Weit kommt man nur mit dem Wind - Katrin Züger - E-Book

Weit kommt man nur mit dem Wind E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

Wortgeschichten. Geschichten von Wörtern, mit Wörtern, über Wörter. «Seegfrörni» zum Beispiel, ein besonderer Naturzustand, der sich mit einem Helvetismus am besten fassen lässt. Steht sogar im Duden: Klingt doch entschieden anschaulicher als «das Zugefrorensein eines Sees». Oder «Innensechskantschraube», auch «Inbus» oder «Imbus» genannt. Ob Inbus oder Imbus - darüber haben sich zwei Lager gebildet. Inzwischen ist das Rätsel gelüftet. Oder «Fetthenne», Staude des Jahres 2020. Schon der Name ist preiswürdig. Sonnenanbeterin, Trockenheitsspezialistin, Durstkünstlerin, ein Meisterwerk der Natur, in jeder Hinsicht. All das und noch einiges mehr lässt sich in den neuesten Wortgeschichten von Katrin Züger nachlesen.

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Wacholder, das Wort kam ihm in den Sinn. Was für ein schönes Wort. Er sprach es laut: Wacholder. Das waren so kleine schwarze Beeren, mit denen seine Mutter den Fisch gegart hatte.

Julia Franck, Die Mittagsfrau

Man muss noch nicht mal wissen, wie der Vogel heisst – er weiss es ja auch nicht. Er ist einfach da.

Arnulf Conradi, Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung

Seepferdchen. Allein diese Bezeichnung verlieh mir im Wasser ein Gefühl von Freiheit.

Andreas Neeser, Zwischen zwei Wassern

Und dann vor allem die Schönheit der wissenschaftlichen Bezeichnungen. Nichts beglückt mich so wie Horst-Graben-Struktur, Yardangs, Solifluktion, Kryoklastik – Wörter, die zum Reisen einladen und den inneren Funken nicht weniger entzünden als Venedig, Timbuktu und Valparaiso.

Sylvain Tesson, Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt

Mich interessieren die Worte für wirkliche Dinge. Rollgabelschlüssel, Spandrille, Seidenpflanze, Malachit, Malawi, Nikubori, Drehdel.

Robert Olmstead, Amerika landeinwärts

Ich machte mir meine Gedanken über die Menschen, die sich die Namen für Pflanzen ausdachten. Ich nehme an, es waren Biologen. Aber bestimmte Biologen auf Drogen. Wie sonst kämen sie auf diese Namen. Für die Moosähnliche Wasserpest. Für die Dreifurchige Wasserlinse. Für die Österreichische Sumpfbinse. Für Bremis Wasserschlauch. Für das Lungenkraut, das man auch Pluderhose nennt. Für das Fettkraut, das man auch Tripmadam ruft. Für das Ausdauernde Bingelkraut. Für den strauchigen Baum oder auch bäumigen Strauch, der Eddie’s White Wonder heisst. Für den Medizinal-Rhabarber.

Max Küng, Das Magazin 14/2009

Inhalt

Vorwort

W

EIT KOMMT MAN NUR MIT DEM

W

IND

1 Marea Neagră

2 Alto Adige

3 Kandahar

4 Arabia Terra

5 Idaho

6 Drachenhauchloch

7 Häkeluntersätze

8 Vanil Noir

9 Fallätsche

10 Holzbirrliberg

11 Fünflibertal

12 Sunnebüel

13 Hirslen

14 Rueteli

15 Sala Capriasca

16 Fuhlsbüttel

17 Schutzengel

18 Tobel

19 Wasserschloss

20 Verwitterung

21 Strade Bianche

22 Wolken, die verhungern

SCHWEBEN WIE EIN SCHMETTERLING…

23 die Kleiderordnung der Tiere

24 Bewerbungskonzert

25 Abakkus

26 Palmendieb

27 Schweigemarsch der Pinguine

28 Amarok

29 Heidschnucke

30 Förster des Jahres

31 Heimfindevermögen

32 Glubschaugen

33 Auswurfhügel

34 Sternenfresser

35 Kasarka

36 Frankolin

37 Arakanga

38 Hyazintharas

39 Amarant

40 Ziegenmelker

41 pelagisch

42 Bienensprache

43 Bakterien

44 Bahnhofsordnung

WARTEN, BIS DIE BLUMEN BLÜHEN…

45 Advent

46 tapferes Chlorophyll

47 Auferstehungspflanze

48 Lengas

49 Würgefeige

50 Apfelbaum

51 Trugbild

52 Tanne

53 Fetthenne

54 Inkarnatklee

55 Luzerne

56 Patschuli

57 Mohnblume

58 Schwertlilie

59 Akelei

60 Viöli

61 Wiesensalbei

62 Mädesüss

63 Tintenfischpilz

64 Roter Gitterling

65 Armleuchter

66 Eumetazoa

ÜBER MAULWURFSHÜGEL STOLPERN…

67 Anatahan

68 Sakana

69 Ganymed

70 Vagabund

71 Patinaparadies

72 Bannwald

73 Mahd

74 Spuren im Schnee

75 Landschaftsgärtner

76 Fischteichdiskussion

77 Einsatzkräfte

78 Lebenszufriedenheit

79 Polizeiruf

80 Feuerwerk der Nerven

81 Ghüder

82 Filz

83 Sneaker

84 Zugstrecke

85 weltumfassende Vertröstungsinstanz

86 Inmitten dunkler Wirbelwinde

87 Traumland

88 Schnipsel

AUS DEM SCHNECKENHAUS HERAUSGEKROCHEN…

89 Lexikon der Gegenwart

90 die Schönheit des Universums

91 Meisterleistung

92 Aufmerksamkeitsblinzeln

93 Zweinutzungshuhn

94 Fische, die entwischen

95 Tiktaalik

96 Brandolinis Gesetz

97 Schneebeseneffekt

98 fliessende Flüssigkeiten

99 Schneeflocke

100 Rocksaumtheorie

101 Madeleine-Effekt

102 Bevölkerungsaustausch

103 Schwerkraft

104 Kreislauf

105 Petrichor

106 Seegfrörni

107 Verfügungsgewalt

108 Barchent

109 Flokati

110 Hautelisse

KEINE ANGST VOR ROTEN BEEREN…

111 Vollkornbrötli

112 Beerenbrot

113 Urkorn-Brot

114 Brot der Wüste

115 Freshly made

116 Gipfelstürmer

117 Sättigungsbeilage

118 Schüblig

119 Aufschnitt

120 Gemüse

121 Kefen

122 Muskatkürbis

123 Spanische Nüssli

124 Sesame

125 Münze

126 Amarone

127 Tempranillo

128 Kotsifali, Mandilari, Vidiano

129 Magenträs

130 Pollenhöschen

131 Chochlöffel

132 Truthahn

WENN DU EIN SCHIFF BAUEN WILLST…

133 Aquifer

134 Ablaufentstopfer

135 quietschen

136 Hammer

137 elektronische Einzeltierkennzeichnung

138 Schraubenfeder

139 Innensechskantschraube

140 Tellersense

141 Dübel

142 Lichtschalter

143 Pflückzange

144 Aussenfühler

145 Türspion

146 Filzgleiter

147 Absenkpfad

148 Garaventa

149 Hummelparadox

150 Katastrophenlücke

151 Stellwerkstörung

152 Gitarre

153 Klarinette

154 grünes Piano

HINTER VORGEHALTENER HAND…

155 Matterhornbär

156 Mieze Schindler

157 Fledermauswetter

158 Stuppy

159 Menagerie

160 Leuchtfalter

161 Schüttelhände

162 Clangeist

163 glücklicher Geburtstag

164 konfuses Quadrat

165 Wunderliches

166 Umwege und Abwege

167 Grundbasis

168 ein Amsele

169 Mahais

170 nicht hacken

171 Pestilenz

172 Schneewättchen

173 Fentisenien

174 Wobisch

175 Sloganitis

176 tabulos

AUF DEN PUNKT GEBRACHT…

177 ipunkt

178 Karrette

179 Klunker

180 Lausbub

181 Laferi

182 Sprechpausenverhinderungsmassnahme

183 durchkreuzte Wege

184 Kerngehäuse

185 Trittligasse

186 Zustupf

187 flattieren

188 ablagern

189 selbstvergessen

190 engmaschig

191 untersagen

192 testamentarisch

193 tote Linie

194 einisch

195 hemdsärmelig

196 no nett

197 warum

198 Sätzesammler

Bilder

Index und Referenzen

Vorwort

Ich habe Wörter gesammelt. Dreihundertsechsundsechzig in den «Wortgeschichten» und zweihundert in den «Neuen Wortgeschichten». Und sie in Geschichten eingebettet, kleinere, mittlere, grössere, ergänzt durch Erklärungen, Definitionen, Verweise, Zitate, begleitet von Staunen. Staunen darüber, wie viele Wörter es gibt, die ich nicht kenne, die mir unverhofft zufliegen, aus dem scheinbaren Nichts, die etwas anklingen lassen, was mich nachdenken lässt. Was bedeutet das Wort? Woher kommt es? Wie komme ich darauf?

Wörter meinen ja etwas, aber nicht nur durch sich selbst, sondern auch durch die Umgebung, in die sie eingebettet sind. Man spricht von Kotext und Kontext. Das geht leicht vergessen, wenn an einzelnen Wörtern herumgemäkelt wird. «Klimaleugner» zum Beispiel, weil ja nicht das Klima geleugnet werde, sondern die durch die Menschen gemachte Klimaveränderung, es müsse deshalb, wenn schon, «Menschengemachterklimawandelleugner» heissen. Doch sie verkennen ein wichtiges Merkmal der Sprache: das der Sprachökonomie – die Tendenz, komplexe sprachliche Formen durch einfachere zu ersetzen. Sprache tendiert zur Sparsamkeit und zieht dem Unsäglichen das Sagbare vor. Und nicht vergessen: Da ist ja immer auch noch der Ko- und Kontext, der die Unklarheit klärt (klären soll).

Überhaupt ist es so eine Sache mit der Sprachpolizei, die sich gern in Kommentaren zu Medienbeiträgen Ausdruck verschafft:

In einem Alters- und Pflegeheim spricht man von Bewohnerinnen und Bewohnern. Insassen finden sich in Strafanstalten.

Ein Ballon fliegt nicht, er fährt.

Wers glaubt wird seelig! Bitte aber nur mit einem «e».

Narrativ, wieder so ein neudeutsches Modewort.

Nur berühmte Architekten dürfen klotzen. Die anderen kleksen. – Kleckern, nicht kleksen. Wenn man schon Redensarten herbeimüht (sic!), sollten sie wenigstens korrekt sein.

Nimmt man ernst, was man sagt, überlegt man sich seine eigenen Worte, muss man bemerken, dass es weder physikalisch noch ökonomisch möglich ist, Arbeit zu geben oder zu nehmen. Die Wörter «Arbeitgeber» und «Arbeitnehmer» sind Sprachunsinn der höheren Art.

Andererseits wundert man sich über den lässigen Umgang mit Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion:

Nicht’s gegen amerikanische Marsmissionen und deren Finanzierung durch amerikanische Steuergelder.

China’s Geschichte geht tausende Jahre zurück und wir im Westen wohnten dazumal immer noch in den Höhlen.

Er erinnerte mich steht’s in vielem ans Schule geben …

Die Walliser hätten dieses Problem schon lange mit der Schrottflinte gelöst.

Demgegenüber hat er noch ein sehr langer Weg vor sich.

Wer braucht noch etwas so antiquiertes wie Hörsähle?

Ein Viertel der Menschheit hat kein dauernder Zugang zu Wasser geschweige den zu Trinkwasser.

Übers bräteln oder grillieren müsste man schon einmal nachdenken. Wenn ich al diese Minigrils sehe die den Rasen über Jahre mit brandnarben übersähen müsste man dieselben eigentlich verbieten.

Man kann über sprachliche Unzulänglichkeiten hinwegsehen, da man den Text ja auch so versteht. Schliesslich ist man doch immer so in Eile, und das Tippen ins kleinräumige Handy ist keine geringe Sache. Dennoch fühlt man sich ein bisschen peinlich berührt und fragt sich, was denn die Leute in der Schule gelernt haben. Könnte man sich nicht etwas mehr Mühe geben? Rechtschreibung und Zeichensetzung haben ja eine Funktion, vereinheitlichen das Schriftbild, erleichtern das Wiedererkennen von Wörtern und Formulierungen. Fehlerreich schreiben ist wie Sprechen mit vollem Mund – unanständig und der Verständigung abträglich. Oder weiss man es nicht besser? Umso schlimmer.

Über die Verluderung der Sprache wird seit der Antike lamentiert. Und was sehen wir? Die Sprache ist immer noch da, wir verwenden sie täglich, arbeiten damit, verständigen uns, mehr oder weniger erfolgreich, das heisst die Sprache funktioniert, erfüllt ihren Zweck. Aber sie verändert sich auch. Ob die Art, wie wir heute schreiben, in hundert Jahren noch verstanden wird? Vielleicht wird man sich über die seltsamen Fälle wie Genitiv, Dativ und Akkusativ wundern, über die Artikel vor den Substantiven, die Endstellung des Verbs in Nebensätzen, veraltete Wörter und Wortfolgen. Sicher ist, dass die Sprache dieses Vorworts aus der Zeit gefallen sein wird. Man mag das beklagen, die schöne Sprache bedroht sehen, den Prozess wird es nicht aufhalten. Einen idealen Zustand der Sprache gibt es nicht. Laute, Wörter, Grammatik sind einem anhaltenden Wandel unterworfen, das lehrt die Sprachgeschichte, und der Wandel wird immer als Verfall empfunden, früher wie heute. Wer heute so schriebe wie Goethe, hätte in der Schule ein ernsthaftes Problem.

Ist die deutsche Sprache tatsächlich am Verarmen, wie Sprachpessimisten gern behaupten? Das Deutsche sei durch das letzte Jahrhundert an Wörtern reicher geworden, im zwanzigsten Jahrhundert um gut fünf Millionen, besagt ein «Bericht zur Lage der deutschen Sprache» der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Das liege daran, dass neue Welten wie die der Digitalisierung entstanden. Zudem gehen Geburt und Tod von Wörtern unterschiedlich vonstatten. Die Geburt passiert schnell, etwas Neues kommt auf, und schon hüpft das passende Wort in den Wortschatz: Roboter, Boykott, Pumps, Sandwich, Computer, Gourmet, Menü, Hasardeur, Amok, Baby, Tacheles, Popcorn, Jus, Make-up, Hedgefonds, Newsletter, Homeoffice, Shitstorm, Image, Clou, Smoothie, Date, Lockdown, Follower, Container, Jackpot, Stress, Deadline, Outfit, Slogan, Influencer, chatten, managen, faxen, simsen, mailen, beamen, updaten, chillen, campen, toasten, online, cool, fair, mega, nonstop. Hingegen stirbt ein Wort langsam, es wird seltener, auffälliger, wirkt antiquiert, überrascht, steht uns aber trotzdem noch Jahrzehnte oder Jahrhunderte zur Verfügung: Fräulein, Hagestolz, Bube, Eidam, Trulle, behände, sintemal, fürbass, wohlan. Die Grammatik dagegen ist tatsächlich etwas ärmer. Insgesamt resultiert insofern ein Gewinn, als der Wortschatz wichtiger ist als die Grammatik. Denn wer den Genitiv von «das Brot» nicht kann, bekommt im Laden trotzdem eines. Wer aber das Wort «Brot» nicht kennt, geht hungrig heim.

Und was ist mit der weitherum beklagten Anglisierung? Apokalyptiker wittern eine Invasion des Bösen. Doch die Forschung gibt Entwarnung. In den letzten neunzig Jahren hat die Zahl der Anglizismen zwar stark zugenommen, von tausend auf über zehntausend, ihr Anteil am Gesamtwortschatz ist aber weiterhin klein. Und neben den Zugängen sollte man auch die Abgänge im Blick haben. Manche Ausdrücke sind Modeerscheinungen und erledigen sich von selbst. Ausserdem werden viele Wörter nicht eins zu eins übernommen, sondern passen sich den Formen des Deutschen an, sodass es ihnen nicht gelingt, Struktur und Grammatik zu verändern: durch den Wald joggen, gegoogelt, downgeloadet, anturnen, computerisiert und so weiter.

Übrigens: Im Englischen sind dreissig bis vierzig Prozent des Wortschatzes französischen Ursprungs, und niemand käme auf die Idee, die Sprache leide an Überfremdung. Das Englische ist deshalb so erfolgreich, weil es sich zu einer hochanalytischen Sprache entwickelt hat. Anstelle komplexer Grammatik und unregelmässiger Beugungen hat es eine (scheinbar) simple und regelmässige Struktur, die den Lernern entgegenkommt. Möglicherweise steht uns das noch bevor: «Das Kind esst gern Glace, es stehlt Schokolade und befehlt: Nehm das weg!» Könnte doch sein.

Weit kommt man nur mit dem Wind …

1 Marea Neagră

Das Kind träumt manchmal. Vom kleinen Bruder. Sie waren unten am Fluss, im Hintergrund zirpten die Grillen, es war Sommer. Das Kind liess die kleine Hand nur einen Augenblick los, um einen Frosch zu fangen, freute sich schon, den Froschkönig gefunden zu haben, wollte seine Freude mit dem Bruder teilen, doch der Bruder war nicht mehr da. Still und klein, ohne sich zu wehren, schaukelte er auf dem wilden Wasser dahin, immer weiter weg, immer kleiner, bis er nur noch ein winziger Fleck war, den eine Welle überrollte. Das Kind träumt vom blonden Schopf, der auf den Wellen hin und her hüpft und immer wieder untertaucht, und schreit so laut es kann: Komm zurück, komm zurück, aber es kann nichts tun. Der kleine Bruder ist schon im Schwarzen Meer verschwunden. Das Kind ist sich sicher, dass es den Sonnenschein der Mutter ausgelöscht und sie in die Finsternis gestossen hat. Irgendwo muss das Meer sein, denkt das Kind, so gross, dass es das ganze Dorf ein paarmal ersäufen könnte. Das Meer ist unendlich. Steht man am Strand und schaut geradeaus, so sieht man nur das Meer und den Himmel und sonst nichts. Die Grossmutter und der Grossvater haben das Meer oft gesehen, und auch der Vater und die Mutter sind einmal ans Meer gereist, nachdem der kleine Bruder geboren worden war. Das Kind haben sie nicht mitgenommen, die Mutter wollte nur den kleinen Prinzen dabeihaben. War der Prinz in ihrer Nähe, hatte die Mutter ein anderes Gesicht. Er hatte keine Sommersprossen und keine roten Haare. Er war das Kind, das sie schon immer haben wollte.

Das Schwarze Meer. Das unbekannteste Meer Europas. Lange Zeit wenig zugänglich für Westeuropäer. Verborgen blieben die wunderbaren Küsten mit den steilen Klippen, den sandigen Ufern, den Vogelschwärmen und Hafenstädten. Verborgen auch der Ort, an dem sich die biblische Sintflut ereignet haben könnte. Lange war es ein Binnen- und Süsswassersee, irgendwann brach der Bosporus durch, der See erhielt eine dauerhafte Verbindung zum Mittelmeer und wurde salzig. Wie es genau passierte, beschäftigt die Geologen bis heute. Sechs Staaten gruppieren sich um das Meer: Ukraine, Russland, Georgien, Türkei, Bulgarien, Rumänien, jeder mit eigenem Namen für das Gewässer: Tschorne more, Tschornoje morje, Schawi sghwa, Kara Deniz, Tscherno more, Marea Neagră. Schön, nicht?

Aber warum Schwarzes Meer? Das Wasser ist ja nicht schwarz, sondern blau, manchmal trüb. Eine historische Erklärung geht so: Als die Osmanen Anatolien eroberten, übernahmen sie den Namen von den kolonisierenden Venezianern und Genuesern und übersetzten ihn ins Türkische – aus dem «Mare Maggiore» («Grosses Meer») wurde «Kara Deniz». «Kara» bedeutete damals nicht nur «gross», sondern auch «finster, trüb». Mit der Zeit verschob sich die Bedeutung zu «finster». Eine andere Theorie: Die Osmanen bezeichneten früher die Himmelsrichtungen mit Farben: Rot für den Süden, Blau für den Osten, Schwarz für den Norden, Weiss für den Westen, danach bekamen die nächstgelegenen Meere ihre Namen: Rotes Meer im Süden, Schwarzes Meer im Norden, Weisses Meer im Westen (die Ägäis heisst heute noch «Weisses Meer» auf Bulgarisch, Serbisch und Makedonisch). Infrage kommt auch eine biologische Erklärung: Das Wasser des Schwarzen Meers ist stellenweise tatsächlich irgendwie schwarz, sichtbar vor allem im Sediment, wegen sulfatreduzierender (sulfidogener) Bakterien, die Schwefelwasserstoff aus Sulfat bilden, woraus zusammen mit Eisenionen Eisensulfide entstehen. Es könnten auch Algen sein, die den Meeresboden und das Wasser manchmal besonders dunkel aussehen lassen. Mit anderen Worten: Warum das Schwarze Meer «Schwarzes Meer» heisst, weiss man nicht so genau.

Doch wie kommt das Kind auf die Idee, der Bach dort oben im Bündnerland fliesse ins Schwarze Meer? Ist vielleicht einer, der in den Inn mündet, dann in die Donau, die am Ende tatsächlich im Schwarzen Meer landet.

2 Alto Adige

Ein Sehnsuchtsort, schon wegen des Namens. Welcher Wohlklang, verglichen mit «Südtirol». Oder «Hochetsch» oder «Oberetsch». Aber auch wegen der Landschaften, der Berge, die so hell und unvergleichlich in die Höhe ragen. Man möchte hin und beginnt zu planen, angetrieben von einem weiteren schönen Namen: Marmolata, Königin der Dolomiten. Neben etwas weniger anmutigen wie Bozen, Meran, Brixen, Leifers, Bruneck, Eppan, Pflitsch, Sulden, Schnals, Ulten, Passeier, Ridnaun.

Doch «Alto Adige» ist umstritten. Nicht ästhetisch, sondern politisch, dem Namen nach. Es sei faschistisch angehaucht und solle deshalb nicht mehr verwendet werden, sagen die einen. Es stehe so in der Verfassung, sagen die anderen. Aber es steht nicht im Europagesetz, das der Landtag des Südtirols verabschiedet hat, dort steht nur «Provincia di Bolzano», der erste Teil des offiziellen Namens «Provincia autonoma di Bolzano – Alto Adige», und in der deutschen Fassung steht nur «Südtirol». Rom ist empört, spricht von einem Affront, von einer Vernachlässigung des Italienischen, verlangt, dass die italienische und die deutsche Version des Gesetzes identisch sind. Die Süd-Tiroler Freiheit will nichts davon wissen, hält die italienweite Polemik für verabscheuungswürdigen Nationalismus und prägt den Slogan «Sag niemals Alto Adige». Es gehe darum, den rechtlich korrekten italienischen Landesnamen für Südtirol zu verwenden. Dieser laute nicht «Alto Adige», sondern «Provincia di Bolzano». «Alto Adige» existiere rechtlich nur für die Institution der Region «Trentino-Alto Adige», nicht aber für das Land Südtirol, das in italienischer Sprache offiziell nur «Provincia di Bolzano» heisse. Keinesfalls dürfe sich Südtirol von Rom zwingen lassen, ruft deshalb die Politik und die Bevölkerung dazu auf, den faschistischen Begriff «Alto Adige» nicht mehr zu benutzen und stattdessen in italienischer Sprache die korrekte Landesbezeichnung «Provincia di Bolzano» oder die Kurzform «Sudtirolo» zu verwenden. Dazu muss man wissen, dass die Sprachenfrage hier politisch brisant ist. Südtirol ging nach dem ersten Weltkrieg von Österreich an Italien. Bis heute ist es mehrheitlich deutschsprachig, hinzu kommen eine grössere italienische und eine kleinere ladinische Minderheit.

Was genau ist nun «Alto Adige»? Wikipedia hilft, ein bisschen: Südtirol (italienisch Alto Adige, Sudtirolo, ladinisch Südtirol), amtliche Eigenbezeichnung «Autonome Provinz Bozen – Südtirol» (italienisch «Provincia autonoma di Bolzano – Alto Adige», ladinisch «Provinzia Autonoma de Balsan – Südtirol» [Gadertalisch] oder «Provinzia Autonoma de Bulsan – Südtirol» [Grödnerisch]), Kurzform «Land Südtirol» (italienisch «Alto Adige» oder «Sudtirolo», ladinisch «Südtirol»), die nördlichste Provinz Italiens, bildet zusammen mit der Provinz Trient die autonome Region Trentino-Alto Adige/Südtirol (italienisch «Trentino-Alto Adige», ladinisch «Trentin-Südtirol»). Alles klar?

Und was ist aus dem Streit geworden? Offenbar hat man sich geeinigt, und es bleibt alles, wie es ist.

3 Kandahar

Ein Berg, den es nicht gibt, weils nur ein Pass ist, etwas verschupft in Österreich, dabei wunderschön. Der Arlberg. Mit Lech, der Wiege des alpinen Skifahrens, St. Anton, St. Christoph, Stuben, Zürs und so. Eine Region, die ich eigentlich kennen müsste, so nah davon, wie ich aufgewachsen bin, und dennoch war ich nie da, glaube ich, wozu auch, zum Skifahren hatten wir ja die Flumserberge. Arlberger Skipioniere entwickelten Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Stemmbogen als Vorläufer des Parallelschwungs, nachdem man früher die Schneehänge mit Querfahrt und Spitzkehre bewältigte. Die Arlbergtechnik revolutionierte das Skifahren, Skilehrer vom Arlberg lehrten den Stil von Japan bis Amerika, seither bildet er das Fundament des modernen Alpin-Skilaufs. Achtundachtzig Seilbahnen und Lifte, über dreihundert Skiabfahrtskilometer, zweihundert Kilometer Tiefschneeabfahrten, Langlaufloipen, Rodelbahnen und Winterwanderwege, exklusive Hotels und internationale Bars kombiniert mit dörflichem Charme, von Gästen aus aller Welt geschätzt. Allen gemeinsam: die Suche nach der perfekten Spur durch den Schnee. Und als Höhepunkt das Arlberg-Kandahar-Rennen, seit 1928 in St. Anton.

Kandahar? Ein schöner Name. Aus Afghanistan. Wie kommt er hierher? Verantwortlich sollen die ursprünglichen Veranstalter des Rennens sein, der Ski-Club Arlberg in Österreich und der britische Kandahar Ski Club in Mürren. Letzterer trägt den Namen des englischen Heerführers Frederick Roberts, der im neunzehnten Jahrhundert in der afghanischen Stadt eine Truppe rettete, nach seiner Rückkehr aus Afghanistan den Titel «Earl of Kandahar» verliehen bekam und beim ersten klassischen Abfahrtslauf in der Geschichte des Skisports in Crans-Montana im Jahr 1911 den Siegerpokal stiftete. Ob Kandahar davon weiss und es gut findet?

So viel zum Winter. Und im Sommer? Da gibt es das EBike-Fest powered by Haibike, den Montafon Arlberg Marathon powered by Sparkasse, die Begegnungsstunde Bruderschaft St. Christoph, das Kirchtagsfest in St. Jakob, das Zeltfest der Musikkapelle St. Anton, das Kirchtagsfest in Pettneu und in Flirsch, das Arlberger Kräuterfest in der Sennhütte, das Mountain Yoga Festival in St. Anton, den Almabtrieb mit Bauernfest in Pettneu und St. Anton und so weiter.

Es gibt aber auch eine andere, verborgene Seite, mit einer beeindruckenden Orchideenflora, grossen Gruppen von Stein- und Rotwild und einer nahezu unübersehbaren Anzahl von Murmeltieren, die dem touristischen Trubel trotzen. Schaue mir eine Dokumentation im Fernsehen an. Mächtig türmen sich die Schneemassen auf den tief verschneiten Hängen. An den steilen Graten hat der Wind bizarre Schneewechten geformt, weiter unten tragen Latschen und Zirben schwer an der glitzernden Pracht. Im Hochwinter donnern immer wieder Lawinen zu Tal, bringen aber nicht Tod und Zerstörung, im Gegenteil: Dort wo Lawinen die Hänge vom Schnee befreien, finden die Steinböcke und Gämsen Futter. Wenn der Winter aus den Tälern verschwindet, bekommen die Gämsen ihre Jungen, die schon nach wenigen Stunden im Gämsenkindergarten auf den steilen Hängen herumtollen. Was für ein Schauspiel! Nach dem langen Winterschlaf sind auch die Murmeltiere wieder unterwegs. Viele Monate haben sie in den Bauen verbracht und von den Fettreserven gezehrt, jetzt steht ihnen der Sinn nur nach Einem: Fressen. Einer der Lieblingsplätze von Murmeltieren und Gämsen ist das «Steinerne Meer», das auf längst vergangene Zeiten blicken lässt. Schwarze Spitzen im Fels waren für die frühen Siedler Zeugen mächtiger Blitzeinschläge, mysteriöse Abdrücke mussten vom Teufel stammen, der hier getanzt hat. Die wissenschaftliche Erklärung ist weniger spektakulär, aber umso fantastischer: Vor zweihundert Millionen Jahren waren diese Felsen Meeresboden, die schwarzen Spitzen sind Donnerkeile, Überreste von Verwandten heutiger Tintenfische, die Abdrücke Spuren eines versteinerten Muschelriffs. Millionen Jahre Geschichte liegen als aufgeschlagenes steinernes Buch vor einem.

Im Winter sind weite Teile des Gebiets für Menschen unzugänglich, im Sommer gehören den Erholungssuchenden die Wanderwege, den Tieren der Rest der Landschaft. Kann es sein, dass es so etwas wie eine friedliche Koexistenz von menschlich genutztem Raum und stiller Natur gibt? Und wenn, wie lange noch?

4 Arabia Terra

Das arabische Land. Befindet sich nicht hier, nicht auf der Erde, sondern weit weg, auf dem Mars, unserem roten oder rostigen Nachbarplaneten, so genannt wegen des Eisenoxidstaubs auf der Oberfläche. Eine ausgedehnte Hochlandregion voller Einschlagkrater, mit Durchmessern bis zu zweihundert Kilometer. Arabia Terra ist die Übergangszone zwischen den nördlichen Tiefebenen und dem südlichen Hochland. Über der Region wurden erhöhte Gehalte an Wasserdampf festgestellt, unter der sandigen Oberfläche müssen sich grössere Mengen Wasser in Form von Eis befinden. Anhand von Bildern und Beschreibungen könnte man meinen, Menschen wären auf dem Mars gewesen und hätten sich da umgesehen. Es war aber «nur» eine Raumsonde, der Mars Express, die erste Marsmission der Europäischen Weltraumagentur ESA mit dem Auftrag, nach Leben und Wasser zu suchen. Seit Ende 2003 befindet sie sich im Orbit des Mars und schickt uns bis heute faszinierende Bilder – von Meteoriten- und Vulkankratern, Bergen, Tälern, Schluchten, Sand, Dünen, ausgetrockneten Flüssen, Fliessspuren von Wasser, Frost, Eis. Wasser also, das scheint es da tatsächlich zu geben, wegen der dünnen Atmosphäre und des niedrigen Atmosphärendrucks vielleicht nicht in flüssiger Form, ausser in tiefgelegenen Gebieten, aber doch als Wassereis und Trockeneis. Nur Leben wurde bisher nicht entdeckt.

Aber warum Arabia Terra? Der Name soll von Giovanni Schiaparelli stammen, italienischer Astronom und Wissenschaftshistoriker, der sie 1879 so taufte, weil ihn die Region an die arabische Halbinsel erinnerte.

5 Idaho

Noch ein schöner Name. Wenn man ihn richtig ausspricht. «Licht, das von den Bergen kommt» in der Sprache der Shoshone. Das ist Idaho, US-amerikanischer Gliedstaat, umschlossen von Washington, Oregon, Montana, Wyoming, Nevada, Utah und British Columbia (Kanada), etwas mehr als zweihunderttausend Quadratkilometer, etwas weniger als zwei Millionen Einwohner, mit dem Snake River im Süden als Lebensader, alles andere ist Rocky Mountains. Wichtiges Durchzugsgebiet während des kalifornischen Goldrauschs. Später wurde auch in Idaho Gold gefunden. Heute Traumziel für alle, die unberührte Natur, karge Landschaften, erstarrte Lavaströme, dichte Wälder, hohe Berge, tiefe Canyons und Höhlen, kristallklare Seen, schwarzen Sand, Stille, Abgeschiedenheit lieben. Reich an Edelsteinen, deshalb auch «Gem State» genannt. Das Besondere: Die vielen deutschen Namen. Tatsächlich stellen deutschstämmige Amerikaner fast die Hälfte der Bevölkerung. Auch die Franzosen waren da, haben sich im Namen der Hauptstadt verewigt: Boise (= «bewaldet»). Dann ist da noch Coeur d’Alene, eine Stadt, ein See und ein Wald, von französischen Händlern nach dem gleichnamigen Indianerstamm benannt, nennen sich selbst Schitsu’umsh, «die entdeckten Leute». Die ganze Bevölkerung von Idaho ist tief religiös, konservativ, republikanisch. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ausser vielleicht: Auch der Yellowstone National Park gehört zu den Attraktionen von Idaho, wenn auch nur zu einem kleinen Teil.

6 Drachenhauchloch

Eine Höhle in den Otavibergen, nördlich von Grootfontein im zentralen Nordosten Namibias am Rand der Kalahari. Beherbergt den grössten bekannten unterirdischen See. Sechsundsechzig Meter unter der Erdoberfläche, zweihundert Meter tief. Fossiles Süsswasser, mit Höhlenwelsen, die hier überleben dank einer speziellen Kombination von fehlendem Sonnenlicht, stabilen Temperaturen und kaum Wellen, die Sedimente aufwirbeln – eines der seltensten und isoliertesten Lebewesen, für andere unerreichbar. Drachenhauchloch. Dragon’s Breath Hole. So benannt wegen des zeitweise aus der Höhle aufsteigenden feuchten Dampfs. Scheint an einen Drachen erinnert zu haben. Kein indigener Begriff. Wie die ursprünglich dort lebenden Menschen die Höhle wohl genannt haben? Vielleicht gar nicht, denn sie wurde erst 1986 offiziell entdeckt. In der Nähe gibt es weitere Höhlen und Seen, zum Beispiel die Sonnenfischhöhle, ist sogar noch tiefer als das Drachenhauchloch. Viele Geheimnisse sind noch nicht gelüftet, denn der Zugang zu den Höhlen ist schwierig.

7 Häkeluntersätze

Der See. Das Wasser. Kein Lüftchen. Blauer Himmel und weisse Wolkenknäuel spiegeln sich darin, vervielfältigen sich, hellgrüne Wiesen, dunkelgrüne Wälder. Reise durch eine verwunschene Landschaft, uralte, moosbewachsene Lavafelder, ein olivgrünes Meer, auf dem man wie auf Watte geht. Jüngere Lava, von braun bis schwarz, Sand, Geröll, Blöcke, Fladen, Schnüre, zu kunstvollen Mustern verwoben, Häkeluntersätze, Vorhangkordeln, Wollknäuel, Seile, Girlanden, Zöpfe, Kuhfladen, durch grünes Buschwerk spärlich aufgelockert, ein aufgewühlter Fluss, ein Wasserfall. Landmannalaugar. Unverhoffter Rummel. Die bunten Berge ziehen die Menschen an wie ein Magnet die Eisenspäne. Reisebusse, Geländewagen, Camper, Zelte, Badende, Wanderer, Staub und Lärm inmitten reizvoller Umgebung. Im Zentrum die Rhyolitberge als farbenfrohe Gemälde, Bäche, Tümpel, Seen, Schlammtöpfe, Fumarolen, schwefliger Dampf, der sich zischend und heulend aus Erdlöchern die Freiheit erpresst, giftig-gelbgrüne Spuren hinterlassend, brodelnde Wasserbecken, kleine Springbrunnen. Eine Palette voller Kontraste, intensiv-grünes Moos auf schwarzer Lava, dunkelbraune Lava auf hellbraunem Sand, türkisblauer See in goldbraunem Gestein, weisses Baumwollgras in grüner Wiese, ein graublauer Pechsteinvulkan vor blauem Himmel, ebenso Felder von Rabensteinen (Obsidianen), schwarze, scharfkantige Blöcke mit gläsern-glänzender, muscheliger Bruchstelle. Etwas weiter weg ein Kratersee, Ljótipollur, zu erreichen über eine steile, rutschige Piste. Tief unten, tiefblau und spiegelglatt, ruht der ovale Maarsee, scheinbar bewegungslos, dient den Haufenwolken als Spiegel und lässt Forellen bei sich wohnen. Die Steilwände strotzen vor Farbe, rostrotes bis schwarzes Lavageröll, graue Blöcke, grüne Moose. Die Färbung des Sees verändert sich mit jedem Schritt, von blau zu grün, türkis, petrol und wieder zu blau, auf dem Wanderweg rund um den Krater.

8 Vanil Noir

Nahe der Heimat des berühmten Gruyère-Käses thront das Juwel der Voralpen: der Vanil Noir. Gehört nicht zu den höchsten Bergen der Schweiz, besticht aber durch wilde Schönheit. Schroffe Felsen, kantige Schratten. Knapp zweitausendvierhundert Meter hoch, an der Grenze zwischen den Kantonen Freiburg und Waadt. Bildet das Herz eines Naturschutzgebiets mit vielfältiger Flora und reichhaltiger Fauna. Botanische Besonderheiten: Alpen-Betonie, Spitzorchis, Alpen-Lein, Alpen-Schuppenkopf, Alpen-Mohn, Berg-Drachenkopf. Und die Krautweide, nach Carl von Linné «der kleinste unter allen Bäumen», ein Eiszeitrelikt. Auch die Tierwelt kann sich sehen lassen: Neben Steinbock und Gämse können auch Schneehasen, Schneehühner, Steinhühner, Murmeltiere, Bartgeier, Aspisviper, schwarze Kreuzotter und über siebzig Tagfalterarten beobachtet werden. Hunde haben keinen Zutritt. Bitte auf den Wegen bleiben, Fauna und Flora nicht stören, nicht campieren und nicht feuern, Abfälle mit nach Hause nehmen.

Schöne Wanderung, dem Bergbach entlang, an blühenden Blumenwiesen vorbei. Perfekter Tag. Doch plötzlich ist der Bach weg. Ist er etwa ausgetrocknet? Aber gerade noch führte er doch ordentlich Wasser? Ein Blick auf eine geologische Karte zeigt: Der Vanil Noir ist ein Kalkmassiv. Über Jahrmillionen hat der Regen den Kalk aus dem Gestein gelöst. Hat Löcher, Gänge und Höhlen ins Felsinnere gefressen. Bäche können sich darum ihren Weg auch unterirdisch suchen und an unerwarteter Stelle wieder zum Vorschein treten. Auch oberflächlich zeigt sich der Effekt des Regens: an den Schratten im Gestein, den Rillen mit den scharfkantigen Rippen dazwischen, die die Wanderin vorsichtig überschreitet. Auf dem Gipfel: ein atemberaubendes Panorama und eine noch atemberaubendere Stille.

9 Fallätsche

Der Frühling ist im Anzug. Sonnige Aussichten, steigende Temperaturen, auch wenns in der Nacht und früh am Morgen noch eisig ist. Man könnte wieder einmal eine Wanderung unternehmen. Wir fahren ein Stück mit dem Postauto, eine knappe halbe Stunde, steigen aus und gehen los. Ringlikon. Es geht aufwärts, steiler und länger als erwartet, fast eine Stunde, auf den Uetliberg, den Gipfel am nördlichen Ende der Albiskette, achthundertsiebzig Meter über Meer, 1210 als Uotelenburg erstmals urkundlich erwähnt. Sehen und hören die erste Bahn vorbeirattern, dann die zweite, bringen die Nichtberggänger und Faulenzer nach oben. Kleine Völkerwanderung rund um den Uto Kulm. Eigentlich herrscht hier Maskenpflicht, Corona ist noch nicht vorbei, aber niemand hält sich daran. Sie ist schon speziell, die Aussicht von diesem scheinbar mickrigen Hügel, auf die Stadt, die Häuser, die Türme, die Eisenbahngleise, die Brücken, die Limmat irgendwo dazwischen, die Landschaft, wobei allzu viel Landschaft nicht mehr auszumachen ist, vor lauter Häusern im Würfelmuster, zum Glück ist da noch der See, der sich nicht kleinkriegen lässt. Dunstig ist es, eine Art Schleier hängt über allem, auch über den weissen Bergen in der Ferne. Wir stehen eine Weile und staunen, schlängeln uns dann durch die Menschentrauben, steigen ab, gehen weiter, auf breitem Weg, ungepflastert immerhin, durch den Wald, an Wiesen vorbei, wo gerade mit moderner Technik gegüllt wird. Aus einem Tankwagen gelangt die Gülle über Schleppschläuche in den Boden, denn dort gehört sie hin und nicht in die Luft, nach neuesten Erkenntnissen, wegen des giftigen Ammoniaks und des von vielen als lästig empfundenen Geruchs.

Weiter zum Sendeturm, unerwartet mächtig, steht noch da, aber nicht mehr lange. Ein neuer wird gebaut, um mit 5G noch mehr Internet der Dinge zu ermöglichen. Die Arbeiter feiern Mittagspause. Vögel beschallen den Wald, nur wenige lassen sich blicken. Endlich die Felsenegg, mit dem roten Seilbähnchen, das gerade lautlos von unten kommend in die Endstation gleitet, nächste Abfahrt in fünf Minuten, dann Balderen, Buchenegg. Alle Beizen geschlossen, nur auf einer der Terrassen haben sich ein paar Wagemutige versammelt, geniessen den mitgebrachten Proviant oder sitzen einfach da, auf gebührenden Abstand bedacht.

Eher bemühend der Abstieg auf der Asphaltstrasse, hinunter ins Reppischtal, nicht allzu viel Verkehr, ein paar Autos, wenige Töffs, wo es sonst hier davon wimmelt, bei solchem Wetter, und Velofahrer, keuchen hoch oder sausen in horrendem Tempo talwärts. Dann gibt es doch noch einen netteren Weg, durch ein unerwartet wildes Tobel, das sich aber neben der Strasse nicht wirklich in Szene setzen kann. Unten im Tal ein Stück zu Fuss auf dem Veloweg. Unverhofftes Spektakel, zwei quirlige Wesen springen vor uns auf, jagen über die Strasse, das eine braun, das andere braun mit weissen Flecken, verschwinden in der Wiese. Wiesel? Marder? Iltisse? Hermeline? Nerze? Eines wagt sich nochmals hervor, schaut sich um, scheint sich zu wundern, läuft wieder los, ein Stück der Strasse entlang, und verschwindet endgültig im Gras. Wunderbar. Wir überqueren unsererseits die Strasse, zweigen ab auf einen Feldweg, steigen hoch, sind plötzlich wieder fit und hellwach, wo das Ende absehbar ist, irgendwann geht es nur noch geradeaus, nach Hause. Geschafft. In knapp vier Stunden.

10 Holzbirrliberg

Das Dorf ist landesweit bekannt. Welche Gemeinde wäre das nicht gern. Die Frage ist nur, wofür sie bekannt ist. In diesem Fall ist es Hartherzigkeit. Man wollte keine Flüchtlinge, kaufte das Haus, in dem sie untergebracht werden sollten, und riss es ab. Eigentlich sind es ja zwei Dörfer, von daher der Doppelname. Vor gut hundert Jahren ordnete der Kanton gegen den Willen der Bevölkerung die Zwangsheirat an. Der Grund: Das eine Dorf war pleite. Heute kommen die Menschen in Scharen, um hier zu wohnen. Vorausgesetzt, sie haben ein bisschen Geld. Denn die Bodenpreise steigen. Dafür gibt es angenehme soziale Distanz, individuelle Freiheit und üppige Parzellierungen. «Verdichtung» ist hier ein Schimpfwort. Das kann man auch sehen, am Häuser- und Villenwuchs. Den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes würde das Dorf kaum je gewinnen. Umso schöner der Blick in die Ferne. Es ist fantastisch gelegen, auf einem sanft gewellten Hügelzug namens Holzbirrliberg. Das Wappen der Ortschaft bezieht sich darauf, zeigt einen Holzbirnbaum mit dreizehn Früchten, hart und ungeniessbar. Und sauber ist es auch. Schilder mit Piktogrammen weisen auf das Polizeireglement § 29 Absatz 6 hin: «Innerhalb des Siedlungsgebiets und auf befestigten Strassen und Wegen ausserhalb des Siedlungsgebiets ist der Pferdekot durch den Reiter unverzüglich zu beseitigen.» Doch nicht nur wegen der Fernsicht und der Sauberkeit kommen die Leute, auch steuerfussmässig hat die Gemeinde einiges zu bieten. Mit dem Bus ist man zudem ohne Halt in wenigen Minuten in der grossen Stadt, aber wer fährt schon mit dem Bus. Es gibt ja auch einen eigenen Autobahnanschluss und eine Umfahrungsstrasse samt Tunnel. Was will man mehr.

Mitten drin liegt das Restaurant Hirschen, das nicht auf Hirsche, sondern auf Güggeli spezialisiert ist, nennt sich selbst «Güggeli Oase». Zum Beispiel Pouletflügeli (mit Haussauce), wer mehrere Saucen geniessen möchte, wählt den Flügeliplausch – mit Knoblauch, Knoblauch-Mayonnaise, Chilischoten, Kräuterbutter, Indianerblut, Hammerschlag-Curry. Oder Mistkratzerli (von ländlichen Schweizer Bauernhöfen): Nature, in Butter, mit Haussauce, mit frischem Rosmarin, mit frischem Thymian, mit frischem Knoblauch, mit frischen Chilischoten (feurig), à la Cafè de Paris, Asia (asiatisch-mariniert, mit Soja-Sauce), Mykonos (mit feiner Yoghurt-Sauce), Limone (mit Limonencrème-Sauce), Bollywood (mit Kokos-Curry-Sauce und Mandeln), al Diavolo (mit frischem Knoblauch, frischem Thymian und frischem Chili), Mombasa (sehr scharf, mit getrockneten Chilischoten in Butter gebraten), Halleluja (exotisch-pikant, mit frischem Chili, Knoblauch und exotischer Currymischung). Oder Poulet im Chörbli (aus Schweizer Bodenhaltung, das Poulet, nicht das Chörbli, sechshundert Gramm schwer): Nature, Parisienne, Hollandaise, Hopp de Bäse (frischer Knoblauch), Bora Bora (sehr scharfe Currysauce), Amboseli (afrikanisch, scharf), Apollo (Joghurt-Knoblauch-Sauce), Piri Piri (mit frischem Chili), Winnetou (indianisch, scharf), Acapulco (mit Chilibutter). Dazu Pommes frites, Reis, Risotto, Nudeln oder Gemüse. Auch das Cordon bleu (Kalbfleisch vom Bäggli) bietet sich in Variationen an: Original (mit Schinken und Käse), nach Glarner Art (Schweinsnierstück mit Alpkäse und frischem Knoblauch), Tschau Sepp (mit Schinken, Käse, Knoblauch), Calabrese (mit Alpkäse und scharfem Salami), Honey-Moon (im Honig paniert, mit Schinken, Tomaten, Mozzarella), Popeye (mit Schinken, Käse, Blattspinat), Mexicana (mit Schinken, Käse, scharfen Gewürzen), Malaika (mit Schinken, Käse, Ananas), Diavolo (mit Schinken, Käse, frischem Chili, frischem Knoblauch, frischem Thymian). Und erst die Kalbsleberli, Rindsfilets, Wienerschnitzel, Rahmschnitzel, Pouletbrüstli, Fische, Crevetten … Für Vegetarier gibts einen Gemüseteller mit Spiegelei. Warum nicht. Für Extrawünsche sind wir immer für Sie da.