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Matthias Stadelmann ist Kapitän eines Dampfschiffs auf dem Vierwaldstättersee, glücklich verheiratet und Vater von drei Kindern. Als seine geliebte Frau Olivia bei einem Autounfall stirbt, ist nicht nur seine heile Welt zerstört, sondern immer mehr Gewissheiten geraten ins Wanken. Mit wem saß Olivia im Auto? Hatte sie etwa eine Affäre? Und war ihr Tod tatsächlich ein Unfall? Matthias beginnt, der Sache auf den Grund zu gehen. Erstaunt muss er zur Kenntnis nehmen, dass offenbar nicht nur Olivias beste Freundin Hannelore, sondern auch seine beiden erwachsenen Söhne seine Frau viel besser kannten als er selbst. Nach und nach findet er heraus, dass fast nichts in seinem Leben so ist, wie es scheint – und dass Olivia tatsächlich ermordet wurde. Als er endlich die Wahrheit kennt, muss Matthias sich entscheiden.
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2025
Silvia Götschi
Kriminalroman
Dörlemann
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Über Silvia Götschi
»Mann über Bord!«
Himmel, ausgerechnet heute, in der letzten Woche vor der Winterpause, musste dieses Desaster geschehen. Während seines langjährigen Dienstes war es nie vorgekommen, dass ein Fahrgast ins Wasser fiel. Wie auch? Die Reling war angemessen hoch. Wenn jemand über Bord gehen wollte, hätte er sich weit hinauslehnen oder auf eine der Bänke steigen müssen, die sich im Außenbereich des Schiffs befanden. Wie hatte es dazu kommen können? Fast keine Touristen an diesem diesigen Tag, ein paar Fahrgäste, die ab Beckenried zugestiegen waren, ansonsten war nicht viel los.
Kapitän Matthias Stadelmann stand auf der Brücke, als ihn die Nachricht erreichte. Sofort nahm er Kontakt mit der Maschinistin auf und befahl, die Fahrt zu drosseln. Der Wellengang an diesem windigen Herbsttag war außergewöhnlich. Matthias nahm sein Fernglas zur Hand und suchte das aufgewühlte Wasser ab, während die Schaufeln rückwärts drehten und das Schiff allmählich zum Stillstand brachten. Falls jemand über Bord gegangen war, würde es heikel werden mit der Suche. Aber seine Leute wussten, was zu tun war. Hoffte er.
Auf dem Oberdeck herrschte Hektik. Matthias’ nautische Besatzung rannte von der Steuer- zur Backbordseite, schaute vorne über den Bug und hinten über das Heck. Auch das Servicepersonal half bei der Suche.
Wie hatte das geschehen können? Zwar konnte er von der Brücke aus nicht jeden Winkel des Schiffs sehen. Aber unten gab es genug Personal, die ein Auge auf die Passagiere warfen.
Matthias beorderte seinen ersten Offizier, die Rettungsringe bereitzuhalten und das Rettungsboot hinunterzulassen, wenn es die Situation erforderte. Er ließ den Anker ausfahren, rief die Luzerner Seepolizei an und gab die Koordinaten durch.
Im Seebecken von Luzern war kaum mehr ein Boot unterwegs. Die Stadt wirkte düster aus dieser Perspektive, der Pilatus dahinter wie ein mächtiger schwarzer Fels, um den Wolken einen wilden Tanz vollführten. Am späten Nachmittag war stärkerer Wind aufgekommen. Die Sturmwarnung vor dem Verkehrshaus lief mit neunzig Intervallen pro Minute auf Hochtouren.
»Niemand in Sicht«, rief einer der Offiziere.
Matthias stieg von der Brücke. Seit bald fünfzehn Jahren war er Kapitän auf dem DS Schiller, einer alten Lady der Dampfschiffflotte auf dem Vierwaldstättersee. Am 21. Mai 1906 war sie von den Gebrüdern Sulzer in Winterthur fertig gebaut und in Luzern vom Stapel gelaufen. Nach der Renovation im April 2000 und mit der zweiten Jungfernfahrt hatte zehn Jahre später Matthias’ Arbeit auf dem Innerschweizer Gewässer seinen Anfang genommen. Seither war er hier nicht mehr wegzudenken. Als gelernter Maschinenbauingenieur hatte er auf dem zweiten Bildungsweg den Beruf gefunden, der ihn erfüllte. Mit seinen sechzig Metern Länge, seiner Wasserverdrängung von 310 Tonnen ungeladen und seiner Geschwindigkeit von 27 km/h bei rund 45 Umdrehungen der Schaufelräder pro Minute gehörte das DS Schiller nicht zu den schnellsten Schiffen, aber war, so fand Matthias, das schönste, vermittelte es doch ein besonders nostalgisches Flair. Mit voller Auslastung bot es Platz für neunhundert Passagiere.
Auf dem Weg zum Oberdeck traf Matthias auf eine aufgebrachte Frau, die aus ihrer Panik keinen Hehl machte. »Mein Mann ist ins Wasser gestürzt. Tun Sie etwas! Ihre Leute stehen nur rum.«
Matthias versuchte, sie zu beruhigen. »Wir werden alles tun, um ihn zu bergen«, versprach er.
»Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte. Er sitzt im Rollstuhl. Dieser steht neben der Stelle, wo er runterfiel.«
»Wo genau ist das passiert?«
»Unten bei den Tauen.«
Matthias führte die Frau zu einer Bank. »Wir suchen nach ihm. Die Seepolizei ist unterwegs und wird bald eintreffen.« Er wog ab, was dringender war, bei der Suche nach dem Vermissten zu helfen oder sich der Frau anzunehmen. Sie war um die siebzig, wirkte jedoch nicht gebrechlich.
Matthias entschied sich für Letzteres. »Ich bin Kapitän Matthias Stadelmann.«
»Frau Villiger.« Sie setzte sich widerwillig hin. »Vielleicht hat man ihn über Bord gestoßen.«
»Haben Sie den Unfallhergang gesehen?«
»Den Unfallhergang?« Frau Villiger sah ihn entgeistert an. Ihre Stimme tönte hysterisch. »Das war kein Unfall. Da hat wer nachgeholfen. Wenn er es nicht überlebt, ist das Mord.«
Matthias ahnte, dieses Gespräch würde nicht leicht sein. Was die Frau jetzt brauchte, war eine seelsorgerische Hilfe, die er ihr nicht bieten konnte. »Okay, Sie haben also die Tat gesehen«, versuchte er es auf die einfühlsame Art, was ihm nicht gelingen wollte. Er war Schiffskapitän und kein Seelenklempner.
»Nein, ich sah nur den verlassenen Rollstuhl. Sepp kann nicht schwimmen. Wenn Sie ihn nicht sofort finden, wird er untergehen. Oder er ist es schon.«
»Matthias, kannst du mal kommen?« Die Stimme gehörte dem Ersten Offizier. »Die Seepolizei ist soeben eingetroffen.«
Matthias berührte sachte Frau Villigers Arm. »Haben Sie jemanden, an den Sie sich wenden können?«
»Nein, niemanden. Wie auch? Mein Mann und ich reisen immer allein.«
»Okay, ich werde eine der Serviceangestellten bitten, sich um Sie zu kümmern. Seien Sie unbesorgt …« Matthias wusste nicht, wie er die Frau hätte beruhigen können. Nun war eingetroffen, was er längst befürchtet hatte. Bislang war jedoch nie etwas Gravierendes geschehen. Bei hohem Wellengang, was hauptsächlich bei Föhnsturm auf dem Urnersee vorkam, schickte er die Passagiere vom Außendeck ins Innere, wo die Sicherheit absolut gewährleistet war. Aber er erinnerte sich an den Unfall vor einem Jahr, als ein Kind von einem Motorschiff ins Wasser gefallen war. Glücklicherweise hatte man es retten können.
»Suchen Sie meinen Mann. Er … hat Angst vor dem Wasser.« Frau Villiger faltete bittend die Hände. »Wir wollten bloß einen Ausflug machen, weil uns das DS Schiller empfohlen wurde.«
Matthias sandte seinem Offizier einen Hilfe suchenden Blick zu und erwartete irgendeine Bemerkung von ihm. Doch diese blieb aus. In seinem bisherigen Leben war er oft in dramatische Situationen geraten. Auch den Tod hatte er hautnah miterlebt, als sein Vater und kurz darauf seine Mutter wegen einer unheilbaren Krankheit starben. Das war Schicksal gewesen, worauf er keinen Einfluss nehmen konnte. Aber jetzt geschah etwas auf seinem Schiff, an seinem Arbeitsplatz, wo er als Kapitän die Verantwortung trug. Es war seine Pflicht, bei einem Notfall erst als Letzter das Schiff zu verlassen. Musste er jetzt als Erster ins Wasser springen, um den Verunfallten zu retten?
Er wandte sich wieder an Frau Villiger. »Kann ich Sie allein …?«
»Gehen Sie«, fiel sie ihm ins Wort. »Und lassen Sie mich in Ruhe. Mein Mann ist über neunzig. Aber das geht an Ihrem Allerwertesten vorbei, oder? Uns Alte will man abschieben. Alles schon erlebt. Es fällt nicht auf, wenn jemand von unserer Generation ertrinkt. Aber das wird ein Nachspiel haben, Sie können Gift darauf nehmen.«
Matthias drehte sich brüskiert um und folgte dem Offizier. Er würde jemandem vom Service holen.
Ein Beamter von der Seepolizei erwartete ihn im Schiller-Stübchen, dessen Wandverkleidung aus Zitronenholz mit Intarsien aus Perlmutt und Ebenholz einen besonderen Charme hatte.
»Glanzmann mein Name. Sie hatten einen Notfall gemeldet.« Er blieb stehen, während Matthias sich auf einen Stuhl fallen ließ. Er hätte ebenso stehen bleiben sollen, schaffte es aber nicht. Ertrinken, ging ihm durch den Kopf, ist eine der schlimmsten Todesursachen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, seiner Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen.
Es war ein langer Arbeitstag gewesen und Matthias hatte sich darauf gefreut, das DS Schiller in den sicheren Luzerner Hafen zu fahren. Davon musste er wohl absehen. Mann über Bord. Das war ein Albtraum, zumal er die Verantwortung trug.
»Der Notruf ging um 17.33 Uhr ein«, sagte Glanzmann. »Jetzt ist es 17.47. Wie lange dauerte es, bis Sie den Unfall entdeckten?«
»Ich stoppte das Schiff um 17.32, direkt nachdem mich die Nachricht erreicht hatte.«
»Sie selbst haben nichts gesehen?«
»Nein.«
»Wo befanden Sie sich zu der Zeit?« Glanzmann nahm das Schiller-Stübchen ins Visier, als suchte er nach Anzeichen dafür, dass Matthias hier eine Pause eingelegt und von dem Sturz nichts mitbekommen haben könnte.
»Auf der Brücke, wie immer, wenn ich im Dienst bin.«
»Aber zwischendurch müssen Sie auch mal für kleine Kapitäne, nicht wahr?«
Wollte er ihm etwas unterstellen?
»Ich befand mich auf meinem Posten.« Matthias blieb ruhig. Offenbar musste der Polizist diese penetranten Fragen stellen. Matthias hatte nie zuvor in seinem Leben näher mit den Ordnungshütern zu tun gehabt und war jetzt etwas überrascht. »Nach der Meldung stoppten die Maschinen.«
Nein, an Mord auf seinem Schiff wollte er nicht denken. Darauf hinaus lief aber alles.
»Jemand sagte mir, er habe den Mann, der jetzt vermisst wird, kurz vor dem Unglück in seinem Rollstuhl sitzen sehen. Wenn er über die Reling gefallen ist, muss das doch jemand beobachtet haben. Nun gut, ich bin hier fertig. Während man im Wasser nach ihm sucht, werde ich die wenigen Passagiere und die Besatzung befragen. Verstärkung ist unterwegs.« Glanzmann ging so unspektakulär, wie er gekommen war.
Matthias rief ihm hinterher. »Wann kann ich mit meinem Salon-Seitenrad-Dampfschiff in Luzern anlegen?«
Glanzmann blieb auf halbem Weg zum Unterdeck stehen. Er drehte sich um. »Was haben Sie gesagt?«
Matthias mochte es, die Leute mit Fachbegriffen zu verwirren. Er schwieg.
»Sie können sich nicht an den Fahrplan halten, das ist Ihnen schon klar.« Glanzmann ging weiter.
Matthias holte ihn ein. Gemeinsam stiegen sie über die Treppe zum Unterdeck, wo der denkmalgeschützte Jugendstilsalon mit den gedeckten weißen Tischen und den gepolsterten Lehnstühlen lag. Hier waren schon Hochzeiten gefeiert worden, wobei man in Zeiten abtauchte, in denen das Savoir-vivre eine ganze Generation geprägt hatte.
Das Schiff schaukelte unrhythmisch. Matthias betrachtete dessen Kernstück. Der Geruch nach Maschinenöl stieg ihm in die Nase und er sah hinunter in den Rumpf, zu den auf Hochglanz polierten Maschinen, auf die Kurbelwelle und die Zylinder, welche die roten Schaufeln an den Schiffseiten antrieben. Während der Fahrt konnte man die Schaufelräder durch eine Plexiglasscheibe bestaunen. Das DS Schiller hatte einiges zu bieten, worauf Matthias stolz war. Zu Ehren des Namenspatrons Friedrich Schiller flatterte am Bug des Dampfschiffs eine Flagge mit dem Wappen von Weimar. Und beim Durchgang zum Schiller-Stübchen prangte eine weiße Büste des deutschen Dichters und Philosophen.
Fassungsvermögen des Dampfkessels: 15000 Liter Wasser, ging Matthias durch den Kopf, Fassungsvermögen des Öltanks: 12000 Liter leichtes Heizöl. Früher hatte man Kohle geschaufelt.
Er mochte sein Schiff. Würde sich mit dem Unglück ein Schatten darüberlegen? Morgen würde es in allen Zeitungen stehen und sein Name zuoberst. Er haftete für seine Passagiere und seine Besatzung. Vielleicht hatte sich der Mann das Leben nehmen wollen. Doch der verlassene Rollstuhl, den Matthias neben den Tauen entdeckte, widersprach seinem Verdacht. »Mord auf dem Dampfschiff Schiller«. Auf diese Schlagzeilen konnte er verzichten. Er schritt die Reling entlang. Der See war unruhig. Die Wellen überschlugen sich, wenn die Böen ins Wasser fuhren. Die Schweizerfahne am Heck flatterte so heftig, als würde sie gleich vom Mast gerissen. Stramm stand sie im Sturm. Einen Moment glaubte Matthias, das Schiff gerate in Schieflage. Im Wasser schwammen Taucher und suchten die nähere Umgebung des Schiffs ab. Zu allem Übel begann es zu regnen.
Matthias sah auf die Uhr. Seit dem Verschwinden des Mannes waren zwanzig Minuten vergangen. Man würde den Mann nicht mehr retten können. Was für ein fürchterlicher Tod, ging Matthias durch den Kopf, und er versuchte, seine Vorstellungskraft unter Kontrolle zu halten. Am Himmel tauchte wie aus dem Nichts ein Hubschrauber auf, von Luzern herkommend ein weiteres Boot der Wasserschutzpolizei.
Frau Villiger hatte er nicht mehr gesehen. Die Frau tat ihm leid. Er entdeckte Glanzmann und ging auf ihn zu. »Ich nehme an, der Krankenwagen wurde organisiert.«
»Der wartet bereits beim Europaplatz«, erwiderte der Polizist. »Aber soweit ich es beurteilen kann, haben Sie den Passagier verloren.«
Wie wollte er es Frau Villiger mitteilen? Er konnte sein Versprechen nicht halten.
In diesem Moment ging die Tür zu den Bordtoiletten auf und ein alter Mann an Gehstöcken kam humpelnd aus der Kabine.
Matthias wurde von einem seltsamen Gefühl erfasst.
Der Mann sah sich neugierig um. »Warum steht das Schiff? Sind wir schon in Luzern angekommen?« Ein heiserer Husten schüttelte ihn. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich beeilt. Aber in meinem Alter, ich bin über neunzig, geht das nicht mehr so schnell.« Er zog sein linkes Bein nach. »Na, jetzt gucken Sie nicht so, junger Mann. Ich suche meinen Rollstuhl.«
»Heißen Sie zufällig Villiger zum Nachnamen?«, fragte Glanzmann.
»Wer will das wissen?« Der Mann sah abschätzig auf den Polizeibeamten. »Woher kommt denn der? Habe ich vorher nicht gesehen. Mit Uniform. Was ist das für ein Zeichen?« Er wies auf seine Brust. »Ach, egal. Ich muss mich setzen.« Er äugte hinaus, bemerkte offensichtlich die Männer im Wasser und hob seine zittrige Hand. »Was ist denn hier los?«
Matthias stellte sich mit Namen vor. »Wer sind Sie?«
»Sepp Villiger, das haben Sie doch soeben selbst gesagt.«
»Würden Sie mir bitte folgen?«, forderte ihn Glanzmann auf. »Und Sie, Herr Stadelmann, brauche ich nicht mehr. Das ist ein Fall für die Polizei.«
Anstelle des blauen Himmels hingen dunkle Wolken über Luzern. Wind und Regen peitschten auf Matthias’ Gesicht, als er endlich sein Schiff verließ. Das Intermezzo auf dem DS Schiller hatte sich zum Glück zum Guten gewendet. Der Vermisste war nicht über Bord gegangen, sondern hatte sich in den Toiletten verschanzt, weil ihm das Gemeckere seiner Frau gehörig auf den Keks gegangen war. Und wie sich herausgestellt hatte, war er nicht unbedingt auf den Rollstuhl angewiesen. Aufregung für nichts, aber eine gute Übung, um die Schiffsmannschaft zu testen. Alles war reibungslos abgelaufen. Wer für die Einsatzkosten aufkommen würde, stand zurzeit in den Sternen.
Matthias schob die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht und hastete über die Seebrücke, weg vom Schiffsteg, weg vom Europaplatz, wo der Wagenbachbrunnen ein kleines Rinnsal Wasser plätschern ließ. Ein Zeichen, der Herbst hatte seine untrüglichen Vorboten geschickt. Bunte Regenschirme waren die einzigen Farbtupfer an diesem verregneten Abend. Die noblen Hotels entlang des linksseitigen Quais sahen genauso trist aus wie die Kapellbrücke mit dem Wasserturm. Es war Zeit, nach Hause zu fahren.
Matthias wohnte am Sonnenberg und besaß dort ein Haus aus den Fünfzigerjahren, welches er von seinen verstorbenen Eltern geerbt hatte. Mit den Jahren hatte er viel renoviert und daraus ein heimeliges Zuhause für seine Familie gemacht. Heute war er fünfundvierzig und hatte in seinem Leben schon mancherlei geschafft.
Donnerstagabend. Matthias nahm sich vor, sich früh schlafen zu legen und den Tag Revue passieren zu lassen. Vom morgigen Freitag bis Sonntagabend würde er zum letzten Mal in diesem Jahr das DS Schiller fahren, bevor es in die Werft kam, wo es über die Wintermonate blieb.
Ab Oktober war dann Schulung für angehende Kapitäne und Besatzungsmitglieder angesagt. Darauf freute sich Matthias, brachte es doch Abwechslung in sein Leben.
Er parkte seinen Wagen neben der Garage, stieg aus und sah hinauf in den Wipfel der Fichte, die er seit einiger Zeit zu fällen ins Auge gefasst hatte, wäre da nicht der Nachbar gewesen, der für ihre Rettung Flugblätter verteilte. Matthias wollte keinen Streit vom Zaun brechen und nahm den Schatten im Sommer gern in Kauf. Das kleinere Übel.
Donnerstagabend und er hatte sturmfrei.
Die Ereignisse hatten ihn ermüdet. Nachdem er ein mit Ei und Schinken belegtes Brot gegessen hatte, stellte er sich unter die Dusche und putzte die Zähne. Später legte er sich ins Bett und las die Zeitung. Wie immer wurden die schrecklichen Meldungen des Vortages mit neuen grauenhaften News überboten. Es war, als hätten die Journalisten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, ausnahmslos schlimme Informationen unter die Menschen zu bringen.
In der Nacht erwachte er.
Er wusste nicht, weshalb. Irgendetwas hatte ihn erschreckt. Er setzte sich auf und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was ihn genau aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Zwischenfall auf dem Schiff war es nicht. Um ihn herum herrschte eine trügerische Stille.
Ungreifbar. Unbegreifbar.
Er konzentrierte sich, lauschte, ob er nicht doch etwas vernehmen würde. Ein Auto, das vorbeifuhr, das Brummen eines Linienjets in weiter Ferne, das Flattern eines Vogels im Geäst.
Es hätte alles normal gemacht.
Aber die Nacht blieb stumm. Totenstill. Seine eigenen Atemzüge setzten einen Augenblick aus. Und als er die Luft wieder tief einsog, wie ein Verdurstender, der nach Wasser lechzt, erschrak er über diesen Laut.
Etwas war anders.
Später meinte er zu wissen, was ihn derart aus der Fassung gebracht hatte.
Olivia schlief nicht an seiner Seite.
Dort, wo sich sonst ihr Körper auf dem Laken abzeichnete, wo die dunklen Locken über das Kissen fluteten und die Decke, knapp über ihren Leib gezogen, sich durch das regelmäßige Ein- und Ausatmen hoch und niedersenkte, war alles unberührt in geradezu beängstigender Sterilität.
Drei Uhr.
Eine Kirchenglocke schlug viermal tief und nachfolgend dreimal hoch die volle Stunde. Manchmal nervte ihn dieser Ton. Nun vermittelte er etwas Tröstliches.
Von Olivia keine Spur.
Es war nicht ihre Art, so lange von zu Hause fernzubleiben, ohne ihm Bescheid zu sagen. Als sie ihn am Abend angerufen hatte, war es einundzwanzig Uhr gewesen. Nie kam sie später als um eins zurück. Sie war immer pünktlich. Er hätte nach ihr die Uhr richten können.
Matthias stellte die Füße auf den Boden, zuckte zusammen. Niemals hatte er den Plattenboden als so kalt empfunden. Einen Augenblick dachte er daran, einen Teppich zu besorgen, um zumindest im Winter eine wärmende Unterlage zu haben. Wann war er eigentlich das letzte Mal mitten in der Nacht aufgestanden? Er tastete nach seinen Hausschuhen.
Jetzt war er hellwach. Er überlegte, wie der Abend zuvor verlaufen war. Ja, Olivia hatte ihn angerufen. Da war er noch bei der Arbeit gewesen und hatte seine Leute auf dem Schiff verabschiedet. Er hatte es unterlassen, Olivia über das Erlebte zu berichten. Er würde genügend Zeit dazu finden, wenn er ihr in die Augen sah.
Ihre Stimme hatte anders geklungen. Anders als sonst. Aber er hätte nicht sagen können, weshalb ihm das aufgefallen war. Vielleicht lag es an seiner Sensibilität. Oder an seinem Wahn, sich nach ihr zu verzehren. Jeden Tag von Neuem.
Matthias hatte den Telefonhörer auf die Festnetzstation zurückgelegt. Manchmal war er erfüllt von schweren Gedanken, wenn sie nicht bei ihm war. Noch immer hatte er Olivias Stimme in den Ohren. Das zarte Timbre schwang in den Worten, die sie zu ihm gesagt hatte, und ließ ihn jetzt einen Augenblick erzittern, weil es schon verklungen war. Ihre Stimme, die auch, wenn sie lachte, einen melancholischen Unterton in sich trug.
Er liebte seine Frau.
Seine Olivia. Seine schöne, intelligente, fünfundvierzigjährige Frau, die sich in der Blüte ihres Lebens befand. Auf dem Höhepunkt geistiger und körperlicher Schönheit.
Der Gedanke an sie barg sogleich Gedanken an sich selbst. Als hätte er fast zwangsläufig eine Brücke spannen müssen. Zwischen ihr und ihm.
Eine Brücke, die zwei gleiche Ebenen verband. Zwei Leben, dazwischen die Liebe als ihre Verbindung.
Trotzdem fühlte er sich Olivia gegenüber immer ein wenig stärker. Er war ihr Fels in der Brandung. Ihre Wiese, auf der sie gedieh, ein Baum, der sie trug.
Sie hatte anders geklungen und ihre Stimme hatte vibriert, mehr als üblich. Verräterisch etwa? Aber was hätte sie verraten sollen?
Oder verschweigen?
Sie werde um eins nach Hause kommen, hatte sie gesagt. Sie sei bei ihrer Freundin Hannelore und es könne länger dauern, von wegen Reden und so. Er wisse es ja. Natürlich wusste er es. Sie kam immer um ein Uhr nach Hause.
Jeden Donnerstag.
Und jeden Donnerstag verbrachte sie bei Hannelore.
Hannelore, die sich schon wieder dazwischenschob. Die Frau, um die sich alles drehte.
Manchmal kam es ihm so vor, als hätte er auch Hannelore geheiratet.
Damals vor zwanzig Jahren.
Sie stellte Ansprüche gegenüber Olivia, die sie so nicht hätte stellen dürfen. Für Matthias’ Geschmack ging diese Freundschaft über die Grenzen des Normalen hinweg.
Die andere Brücke. Über die er nie ging. Und die er, hätte er die Befugnis dazu gehabt, zerstört hätte. Das Unartikulierte, nur Gedachte, das sich manchmal wie ein bösartiges Tier in seinem Innern bemerkbar machte. Der Schmerz, der seine Leidenschaft heraufbeschwor.
Er kannte Hannelore. Aber er distanzierte sich von ihr.
Olivias langjährige Freundin, mit der sie nicht nur durch das Feuer, sondern auch bis ans Ende der Welt gegangen wäre. Zwei Seelenverwandte, die in ihrer Art nicht unterschiedlicher hätten sein können.
Innen. Und vor allem außen.
Hannelore hatte rotes Haar und helle Haut, die eine feine Spur jener Sommersprossen erkennen ließ, gegen die sie sich in jungen Jahren gewehrt haben musste. Sie mied, das wusste er von Olivia, die Sonne in dem Maße, dass es ungesund war. Hannelore war wie ein Schatten seiner Frau, ein Nachtschattengewächs. Stets da und doch nicht klar erkennbar. Die Geheimnisvolle, immer Präsente, die mehr über Olivia wusste, als ihm lieb war.
Frauenfreundschaften, davon war er überzeugt, würde er nie begreifen können. Zu abstrakt waren ihre Beweggründe. Viel zu undurchsichtig.
Und für einen Mann gefährlich.
Matthias erhob sich, ging in die Küche, wo er die Kühlschranktür öffnete. Ein Routinegriff. Ein Griff ins Volle. Manchmal ins Leere. Olivia vergaß oft einzukaufen. Er vermochte nicht zu erklären, weshalb. Fragte auch nie danach. Es gab Wichtigeres als leere Kühlschränke.
Doch jetzt hatte sie die Lebensmittel, die gekühlt werden mussten, sorgsam in die Regale geräumt. Sauber und pedantisch genau, als hätte sie den Abstand zwischen den einzelnen Dingen abgemessen. Frischkäse, Fruchtjoghurts, Fruchtsäfte, Gemüsedosen, Schlagsahne. Eine Schachtel Eier. Matthias fand dennoch nichts, wonach es ihn gelüstete. Nicht einmal Biskuits, die er manchmal im untersten Fach heimlich kalt lagerte. Vielleicht hatte sie Marie, seine Tochter, schon stibitzt. Besser so. Er musste auf seine Linie achten. Zu wenig Bewegung, hatte ihm Olivia gesagt. »In deinem Alter sollte man regelmäßig etwas dafür tun.«
Eigentlich hatte er schon das Sandwich und vorher auf dem Schiff gegessen. Allein im Jugendstilsalon, abseits der gesprächigen Meute, die ihre Gedanken zum verflossenen Tag lautstark jedem kundtat, der zuhörte.
In jungen Jahren hatte er sich mehr schlecht als recht durchschlagen müssen: ein abgebrochenes Studium und Gelegenheitsjobs. Dies lag weniger an seinem Willen als an den Umständen, dass er und Olivia während seines Studiums Eltern geworden waren.
Damals hatte er seine Pläne umkrempeln und jede Arbeit annehmen müssen, die nur irgendetwas an Finanziellem abwarf. Es war ein bewegtes Leben gewesen.
Aber es war letztendlich alles anders gekommen.
Den Sommer verbrachte er auf seinem Schiff, den Winter überbrückte er als Dozent für angehende Schiffskapitäne und Besatzungsmitglieder.
Die Kurse waren immer gut besucht, weil Matthias rhetorisch unschlagbar war. Bei seinen Vorträgen erzeugte er eine derartige Spannung, dass sogar Laien den Hörsaal oder eigens dafür gemietete Räume füllten. Die Topfkollekte am Eingang war mit den Jahren zu einer großzügigen Selbstverständlichkeit geworden und ein willkommener Zuschuss für die Renovationsarbeiten an den historischen Schiffen.
Matthias ließ sich jetzt ein Bad einlaufen und prüfte die Temperatur mit dem Ellenbogen. Wie Olivia. Der Gedanke an sie entlockte ihm ein Lächeln. Olivia. Er verzehrte sich nach ihr. Selbst wenn sie bei ihm war, verspürte er eine tiefe Sehnsucht.
Er war älter geworden.
Der Spiegel im Badezimmer warf ihm die Jahre schonungslos an den Kopf. Jeden Morgen glaubte Matthias eine Furche mehr zu entdecken. Zwischen den Wangen und dem Kinn. Selbst die Denkerfalte über der Nase stach schärfer als sonst hervor. Diese sei entstanden, weil er seine Augen zu sehr anstrenge, hatte Olivia gesagt. Sie versuchte oft vergeblich, ihn zu einer Brille zu überreden. Aber das würde ihn gleich älter aussehen lassen.
Matthias war nicht schön.
Schön war eine Rose im Garten. Ein Sonnenuntergang über dem Meer. Eine Schiffsreise im hohen Norden. Ferien mit den Kindern.
Selbst dies hätte man relativieren können.
Aber eines war unstrittig: Schön war Olivia.
Trotzdem mochte er sich, was er sich täglich bekräftigte, und glaubte, das Alter habe für Männer seines Jahrgangs durchwegs etwas Reizvolles. Mit jeder neuen Hautvertiefung gewann er an Profil.
Und er besaß Olivia.
Mit ihr hatte Matthias zwei erwachsene Söhne und eine kleine Tochter. Und die Überzeugung, ein glücklicher Mensch zu sein.
Die Wassertemperatur behagte ihm.
Warm wie das Wasser in der karibischen See. Vor einem Jahr. Ferien mit Olivia. Wo sie sich wie ein Teenager gebärdet hatte. Nicht einmal im Alter von neunzehn Jahren hatte sie sich so aufgeführt. So, als müsste sie etwas Verlorengegangenes wieder zum Leben erwecken oder es zurückholen.
Er sah sie tanzen, einer Libelle gleich im Sonnenglast.
Olivia war schöner geworden mit den Jahren. Die Reife stand ihr gut und machte sie auf eine besondere Weise weiblicher.
Matthias brillierte neben ihr. Sie waren ein beneidenswertes Paar, wie er mit großer Genugtuung aus seinem Bekanntenkreis erfuhr. Eine Selbstverständlichkeit war daraus in der Zwischenzeit geworden. Ein Zustand, über den man keine Gedanken, geschweige denn Worte verlieren musste.
Der Sommer war seit ein paar Tagen endgültig vorbei, was Matthias ebenso gelassen hinnahm. Solange er unter der Woche in Luzern und auf dem See arbeitete und sich nur an Montagen ein paar Mußestunden gönnte, spielte es für ihn keine Rolle, ob er diese auf dem Liegestuhl im Garten oder drinnen vor dem Kamin verbrachte.
Er hatte sich vorgenommen, ausnahmsweise früh zu Bett zu gehen.
Nichts hatte ihn davon abgehalten. Auch der Umstand nicht, dass seine kleine Tochter bei seiner Schwiegermutter zu Besuch war. Einmal pro Woche, wie üblich am Donnerstag, immer an Olivias freiem Abend. Er hätte ausgehen, sich einen Kinofilm ansehen oder in der nahen Bar etwas trinken gehen können. Bei Susanne, die sich mit Freude an einsame Ehemänner heranmachte. Eine Frau zum Fürchten. Allein der Gedanke an sie verursachte ihm einen kalten Schauer.
Er war müde. Auch ohne das zermürbende Kindergeschrei und die oft ausweglosen Diskussionen mit seinen Nachkommen, was früher der Fall gewesen war. Bevor seine beiden Söhne Rolf und Marc nach Übersee gereist waren, hatten sie das volle Familienleben gelebt.
Matthias ließ die vergangene Woche vor seinem inneren Auge durchlaufen, wie einen Film, den er zurückspulte.
Er hatte eine Gruppe neuer Besatzungsmitglieder in den zukünftigen Lehrstoff eingeführt und dabei das Gefühl gehabt, als töteten sie ihm den letzten Nerv. Die Anfänger waren die Schlimmsten. Seine Zweifel an ihrem Interesse für das Jahresprogramm waren durchwegs angebracht. Manchmal dachte er, die angehenden Absolventen säßen nur da, weil ihre Ernährer imstande waren, die Ausbildung zu finanzieren. Dann fühlte er sich einer Horde Halbwüchsiger ausgeliefert, die jegliche Manieren und guten Geschmack vermissen ließen. Das waren dann die Momente, die Matthias ausblendete, als hätte es niemanden gegeben, der in den Bänken lag und Kaugummi kaute oder in der Nase bohrte.
Matthias wäre für eine Selektion der Anwärter gewesen. Er hätte gern die Spreu vom Weizen getrennt. Qualität vor Quantität. Seit die Arbeit auf seinem Schiff attraktiver geworden war als vor ein paar Jahren, sah er sich neuen Herausforderungen gegenüber. Nur in den älteren Semestern war die Bereitschaft fürs Lernen ungebrochen. Für sie lohnte es sich zu arbeiten. Für sie und seine Kinder.
Und für Olivia.
Das Bad war eine willkommene Entspannung. Eintauchen ins Urelement, ein paar Augenblicke wie im Mutterleib schaukeln und den Ballast vom Körper spülen. Ein kurzer Schlummer im warmen Nass. Ein Embryo in der Höhle des Ursprungs.
Ein Plätschern in den Ohren. Sich Wellen im Ozean vorstellen. Palmen, die Schatten spendeten.