukas saß auf der Terrasse und trank inzwischen sein sechstes Bier. Dieser Nachmittag war der schlimmste in seinen bisherigen Dienstjahren gewesen. Der Kriminalrat Hugo Ehrling war erst erschienen, als die Mittagspause vorüber war, und hatte sich in allen Einzelheiten die peinliche Situation berichten lassen, in die sie geraten waren. Aber er glaubte ihnen nicht – und dagegen waren Theo und Lukas machtlos.

„Lukas, sieh dir mal dieses Haus an! Das ist wundervoll. Genauso stelle ich mir mein Traumhaus vor“, jubelte Marianne in der Küche; sie saß dort schon seit Stunden am Tisch und studierte Kataloge mit Immobilienangeboten. Lukas konnte sich allerdings kaum für ein Haus begeistern, während sein Arbeitsplatz gerade auf der Kippe stand.

„Ich schaue mir kein Haus an.“

„Anstatt dich zu betrinken, könntest du dich ruhig mal damit befassen. Ich will nicht ewig zur Miete wohnen.“

„Warum nicht? Ich habe kein Geld, ein Haus zu finanzieren. Also zahle ich lieber Miete, die ich mir auch leisten kann“, entgegnete Lukas.

„Immerhin verdiene ich auch Geld“, bemerkte Marianne spitz. „Und sogar mehr als du. Also würde die Finanzierung mehr zu meinen Lasten als zu deinen laufen. Warum wehrst du dich nur so dagegen?“

„Weil wir dann soviel Platz haben, dass ich kein Argument mehr gegen deine Familienplanungen vorbringen kann.“

„Aber, du könntest es dir doch wenigstens auf einem Foto anschauen!“ Marianne kam mit dem Katalog zu ihm auf die Terrasse. Sie hatte ihre braunen, widerspenstigen Haare zu einem zahmen Zopf zurückgebunden. Ihr rundliches Gesicht wirkte jugendlich. Niemand käme auf die Idee, dass sie inzwischen 32 Jahre zählte und anfing, mit ihrem Alter zu hadern.

„Am besten fragst du Theo, der kann dich besser beraten“, murrte Lukas, doch da lag das Foto schon auf seinem Schoß.

„Und warum sollte ich Theo fragen?“

„Weil er ganz genaue Vorstellungen davon hat, wie sein Gästezimmer aussehen soll. Er will ein Fenster nach Osten.“

„Osten? Wieso?“

„Weil er mit der Morgensonne aufstehen will.“

Das Haus auf dem Hochglanzfoto war wirklich ein Traum: weiß und groß, mit Fenstern vom Boden bis zur Decke. Das Dach aus schwarzem Schiefer, die Treppe aus weißem Marmor, die Terrasse von weißen Mauern eingerahmt. Von hier aus führte ein Weg zu einem gepflegten, grünen Rasen mit Swimmingpool. Ein überdachter Balkon. Weiß schimmerte auch das Geländer, mit kunstvollen, schmiedeeisernen Verzierungen eingerahmt. Der Anblick vermittelte dem Betrachter das Gefühl, sich im Urlaub zu befinden. Der Himmel leuchtete strahlend blau, alle Pflanzen standen in herrlicher Blüte.

„Und warum verkauft der Vorbesitzer so ein schönes Haus?“, wollte Lukas wissen, der dieser Illusion nicht verfallen wollte.

„Er hat sich finanziell übernommen.“

„Und genau das würde uns auch passieren.“

„Ach was“, wehrte Marianne ab. „Der Makler – ein sehr anziehender Mann übrigens – hat mir genau vorgerechnet, wie ich es finanzieren kann. Er kann uns sogar ein Kreditinstitut empfehlen, das gute Konditionen anbietet. Er sieht da gar kein Problem – und ich auch nicht.“

Wieder musste Lukas an das Gespräch mit dem Kriminalrat denken. Sofort sank seine Stimmung auf den Gefrierpunkt. Er konnte in seiner Situation unmöglich an eine große Investition denken. Wie enttäuschend wäre es, solch ein Haus später wieder verkaufen zu müssen.

„Es geht jetzt wirklich nicht“, erklärte er mürrisch. Er wollte aufstehen und sein nächstes Bier holen, doch Marianne drückte ihn in seinen Gartenstuhl zurück, kniete sich mit einem verführerischen Grinsen vor ihn und begann, liebevoll seine Oberschenkel zu streicheln. Sofort spürte Lukas, wie er unter ihren Berührungen dahinschmolz. Er schloss die Augen und wollte einfach nur noch genießen. Zu seinem Pech aber sah er seinen Chef vor Augen – und die gute Stimmung war schlagartig wieder entschwunden.

„Marianne, es tut mir leid, aber der heutige Tag hat mir nur Unglück gebracht.“

„Was ist denn passiert?“

Er berichtete ihr alles bis ins letzte Detail und meinte abschließend: „Der Kriminalrat befasst sich persönlich mit dem Fall. Er will sich morgen früh mit dem Personalrat abstimmen und klären, ob Theo und ich überhaupt noch im Dienst bleiben können.“

Marianne seufzte und begann, mit ihrem Stuhl zu schaukeln. Nach einer Weile sagte sie leise: „Wir können uns das Haus trotzdem leisten. Mit meinem Gehalt funktioniert das wunderbar. Wenn wir den Kredit aufnehmen, zahlen wir ihn in kleineren Raten zurück. Dann sind wir nicht davon abhängig, wie viel wir gerade verdienen. Außerdem lenkt so ein Haus uns beide ab, wir können uns dann auch mal über andere Dinge freuen als nur über die Arbeit und berufliche Erfolge. Glaub mir, so ein Haus wirkt Wunder.“