Tongasoa - Katrin Züger - E-Book

Tongasoa E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

Es geht ums Unterwegssein. Gehend, laufend, fahrend, fliegend, zu Fuß, auf dem Arbeitsweg, auf Spaziergängen, Wanderungen, Reisen. Dabei lässt sich vieles erleben und beobachten, über manches nachdenken, sinnieren, raisonnieren. Über Klänge zum Beispiel: Warum ist es so schwierig, die Geräusche eines Krans oder die Laute der Vögel zu beschreiben? Oder über Wolken, vielfältige Gebilde, physikalisch gesehen Ansammlungen feiner Wassertropfen oder Eisteilchen, darüber hinaus Wunderwerke der Ästhetik, der Einmaligkeit, der Wechselhaftigkeit, der Vergänglichkeit. Blumen zeigen uns den ewigen Kreislauf von Wachsen, Blühen, Welken, Vergehen und wieder Entstehen - ein scheinbar sinnloses Kreisen um sich selbst. Ein Kojote im Yellowstone-Nationalpark steht auf einer Anhöhe in lichtdurchfluteter Landschaft, blickt in die Ferne, als ob dort die Wahrheit zu finden wäre, welche Wahrheit auch immer. Seltsame Wesen in Madagaskar, der ältesten Insel der Welt, Versuchslabor der Evolution: Giraffenhalskäfer, Chamäleons, Blattschwanzgeckos, Nektarvögel, Tenreks, Lemuren, darunter Kattas mit den lustigen Ringelschwänzen, die in der Dämmerung von den Bäumen heruntersteigen, sich sammeln, in einer Kolonne zu ihren Schlafstellen in den Felsen wandern, angeführt vom Leitweibchen, die anderen hinterher, zuletzt ein Männchen, das kontrolliert, ob alle da sind.

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Ich gehe über Hochmoor und Gras, werde von Fliegen und Mücken verfolgt, sehe Vögel auffliegen, höre das Geräusch fliehender Schneehühner, das Herz, das schlägt, die Beine, die gehen, der Rhythmus des Gehens, jetzt habe ich ihn gefunden.

Tomas Espedal, Gehen

Ist das nicht ein Wunder? Ein Schritt. Ein einziger Schritt, und der Abstand zum Gipfel ist schon wieder kürzer geworden. Schritt um Schritt. Ist das nicht fantastisch? Einfach nur den Fuss heben und ein Stückchen weiter vorn wieder aufsetzen. Eine einfache Handlung. Kaum schwieriger als stehenbleiben, was den Rucksack auch nicht leichter machen würde.

Willem Frederik Hermans, Nie mehr schlafen

Das Gehen ist die einzige Abwechslung an einem ereignislosen Tag.

Lorenz Langenegger, Bei 30 Grad im Schatten

Ich ruhe mich ständig aus, ohne erschöpft zu sein. Manchmal ist mir, als bewegte ich mich wie in Zeitlupe, ich gehe übertrieben langsam, obwohl mich das Gehen keineswegs anstrengt. Es gibt nur keinen Grund, schneller zu gehen.

Jürgen König, Medalges

Gehen ist eine Fortbewegungsart, bei der es im Gegensatz zum Laufen keine Flugphase gibt.

Wikipedia

Ein Umweg ist die Abweichung vom kürzesten Arbeitsweg, die nicht ausschliesslich privat ist. Ein Abweg liegt vor, wenn der Arbeitsweg aus privaten Gründen verlassen wird.

Deutsches Sozialversicherungsrecht

Inhalt

Sommersonnensonntag

Apfelbäume und rote Beeren

Kirschkernkopfkissen

Die Seifenblase

Löli

Freistaat Bayern

Der Hochsitz

Das Veilchen

Die Eisheiligen

Das Fenster

Der Kojote

Der Junge und die Lava

Tongasoa

Flugsand

Der Eisvogel

Der letzte Lauf

Referenzen

Sommersonnensonntag

Laufen geht nicht. Die Sehne schmerzt. Also Gehen. Das geht. Auf der Strecke, die ich sonst laufe. An diesem Sommersonnensonntag. Blauer, fader, wolkenloser Himmel. Die Luft ist klar, die Hitze hält sich noch zurück. Nach den anhaltenden Regenfällen und Sturzbächen der letzten Wochen. Die Berge jedoch, viele noch voller Schnee, erscheinen seltsam entrückt in diesigem Licht. Ein frisches Lüftchen weht.

Ich gehe los, treffe im Hof auf die Nachbarin, halte einen kurzen Schwatz, gehe weiter. Die Strasse hoch, an einer Baugrube vorbei, die fantastischen neuen Wohnraum verspricht. Dieses Klacken, immer wieder dieses Klacken, seit Tagen. Hohl, metallisch, nicht unangenehm. Dazwischen ein Aufheulen, Stöhnen, nicht vor Schmerz, eher vor Anstrengung. Schwer zu beschreiben. Der Kran steht da, geht geräuschvoll seiner Arbeit nach, klackend, heulend, stöhnend. Manchmal ist es auch ein Sirren, Schwingen, Schleifen, Summen, Surren, Ächzen, Klagen. Ich finde keine passenden Worte. Klänge. Die Welt ist voller Klänge. Lese ich auf der Website einer Firma, die Klänge produziert und verkauft. Klänge von Feuer, vom Mähdrescher, von der Windmühle, vom Regen, von der Eisenbahn, vom Hochofen, vom Kran. Ohne die Klänge zu benennen. Die Sprache der Geräusche ist, wie die Sprache der Gerüche, Geschmäcke und Gefühle, eine Sprache des Scheiterns. Zuverlässig steht er da, unverrückbar, von Betonplatten in Schach gehalten, arbeitet unermüdlich, angetrieben vom Kranführer oben in der luftigen Kabine oder unten auf der Baustelle, die Funkfernsteuerung um den Bauch gebunden, von sieben bis zwölf, von eins bis fünf, Montag bis Freitag, dann ruht er.

Gehe weiter die Strasse hoch, höre Vögel in den Gärten und in den Zweigen der Birken, die eine lose Reihe zwischen Trottoir und Strasse bilden, ohne sie zu sehen. Beidseits währschafte Einfamilienhäuser mit reichlich Umschwung. Essensgerüche schweben durch die Luft. Lavendel blüht noch in den Beeten, neben Rosen und Margeriten. Im Geäst einer stattlichen Buche hockt wie schon oft ein Buchfink und trällert sein Lied in die Welt hinaus. Ab und zu ist es auch eine Amsel, doch diese hört man zu dieser fortgeschrittenen Jahreszeit kaum noch. Auch die Grasmücken verstummen zusehends.

Den Menschen seien die Worte für Vogellaute abhanden gekommen. Nüchtern die Sprache der Wissenschaftler: Lassen die Vögel in ihrem Stimmkopf Luft an den Membranen vorbeiströmen, beginnen diese zu schwingen, und es entstehen Laute, die den Vögeln als akustische Signale dienen. Der Laie sagt: Vögel singen oder rufen. Das Amselmännchen zum Beispiel, wenn es sich im Frühling zuoberst auf einen Baum oder einen Dachgiebel schwingt und seine amouröse Melodie erklingen lässt. Aber singen die Vögel wirklich? Nein, die Amseln schackern, orgeln, rollen, quirlen, am Ende einer Strophe schnirpen sie, und klingt es ausnahmsweise nicht besonders schön, dann schirken oder zetern sie. Der Hausrotschwanz girlt, der Buchfink knarrt oder schilkt, der Zaunkönig krispelt, die Taube burrt, die Schwalbe zinzeliert, der Reiher giert, der Kuckuck fistelt, der Grünfink knätscht, die Nachtigall flötet, die Feldlerche tiriliert, die junge Waldohreule fiept, der balzende Auerhahn krolzt. Wörter, die einst für den Gesang der Vögel verwendet wurden. Zu finden in alten Konversationslexika, Wörterbüchern, der Jagdliteratur, Wanderführern für Vogelfreunde, Alfred Brehms zoologischem Werk. Hilfreich? Nicht wirklich, eine Annäherung höchstens. Gelegentlich versucht mans mit Lautmalerei – jirr tititi, krchrch-tütititi (Hausrotschwanz), zizizizjazjazoritiu-zip, zipzipzip (Buchfink), tek tek, dzrr-dzrr (Zaunkönig), rúhgu gugu (Ringeltaube), chirrp (Mehlschwalbe), ti-vuid (Kohlmeise), kewok (Waldkauz), tschilp tschilp (Sperling). Auch nicht viel besser. Und der Kran?

An einem Fahnenmast flattert eine Flagge, gelb, mit unentwirrbarem Motiv. Das folgende Haus ist verwaist. Die Bewohnerin ist gestorben, es soll bald abgebrochen werden. Der einst gepflegte Garten verwildert, in der Blumenwiese summt es wie im Bienenhaus. Am Ende der Strasse ein Parkplatz, auf dem ein stummes Wohnmobil und ein Pferdetransporter auf Beschäftigung warten.

Der Weg führt in den Wald. Ein Meer von Bäumen und Sträuchern. Später Wiesen. Ein Ozean aus Gräsern und Blumen. Es ist kühl. Der Boden ist tropfnass, dafür schön weich. Auch das Laub, das da liegt, ist feucht, raschelt nicht wie damals, als es noch trocken war und die Sonne erbarmungslos vom Himmel brannte. Es geht geradeaus, auf weichem Untergrund, wo sich nach dem zünftigen Regen schuppenförmige Muster aus Fichtennadeln gebildet haben, dann zügig abwärts, irgendwann roher Asphalt. Nehme schemenhaft die Gelbheit des Postautos wahr, das unten im Tal dahinfährt. Drei junge Vögel belagern die Strasse, üben das Überleben. Vor ein paar Tagen bin ich ihnen schon begegnet. Da hatten sie noch Mühe mit dem Fliegen. Inzwischen haben sie gelernt. Der eine macht sich gleich davon, als ich herankomme, verbirgt sich zwischen den Ästen. Der zweite bleibt sitzen, wirkt hilflos, ich warte, bis er es auf den nächsten Zweig geschafft hat. Der dritte hüpft keck vor mir her, achtet auf gleichbleibende Distanz. Ich versuche herauszufinden, welcher Art er ist, ein Hausrotschwanz vielleicht, vergeblich, er lässt es nicht zu, schlägt sich ins Gebüsch am Wegrand, das jeden Durchblick verweigert.

Weiter abwärts, dann über die Hauptstrasse. Es ist seltsam still, kein Auto, kein Mensch, kein Hund. Unerhörter Friede. Kann es sein, dass die Menschen ausgestorben sind? Selbst das Rauschen der Autobahn in der Ferne ist verstummt. Wegen des Winds möglicherweise, der heute aus der östlichen Richtung weht. Aber nein. Die Sommerferien haben begonnen. Neun Kilometer Stau am Gotthard. Wer weiss, wo sie alle hin wollen. Ich bin hier, allein, gehe meines Wegs. Ein Haus im Bau, fertiggestellte Häuser, ein Hof mit Pferden, die sich zurzeit nicht blicken lassen. Von einem Dachkännel stürzt ein Wasserstrahl in die Tiefe, führt einen spritzigen Tanz auf, möchte mir etwas mitteilen, bevor er auf den Pflastersteinen zerschellt. Leider verstehe ich ihn nicht und kann nicht helfen. Ich gehe vorbei, die Fontänen spritzen weiter.

Dann Wiesen, Felder, ein Weinberg, davor ein Auto, immer noch kein Mensch. Blumen säumen die Wege. Reste von Klatschmohn, Sauerampfer, Brennnessel, roter und weisser Klee, Akelei, Glockenblume, Skabiose, Schafgarbe, Kratzdistel, Ackerwinde, Johanniskraut, Leinkraut, Hornklee, Wiesenkerbel, Malve, Blutweiderich, Wegwarte. Noch ein Reithof, der auch ein Gnadenhof ist. Ich wende mich nach links, wo ich normalerweise geradeaus laufe, wandere talwärts, durch dichten Wald. Kleine Bäche rinnen die Strasse hinunter. Die Erde ist immer noch gesättigt vom Wasser des vergangenen Regens. Aus dem Brunnen, aus dem ich gern einen Schluck trinke, wenn ich vorbeijogge, sprudelt es übermütig, wo sonst nur ein kümmerliches Rinnsaal tröpfelt.

Auf einer Lichtung mitten im Wald ein Lager, ein grosses Zelt, als Dach eine Riesenplane aus Tarnstoff, auf der Spitze eine Flagge, deren Schriftzug ich nicht lesen kann, darum herum kleinere Zelte und Holzkonstruktionen. Autos warten darauf, entladen zu werden. Schmetterlinge schwirren herum, im Sommer in ihrem Element, vorherrschend Augenfalter und Kohlweisslinge, auch wenn weit und breit kein Kohl zu finden ist. Zwei grössere Exemplare fliegen im Tandem, umtänzeln sich, jagen einander, scheinen zu spielen. Dann doch noch Menschen, wahrscheinlich die Bewohner des Zeltlagers, marschieren in Einerkolonne laut schwatzend auf einem Fussweg daher. Ich schaue, dass ich weiterkomme. Aus dem Wald heraus, zu einer Verzweigung, mit Blick auf offenes Gelände und einen Bauernhof. Der Hund bellt aus gehöriger Distanz. Ich gehe links, später rechts, dann wieder links.

Der Bach rauscht mächtig, wo er sonst kaum zu vernehmen ist. Zu sehen ist er nicht, vor lauter Grünzeug, das über ihm hängt. Manchmal steht ein Fischreiher hier. Nicht jetzt. Keine Kühe mehr auf der Weide. Aber Rehe. Vier stehen in einer Wiese, unweit des Wegs, auf dem ich daherkomme. Eines blickt auf, prüft, hält Wache, die anderen äsen weiter, ich stelle keine Gefahr dar. Gehe still vorbei, lasse sie ihren Hunger stillen. Endlich wieder weicher, wenn auch steiniger Waldweg, fast verborgen hinter wuchernden Büschen, steigt an, zweigt ab, wieder Waldrand und Blick in grössere Weiten. Wiesen und Felder, Häuser, Berge, ein Dorf auf einem Hochplateau, ein Aussichtsturm auf dem höchsten Punkt des fernen Hügelzugs. Die Gedanken beginnen zu wandern.

Werden Sie glücklich, fahren Sie aufs Land, habe ich in einem Magazin gelesen. Halten Sie Ausschau nach einer schönen Kuhherde, und wenn Sie eine gefunden haben, was nicht so schwer sein sollte bei 1,6 Millionen Kühen im Land, dann machen Sie es sich bequem am Rand der Wiese. Nun ziehen Sie das Buch aus der Tasche. «Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung». Der Titel ist schon grossartig, der Inhalt erst recht. Warum soll ich es lesen? Weil Sie ja glücklich werden wollen. Da kann der Mensch der Kuh eine ganze Menge abschauen. Ich habe das Buch gekauft. Wegen der Kühe. Ich mag Kühe, richtige Kühe, wohlproportionierte, zottelige, goldbraunes, weiss geflecktes oder schwarzes Fell, mit Hörnern bestückt, besonders die Kleinen, neugierigen, wenn sie mich fixieren, mir nachschauen, bis ich ausser Sichtweite bin, ohne dass ich je herausfinde, was in ihnen vorgeht.

Wie findet einen das Glück? Frage an Prominente in einem Standardfragebogen. Noch immer zucke ich zusammen, wenn ich sie lese. Wie würde ich antworten? Bin ich glücklich? Manchmal. Habe ich das Beste aus meinem Leben gemacht, jeden Tag ausgekostet, bin ich die Meisterin meines Glücks? Kaum. Gelegentlich habe ich mich auf das Ende des Tages gefreut. Eigentlich oft. Habe immer gern und lang geschlafen. Aber ich hatte Glück. Keine schweren Krankheiten, Schicksalsschläge, Schlammlawinen, Feuersbrünste, Unfälle, Einbrüche, Verluste, Verhaftungen, Verleumdungen, böse Nachbarn. Hatte genug zum Leben, brauchte nicht viel, mochte Freiheit und Unabhängigkeit, hatte Raum zum Wohnen, Schutz vor Kälte, freie Zeit, kaum Feinde, kleinere Missgeschicke nur, alltägliche, nicht der Rede wert. Ein verspäteter Zug, ein liegen gelassener Schirm, Nichtbeachtung, Zurückweisung, ein Beinbruch, eine Entlassung. Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich, sagen sie und meinen es. Wie findet einen das Glück? Alle haben sie eine Antwort. Irgendeine. Nur nicht, dass mit der Frage etwas nicht stimmt.

Zufall. Ein noch nicht erkannter kausaler Zusammenhang. Nicht Schicksal. Schicksal redet man sich ein. Soll trösten. Über die Obdachlosigkeit hinweg. Wir nehmen uns zu wichtig. Die Natur braucht uns nicht, überstand Ewigkeiten ohne uns, existiert weiter, wenn wir nicht mehr sind, niemand wird sich an uns erinnern. Vielleicht fallen wir bald dem nächsten Massenaussterben zum Opfer, dem sechsten. Das letzte raffte die Dinosaurier dahin. Das nächste brocken wir uns möglicherweise selber ein. Aber achtundvierzig Jahre unschuldig im Gefängnis, das ist nicht in Ordnung. Wenn ich die Freiheit gewinne, schreibt der Mann aus Japan, ist das Erste, das ich mir erfüllen möchte, dieser Traum. Laufen und dabei mit Schulter und Hüfte den Wind zerschneiden.

Nächste Frage an die Prominenten: Welches Talent hätten Sie gern? Mit den Fingern pfeifen. Ein Vogelhäuschen bauen. Aus eigener Kraft davonfliegen. Etwas Blaues fliegt durch die Luft, reisst mich aus dem Sinnieren, leuchtet mir seitwärts ins Auge, einen Augenblick nur, aber erkennbar. Eine azurblaue Prachtlibelle. Kaum in den Dunstkreis der Wahrnehmung gedrungen, entschwindet sie wieder. Andere Libellen entdecke ich jetzt, grüne, braune. Auch dort, wo kein Wasser ist. Passiere ein Waldhaus, vor dem sich Wandergruppen an Wochenenden gern zum Grillieren treffen. Jetzt ist es still. Eine Strasse, wieder Wald, wieder samtener Nadelboden. Pilze beginnen zu spriessen. Ein Mann, eine Frau, drei Hunde, nicht angeleint, wo sie es doch sein sollten. Achtung, ich komme. Die Frau ruft «Platz». Alle drei legen sich hin, auf der Stelle, wo sie sich gerade befinden, rühren sich nicht mehr. Ich bin beeindruckt, freue mich, sage es und gehe vorbei. Border Collies. Intelligente Tiere. Wenn man die Unterwerfung unter die Spezies Mensch ignoriert. Warum tun sie es? Warum laufen sie nicht einfach weiter?

Erreiche ein Stück verwundete Landschaft, eine Lichtung, vom Orkantief Lothar vor vielen Jahren geschlagen, das Ergebnis immer noch sichtbar, aber die Natur holt auf. Ich mag den Ort, er hat etwas Magisches, nicht nur wegen des Sturms, auch wegen der erhöhten Lage, der Abgeschiedenheit, der Vögel, Goldammern, Tannenmeisen, Goldhähnchen, der Buntheit der Pflanzen, die sich das Territorium zurückerobern. Dabei ist er so abgeschieden nicht, verschiedene Wege führen hindurch. Tännchen wurden gepflanzt, der Blick bleibt an vereinzelten eiffelturmhohen Baumstämmen hängen, die den Naturgewalten getrotzt haben, geht weiter, hinunter auf grünes Land und den Wald dahinter. Ich lasse das Häuschen der Wasserversorgung hinter mir, die Hälfte der Rundreise ist vollbracht.

Der Mais steht grün und mittelhoch. Der Raps ist weitgehend abgeerntet. In einem Stoppelfeld hockt ein Taubenschwarm, Türkentauben, glaube ich, ich sehe sie, als sie auffliegen, eine Runde drehen und sich, nachdem ich vorbeigegangen bin, an der gleichen Stelle wieder niederlassen. Gerste und Weizen halten noch die Stellung und glänzen goldig, wo nicht Wind und Regen der letzten Tage Schneisen in die Halme geschlagen und sie grossflächig flachgelegt haben. In einem Weizenfeld knistert es geheimnisvoll. Mitten drin ein Hüttchen, harmonische Bauweise, könnte einer Kinderzeichnung entsprungen sein, aus wettergegerbtem Holz, mit Ziegeldach, Wächter über die Weiten des Geländes, beherbergt vielleicht das eine oder andere Werkzeug. Plötzlich kommt etwas von hinten, fliegt in mich hinein, ich erschrecke. Ein Vogel. Doch ich spüre nichts. Der Schatten hat mich genarrt. Weit über mir flitzt sie dahin, die Schwalbe, jagt Insekten, im Tiefflug, ein neues Tiefdruckgebiet ankündigend. Solange es noch Insekten gibt. Mehr als die Hälfte der bekannten Tierarten gehören dazu. Kommen so gut wie überall auf dem Land vor, in der kältesten Steppe und in der heissesten Wüste. Eine Erfolgsgeschichte der Evolution. Seit fast fünfhundert Millionen Jahren. Doch es gibt immer weniger. In dreissig Jahren könnte ein Viertel davon ausgestorben sein. Den Vögeln geht es nicht besser. Und vielen anderen Tieren. Dafür breitet sich der Mensch aus.

Die Schwalbe ist nicht lange allein, Artgenossen tauchen auf, schiessen durch die Luft, in waghalsigem Tempo, ändern abrupt die Richtung, schreiben rätselhafte Zeichen an den Himmel. Wüssten einiges zu erzählen, wenn man sie verstehen würde. Ein Schild berichtet von einer Güterzusammenlegung, Melioration, Revitalisierung, seit Jahren schon. Grosse Erdmassen werden bewegt, ein Drainagenetz von dreissig Kilometer Länge aus neunzigtausend Röhren ist geplant. An Wochenenden übt hier manchmal eine Modellfluggruppe mit Helikoptern. Ich bin froh, dass sie heute nicht da ist.

Noch immer bin ich allein. Auch auf der roten Bank, die von Spaziergängern gern als Etappenziel benutzt wird, sitzt heute niemand. Ich mache mich auf den Rückweg. Die Sonne hängt jetzt senkrecht über mir. Überwinde ein eingezäuntes Gelände mit Esel, Pferdewagen und jungen Obstbäumen, idyllisches Plätzchen, Privatbesitz, Füttern verboten. Bei der Abzweigung kurz vor dem grossen Bauernhof ein junger Mann, steht da, fotografiert ein Objekt in der Wiese, seinen Hund, gross und schwarz, sitzt im hohen Gras, lässt sich geduldig knipsen und mich passieren. Oben im Schatten des Waldes ein Holzhäuschen, ein Lager für die Waldarbeiter, dachte ich stets, jetzt steht aber da, in frischen, leuchtenden Lettern: Lehrbienenhaus, betrieben vom lokalen Bienenzüchterverein. Wusste nicht, dass es so etwas gibt. Frage mich, wer da ein und aus geht. Bienen. Und sonst?

Schützen Sie die Rehkitze, lese ich auf einem Plakat, das an einem Baum klebt. Vor mir kriecht eine fette Häuschenschnecke über den Asphalt. Ich hebe sie auf und trage sie ins Gebüsch. Rossbollen liegen freizügig herum, in frischen Haufen oder plattgedrückt, sodass sie sich vom Belag nur noch durch ihre Farbe unterscheiden. Legionen von Fliegen scheuche ich auf. Wieder eine Lichtung. Stelle mir vor, wie die Rehe in der Dämmerung hinaustreten, um zu äsen. Ein Hochsitz am Rand verrät, dass andere sich das auch vorstellen können.

Überhole eine spazierende Familie, Vater, Mutter, das Kleinste im Kinderwagen, von der Mutter gestossen, etwas abgeschlagen zwei Mädchen, plaudern, necken sich, haben Spass. Das jüngere hält etwas in den Händen, fest umklammert. Ich komme näher. Ein Huhn, lebendig, goldbraun, mit rotem Kamm und rotem Schnabel. Ein Hahn vielmehr. Blickt scheinbar stressfrei in die Welt. Soll ich empört sein? Lass das arme Tier laufen, möchte ich sagen. Vielleicht geniesst es aber den Ausflug, ist längst zum verwöhnten Haustier mutiert. Vielleicht auch nicht. Jerry heisst er, sagt das Mädchen. Es solle ihm Sorge tragen, sage ich, sonst nichts. Beide hüpfen fröhlich davon.

Noch eine halbe Stunde geradeaus, dann bergwärts. Es fällt mir leicht, auch wenn die Sonne heizt. Kein Lüftchen mehr. Ich erreiche die Hauptstrasse, die immer noch still da liegt, geniesse den weiten Blick in die Landschaft, in die Berge, beschleunige den Schritt, kehre heim, putze die Schuhe und frage mich, wie es weitergehen soll.

Letzte Frage an die Prominenten: Welchen Sinn sehen Sie darin, Kinder in die Welt zu setzen? Keinen, finde ich. Was nicht heisst, dass man es nicht doch tun soll.

Apfelbäume und rote Beeren

Der Wecker schrillt. Zwei Wecker. Sicher ist sicher. Ich erwache. Habe geträumt. Von Apfelbäumen und roten Beeren. Stehe auf, um zehn nach sechs. Gehe ins Badezimmer. Wasche mir die Hände, das Gesicht, die Haare. Ziehe mich halbwegs an. Setze Wasser auf. Trinke Kaffee. Lese Zeitung, eine alte, vom Stapel, der nicht kleiner werden will. Putze die Zähne. Creme mir Gesicht und Hände ein. Ordne das Bett und schaue aus dem Fenster. Der Nachbar ist schon auf, die runde Lampe im Wohnzimmer leuchtet grell durch die Vorhänge. Die ersten Bauarbeiter treffen ein, auf der Baustelle ein paar Häuser weiter. Ein geiferndes Moped dröhnt vorbei. Ich schliesse das Fenster. Kleide mich fertig an, Pullover, Hose, Jacke, Schuhe, nehme die Tasche, prüfe, ob alles da ist. Gehe los, hinaus auf den Vorplatz, nehme die Zeitung aus dem Briefkasten, passiere den stolzen Ahorn, die blühende Linde, von emsigem Summen umgeben, süss duftende Sträucher, die das gegenüberliegende Haus von der Aussenwelt abschirmen, gelange aufs Trottoir, über die Strasse aufs nächste Trottoir, begegne dem einen oder anderen Auto, überquere die nächste Strasse, erreiche die Postautohaltestelle. Die Sonne ist schon da, verspricht viel. Auf der anderen Seite der Strasse ein Mann mit einem Jungen, Schulthek auf dem Rücken, oranges Sicherheitsdreieck um den Hals. Der Mann erklärt ihm die Sachlage, gibt im einen Klaps auf die Schulter, schickt ihn los, wartet, bis er auf der anderen Seite angekommen ist. Eine Frau geht joggen. Mit dem Hund. Läuft los. Der Hund will nicht. Reisst die Joggerin zurück. Möchte lieber schnuppern. Die Joggerin läuft langsamer. Der Hund will immer noch nicht. Er ist ja auch sehr klein. Ein Winzling. Ein Yorkshire Terrier. An einer Leine wie für einen Schäferhund. Die Joggerin bleibt cool, in ihrem schwarzen Trainingsanzug mit weissen Streifen, stoppt, schaut den Hund zärtlich an. Schon gut. Sie weiss es ja. Ein schwarzes Auto macht sich auf den Weg zur Arbeit. Die Sonne blendet.

Das Postauto kommt einigermassen pünktlich, die S-Bahn sowieso. Schüler verstopfen die Gänge. Die meisten steigen an der vorletzten Haltestelle aus, gemächlich, wissen nichts von Eile. Ich besteige den Zug. Lese Zeitung, blicke auf, als wir am Weiher des Nachbardorfs vorbeifahren. Mitten drin eine Insel mit Bäumen und Sträuchern. Dort stehen sie manchmal, Graureiher auf den Ästen knapp über dem Wasser. Silberreiher, irritieren als weisse Flecken. Kormorane, breiten ihre Flügel zum Trocknen aus. Ein halbes Dutzend bevölkert die höheren Äste. Winzig wirken die Enten, die das Wasser durchpflügen, zu erkennen an den dreieckigen Spuren. Eine Frau steigt zu, mittleren Alters, lange schwarze Haare, stellt die Tasche auf die Knie und tut nichts. Einfach nichts. Holt nach einer Weile ein Blatt Papier aus der Tasche, überfliegt es, steckt es zurück in die Tasche, tut wieder nichts. Kein Handy, kein Buch, keine Zeitung, sehr ungewöhnlich. An einem Bahnhof hängt ein Plakat, F12-Breitformat, dunkelblauer Hintergrund, helle Schrift: «Fürchte dich nicht. Die Bibel». Habe ich etwas verpasst? Eine drohende Katastrophe? Auf dem Balkon eines Hauses, unmittelbar an der Bahnlinie, ein Mann und eine Frau, schütteln mit vereinten Kräften einen Perserteppich aus und lachen sich fröhlich an.

Achtundzwanzig Minuten bis zum Hauptbahnhof. Noch vor wenigen Jahren waren es vierunddreissig. Ein wichtiges Stück Zeitgewinn. Ich steige aus, tief im Untergrund, in einer Traube von Menschen, suche mir einen gangbaren Weg, steure auf die Treppe zu, meide die Rolltreppe, zu der sich die meisten hinbewegen, wie Lemminge, die sich zu sehr vermehrt haben und nun zur Vermeidung von Dichtestress auf Wanderschaft gehen. Viele kommen dabei um, verhungern oder ertrinken. Gehe vorbei an Läden und Restaurants, die schon geöffnet haben. Da, ein Spatz, in den Katakomben des Bahnhofs. Schaut mich an, ich ihn. Wovon lebt er? Ich habe nichts. Füttern der Spatzen im Bahnhof ist ohnehin verboten. Zucke bedauernd mit den Schultern. Reklame für eine Sehbrille, für dreihundert Franken. Sind nicht alle Brillen zum Sehen gedacht? Ein neuer Laden, Donuts, nichts als Donuts, in zahllosen zuckrigen Varianten. Kann mir nicht vorstellen, so etwas je essen zu wollen. Von irgendwoher säuselt schmerzlose Musik. Kaufe feine Kamutgipfel vom Beck fürs Frühstück, esse einen auf dem Weg durch die unterirdischen Gänge, steige die Treppe hoch, unter dem Baugerüst durch, das seit ewigen Zeiten da steht, man scheint nicht so recht voranzukommen mit der Bauerei. Lese wie jedesmal ungewollt das Plakat des Computerladens: «Unsere Filiale erhält ein Upgrade. Das Provisorium befindet sich gleich um die Ecke». Weiter über die Brücke, auf der manch einer stehen bleibt, ein Selfie von sich, dem Fluss und den Bergen im Hintergrund knipst. Die Kulisse gibt in der Tat etwas her.

Am Ende der Brücke in einer kleinen Ausbuchtung steht eine Bank, neben einem dieser Abfallbehälter, die alles schlucken und scheinbar nie genug bekommen, dann aber doch irgendwann satt sind und alles wieder herauswürgen. Einst, anfangs Sommer, sass dort eine Zeitlang ein Mann, in eine Decke gehüllt, graue Wollmütze auf dem Kopf, Dose in der Hand. Verbrachte wohl die Nacht auf der Bank. Starrte verloren vor sich hin, ignorierte die Passanten, sie ihn. Ging jeden Morgen mit ungutem Gefühl an ihm vorbei. Hätte ihm gern einen Gipfel angeboten, ich hatte ja gerade welche gekauft, traute mich aber nicht. Würde er ihn nehmen? Verschob den Entscheid immer wieder. Dann war er plötzlich nicht mehr da.

Gehe in die Cafeteria, oder ins Café, oder ins Tea Room. Oder heisst es in den Tea Room, da room Raum heisst und männlich ist? Room kann aber auch Zimmer heissen, und das ist sächlich, also doch ins Team Room. Meine Tante, die schon lange tot ist, sagte jeweils «tea room», genau so wie mans schreibt, t-e-a-r-o-o-m. Es ist aber Englisch, und da sagt man fast nichts so, wie mans schreibt. Naughty, lichen, rutabaga, extraneous, sepulchral, celtic, plethora. Bei granite muss ich immer wieder nachschauen. Obwohl, so häufig brauche ich das Wort nicht, auch wenn es einen meiner Lieblingssteine bezeichnet. Im Keller liegt ein grosser Brocken vom Gotthard, mit einem Ansatz von Kristall. Es brauchte einiges, um ihn von dort nach Hause zu schleppen.

Unverhofft steht sie vor mir, im Tea Room, wo ich Kaffee trinke, schaut mich an, mit diesem Blick von oben herab, den überquellenden, stechenden Augen, den fleischigen Lippen, die farblosen Haare wie früher zu einem Rossschwanz zusammengebunden, der im Gehen lustig hin- und herschwappt, mit langen Fransen, die weit in die Stirn hinunterhängen. Wenn sie sie früher jeweils zur Seite strich, ging in ihrem Gesicht die Sonne auf. Hallo, sagt sie jetzt. Hallo, sage ich. Fahr zur Hölle, denke ich, wenn es denn eine gibt. Sie will sich setzen. Ich lasse sie, es ist ja schon lange her.

Rosa war einmal meine Mitarbeiterin. Nicht unangenehm, etwas speziell, tat selbstbewusst, war gleichzeitig scheu und zurückhaltend. Hatte Mühe mit der geschriebenen Sprache, trotz Studium, sodass man sich fragte, wie sie den Abschluss geschafft hatte. Sie hatte andere Qualitäten. Konnte gut mit Menschen. Trug schwungvolle Röcke und bunte, geringelte Strümpfe in soliden Schuhen, wie Pippi Langstrumpf. Stapfte mit grossen Schritten durch die Welt und ins Büro, sagte schüchtern guten Morgen. Trug ihre Stimmung vor sich her wie einen Blumenstrauss. Der niedergeschlagene Blick und die zusammengepressten Lippen, wenn sie schmollte, die strahlenden Augen, wenn sie guter Dinge war, die Fahrigkeit, wenn sie etwas bedrückte. Leistete gute Arbeit, solange sie nicht zu schreibtischgebunden war. Lebte in prekärer Situation. Der Partner aus Afrika, unverheiratet, zwei kleine Töchter, sie die Ernährerin. Nach einer Reise in die afrikanische Heimat besann sich der Mann auf seine Kultur, sprach von Geistern, fürchtete sich vor Zauberei, wollte bleiben, drohte mit Kindesentführung. Rosa schaltete Anwälte ein. Es half, der Mann beruhigte sich. Doch dann geschah etwas anderes. Rosa war nicht wiederzuerkennen, rastete aus, schimpfte herum, lästerte über die Arbeit, wollte selbst entscheiden, was zu tun war, man nehme sie nicht ernst, behandle sie schlecht, zwinge ihr Dinge auf, glaubte es schliesslich selbst.

Wie es mir gehe, fragt sie. Blöde Frage, schlecht natürlich, wenn ich dich sehe. Ob ich ihr noch böse sei. Ich sage nichts. Wie kann ich ihr nicht mehr böse sein. Hat sich wie ein trotziger Teenager benommen, hat mich beschimpft, Bösartigkeiten verbreitet, ist dann einfach gegangen, ohne versöhnende Worte, ohne Abschied, hinterliess verwüstetes Land, verbrannte Erde. Dabei hatte sie bloss ein schlechtes Gewissen, weil sie ein verlockendes Angebot erhalten hatte und dieses annehmen wollte. Nein, eigentlich bin ihr nicht mehr böse, sie ist mir einerlei, spielt keine Rolle mehr in meinem Leben, ist noch verschwommen da in der Erinnerung, abgelegt in der Schublade «Erfahrung».

Psychologie hat sie studiert. Hat nun ihre Doktorarbeit geschrieben. Untersuchte, ob sich bestimmte Sportarten für bestimmte Personen besser eignen als für andere. Bahnbrechende Erkenntnis: Wer ein hohes Bedürfnis nach sozialem Anschluss und Austausch hat, sollte nicht allein joggen gehen, und für den Listungsmotivierten ist ein Sport gut, bei dem er die Möglichkeit hat, über ständiges Feedback die eigene Leistung einzuordnen und sich schrittweise zu verbessern. Am besten lasse man sich beraten, welche Sportart zu einem passt. Von einer Sportpsychologin zum Beispiel. Die perfekte Art, Bedürfnisse und Arbeitsplätze zu schaffen.

Es gibt Menschen, die mögen keinen Sport. Fahren mit dem Lift in die Garage, gehen ein paar Schritte zum Auto, fahren zur Arbeit, dort mit dem Lift von der Garage ins Büro und abends wieder zurück. Halten sich gern auf dem Sofa auf, sehen fern, Bier und etwas zum Knabbern in Reichweite. Fahren mit dem Geländewagen durch malerische Landschaften, vertreten sich kurz die Beine, fahren wieder zurück. Reisen ans Meer, legen sich an den Strand, warten, bis die Sonne untergeht, gehen essen, feiern. Andere treiben Sport, joggen, schwimmen, hüpfen, fechten, fahren Velo, wandern. Wagemutige stürzen sich von hohen Felsen in die Tiefe, überbrücken Abgründe auf dünnen Seilen, klettern auf hohe Berge, segeln über den Atlantik, flitzen Neuschneehänge hinunter, trotzen Stromschnellen, riskieren ihr Leben und andere Dinge. Ultra-Marathons führen vorzugsweise durch die Wüste der Sahara, das Eis der Arktis oder den Dschungel des Amazonas, Hauptsache ungemütlich. Zweihundertzwanzig Kilometer durch den Regenwald, Trillerpfeife obligatorisch, wegen des Verirrens. Darum herum nichts als Urwald, neben Killerbienen, Krokodilen, Zitteraalen, Piranhas, Schlangen, Jaguaren, Schlamm, Sumpf, Hitze, Feuchtigkeit, Halluzinationen, Ohnmacht, Koma. Am heissesten und feuchtesten Tag des Jahres. Einer schafft zwei Etappen, bleibt dann dehydriert auf dem Boden liegen. Er wird gerettet. Andere machen weiter. Sport ist gesund. Oder auch nicht. Die Meinungen darüber gehen auseinander.

Eine Alternative ist Musik. Melodische Musik. Eine Melodie ist eine Folge von Tönen. Eine Oktave besteht aus sieben Tönen. Das menschliche Gehör umfasst etwa fünf Oktaven. Ergibt fünfunddreissig Töne. Wie viele Melodien sind nach Adam Riese möglich? Angesichts der Beschränktheit der Melodien müsste man eigentlich davon ausgehen, dass der Melodienschatz aufgebraucht ist. Von daher vielleicht der Eindruck, man höre immer wieder dasselbe. Oder die Flucht ins Disharmonische, Ohrenbetäubende, Markerschütternde. Im Übrigen soll es Leute geben, die Nichtmusik der Musik vorziehen.

Gehe weiter, ins Büro. Reichhaltiges Programm. Computerarbeit. Ein paar Gespräche. Telefonate. Rechnungen. Die Vorbereitungen laufen, für das grosse Fest. Mittags Krafttraining. Ein starker Körper ist die Voraussetzung für ein aktives, beschwerdefreies Leben, steht im Prospekt des Hauses. Kühle Atmosphäre. Keine Spiegel, keine Musik, keine Saftbar, keine Muskelprotze, nicht um diese Zeit. Gehe von Maschine zu Maschine, kräftige den Rücken, den Nacken, die Hüfte, Bauch, Beine, Arme, eigentlich alles, um für den Kampf gegen die Schwerkraft und das lange Sitzen am Nachmittag gewappnet zu sein. Erst danach gibts Mittagessen, stehend im Aufenthaltsraum, Zeitung lesend, ein Stück Spinatkuchen, Tee.