Flaches Land - Katrin Züger - E-Book

Flaches Land E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

In den neunzehn hier versammelten Geschichten geht es um Alltägliches, Gewöhnliches, Beobachtetes, Erlebtes, Erfahrenes, Hinterfragtes – zuhause und unterwegs auf längeren oder kürzeren Reisen. Nichts von weltbewegender Bedeutung. Nicht auf den ersten Blick. Spaziergänge, Wanderungen durch die Stadt, durch Landschaften, durch den Nebel, auf berühmte und weniger berühmte Berge und Hügel. Eine folgenreiche Autopanne in Island. Unscheinbare Felsformationen in Québec, wo fossile Fische und Pflanzen von alten Zeiten und der Herkunft des Menschen aus dem Wasser erzählen. Eine Höhle voller Hände in Patagonien. Flackernde Lichter am nächtlichen Himmel des hohen Nordens. Im Zentrum aller Geschichten steht die Welt, in der wir uns bewegen, die wir unterschiedlich wahrnehmen, von der wir nicht alles wissen und in der wir uns leicht verlieren, weil wir so sehr mit uns selbst beschäftigt sind.

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Wer viel weggeht, kommt auch viel nach Hause.

Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen. Man sieht so schon viel.

Robert Walser, Kleine Wanderung

Weise ist, wer seine Existenz eintönig gestaltet, denn dann besitzt jeder kleine Zwischenfall das Privileg eines Wunders.

Fernando Pessoa, Buch der Unruhe

Wenn ich Steine aufmerksam betrachte, bemühe ich mich manchmal, nicht ohne Naivität, ihre Geheimnisse zu erraten.

Roger Callois, Steine

Selbst in der dürrsten Steppe findet man stets etwas zum Bestaunen.

Sylvain Tesson, Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt

Dass die Bäume sich so eine Arbeit machten mit Blättern, von denen sie sich ohnehin bald trennten.

Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe

Ich hatte an diesem Ufer auf einer Flussfahrt am Vortag Eisvögel, Schwärme von Flughunden, Affenhorden und Seeadler gesehen, Flamingos zwischen Lotos und Orchideen und auf schattigen Sandbänken dösende Warane, Erinnerungen an den menschenleeren Garten Eden.

Christoph Ransmayr, Atlas eines ängstlichen Mannes

Alles, was man über Tiere sagt, ist reine Interpretation, und es ist wahrscheinlich auch Unsinn, wenn ich sage, sie sind schön.

Cees Nooteboom, Schiffstagebuch

Wehe dem Menschen, wenn auch nur ein einziges Tier beim Jüngsten Gericht sitzt.

Christian Morgenstern

Inhalt

Blutstein

Höidi

Silberdistel

Ameitschi

Radwechsel

Schattenspiele

Adélie

Laser des Universums

Spaziergänge

Heim in den Amazonas

Wie die Krähe fliegt

Wenn ich traurig bin

Das fehlende Glied

Flaches Land

Hände auf Stein

Fahnenfluchten

Wasserfarben

Regenbogen der Nacht

Samsara

Blutstein

Vor Millionen von Jahren, viele Lichtjahre von der Erde entfernt, ereignete sich eine kolossale Explosion, die kosmische Fragmente in den Weltraum schleuderte. Wie ein leuchtendes Schiff schoss ein sengend heisser Sternenhaufen heulend und zischend durch das siderische Meer, auf einen jungen, wilden Planeten zu, seiner Zerstörung entgegen. Grasende Mastodonten hielten inne, vom lodernden Schweif geblendet, der sich bildete, als das eisenhaltige Material des Meteors in der Atmosphäre verglühte. Zeugin des Ereignisses war auch eine Familie verängstigter Hominiden, kleine Wesen, Affen ähnlich, der Überaugenwulst war jedoch weniger ausgeprägt, und sie gingen aufrecht auf zwei Füssen. Sie erstarrten in ihrer Futtersuche am Rand eines Urwalds und wurden kurz darauf von der Schockwelle des Meteorits zu Boden gerissen.

Die Kollision liess den Stein schmelzen und Bruchteile wie Regentropfen durch die Luft spritzen. Der Sternenstaub verflüssigte sich und verschmolz mit kristallinen Substanzen der Erde. Gewöhnlicher Quarz verband sich wie durch einen alchemistischen Zauberstab mit kosmischen Mikrodiamanten. Der Krater, der durch den Aufprall entstanden war, kühlte sich ab und füllte sich mit Regenwasser. Zwei Millionen Jahre lang speisten Flüsse und Bäche, die von nahen Vulkanen herunterflossen, den Kratersee. Schicht um Schicht aus Sand bedeckte die himmlischen Fragmente. Dann verschob ein Erdbeben den Abfluss des Seebeckens ostwärts und schuf einen Fluss, der eine Schlucht auszugraben begann, die eines Tages, weit in der Zukunft, Olduvai genannt werden sollte, auf einem Kontinent namens Afrika. Der See trocknete aus, Winde trugen die Sandschichten ab und legten die Meteorfragmente frei. Harte, unansehnliche kleine Kugeln, die nur ab und zu, an der einen oder anderen Stelle aufblitzten. Doch einer war einzigartig, durch Zufall, Glück oder Schicksal. Geboren aus der Gewalt von Urkräften, hatten ihn Wasser, Sand und Wind in Jahrtausenden in ein Ei geformt, glatt geschliffen und poliert. In tiefblauem Glanz schimmerte er wie der Himmel, von dem er gekommen war. Vögel flogen darüber, liessen Samen fallen, die keimten und zu üppiger Vegetation heranwuchsen und dem Stein als Schutzwall dienten, sodass höchstens ein gelegentlicher Sonnenstrahl die kristallene Oberfläche streifte und seine Existenz verriet. Weitere tausend Jahre vergingen, und noch einmal tausend, der Stein wartete, nicht ahnend, dass er eines Tages Gegenstand magischer Verehrung, Segnung und Verfluchung sein würde.

Meine Reise ist nicht lang, doch ich bin lange unterwegs, scheint mir, die fantastische Geschichte vom blauen Kristall im Kopf. Gehe früh aus dem Haus, warte aufs Postauto, dann auf den Zug, steige um in einen anderen Zug und wiederhole dies noch einmal. Ich bin nicht allein. Ein viel versprechender Tag, Frühling, endlich, nach endlosen kalten, windigen, nicht weichen wollenden Wintertagen. Kein Sonnenschein, seit Oktober, mindestens, meint man sich zu erinnern. Jüngere Menschen auf dem Weg in die Schule, zur Arbeit, ältere Menschen in Wanderkleidung mit Wanderstöcken, die es sich leisten können, denn es ist ein gewöhnlicher Montag. Auch ich habe mir frei genommen, jedoch nicht zum Wandern.

Eine neue Strecke, immerhin. Vor dem Fenster wird die Agglomeration vorbeigezogen. Zwischendurch ein langer Tunnel, im Innern des Wagens springt die Beleuchtung an. Dann plötzlich ein See, rechterhand, leuchtet hellblau im ungewohnt gleissenden Morgenlicht, liegt da wie ein Stück Stoff, glatt gestrichen, nur hie und da sieht man ein paar Falten, ansonsten viel Glitzer und Glimmer, kleine und grosse Sterne, die entstehen und gleich wieder vergehen. Ab und zu ein Steg, eine Wiese mit Badeplätzen, eine Bootsanlegestelle, ein Kiesweg, der eine oder andere Fussgänger mit Hund, diverse Velofahrer.

Das Ziel ein Dorf, am Ende des Sees, mittelgross, ländlich, Hügel und Berge auf der Südseite, die meisten noch schneebedeckt, mit markanten Felsformationen. Wirkt beinahe idyllisch, wäre da nicht die eine oder andere Bausünde und der geräuschvolle Verkehr auf der Hauptstrasse, die den Namen einer grossen Stadt trägt, als läge sie gleich um die Ecke. Auf diese gelange ich über eine eher beschauliche Nebenstrasse, gesäumt von in die Jahre gekommenen Einfamilienhäusern, jedes mit grosszügig möbliertem Garten. Gegenüber die Trassen der Eisenbahn, die sich nach Osten winden, bis sie sich in der Unendlichkeit verlieren. Passiere ein stattliches, auch nicht mehr ganz junges Gebäude namens Storchenbar. Nicht Koketterie, Angeberei oder Nostalgie haben dem Haus den Namen gegeben, denn auf dem Dach, auf zwei ausladenden Plattformen an beiden Enden des Dachfirsts, von Menschenhand erbaut, hinaufbugsiert und sturmsicher befestigt, thronen sie in geräumigen Nestern: vier Weissstörche, je zwei in einem Nest, schauen zufrieden in die Welt hinaus, als ob Störche auf Hausdächern so normal und alltäglich wie Kirchtürme wären. Das Dorf sei ein echtes Vogeldorf, lasse ich mir erklären, in dem auch der Storch, neben hundertfünfzig Vogelarten im naheliegenden Ried, seinen Platz gefunden habe. In einer Storchenkolonie, von einem Storchenfreund aufgebaut, die nun das ganze Jahr über von ein paar Störchen bewohnt werde. Die Jungvögel erwiesen sich bei guter Fütterung als kälteresistent, derweil die Älteren ihre Flugreise in den Süden anträten und im Frühling wiederkehrten.

Doch nicht wegen der Störche bin ich hier. Ich suche Steine. Besondere Steine. Gehe weiter, bis ans Ende des Dorfs, biege links ab und betrete nach ein paar weiteren hundert Metern das angepeilte Gebäude.

Ein weiter Raum öffnet sich, lädt zum Verweilen ein, zum Staunen, Bewundern, Sammeln. Nicht die behauenen Stücke, die Kugeln, Eier, Herzen, Halsketten, Anhänger, Armbänder, Buddhas, Windlichter, Pi-Scheiben und Trommelsteine ziehen mich in ihren Bann, sondern die Mineralien, unbearbeitet, wie sie aus der Erde, dem Steinbruch, der Grube kommen, ein bisschen gesäubert vielleicht, zurechtgestutzt, in handliche Brocken gespalten. Welche Vielfalt. Sattsehen fällt schwer. Auswählen noch schwerer.

Goldglänzende Pyrite mit unentwirrbar ineinander verkeilten Würfeln. Blaugrün leuchtende Azurite. Heimische Amethyste, Bergkristalle und Rauchquarze in variablen Formen und Grössen. Rohsteine von Rosenquarz, das Kilogramm für eine Handvoll Münzen. Gelblich und rötlich fluoreszierende Baryte mit tafeligen Kristallen. Rubinrote Sphalerite auf sandigem Bett aus Calcit. Grünlichgrau funkelnde Muskovite mit spröden, schuppig angeordneten Schieferblättchen. Reizlose braunrote Achatknollen, die erst beim Aufsägen, Schleifen und Polieren ihre gebänderte Schönheit offenbaren. Blassblaue, durchscheinende Aquamarine. Tiefschwarze, scharfkantige Obsidiane aus vulkanischem Glas, chaotisch, amorph, mit erkennbaren Fliessstrukturen, je nach Lichteinfall an den Bruchstellen rötlich-braun bis golden schimmernd. Wüstensandfarbige, vielblättrige Sandrosen. Magnetische Magnetite mit eisenschwarz-metallisch glänzenden Kuben. Wunderwerke aus Calcit, deren schneeweisse rhomboedrische Kristalle in alle Himmelsrichtungen streben und mit dem dunklen Muttergestein eine kunstvolle Symbiose eingehen. Grellgelbe Schwefelkristalle auf weissem Aragonit. Dunkelorange Selenite aus reinstem Gips (mit Eiseneinlagerungen, sonst wären sie durchsichtig-weiss). Turmaline mit nachtschwarzen Kristallen, die sich gern mit hellen Gesteinsmassen verbinden, zum Beispiel Calcit (der auch farbig sein kann, von gelb und orange bis zu blau und schwarz). Malachite, vielgestaltige gebänderte Aggregate in allen Schattierungen von hellgrün bis schwarzgrün, leider nur poliert.

Ein Malachit liegt bei mir zuhause, ungeschliffen, von einer Reise in die Wüsten der USA mitgebracht, wo Rock Shops in jedem grösseren Ort zu finden sind. In Moab zum Beispiel, ein Steineparadies. Malachit, nach der griechischen Malve, wegen des kräftigen Grüns der Blätter der Pflanze mit den rosa Blüten. Halbedelstein, basisches Kupferkarbonat, aus Kupfererz entstandenes Sekundärmineral, kommt meist zusammen mit azurblauem Azurit in der Oxidationszone von Kupfererzlagerstätten vor, wo das satte Grün an der Oberfläche ins Auge sticht. Vielleicht das erste von Menschen genutzte Kupfererz, als sie vor sechstausend Jahren herausfanden, dass sich Malachit im Feuer zu gediegenem Kupfer reduzieren lässt. Beliebt bei den Ägyptern, die aus dem Stein Amulette und Skarabäen schnitzten und ihn zu grünem Lidschatten zermahlten, möglicherweise nicht nur der Schönheit wegen, sondern auch zur Infektionsabwehr. Später, in Griechenland, im römischen Reich, im chinesischen Altertum und auch noch in der Neuzeit diente er als Grundmaterial für Wandmalereien, Glasuren, farbiges Glas, wuchtige Säulen, im Kreml in Moskau zum Beispiel. Die schönsten Exemplare stammen aus Kolwezi in der Demokratischen Republik Kongo, zurzeit leider nicht sehr zugänglich. Meines kommt aus Mexiko, zeigt eine faserig aggregierte Kristallstruktur, die länglichen Kristalle sind deutlich zu erkennen. Empfindlich sollen sie sein, verblassen im Licht, verlieren den Glanz im Wasser, können auch giftig sein. Eine Handvoll Dollar hat es gekostet, ungeachtet seiner Formvollendung, der ziselierten Kristalle, die kein Goldschmied so hinkriegen würde, der Leuchtkraft und der Fähigkeit, je nach Lichteinfall in verschiedenen Grüntönen zu brillieren, als ob es nicht besonderer Mühe und Anstrengung bedurft hätte, den Stein aus dem Steinbruch zu hauen, ohne die wunderbare Gestalt und Struktur zu zerstören.

Plötzlich, ich halte gerade eines der weissen Calcit-Wunderwerke mit den filigranen Kristallen in der Hand, bestaune es von allen Seiten, da beginnt es sich zu verfärben, kleine rote Spritzer zuerst, dann Rinnsale, Bäche, Flüsse. Blut. An einer scharfen Kante, eines Würfels des Pyrits vielleicht, habe ich mich verletzt, ein winziger Schnitt in der Kuppe des kleinen Fingers, kaum zu erkennen, doch das Blut sickert stossweise hervor und lässt sich nicht aufhalten. Der Stein wird rot und immer röter, das poröse Material saugt den viskosen Saft auf, und unversehens verwandelt sich der schneeweisse Calcit in dunkelroten Blutstein.

Blutsteine entstehen normalerweise nicht durch blutige Missgeschicke. Sie sind auch nicht rot, sondern metallisch grau bis grauschwarz, grobkörnig, schuppig (Eisenglimmer), rosettenförmig (Eisenrose) oder silbrig glänzend (Eisenglanz). Hämatite. Ein Erzmineral, keine Rarität, kommt fast überall vor, sogar auf dem Mars, was bedeutet, dass es dort vielleicht Wasser gibt. Wird seit Menschengedenken abgebaut, besticht dennoch durch seine leuchtende Schönheit, wenn poliert, wurde in früheren Zeiten gern als Spiegel verwendet. Verwandelt sich in blutrotes Pulver, wenn es gemahlen wird, läuft mit der Zeit bunt an, hat einen blutroten Strich, wird auch durch Verwitterung rot und sorgt für die Rotfärbung von Gesteinen. Eignet sich als ungiftiges Pigment für Höhlenmalereien und Körperpflege, zum Zeichnen, Skizzieren, Bemalen von Keramik, Färben von Teppichfäden. Hämatite sind, zusammen mit den leicht verwechselbaren Magnetiten, gern gesehene Gäste in Sammlungen von Trommelsteinen, die in Souvenirläden auf Wühltischen angeboten werden.

Den besudelten Calcit habe ich erworben und in die Galerie der Steine gestellt. Er sticht heraus durch sein Gehabe, sich über die Kollegen erheben zu wollen. Doch der Hochmut bekommt ihm schlecht, denn die blutroten Kristalle, die sich kontrastreich von dem weissen Calcit abheben, beginnen sich zu verfärben, büssen ihre Leuchtkraft ein und enden schliesslich in prunklosem Rostbraun.

Den blauen Kristall, der einst als Meteorit auf die Erde gelangt ist, fand übrigens eine junge, grossgewachsene Frau vor hunderttausend Jahren in Afrika. Eine Gruppe von Menschen durchstreifte aufrechten Gangs die Savanne auf der permanenten Suche nach Nahrung, nicht wissend, dass in ferner Zukunft, in einer für sie unvorstellbaren Welt, ihre Nachfahren sie als Homo sapiens bezeichnen würden. Sie lebten unter freiem Himmel, erlebten heisse Tage, kalte Nächte, beissenden Rauch von Lagerfeuern, stechfreudige Insekten, gingen barfuss auf roter Erde und dornigem Gras, durchstreiften das Land voller Seen und Sümpfe, Wälder und Grasland, bewohnt von Schlangen, Krokodilen, Nashörnern, Pavianen, Elefanten, Giraffen, Antilopen, Geiern, Zebras, Säbelzahntigern, Löwen, Hyänen, suchten nach Essbarem und Wasser, flüchteten vor Feinden, befriedigten sexuelle Bedürfnisse, schliefen, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und ihre Mägen gefüllt waren. Trafen selten auf andere Menschen, obwohl sie ahnten, dass es jenseits der Grenzen ihres Territoriums ähnliche Wesen gab. Es wäre aber schwierig gewesen, dorthin zu gelangen, denn es drohten Hindernisse: eine steile Klippe auf der einen, ein breiter, tiefer Fluss auf der anderen, unpassierbares Sumpfland auf der dritten Seite. Denken war ihnen fremd. Die Welt bestand aus dem, was sie sehen, hören, riechen, anfassen, essen konnten. Noch gab es keinen Aberglauben, keine Magie, keine Geister, keine unsichtbaren Kräfte.

Und doch war da eine Ahnung, dass etwas anders war. Die grollende Erde, ein Berg, der plötzlich Rauch und Asche spie, von Asche bedeckte Wasserlöcher, die seltsame Farbe des Himmels, Sterne, die hinter Rauchschwaden verschwanden, der beissende Geruch in der Luft, heisser Wind, der die Asche aufwirbelte, brennende Baumspitzen. Auf der Suche nach Wasser hielt die junge Frau auf einmal einen blauen Kristall in der Hand, meinte, Wasser gefunden zu haben, denn er war durchsichtig, sah aus, als würde er sich gleich verflüssigen. Doch wie kann Wasser fest sein? Tiefblau leuchtete er, auf der Oberfläche spiegelte sich das Mondlicht, im Inneren war er noch blauer, und noch tiefer drin war etwas Weisses, Glitzerndes. Sie band sich den Wasserstein an einer Schnur aus Gras um den Hals.

Sie ahnte einen Zusammenhang zwischen dem feuerspeienden Berg, dem Wind und dem verunreinigten Wasser. Die Familie trennte sich. Ein Teil ging weiter Richtung Westen, ihrem Verderben entgegen, der andere Richtung Osten. Die junge Frau war überzeugt, dass der wunderliche Stein ihr den Weg weisen würde. Hinter ihnen explodierte der Berg, eine gewaltige schwarze Wolke verhüllte den Himmel, löschte die Sonne aus. Die letzte Eruption des Vulkans, der eines Tages Kilimandscharo heissen würde. Sie zogen weiter, fanden Nahrung, sauberes Wasser, blieben an einem Ort, ein paar tausend Jahre lang, bis sie zu viele wurden, sich aufteilten, weiterwanderten, manche südwärts, ins südliche Afrika, andere weiter ostwärts, in Landstriche, die später Kenia, Äthiopien, Ägypten genannt wurden. Mit ihnen wanderte der blaue Kristall, von Generation zu Generation. Die Menschen entwickelten sich, lernten denken, stellten Fragen, suchten Antworten, erfanden Aberglaube, Magie, Geister, überirdische Kräfte, die sie auch in dem blauen Kristall, dem einstigen Meteor, zu erkennen glaubten. Es gibt ihn noch heute, den Stein, denn in der Welt geht nichts verloren.

Höidi

Es ist Abend, ich stehe auf dem Balkon, in der Dämmerung, wo die Konturen verschwimmen, man die Orientierung verliert, Bewegungen sieht, wo keine sind, blicke über das Land, die hell erleuchteten Städte und Dörfer, die Lichter, die im Wind tanzen, zum Himmel, an dem ein einsamer Stern hängt, hinunter in den Garten, zu den Nachbarhäusern. War da nicht etwas, dort drüben, zwischen den Dachziegeln und der weiss verputzten Wand des nächsten Hauses? Etwas hat sich geregt, kurz nur, jetzt ist es wieder weg. Aber es kommt wieder, die Augen gewöhnen sich an das schummrige Licht, ich mache einen Kopf aus, Ohren, Augen, die prüfend aus der Spalte spähen, die Lage sondieren, mich fixieren, ein verdächtiges Objekt, dessen Gefährlichkeit noch zu eruieren ist. Das geht so einige Zeit, ich rühre mich nicht, schaue nur, ungläubig, ein Steinmarder, so real und so nah. Dann nimmt er einen Satz, klettert an der rauen Mauer hinunter in den Garten und verschwindet in der Dunkelheit.

Mit Steinmardern hatten wir es schon früher zu tun. Bald nach unserem Einzug in das Haus vor über zwanzig Jahren muss einer auf der Suche nach einer neuen Unterkunft gewesen sein und sich auf dem Dachboden, unmittelbar über unserer Wohnung, häuslich eingerichtet haben. Wir hörten ihn ab und zu auf den Ziegeln herumtappen, über die Dachbalken spurten, bekamen ihn indirekt zu sehen, über seine kotige Hinterlassenschaft auf dem Fensterbrett oder einen Fetzen Dachisolation auf der Wiese. Auf den einen folgte ein anderer, oder eine andere, denn es muss auch einmal Nachwuchs gegeben haben, kleine Poltergeister, die einen beachtlichen Radau veranstalteten, als ob sie Fussball spielen würden, keine geringe Geräuschkulisse, geneigt, einem die Nachtruhe zu vergällen. Dazwischen gab es Zeiten völliger Ruhe. Zu Gesicht haben wir bisher keinen von ihnen bekommen.

Jetzt ist einer plötzlich da, so nahe bei uns, den Menschen, die sie doch sonst beharrlich meiden.

Ich nenne ihn Höidi. Das ist ziemlich dumm, denn Wildtiere brauchen keine Namen, man muss sie ja nicht rufen, im Unterschied zu dem geknechteten Hund, der verwöhnten Katze, dem eingekerkerten Vogel. Ich mag ihn halt, er ist so klein, so putzig, aufgeweckt, betriebsam, scheint mir, schaut mich an mit seinen grossen Augen, vielleicht ist er ja auch nur genau so perplex wie ich, erkundet die Gefahr, ist vielmehr vorsichtig, misstrauisch, ängstlich, ich sehe das nicht so genau im schwindenden Licht. Jeden Abend beim Einnachten begebe ich mich jetzt auf den Balkon, der sonst vorwiegend als Aufbewahrungs- und Abstellraum genutzt wird, und hoffe, dass er sich zeigt, warte eine halbe, auch mal eine Stunde lang. Und er tut mir den Gefallen, kommt wieder, guckt sich um, schaut zu mir hinüber, sein Misstrauen wird mit keinem Tag geringer, zieht sich zurück, schaut erneut, schnuppert, ob die Luft rein ist, läuft los, springt, und weg ist er.

Schon lange leben sie unter uns, die Steinmarder, seit Jahrtausenden, seit es Dörfer und Städte gibt, erfolgreich und erstaunlicherweise ohne von den Menschen abhängig geworden zu sein, im Unterschied zum Stadtfuchs zum Beispiel. Wie kann es sein, dass ich bisher noch nie einen gesehen habe, wo sie doch über meinem Kopf, auf dem Dachboden, ein- und ausgehen? Dass sie sich so dicht heranwagen, wo sie mit den Menschen lieber nichts zu tun haben? Wie leben sie, was tun sie den ganzen Tag, in der Nacht, was fressen sie, wo finden sie Futter, wie finden sie zueinander, Fähe und Rüde, wann paaren sie sich, wann haben sie Kinder, wo, wie viele, warum zerbeissen sie Kabel und schmeissen mit Isolationsmaterial um sich?

Ich beschliesse, Höidi zu beobachten, aus der Ferne, denn sie mögen es ja nicht, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Mokkabraun ist er, lang gestreckt, schlank, kurze Glieder, Dackelbeinchen, weisser Kehlfleck, die Augen nach vorn gerichtet, die Ohren kurz, abgerundet und dreieckig, langer, buschiger Schwanz. Aus der Distanz oder im Zwielicht könnte man ihn für eine Katze halten, doch scheint er mir kleiner, schmaler und leichtfüssiger, und definitiv nicht katzenhaft ist sein eher breiter als langer Kopf mit der kurzen zulaufenden Schnauze und dem rosa Nasenspiegel.

Den Tag über scheint Höidi zu schlafen. Erwacht, wenn es langsam dunkel wird, wird aktiv und verlässt den Unterschlupf. Manchmal höre ich ihn aber auch schon am Nachmittag im Dachgebälk umherstreifen, sehe ihn von Weitem über die Ziegel huschen, weiss nicht, ob er kommt oder geht. Allein zieht er nachts durch sein Revier, das unterschiedlich gross sein kann, in Siedlungsgebieten dreissig bis hundert Hektaren oder mehr. Nimmt immer wieder die gleichen Wege, versieht sie mit seinen Duftmarken, schnuppert da und dort, sucht nach Futter, und dann entdecke ich, dass er nicht nur ein Zuhause hat, sondern mehrere und diese immer mal wieder wechselt. Dabei ist er sehr reinlich, die Verstecke sind streng unterteilt in Schlafen, Futtern, Toilette. Als Unterkunft oder Deckung mag er auch Autos. Plastiksüchtig ist er jedoch nicht, lese ich in einer Broschüre zum Thema. Ein bösartiges Gerücht. Wenn er Kabel zerbeisst, dann aus Ärger darüber, dass ein wildernder Artgenosse seine Wohnung missbraucht und seine Duftstoffe hinterlassen hat, nicht weil er Plastik liebt. Die Autofahrer müssten halt darauf achten, ihr Auto nicht in verschiedenen Steinmarderrevieren abzustellen. Einmal erlebe ich, wie Höidi auf einen Artgenossen trifft. Er bleibt stehen, beobachtet den Eindringling, fletscht die Zähne, rennt auf ihn zu und vertreibt ihn mit vollem Körpereinsatz. Was fällt dem ein, sich hier einzuschleichen. Gleichgeschlechtliche Artgenossen werden im eigenen Revier nicht geduldet.

Doch halt: Ich glaube, Höidi ist kein Steinmarder, sondern eine Steinmarderin, denn im März beginnt ein anhaltendes Höllenspektakel auf dem Dachboden. Aufgeregte Fieplaute, Trippel- und Kratzgeräusche, Herumgerenne. Ich steige hinauf, vorsichtig, leise, und nach einigem Herumspähen entdecke ich ein Nest, kaum sichtbar im Schatten eines Dachbalkens, mit drei kleinen Nesthockern, als Marder schon gut zu erkennen, umhüllt von weichem Material, das die Eltern aus der Dachisolation gerissen haben. Die Paarung muss von uns unbemerkt vor sich gegangen sein, wahrscheinlich in einem anderen Versteck, irgendwann vor sieben, acht Monaten, Juli oder August, da kannte ich Höidi noch nicht. Vielleicht aber fand sie über unseren Köpfen statt, damals vielleicht, als wir zeitweise, wegen des geräuschvollen Ranzrituals, das mit Rennen, Balgen und Gekreisch einhergeht, immer mal wieder aus dem Schlaf gerissen wurden.

Etwa zehn Wochen soll es dauern, bis die Kleinen das Nest verlassen, mit der Mutter auf Entdeckungstour gehen und die fürs Überleben notwendigen Fähigkeiten beigebracht bekommen, zum Beispiel das sichere Überqueren von Strassen. Wo dann der Vater steckt, hat sich mir nicht erschlossen. Im Herbst sind sie gereift genug, um sich ein eigenes Revier zu suchen, wenn sie es denn wollen. Ganz gern bleiben sie auch noch einige Zeit bei der Mutter, teilen sich das Revier mit ihr.

Höidi und seine Artgenossen fressen mehr oder weniger alles, was ihnen zwischen die Zähne kommt – Früchte (machen im Sommer und Herbst bis zu achtzig Prozent der Futterpalette aus), Insekten, Regenwürmer, Vogelfutter, Hausabfälle, Aas, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Vögel. Auch Eier schätzen sie, die von Singvögeln, aber auch die von Hühnern, die sie als Vorrat für schlechte Zeiten zur Seite legen. Hühner dagegen mögen sie nicht, entgegen der Volksmeinung, es kann aber sein, dass sie das wilde Geflatter der Hühner nervös macht, wenn sie auf Diebestour sind, und sie deshalb zubeissen.

Ein paar Tage und Nächte sehe ich Höidi nicht mehr. Sie scheint weggezogen zu sein, samt ihrer Brut. Zu diesem Zeitpunkt hat das Verhängnis längst begonnen und nimmt seinen Lauf.

So putzig die Tierchen aussehen, die Menschen mögen sie nicht besonders. So wie sie alles nicht mögen, was ihnen in die Quere kommt, ihr Eigentum beschädigt, ihre Ausbreitung behindert. Wundern sich, dass die Tiere ihnen nicht den Gefallen tun und verschwinden, wenn ihnen der Lebensraum streitig gemacht, die Landschaft zubetoniert, Bäume gefällt, Monokulturen angelegt werden, dass sie vielmehr Mittel und Wege finden zu bleiben, sich zu arrangieren, sich einzurichten. Steinmarder machen Lärm, hinterlassen Kot und Nahrungsreste, zerbeissen Kabel von Autos, beschädigen die Dachisolation. Das geht natürlich nicht. Also weg damit. Der Erfolg ist mässig, denn Steinmarder gelangen fast überall hin, und wenn sie einmal da sind, lassen sie sich kaum mehr vertreiben.

Was ist zu tun? Eine ausserordentliche Krisensitzung wird einberufen. Man könnte den Marder vergiften oder totschlagen, mittels Totschlagfalle. Das ist leider verboten. Erlaubt sind Kastenfallen oder Erschiessen mit einem Jagdgewehr. Es gilt aber die Jagdschonzeit zu beachten, von Februar bis August, denn Steinmarder gehören zu den herrenlosen Tierarten, unterliegen deshalb dem Jagdrecht. Fangen und Erschiessen bringt indessen nichts, weil das Revier im Nu von einem anderen Marder besetzt wird. Dann halt Vergrämen (wiederholtes Stören und damit Verscheuchen). Mottenkugeln sollen helfen, Knoblauch, Birkenteeröl, Toilettensteine, Hundehaare, Salmiakgeist, Kornitol, Radios mit Zeitschaltuhr, akustische Schreckgeräte, periodisches Herumpoltern, Ultraschall. Dumm nur, dass sich die Tiere an die Gerüche und Geräusche gewöhnen. Aussperren vielleicht, indem man Netze, Maschendraht, Blechplatten, Holzbretter installiert, um den Zugang zum Dach zu blockieren. Wie aber kann man sicher sein, dass die Übeltäter nicht doch noch einen Weg finden – mit ihrem schlanken Körper schlängeln sie sich schlangengleich durch Öffnungen von fünf Zentimeter Durchmesser, kleiner als ein Tennisball, erklimmen spielend Bäume, Fallrohre und grob verputzte Hausmauern, sind geschickte Hoch- und Weitspringer.

Für die langfristige Ruhe braucht es eine physische Barriere, in Form eines elektrischen Weidezauns, mit reduzierter Hochspannung, ungefährlich für Mensch und Tier, erklärt uns der Experte. Hundert Prozent Erfolg. Man spannt einen Draht auf der Unterseite des Dachs und setzt ihn unter Strom. Bei Berührung gibt es einen elektrischen Schlag, für den Marder (angeblich) ungefährlich, er erschreckt ihn aber so sehr, dass er ab sofort das Gebäude meidet. Kostet ein paar Franken im Jahr, was angesichts der Kosten durch Marderschäden doch sehr günstig ist. Mit elektrischen Stromschlägen gegen Tiere. Hauptsache, sie belästigen uns nicht weiter. Sollen sehen, wo sie bleiben. Aber Achtung, immerhin: Der Aufbau soll nicht während der Aufzucht von März bis Juni erfolgen, um die Mutter nicht von den Jungen zu trennen. So viel Humanität muss sein. Und vergesst nicht die Bäume und Sträucher rund ums Haus: Alle Äste und Zweige, von denen der Marder aufs Dach springen kann, müssen weg, also fällen, schneiden, stutzen. Viel Aufwand für ein paar putzige Tierchen. Kann sein, dass sie stolz auf sich sind und sich ins Fäustchen lachen.

Vielleicht finden sie, diese Kobolde der Anpassung und der Improvisation, dann ja doch wieder einen Weg ins Haus. Der Elektrozaun ist nämlich nur nachts in Betrieb. Ich würde mich freuen. Vielleicht sehe ich Höidi eines Tages wieder. Oder doch nicht, ich bin ihr ja damals auf dem Balkon ziemlich nahe gekommen, was ihr wohl nicht sehr geheuer war. Ob sie mich wieder erkennen würde? Vielleicht ist sie auch schon tot, von einem Auto ins Jenseits befördert, die Gefahr besteht. Steinmarder können gut zehn Jahre alt werden, sterben aber normalerweise mit drei bis vier Jahren.

Am Tag der Entscheidung, als der elektrische Zaun installiert wird, begegne ich dem Installateur auf dem Vorplatz. Grüsse ihn freundlich, er tut ja auch nur seine Arbeit. Lässt sich auf eine Plauderei ein, während er seine Gerätschaften entlädt. Zerstreut fröhlich meine Bedenken, dass die Tiere jetzt ihr Zuhause verlieren. Sie fänden gewiss einen Weg, sich neu einzuquartieren, dort drüben zum Beispiel, im Nachbarhaus.

Eine Woche später liegt auf dem Balkonsims eine unübersehbare Hinterlassenschaft. Höidis Abschiedsgeschenk vielleicht. Oder ein Zeichen, dass sie sich um den Elektrozaun foutiert.

Silberdistel

Ein heisser Tag, schwülwarm, schon am frühen Morgen, man wähnt sich in den Tropen. Der Anfang ist gemütlich, fast langweilig, eintönig, auf geteerter Strasse, dann auf einem Feldweg, hinauf und hinunter, sodass man die gewonnenen Höhenmeter gleich wieder einbüsst. Dann hört der Weg unvermittelt auf. Wir stehen auf einer blühenden Wiese, rätseln, wie weiter. Vor uns ein Wäldchen, das sich seitlich gegen das Tal hinunter fortsetzt, dazwischen ein kleiner Abgrund, nicht unbezwingbar, auf der anderen Seite der Berg, der sich vor blassblauem Himmel verneigt, hinter uns der Weg, von dem wir abgekommen sind. Wir gehen vor und zurück, durchqueren die Wiese, die im Morgenlicht feucht schimmert, überwinden eine weglose Parzelle Wald und finden ihn schliesslich wieder, den Weg, der uns voranbringen soll. Endlich geht es aufwärts. Schweiss läuft mir übers Gesicht, netzt die Haare, verfärbt das T-Shirt. Die Sonne meint es gut. Es wird steil, das Alpensträsschen, auch für Autos geeignet, windet sich im Zickzack hoch, denn etwas weiter oben gibt es eine Alp, mit Alphütten, bewohnt und bewirtschaftet. Und einen Hund, den ich von Weitem böse bellen höre.

Mein Begleiter schreitet zügiger voran, geht ein gutes Stück voraus, erreicht die Sennerei, besänftigt den Hund. Das nehme ich an, denn plötzlich ist er still. Ich gelange meinerseits zu den Alphütten, umgehe sie weiträumig, vorsichtshalber, man weiss ja nie, will den Hund nicht reizen, sehe niemanden, höre nichts, gehe weiter, denke, mein Begleiter hat dasselbe getan. Hat er aber vielleicht doch nicht, dämmert es mir nach ein paar Wegkehren, denn längst müsste ich ihn eingeholt haben. Zweifel wuchern. Haben wir uns verpasst? Wo? Wo bin ich? Wo ist mein Begleiter? Ist er noch hinter mir oder schon vor mir? Soll ich weitergehen, weil ich ihn dann schon irgendwann treffe, weil er auf mich wartet, wie er das normalerweise tut, oder umkehren, weil er vielleicht doch noch unten bei den Häusern ist? Aber der Hund? Ich gehe weiter, male mir Eventualitäten aus. Was, wenn es dunkel wird und ich noch unterwegs im Gebirge bin (dabei ist noch nicht einmal Mittag)? Wenn ich das Tagesziel erreiche, über den Grat ins benachbarte Tal, allein und ohne Geld, weder fürs Postauto noch für Verpflegung oder ein Zimmer zum Übernachten? Wenn ich umkehre, den Weg zurück zum Ursprung gehe und dann vor verschlossenen Autotüren stehe? Aber da ist ja der Hund. Ein Handy wäre praktisch. Doch ich habe keins. Nicht dabei. Liegt untätig zuhause auf dem Schreibtisch. Vielleicht sollte ich das ändern. Ich gehe weiter, bleibe immer wieder stehen, schaue voraus, hinauf zu den majestätischen Gipfeln, auf den zurückgelegten Weg, hinunter ins Tal, suche die Landschaft ab nach Vertrautem, Bewegtem. Nichts.

Wieder eine Alphütte. Ein Lieferwagen voller Milchkannen kommt den steinigen Weg hinuntergefahren, die Fahrerin grüsst, ich grüsse zurück, bleibe stehen, ruhe mich einen Moment aus, setze mich ins Gras, grübelnd, will schon aufstehen und weitergehen, da sehe ich sie, am Wegrand, verführerisch glitzernd und glänzend in der Morgensonne. Eine Silberdistel. Tut so, als ob sie alles nichts anginge. Ich schaue mich um, entdecke weitere, eine schöner als die andere, liegen da wie Augen in einem aufgewühlten grünen Meer, die heimlich die Gegend absuchen, unauffällig, diskret. Ich bin entzückt, vergesse die Welt um mich herum, versenke mich in die Betrachtung, bewundere die silbrig-weissen, sternförmig angeordneten Hüllblätter, das Blütenkörbchen, das aus Hunderten von weisslich-rötlichen Röhrenblüten besteht, die ersten vom Rand her bereits aufgeblüht. Ich versuche, die Pracht zu knipsen, suche die beste Position, den optimalen Lichteinfall, gehe in die Knie, lege mich auf den Bauch, löse mich dann widerwillig von dem Anblick und raffe mich auf, ich habe ja noch zu tun.

Ich steige weiter hoch, entlang des Bergbachs, der in einem Graben zwischen zwei Alpwiesen talwärts strebt, überwinde Höhen und Steinblöcke, setze mich endlich auf einen, müde, erhitzt, blicke suchend talwärts. Da kommt er gelaufen, mein Begleiter, ich kann es kaum fassen, ein Wunder, verwirft die Hände, ruft, wo ich nur sei, warum ich nicht gewartet hätte, er warte doch immer, irgendwann, irgendwo, wir suchen nach Erklärungen. Eine grössere Suchaktion habe er gestartet, unten bei den Alphütten, alle hätten mitgeholfen, seien die Wege hinunter-, die Wege hochgefahren, hätten Wiesen und Wäldchen durchforscht. Erst die Fahrerin des Lieferwagens mit den Milchkannen brachte Erleuchtung.

Wir setzen die Wanderung fort, auf abgekürztem Weg, die Berghütte ist nicht mehr zu schaffen, nehmen den nächst liegenden Weg, über den Grat, die abschüssige Geröllhalde, eine blühende Bergwiese, nochmals ein Grat, mit vertrautem gelbem Wegweiser, hinunter ins Tal. Als Entschädigung für die Aufregung leisten wir uns die Seilbahn, die nur auf Bestellung fährt, zusammen mit einem anderen müden Wandererpaar. Auf der Terrasse des Berghotels ein verspätetes Picknick. Es ist immer noch heiss, drückend, stickig unter dem Sonnendach, doch es fühlt sich gut an, sich in Sicherheit zu wiegen, bei Essen, Trinken und Aussicht auf eine schroffe, von grünem Gras durchsetzte Felswand, als ob wir an diesem Tag nicht schon genügend Stein gesehen hätten.

Der Zug fährt um achtzehn Uhr zwölf, die Gleise liegen schon bereit, verkündet charmant der Postautochauffeur, der uns über halsbrecherische Spitzkehren weiter hinunter ins Tal befördert, zum Ausgangspunkt, wo noch immer das Auto steht, ungerührt von den Vorgängen in der weiten Welt.

Am Ende bewegt mich mehr als die unrühmliche Tatsache, dass wir uns im wegsamen Gelände verloren haben, das Signalement der Frau im Lieferwagen mit den Milchkannen: Sie sei einer Frau begegnet, auf dem Weg nach oben, völlig verschwitzt und erschöpft … Ich verscheuche die üblen Gedanken und schwelge lieber in der Erinnerung an die Begegnung mit den Silberdisteln.

Ameitschi