Das Meer, die Berge, die Wüste, die Sterne, die Stille, der Mensch, das Nichts - Katrin Züger - E-Book

Das Meer, die Berge, die Wüste, die Sterne, die Stille, der Mensch, das Nichts E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

In ihrem zweiten Band «Bücher in meinem Haus» geht die Autorin anders vor als im ersten: nicht alphabetisch, sondern nach dem, was ihr gefällt - so weit dies nicht schon im Rahmen des Alphabets geschehen ist. Und was gefällt ihr so? Vor allem das, von dem schon im Vorwort des ersten Bands die Rede ist: Natur, Landschaften, Weite, Berge, Täler, Wälder, Bäche und Flüsse, Seen, das Meer, Tiere, Steine, der Himmel, die Sterne, Abgeschiedenheit, Einsamkeit. Hinzu kommt jetzt noch ausführlicher das Gehen, das Wandern, das Reisen. Gehen ist wunderbar. Weg­gehen zum Beispiel, um wieder nach Hause zu kommen. Oder auch für immer, wenn einem das Zuhause nicht mehr behagt. Wandern in den Bergen, um sich die eigene Kleinheit vor Augen zu führen. Reisen in ferne Länder, um zu sehen, was es sonst noch gibt. Allein oder zu zweit? Lieber allein, da man sonst durchs Reden abgelenkt wird. «In den Bergen geht man am besten allein» sagt Tomas Espedal. Nicht nur in den Bergen, findet William Hazlitt: «Ich verstehe nicht, welchen Sinn es haben soll, gleichzeitig zu gehen und zu reden».

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Mein Lieblingsbuch ist jenes, das ich jetzt lese.

Peter Bichsel

Weiss ein Mensch nur genug, kann er ein ganzes Buch über den Wacholder verfassen.

Edward Abbey, Die Einsamkeit der Wüste

Ich lag auf dem Bett, hörte Musik, las und tat ansonsten nichts.

Hansjörg Schertenleib, Palast der Stille

Er scheint ganz eins mit dem Stuhl und dem Buch zu sein. Was liest du da? Das Buch hier, antwortet er und hebt es ein Stück an, ohne von seiner Lektüre aufzusehen.

Fabio Andina, Tage mit Felice

Jeder kann ein Buch über sein Leben schreiben, auch wenn es noch so unbedeutend erscheint. Wer hätte gedacht, dass ich etwas zu sagen habe.

Pia Solèr, Die Weite fühlen

Ein reiner Genuss: Morgens im Bett liegen und lesen.

Ja, ich möchte ein Buch über das Gehen schreiben, sage ich. Das ist eine gute Idee, meint er. Das ist eine gute Idee, sage ich, und deshalb trete ich auf der Stelle, es gelingt mir nie, etwas zu schreiben, wenn ich gute Ideen habe. Gute Ideen sind für mich das Schlimmste, was es gibt. Sie widerstreben mir. Aus guten Ideen werden nur selten gute Bücher.

Tomas Espedal, Gehen

Ich hielt die Feder in der Hand und überlegte missmutig, was ich schreiben könnte. Aber es fiel mir nichts ein.

Georges Simenon, Der Mann mit dem kleinen Hund

Inhalt

Vorwort

Edward Abbey:

Die Einsamkeit der Wüste

Walter Kappacher:

Land der roten Steine

Hansjörg Schertenleib:

Palast der Stille

Linus Reichlin:

Manitoba

Fabio Andina:

Tage mit Felice

Pia Solèr:

Die Weite fühlen

Petri Tamminen:

Meeresroman

Tobias Lehmkuhl:

Die Odyssee

Fabio Geda:

Im Meer schwimmen Krokodile

Jürgen König:

Medalges. Ein Jahr allein in den bleichen Bergen

Tomas Espedal:

Gehen

Hans Adelmann:

Einfacher leben

Bertina Henrichs:

Die Schachspielerin

Georges Simenon:

Der Mann mit dem kleinen Hund

Claus Mikosch:

Señor Gonzalez und der Garten des Lebens

Roman Graf:

Niedergang

Jens Steiner:

Carambole

Romana Ganzoni:

Granada Grischun

John Berger:

Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos

E. Y. Meyer:

Wintergeschichten

Chloe Aridjis:

Buch der Wolken

Bibliografie

Vorwort

Diesmal gehe ich anders vor. Nicht alphabetisch, sondern nach dem, was mir gefällt – so weit dies nicht schon im Rahmen des Alphabets geschehen ist. Und was gefällt mir so?

Nun das, was ich im Vorwort des ersten Bands angesprochen habe: Natur, Landschaften, Weite, Berge, Täler, Wälder, Bäche und Flüsse, Seen, das Meer, Tiere, Steine, der Himmel, die Sterne, Abgeschiedenheit, Einsamkeit. Hinzu kommt jetzt noch ausführlicher das Gehen, das Wandern, das Reisen. Gehen ist wunderbar. Weggehen zum Beispiel, um wieder nach Hause zu kommen. Oder auch für immer, wenn einem das Zuhause nicht mehr behagt. Wandern in den Bergen, um sich die eigene Kleinheit vor Augen zu führen. Reisen in ferne Länder, um zu sehen, was es sonst noch gibt. Allein oder zu zweit? Lieber allein, da man sonst durchs Reden abgelenkt wird. «In den Bergen geht man am besten allein» sagt Tomas Espedal. Nicht nur in den Bergen, findet William Hazlitt: «Ich verstehe nicht, welchen Sinn es haben soll, gleichzeitig zu gehen und zu reden.»

Kann es sein, dass Nature Writing und dergleichen gerade in ist? Oder bin ich es, die auf solche Bücher abfährt? Wenn ich die Liste so anschaue: naturnahe Geschichten mit Schauplätzen in Utah, Manitoba, Maine, Tessin, Graubünden, Appenzell, Norwegen, Südtirol, geprägt von Wildnis, Stille, Bescheidenheit, Alleinsein, Einsamkeit. Oder über Andalusien, etwas anders gelagert, mit «gezähmter» Natur als Aufhänger, ebenso jenes über Gärtnern, Freundschaft, Alleinsein, Einsamkeit, das noch der Beschreibung harrt.

Habe ich ein Lieblingsbuch? Nein. Lieblingsbücher? Lieblingsautoren? Hm. Ich glaube ja. Zum Beispiel … Ach, wo anfangen? Leo Tolstoi vielleicht, «Anna Karenina», schon wegen des ersten Satzes: «Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.» Noch lieber: «Krieg und Frieden». Franz Kafka, «Die Verwandlung», «Der Prozess», «Das Schloss», «Vor dem Gesetz», «Die Sorge des Hausvaters», «Forschungen eines Hundes», «Der Bau» und so weiter. Samuel Beckett, «Warten auf Godot», «Endspiel». Willem Frederik Hermans, «Nie mehr schlafen». Edward Abbey, «Die Einsamkeit der Wüste». Gerhard Meier, «Der schnurgerade Kanal» und alle anderen. Sten Nadolny, «Die Entdeckung der Langsamkeit». Terry Eagleton, «Der Sinn des Lebens». Judith Schalansky, «Der Hals der Giraffe». Yuval Noah Harari, «Eine kleine Geschichte der Menschheit». Kai Kupferschmidt, «Blau». Johannes Krause und Thomas Trappe, «Die Reise unserer Gene». Dazu fast alles von Arthur Schopenhauer. Und Teile von Friedrich Nietzsche: «In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‹Weltgeschichte›: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben.» Wunderbar, nicht? Wunderbar relativierend.

Und Bücher, die ich nicht mag? Die gibt es auch – Liebesgeplänkel, Liebeswirren, Bettgeschichten, Beziehungsknatsch, Selbstbespiegelungen und so, wo es nur darum geht und sonst nichts, wo doch dazu schon alles gesagt und geschrieben wurde.

Im Übrigen mag ich lieber Kurzgeschichten als Langgeschichten. Zum Beispiel die: «Am Anfang, bevor die Welt erschaffen war, streifte Gott durchs Nichts, um irgendwo etwas zu finden …» Noch lieber mag ich Kürzestgeschichten. Etwa die: «Ein Mann war so neugierig und wollte so gern wissen, ob es wirklich ein ‹Drüben› habe und wie dieses aussehe, dass er sich den Freitod gab und mit dem Gewehr erschoss. Allein, da kam schon die Enttäuschung, da war natürlich nichts.» Oder die: «Die Zwiebel, das Radieschen und die Tomate glauben nicht, dass es den Kürbis gibt. Sie halten ihn für eine leere Behauptung. Der Kürbis schweigt und wächst weiter.» So beginnt sie, und so endet sie. Was ich daran mag? Kürzestgeschichten sind prägnant und rätselhaft, weil sie so kurz sind, sodass man nicht einfach mitgerissen wird vom Lauf des Geschehens, weil einem nicht einfach gesagt wird, was passiert, man sich nicht in Sicherheit wiegen kann, sondern zu überlegen beginnt. Warum können die Zwiebel, das Radieschen und die Tomate nicht glauben, dass es den Kürbis gibt? Weil er grösser ist als sie? Weil sie noch nie einen gesehen haben? Weil er eine besondere Farbe hat? Oder einfach, weil sie nicht glauben wollen? Vielleicht ist das die Antwort: Den Kürbis gibt es nicht, weil er schweigt und einfach weiterwächst. Ich mag auch diese Geschichte: «Der blühende gewöhnliche Hornklee nickt mir zu, als ich verbeigehe, und macht sich dann auf den Weg, wohin auch immer.» Oder diese: «Informationen aus dem Norden, das Eis betreffend: Jeder Seehund verwendet viele Luftlöcher im Eis, und jedes Luftloch im Eis wird von vielen Seehunden verwendet.» Oder noch kürzer: «Zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen». Fünf Wörter, eine Tragödie.

Edward Abbey: Die Einsamkeit der Wüste

Das Buch steht ganz oben im Regal, nahe der Decke, in der Ecke hinter der geöffneten Tür, könnte leicht übersehen werden, wäre da nicht der auffällige, leinenartige, orangebraune Umschlag. Seit wann ist es da? Wie kommt es hierher? Ich erinnere mich. Es war die Empfehlung eines Bekannten, der die Welt kennt und so wie ich ein Faible für Wüsten hat, Menschenleere, Einsamkeit, bizarre Felsformationen und Pflanzen, öfter bereist, gesehen, erlebt, durchwandert, bewundert, wenn auch nur kurz, weil man ja bald weiter musste, zur nächsten Sehenswürdigkeit und schliesslich wieder zurück in die Zivilisation. Der Autor blieb etwas länger, dreimal eine Saison als Park Ranger, in den 1950er Jahren, von Anfang April bis Ende September, im Arches National Monument, heute ein Nationalpark, bei Moab im Bundesstaat Utah, einer der spektakulärsten Wüstenlandschaften unter den vielen spektakulären Wüstenlandschaften im Südwesten der USA. Es waren schöne Zeiten, der Tourismus noch kaum entwickelt, die Zeit verstrich langsam, so wie Zeit verstreichen sollte.

Zum Autor gibt es erstaunlich wenig Information, zumindest auf Deutsch. Immerhin ein Wikipedia-Eintrag. Edward Abbey wurde 1927 in Indiana, Pennsylvania, geboren, wuchs in den Allegheny Mountains auf, starb 1989 in Tucson, Arizona. Lebte als Naturforscher, Philosoph, Schriftsteller und Anarchist, der sein Werk dem Südwesten der Vereinigten Staaten widmete. Das bekannteste Buch: «Désert Solitaire. A Season in the Wilderness», 1968 veröffentlicht. Ist vieles zugleich: Autobiografie, Naturbeschreibung, Polemik, Kampfschrift, Abenteuerroman. In immer wieder neuen Naturschilderungen erlebt man die Vielfalt der Landschaft, die nur auf den ersten Blick tot und einsam erscheint, ihre Schönheit, ihre Abgeschiedenheit, aber auch den Hass auf jene, die das Gleichgewicht der Natur zu zerstören versuchen. Erst 2017 erschien die deutsche Ausgabe.

Die Wüste. Sie ist anders als die Berge und das Meer. Weder so feindselig wie die schneebedeckten Gipfel noch so weit wie der Ozean. Dennoch keine menschenfreundliche Umgebung. Was es an menschlichem Leben gibt, schart sich normalerweise um die natürlichen oder menschengemachten Oasen. Ansonsten liegt sie ausserhalb, still, trostlos, fremdartig, ungewohnt, grotesk in ihren Formen und Farben, von wenigen Kreaturen bewohnt, von dornigen, stacheligen, verkrüppelten, verdrehten Pflanzen spärlich besiedelt. Und doch ein Sehnsuchtsort. Wie eben das Arches National Monument. Über hundert Arches gibt es im Park, Felsblöcke, die auf einem steinernen Sockel balancieren, natürliche Bögen, Löcher im Fels, Fenster im Gestein, die Farbe variierend von schmutzigem Weiss bis zu Gelb, Rosa, Braun oder Rot. Schattierungen, die sich mit der Tageszeit, den Lichtverhältnissen, dem Wetter und dem Himmel ändern. Monolithische Sandsteinformationen, von der Erosion und der Witterung zu einem verworrenen Labyrinth aus Tälern, Grotten, Spalten, Durchgängen und tiefen, engen Canyons gestaltet. Auf den ersten Blick ein geologisches Chaos, doch dahinter steckt Methode, die Methode einer fantastischen Ordnung und Beharrlichkeit: Jede Felsspalte führt zu einer Art natürlichem Kanal, jeder Kanal zu einem Graben, einer Klamm, einer Schlucht, jeder grössere Wasserlauf auf den Grund eines Canyons oder zu einem breiten Flussbett, das wiederum in den Colorado und weiter bis ins Meer führt. Ein Spektakel aus Felsen und Wolken, Himmel und Raum.

Einst waren die Indianer hier. Anasazi. Haben das Gebiet vor siebenhundert Jahren verlassen und werden so schnell nicht wiederkommen. Haben Zeugnisse hinterlassen, in der Nähe von Quellen und unter überhängenden Felswänden. Plätze mit Keramikscherben, Feuer- oder Hornsteinfragmente, an denen sie ihre Pfeilspitzen herstellten. Inschriften auf Canyonwänden, (in Stein geritzte) Petroglyphen und (auf Stein gemalte) Piktogramme – Vögel, Schlangen, Hirsche, Biber, Dickhornschafe, menschliche, halbmenschliche und übermenschliche Figuren, abstrakte oder symbolische Zeichen. Auf einer Felswand ein Mann auf einem Pferd, die Zeichnung muss also nach der Ankunft der Spanier in Nordamerika entstanden sein. Auf einer anderen möglicherweise ein Mastodon, das vermutlich vor mehr als zwanzigtausend Jahren ausgestorben ist. Haben die Zeichnungen eine bestimmte Bedeutung und wenn, dann welche? Eine religiöse oder zeremonielle? Erscheinungen aus einem bösen Traum? Eine Art Chronik? Zeitungsfelsen, auf die die Menschen ihre Clan- oder Totemzeichen malten und ritzten? Oder einfach nur Kritzeleien? Niemand weiss es. Und was hat die Anasazi vertrieben? Marodierende Feinde? Dürre und Hunger? Krankheiten? Angst? Eine Kombination davon? Andere Gründe? Auf den Bildwänden gibt es keine Aufzeichnungen von Katastrophen. So gibt es nur Vermutungen aufgrund von Wissen über Klimaschwankungen, Stammeskriege und Dorfleben der Indianer im Südwesten. In fast allen Felsnischensiedlungen wurde wertvoller Besitz zurückgelassen: Pfeilspitzen, Töpferwaren, Saatgut, Sandalen, Schmuck aus Türkissteinen und Korallen. Was vermuten lässt, dass etwas die Bewohner zu übereiltem Verlassen nötigte. Auch andere Erklärungen sind möglich.

Frühling. Der Morgen, vielleicht die schönste Stunde des Tages. Eisig kalte Luft, fast frostig. Der Ranger empfängt ihn sitzend vor dem Wohnwagen, einen Becher Kaffee in der Hand, schaut auf die aufgehende Sonne. Die Vögel kehren von ihren Winterquartieren zurück. Nacktschnabelhäher ziehen in schwatzenden Schwärmen zwischen verkrüppelten Bäumen hin und her, scheinen zu spielen, ohne praktische Funktion. Ein paar Raben lungern auf den Felsgraten herum, krächzen schrille Verlautbarungen in die Welt. Schluchtenzaunkönige, selten zu sehen, aber zu hören, zwitschern in den Felswänden ihre unverkennbaren Weisen. Ebenso unsichtbar, aber in der Ferne präsent Carolinatauben, deren klagende Rufe an eine Art Suche erinnern.

Zeit, den Garten zu inspizieren, der sich vom Wohnwagen bis zu den Bergen erstreckt, zwölftausend Quadratkilometer, abgesehen von den Einwohnern Moabs unbewohnt. Angesichts der relativen Spärlichkeit von Fauna und Flora in der Wüste erscheint einem das Rätsel und das Wunder der Existenz noch offensichtlicher. Muster im Sand, Spuren von Eidechsen, Vögeln, Kängururatten, Käfern. Entlang der Piste blühen grosse gelbe Wyethia-Sonnenblumen, dazwischen und über die Wüste verteilt Gelbklette, Indianerpinsel, Roter Bartfaden, Gilia, Feigenkaktus, Igelkaktus, Purpurfahnenwicke, korallenrote Kugelmalven, Ampfer, Sandverbene. Und Kliffrosen, die lieblichsten von allen, ein robuster Strauch mit knotigem Stamm und gewundenen Ästen, bis zu vier Meter hoch. Zieht, solange er nicht blüht, nur wenige Blicke auf sich, nach dem winterlichen Schnee aber und etwas Regen im Frühling kommt er unversehens wie ein Schwan daher, die zerzausten Zweige verschwinden hinter dichten Büscheln cremeweisser oder blassgelber Blüten.

Die schönsten Blüten gehören allerdings den Kakteen, Feigen-, Igel- und Angelhakenkakteen. Ungewöhnlich der Kontrast zwischen Blüte und Pflanze: ein kleines, schäbiges, unscheinbares und bescheidenes Gewächs, ein Dornennest aus Haken und Stacheln, dessen Vorkommen mit Überweidung und Rinderdung zusammenhängt, treibt einmal im Jahr eine prächtige Blüte hervor, zart, anmutig, süss, begehrenswert, taugt als Beispiel für die Einheit der Gegensätze besser als eine Rose mit Dornen.

Dann ist da noch die Yucca. Bizarres Erscheinungsbild, so seltsam wie schön, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer starken Verteidigungswaffen, speziell auch in der Art ihrer Fortpflanzung. Ihre Blüten werden nicht von Bienen oder Kolibris, sondern ausschliesslich von der Yuccamotte bestäubt, einem Nachtfalter der Gattung Pronuba, mit der die Yucca eine symbiotische Beziehung eingeht. Sie legt ihre Eier in das Ovarium der Yuccablüte, wo die ausgeschlüpften Larven von den heranreifenden Samen fressen, gerade so viele, dass sie das Verpuppungsstadium erreichen, aber für die Pflanze noch genug im Fruchtstand bleibt, um mithilfe des Wüstenwinds die nächste Yucca-Generation auszusäen. Im Gegenzug überträgt die Motte, wenn sie in die Blüte eindringt, den Blütenstaub vom Staubbeutel auf den Stempel und vollzieht damit die Bestäubung.

Zeit fürs Morgenessen. Der Sand prasselt wie Regen gegen die metallenen Wände und über die Fensterscheiben. Feiner Schluff sammelt sich unter der Tür und auf dem Fensterbrett. Dann an die Arbeit. Touristen begrüssen, Orientierungshilfe leisten, auf Patrouille durch den Park. Vorbei am Balanced Rock, dreitausendfünfhundert Tonnen nahtloser Entrada-Sandstein, der auf einem mickrigen Sockel der Carmel-Formation thront, einem weichen und bröckligen Gestein, vom Wind zerfressen und von dem auf ihm lastenden Gewicht verformt. Eines Tages wird er fallen, in zehn, in fünfzig, in hundert, in fünfhundert Jahren. Um weitere freistehende Steinsäulen und auskragende Felsvorsprünge herum, in Sturzrinnen hinein und wieder heraus, vom Wind abgelagerte, schräg geschichtete Sanddünen, die sich vor Jahrmillionen im Mesozoikum gebildet haben und seither von darüber liegenden Sedimenten zu Stein zusammengedrückt wurden. Kontrolliert die Abfalleimer auf dem Campingplatz, ob nicht etwa ein Streifenhörnchen in der Falle sitzt, liest ein paar Flaschendeckel auf, inspiziert die sanitären Anlagen. Auf der Innenseite der Tür hat jemand eine Warnung geschrieben: «Vorsicht: Vor dem Hinsetzen auf Klapperschlangen, Korallenottern, Peitschennattern, Geisselskorpione, Hundertfüsser, Tausendfüsser, Zecken, Milben, Schwarze Witwen, Raubwanzen, Walzenspinnen, Taranteln, Krötenechsen, Gila-Echsen, Rote Ameisen, Feuerameisen, Jerusalemschrecken, Langwanzen und Grosse Haarige Wüstenskorpione achten.»

Vögel flitzen hin und her: Schwarzkehlammern, Fahlstirnschwalben, kreischende Elstern in ihrem schwarz-weissen Habit. Ein Baumwollschwanzkaninchen springt aus dem Gebüsch, jagt über den Weg, bleibt unter einem Busch stehen, kauert sich zusammen, schnappt mit zurückgelegten Ohren nach Luft und hält ein Auge auf ihn gerichtet. Er wirft einen Stein und trifft es am Kopf. Das böse Kaninchen ist tot. Im Sinn eines Experiments, was zu tun ist, wenn man kurz vor dem Verhungern ist und ausser den blossen Händen keine andere Waffe zur Verfügung hat. Ist einen Moment lang von seiner Tat schockiert. Der Schock weicht milder Euphorie. Sein Opfer überlässt er den Geiern und Maden und setzt den Weg mit gesteigertem Hochgefühl fort, was schwer zu verstehen ist. So sehr er es versucht, er empfindet keine Schuld. Das Experiment war ein Erfolg, es besteht keine Notwendigkeit, es zu wiederholen.

Es ist ein guter Job, und die Arbeit ist einfach. Die Woche beginnt mit dem Donnerstag, den er gewöhnlich damit verbringt, die Strassen zu patrouillieren und die Wege abzulaufen. Am Freitag inspiziert er die Campingplätze, schafft Feuerholz heran und verteilt das Toilettenpapier. Samstag und Sonntag sind die betriebsamsten Tage, wegen des Zustroms der Wochenendbesucher und Camper. Der Ranger beantwortet Fragen, zieht Autos aus dem Sand, holt Kinder von Felsen herunter, spürt verirrte Grossväter auf, kontrolliert Picknicks. Am Sonntagabend sind die meisten wieder weg. Was für ein Glück, sagt er sich am nächsten Morgen, heute ist Montag. Er leert die Abfalleimer, liest die weggeworfenen Zeitungen, fegt die Aussengebäude aus, klaubt die Kleenextücher aus der Umklammerung von Kliffrosen und Kakteen. Am Nachmittag sieht er zu, wie die Wolken vor dem nackten Gipfel des Tukuhnikivatz vorüberziehen. Dienstag und Mittwoch sind Ruhetage. Am Mittwochabend fährt er nach Moab, um die Vorräte aufzustocken und etwas intensiver mit Menschen in Berührung zu kommen.

Abends sitzt er draussen und betrachtet die abendlichen Bewegungen über der Wüste. Beste Sendezeit: Die Sonne steht tief im Westen, die Vögel werden wieder aktiv, die Schatten ziehen meilenweit über Fels und Sand bis an den Fuss der schimmernden Berge. Auf dem Programm: Der aufgehende Vollmond. Doch die Idylle ist in Gefahr. Ein Trupp Landvermesser ist im Anmarsch, eine Strasse soll gebaut werden. Um mehr Touristen anzulocken. Ein paar Jahre später ist es so weit: Das Arches National Monument ist weiter erschlossen, der Masterplan ausgeführt. Wo früher ein paar abenteuerlustige Leute für ein Wochenende herkamen, eine Nacht oder zwei campten und die Ursprünglichkeit und Abgelegenheit genossen, stösst man heute auf eine endlose Schlange von Automobilen, die den ganzen Frühling und Sommer ein- und ausströmen. Der Campingplatz ist eine Vorortsiedlung mit Wohnanhängern und Wohnmobilen, mit voll ausgestatteten sanitären Einrichtungen, elektrisch beleuchtet, auch wenn der Generator dann und wann versagt und die Wasserversorgung zusammenbricht. «Parks sind für die Menschen», lautet der Werbeslogan, der genau besehen bedeutet: «Parks sind für Menschen in Autos».

Zeit der Stürme. Am Nachmittag kommt Wind auf, fegt Staub und Sand zu trichterförmigen Wirbeln, die sich wie Tänzer kurz über die Wüste drehen und dann in sich zusammenfallen. Gefolgt von den echten, den ernsthaften Winden. Steigern die Stimme der Wüste zu einem verrückten Heulen, verdecken den Himmel und die Sonne hinter gelben Wolken aus Staub, Sand, Verwirrung, zerzausten Vögeln, Buscheichenblättern vom letzten Jahr, Blütenstaub, Heuschreckenhüllen, Wacholderrinde. Da bleibt man am besten drin. Wie die Stille und die Weite gehören die Frühjahrswinde zum Land der Canyons.

Sommer. Die Sonne steht über allem, im Brennpunkt des Universums, umgeben von weitem, meist unbewohntem Niemandsland. In diesem Gleissen, dieser Hitze, inmitten einer grossartigen Stille, ziehen sich die Dinge in unerreichbare Fernen zurück, machen alle Gedanken zunichte. Beinahe alles, was einst grün war, hat sich in matte, trockene Safran- und Rotbrauntöne verwandelt. Die Blumen sind verwelkt und als Samen ausgebracht. Die Kliffrose ist verblasst. Die Samenkapseln der Yuccastängel sind nur noch leere Hülsen. Die meisten Lebewesen schützen sich vor dem grellen Licht und der Hitze des Mittags. Schlangen und Eidechsen müssen Temperaturextreme meiden, da sie kein körpereigenes Kühlsystem haben, besonders in der Wüste, wo die Bodentemperatur viel höher ist als etwas weiter oben in der Luft. Blieben sie mehr als zehn Minuten der Mittagssonne ausgesetzt, würden sie sterben. Die Schlangen flüchten sich deshalb in den Schatten und kommen erst bei Sonnenuntergang wieder hervor. Die Eidechsen huschen von Unterschlupf zu Unterschlupf und halten sich nie länger als ein paar Augenblicke in der vollen Sonne auf. Nagetiere bleiben am Tag in ihren Bauen, um Körperfeuchtigkeit und Energie zu sparen. Skorpione und Spinnen verkriechen sich in die Erde. Hirsche, Antilopen, Dickhornschafe, Luchse, Füchse und Kojoten suchen Schutz unter Felsvorsprüngen, Eichen-, Pinyon- und Wacholderbäumen. Die Vögel sind still und reglos. Ein paar Wüstenspatzen immerhin fliegen von einem Baum zum nächsten. Eulen und Nachtfalken halten sich tagsüber in Löchern und Spalten auf. Nur die Bussarde, Geier und Adler scheinen uneingeschränkt aktiv, bleiben aber oben am Himmel, kreisen stundenlang, ohne herabzustossen. Kein Wunder, denn es gibt so gut wie kein frisches Fleisch da unten. Insekten, die in der offenen Wüste ohnehin nur spärlich vorkommen, verschwinden bis zur völligen Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit. Sogar die roten Ameisen bleiben in ihrem Nest, strömen allerdings kampfeslustig hervor, wenn man sie mit einem Stöckchen reizt. Und auch die Haustiere – Pferde, Schafe, Ziegen, Rinder – sind klug genug, sich in dieser Phase des Stillstands im Schatten zu erholen. Der Mensch ist unter allem unbefiederten Getier der Einzige, der so gut es geht in seinen Geschäften fortfährt. Er hat noch viel zu lernen.

Im Juli und August ist es am Morgen klar und blendend hell, kein Wölkchen in der grossen Weite. Gegen Mittag ziehen scheinbar aus dem Nichts über den Bergen Wolken auf, teilen sich, verschmelzen wieder, türmen sich auf wie Schlagrahm, Kartoffelstock, Meeresschaum, stapeln sich zu einem Gebirgszug auf, grösser als die irdische Bergkette darunter, drängeln und reiben sich aneinander. Über dem sonnendurchtränkten Land ist ein Donnergrollen zu hören. Weitere Wolken wachsen aus dem leeren Himmel, ambossköpfige Giganten, in deren Tiefe Blitze aufscheinen. Breiten sich weiter aus, branden heran, wirbelnde und dampfende Bäusche in heimtückischem Violett, nehmen immer mehr Himmelsfläche ein, und dann geht die Schlacht los. Wie Gewehrfeuer schlagen die Blitze durch die Nacht, verbinden Himmel und Erde, bombardieren die Felsspitzen und Zinnen, spalten Bäume, Donnersalven erschüttern die Luft. Es riecht nach Ozon. Wind kommt auf. Die Wolken öffnen ihre Schleusen und lassen Regen fallen, nicht vertikal, sondern in einem Bogen, wie ein leicht über die Wüste wehender Perlenvorhang, nicht sachte, sondern eimerweise, mit Tropfen, die wie Schrotkugeln auf den Fels prasseln. Fünf Minuten hält die Sintflut an, lässt nach, verliert sich zu einem Schauer, dann einem Nieseln, dann nichts mehr. Die Wolken ziehen ab. Ein frisches goldenes Licht bricht sich Bahn, dazu ein doppelter Regenbogen. Das Wüstengewitter ist vorüber, und durch die klare Luft jagen Fahlstirnschwalben und Nachtfalken, geben Hunger- und Warnrufe von sich, vielleicht sind es auch Jubelschreie.

Herbst. Die Touristen sind weg, haben die Wildnis allein zurückgelassen. Wildnis. Das Wort klingt wie Musik. Was bedeutet es? Warum übt es eine solche Faszination aus? Wildnis ist der Ort, an dem das Leben spielt, wo alles stattfindet, was von grösster Bedeutung ist – Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Mondaufgang, jammernde Winde, Stille, Wolkentransformationen, Metamorphosen des Sonnenlichts, sich gelb färbende Blätter, in der Höhe kreisende Bussarde, Adler und Geier. Erinnert an Vergangenes und Unbekanntes, Grenzenloses, Verlorenes, nie mehr zu Erlangendes. Und doch ist sie da, die Sehnsucht. Eine Art Loyalität gegenüber der Erde vielleicht, die uns geboren hat und ernährt, unsere Heimat, das Paradies, dessen wir bedürfen – hätten wir nur mehr Augen dafür. Eine Zivilisation, die das Wenige, das noch von der Wildnis übrig ist, zerstört, schneidet sich von ihren Wurzeln ab. Wir bedürfen der Wildnis, ob wir einen Fuss in sie setzen oder nicht. Ein Mensch kann ein Liebhaber und Verfechter der Wildnis sein, ohne jemals in seinem Leben die Grenzen des Asphalts, der Stromleitungen und der rechtwinkligen Flächen zu verlassen. Wir bedürfen der Fluchtmöglichkeit so sehr wie der Hoffnung.

Auch der Ranger muss das Canyonland verlassen, wenn auch nur für eine Saison. Eine bittere Angelegenheit, die Rückkehr in die Zivilisation. Der Kaninchenstrauch in voller Blüte. Die Steppenläufer in Bewegung, Tausende rollen mit dem Wind über die Ebene. Auf den Bergflanken ist eine Art gelber Ausschlag ausgebrochen – die Espenwälder in ihrer herbstlichen Pracht. Allabendlich Sonnenuntergänge, die eines Menschen Gutgläubigkeit auf die Probe stellen, blutrünstige Improvisationen in Scharlachrot und Gold. Worauf unweigerlich die Nacht mit ihrem Blendwerk aus Sternen in Silber, Smaragd und Saphirblau hereinbricht. Ein Schneesturm scheint sich anzukündigen. Die letzte Tour durch den Park, dann Übergabe an die Winterwinde und den Schnee, den hungernden Hirsch, den Nacktschnabelhäher und die von keinem Gedanken unterbrochene Leere und Stille. Kann es sein, dass dieses liebliche, unberührte, ursprüngliche Land einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstösst, ein Windgeflüster, darüber, dass endlich alle gegangen sind und der Ort zu den uralten Lebensweisen zurückkehren kann?

Wieder so ein Ausdruck menschlicher Eitelkeit. Die beste Eigenschaft dieses Felsgesteins, dieser Pflanzen und Tiere, dieser Wüstenlandschaft liegt in ihrer offensichtlichen Gleichgültigkeit gegenüber unserer Anwesenheit, unserer Abwesenheit, unserem Kommen, Bleiben oder Gehen. Ob wir leben oder sterben, schert die Wüste nicht.

Der erste Satz: Vor etwa zehn Jahren trat ich an einem Ort namens Arches National Monument für eine Saison eine Stelle als Park Ranger an.

Meine liebsten Sätze:

Denn am Horizont zieht eine Wolke auf. Eine kleine dunkle Wolke, nicht grösser als meine Hand. Ihr Name ist Fortschritt.

Denn die Wildnis ist kein Luxus, ist vielmehr eine Notwendigkeit, so unerlässlich wie Wasser und gutes Brot.

Der letzte Satz: Falls ich wiederkomme.

Walter Kappacher: Land der roten Steine

Warum habe ich das Buch gekauft? Wegen der roten Steine natürlich. Wie oft war ich schon dort, in diesen gewaltigen Landschaften mit den farbenfrohen Felsen, Pfeilern, Spitzen, Bögen, Brücken, Höhlen, Schluchten – Grand Canyon, Painted Desert, Antelope Canyon, Arches, Goblin Valley, Escalante, Yosemite, Natural Bridges, Mojave, Sonora, Anza-Borrego, Joshua Tree, Chihuahua, Yellowstone, Bryce Canyon, Zion, Capitol Reef, Canyonlands, Death Valley und so weiter. Es war jedes Mal einmalig, faszinierend, atemberaubend, ehrfurchtgebietend, relativierend, angesichts der Kleinheit des Menschengeschlechts, und ich werde wieder gehen, noch dieses Jahr vielleicht.

Was sagen andere zu der Geschichte? Von einer überaus zerbrechlichen Erfahrung des Heiligen ist die Rede, einer Anleitung zur Melancholie, von geerdeter Erzählweise, geprägt von Kargheit und Metaphernscheu. Manche langweilen sich angesichts der detaillierten Beschreibungen stundenlanger Wanderungen, geführt von einem wortkargen Navajo, der nicht versteht, wozu die allseits gelobte und gelebte Geschwindigkeit des modernen Lebens gut ist. Eine Sammlung von Reisenotizen von seltsamer Uninspiriertheit, ein Selbstfindungstrip eines im Leben Gescheiterten, der in den amerikanischen Canyonlands einen neuen Lebenssinn sucht. Erfahrung des Heiligen? Lebenssinn? Gibt es das überhaupt? Ich glaube nicht. Ich habe das Buch trotzdem gelesen. Nicht wegen des suchenden Helden, sondern, ja eben: wegen der roten Steine.

Es besteht aus drei Kapiteln, mit lateinischen Überschriften: Vita nuova, De vita beata, La vita breve, warum auch immer. Im ersten steht der Protagonist, ein kurz vor der Pensionierung stehender Allgemeinmediziner, vor einer Reise durch den amerikanischen Südwesten, rekapituliert die Beziehung zur verstorbenen Ehefrau, zu einem toten Freund, zum sterbenden Vater. Im dritten ist er wieder zuhause, weiss nicht so recht, was ihm die Reise gebracht hat. Dazwischen reist er in den Canyonlands-Nationalpark in Utah. Wunderbar die Beschreibungen der Landschaft, in der sich das rote Gestein in Szene setzt, gemustert, gesprenkelt, liniert, bild- und farbgewaltig, des feinen Staubs und der Erde, der Hitze am Tag, der Kälte in der Nacht, dennoch fällt es schwer, es sich vorzustellen und mitzuerleben, zu monumental ist die reale Welt. Auffällig gewisse Schreibweisen, so die vielfach verwendeten «welcher, welche, welches» anstelle der schlankeren «der, die, das», fehlende Bindestriche in Zusammensetzungen («Canyon Felsen», «Four Corner-Gebiete», «La Sal-Berge», «Spanish Bottom Halde», «Orange Cliff-Gebiet»), Wörter wie «Tuchent», «Todholz» oder «Rancher», kombiniert in «Rancher-Station» und «Park-Rancher» – ist nicht vielleicht der «Ranger» gemeint? Oder ist das alles gewollt, spezifisch österreichisch?

Michael Wessely erinnert sich an den Besuch der Needles vor vier Jahren. Wie er Lust bekam, da einmal mit Rucksack und Wanderstock unterwegs zu sein, ohne zu wissen, warum dieser Geröllgraben solche Sehnsüchte in ihm weckte. Beugte sich immer wieder über die Landkarte. Sah, dass der Colorado zu Fuss leicht erreichbar war, das Gebiet jenseits des Flusses «The Maze» heisst und es dort Wanderwege gibt. Las im Reiseführer, The Maze sei das abgelegenste und wildeste Gebiet des Nationalparks und wahrscheinlich der gesamten USA. Für eine Fahrt dorthin müsse man alles mitbringen, vor allem genügend Trinkwasser, es gebe keine Läden, keine Unterkünfte, nichts dürfe hinterlassen, kein Steinchen aufgeklaubt werden. Mit dem Lineal mass er die Strecke und überlegte sich, ob es möglich sei, vom Endpunkt des Weges in den Needles zu Fuss zu den Standing Rocks zu gelangen.

Eines Tages bekam er aus den USA ein Buch zugeschickt, ohne Absender, das Co. auf dem Poststempel könnte Colorado bedeutet haben. Von Monica? Oder doch eher von seinem Freund Hans? Ein Buch von Edward Abbey, Désert solitaire, eine Art Bibel der südwestamerikanischen Wüsten, das leider immer noch nicht auf Deutsch übersetzt wurde (inzwischen gibt es eine deutsche Übersetzung). Verschlang es vom ersten Satz an. Besonders der letzte Teil, in dem der Autor eine Fahrt in The Maze schildert, beeindruckte ihn tief. Wessely beschloss zu handeln, buchte einen Flug nach Salt Lake City und einen Platz auf einer Reise «ins Herz von Canyonlands». Start in Moab.

Moab, ich erinnere mich. An das gemütliche Hotel, den Besuch im Café, den Gang durch die Stadt, die vielen Rock Shops mit den wunderschönen Steinen, Mineralien und Fossilien in allen möglichen Farben, Mustern, Schattierungen, Schieferungen, von denen ich nie genug haben kann. Kaufte mir einen rot-orangen Stein mit fossilisierten Glossopteris-Blättern aus der Gondwana-Zeit (dreihundertsechzig bis hundertachtzig Millionen Jahre vor unserer Zeit), einen Trilobiten auf hellem Sandstein, eine Sandrose, einen tiefgrün schimmernden Malachit, einen indigoblau melierten Azurit, ein versteinertes Stück Holz und sonst noch das eine oder andere, liegen jetzt versammelt in einem Bastkörbchen, immer wieder schön anzuschauen, dem Alltagsstaub und der weiteren Verwitterung ausgesetzt. Ich schweife ab.

Wessely wird abgeholt, er ist der einzige Gast auf der Tour. Die Route muss kurzfristig geändert werden. Vor Jahrzehnten wurde in Canyonlands Uran abgebaut. Für den Abtransport des Erzes gab es Zufahrtsstrassen und Schienen. Nach ein paar Jahren war klar, dass sich der Abbau nicht lohnt. Wind, Regen- und Schneestürme putzten die dafür angelegte Piste weg. Seither ist der steile, kurvige Flint Trail nicht mehr befahrbar. Im Untergrund befinden sich noch Uranrückstände und Ölreste, bei Regen verklebt diese Mischung die Reifen. Im Übrigen soll man sich nicht zu lange dort aufhalten, eine schwache Strahlung sei noch immer vorhanden. Wessely ist entsetzt, hat sich vorgestellt, The Maze sei der Inbegriff von unberührter Natur, in die nur ab und zu der eine oder andere Jeep eindringt.

Der Chevrolet ist für die Expedition ausgerüstet. Everett Kish fährt ihn, Angehöriger der Navajo Nation, benannt nach Everett Ruess, amerikanischer Maler, Dichter und Abenteurer, der im Alter von siebzehn Jahren von Los Angeles aufbrach, um die wüstenhaften Weiten des amerikanischen Südwestens mit zwei Eseln zu durchqueren. Durchstreifte von 1931 an jedes Jahr von Frühjahr bis Herbst abgelegene Gegenden, am Ende noch einmal das Monument Valley, den Grand Canyon, südliche Gegenden von Arizona, ritt wieder hinauf nach Utah. Wollte sich entlang des Escalante River zum Colorado im Süden durchschlagen, ihn überqueren, um zu einer Ansiedlung der Indianer zu gelangen. Hatte sich schon mehrfach in Indianer-Ansiedlungen nahe des Navajo Mountain aufgehalten, ihrem heiligen Berg, hatte ihre Sprache erlernt, sodass das Gerücht entstand, er sei bei den Indianern geblieben. Nicht weit vom Colorado entfernt verloren sich seine Spuren. Ein Esel wurde gefunden, Jahre später in einer Schlucht sein leerer Rucksack. Ist vielleicht bei einer Klettertour abgestürzt oder von Viehdieben ermordet worden. In den späten Dreissigerjahren entdeckte man Felsgravierungen von ihm, mehrmals das Wort «Nemo» und dazu jeweils die Jahreszahl 1934. Das alles ist seit der Überflutung des Lake Powell nicht mehr zu sehen.

Der Himmel ist trüb, hier und dort glänzen Wasserpfützen auf dem Weg. Die Landschaft wird karger. Beidseits der Strasse in einiger Entfernung sind flache Felsenberge zu sehen, ab und zu Wacholdersträucher, später Brandreste von Wacholderbäumen und -sträuchern. Wacholder, immer wieder Wacholder, in allen möglichen Formen und Lebensstadien. Erinnert mich an eine andere Geschichte: «Wacholder, das Wort kam ihm in den Sinn. Was für ein schönes Wort. Er sprach es laut: Wacholder. Das waren so kleine schwarze Beeren, mit denen seine Mutter den Fisch gegart hatte. Peter versteckte sich auf dem Dachboden, liess sich nicht blicken, bis die Mutter abgereist war.» Oder nochmals Edward Abbey: «Weiss ein Mensch nur genug, kann er ein ganzes Buch über den Wacholder verfassen.»

Kish reisst das Lenkrad herum, fährt auf einen steinigen Weg, der bald nur noch aus grobem rotbraunem Sand besteht. Man wolle nicht, dass jedermann in diesen Teil des Nationalparks hineinfahre, die Touristen hätten ja Arches, Needles und Island in the Sky. Auf der Karte ist die Piste gestrichelt dargestellt, das heisst: Vierradantrieb und ausreichende Bodenfreiheit. Mittagspause. Wessely erklettert eine Anhöhe, vorbei an niedrigen graugrünen Büscheln, ab und zu groteske Gebilde von Totholz, uralte Reste von Wacholderbäumen, steht dann vor einer eindrucksvollen Formation, dem Rest eines Tafelgebirges, schmale hohe Felswände, rötlich gefärbt, immer wieder von Spalten durchbrochen, sehen aus wie nebeneinandergestellte monumentale Bücher oder die Überreste des Gebisses eines urzeitlichen Monsters. Kish mahnt zur Eile, sonst würden sie den Campground nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.

Sie fahren schnell, fünfzig Meilen, der Wagen schlingert von einem Wegrand zum andern. Manchmal rutscht ein Rad ab und damit der ganze Wagen, kracht dann derart nieder, dass man fürchtet, es gehe nicht mehr weiter. Aber es geht weiter. Ein Weg oder eine Piste ist schon lange nicht mehr zu erkennen. Der Boden wird immer nasser. Es hat also tatsächlich geregnet. In den Pfützen spiegelt sich der blaue Himmel. Ein Windstoss setzt kugelrunde, ausgetrocknete, wurzellose Büschel in Bewegung. Immer wieder müssen sie langgestreckte Tafelberge umfahren, flache, abgestufte, abbröckelnde Bergrücken, die die ursprüngliche Höhe des Colorado-Plateaus sichtbar machen. Eine unvorstellbar grosse Gesteinsplatte, die sich von Wyoming bis Arizona und New Mexico hinunterzieht. Ab und zu Cairns, aufgeschichtete Steine, die nach links oder rechts weisen. Es gebe nicht nur eine Route in The Maze, sagt Kish, und die Fahrverhältnisse würden sich von Jahr zu Jahr verändern, man könne sich nicht vorstellen, mit welcher Gewalt im Spätherbst und Winter Stürme, Regen, Schnee und Hagel hier wüteten. Immer wieder steigt er aus, überlegt, wie er einen Steilhang bewältigen könnte, vermisst Stellen mit dem Hosengürtel. Linkerhand in der Ferne taucht ein langgezogenes Massiv auf, der Teapot Rock. Nach einer halben Stunde, als er wieder sichtbar wird, sind sie ihm kaum nähergekommen.

Kish wird immer redseliger, je anspruchsvoller die Strecke wird. Warum der Teapot Rock so heisse, werde ihm erst klar, wenn sie dicht an den beiden Töpfen vorbeiführen. Eigentlich sind es zwei Erhöhungen nebeneinander, zwei Töpfe, beim zweiten Topf fehlt der Knopf des Deckels. Noch steht der Cataract Canyon bevor, einer der gefürchtetsten Abschnitte des Colorado, gefürchtet vor allem von unerfahrenen Schlauchboottouristen. Im Osten über dem Lizard Rock in einer diesigen Schicht ein langgezogenes Gebirge mit einer Schneeschicht auf den höchsten Erhebungen, die La-Sal-Berge. Am Fuss dieser Berge, in La Sal Junction, habe er mit seiner Frau vor zehn Jahren angefangen, ein kleines Haus zu bauen, es sei immer noch nicht fertig. Er deutet auf die endlose Reihe von seltsam geformten Sandsteinformationen am östlichen Horizont, die Fins. Dahinter tief unten fliesst der Colorado. Wessely wollte eigentlich mit dem Fotografieren anfangen, doch immer wieder denkt er, eine Fotografie könne niemals wiedergeben, was er sieht.

Sie gelangen in ein weitläufiges, breites Tal, das aus unzähligen Klüften und Canyons besteht. Der Untergrund ist der in Millionen von Jahren zerriebene Sand der Butten und Tafelberge. Linkerhand ein immer wieder eingebrochener Tafelberg aus verschiedenfarbigen Schichten. In einiger Entfernung eine zerbröselte Butte in Kegelform. Weiter hinten, mit freiem Auge kaum zu sehen, merkwürdige Erhebungen. Das ganze Tal ist mit grünen Wacholderbüschen und einzelnen Wacholderbäumen bewachsen. In einiger Entfernung muss sich das Land of Standing Rocks befinden, die endlosen zerklüfteten Canyon-Einschnitte sind deutlich zu erkennen. Ein etwa drei Meter hohes Felsenmonument wirkt mit seinen Bruchlinien, als wäre es aus gleichfarbigen grossen Steinen kunstvoll zusammengefügt und glattgeschliffen worden. Ein magisches Kunstwerk, errichtet womöglich von den Indianern der Vorzeit? Ein zweiter Fels, halb so hoch, liegt dem ersten wie ein Bruchstück eines monumentalen versteinerten Baumstamms gegenüber. Der ganze Berg mit seinem zersplitterten Kamm ist von unzähligen mächtigen Gewitterstürmen gezeichnet.

Der Beginn des Maze. Im Schatten der Bäume stapfen sie ein felsiges, später von Dünen, rötlichen Felsbrocken und grünen Büscheln bedecktes Terrain hinunter, und schon liegt das von Felsschluchten durchzogene Land of Standing Rocks vor ihnen, für die Navajo immer noch eine Art heiliger Bezirk, wenn auch viele von ihnen ihre religiösen Gefühle verloren hätten, meint Kish. Früher sei das Gebiet viel fruchtbarer gewesen. Vor siebenhundert Jahren hätten sie hier Mais und Bohnen angebaut. Noch Hunderte Jahre später trieben Bauern aus der Gegend der Stadt Green River vom Frühjahr bis Spätsommer ihre Kühe auf die Weiden. Heute gebe es weit und breit kein Wasser mehr. Im Frühling, wenn es tage- und wochenlang regne, erblühe The Maze in allen Farben. Blumen, die nur noch hier wüchsen, Gräser, plätschernde Bäche. Rehe hätten hier gelebt, Bighorn-Schafe, Hasen, Raubvögel, Pumas und andere Tiere, jetzt gebe es wahrscheinlich nur noch Hasen, Bergschafe, Pumas und Kojoten.

Als sie das Camp erreichen, beginnt es zu dunkeln. Wessely stellt das Zelt auf, Kish kocht und erklärt Wessely die Waschanlage (eine Eisenbüchse mit einem Loch an einem Draht an einem Wacholderast) und die Toilette (ein dunkelblaues Metallklosett, das er vor Jahren aus Militärbeständen erworben hat). Achtung auf die Soil Crusts, von Cyanobakterien gebildet, gehören zu den ältesten Lebensformen auf der Erde, können von einem einzigen Fusstritt zerstört werden. Das Essen findet im Dunkeln statt, mit einer Gaslampe auf dem Klapptisch. Immer klarer werden die Sterne sichtbar. So einen Himmel hat Wessely noch nie gesehen, die Sterne scheinen der Erde näher gerückt zu sein. In der Nähe schreit ein Tier. Ein Kojote? Ein Puma?