Wolkig, zeitweise Sonne - Katrin Züger - E-Book

Wolkig, zeitweise Sonne E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

Es geht um Menschen, die beobachten, sich Gedanken machen, über sich und das Leben, ihr Verhalten und das ihrer Mitmenschen, ihre Stellung in der Natur, im Universum, über Glück und Unglück; Menschen, die träumen, sich weiterentwickeln oder auch nicht.

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Katrin Züger, 1952 geboren. Studium der Germanistik, Philosophie und Komparatistik sowie der Betriebsökonomie FH. Von 1996 bis 2011 an der Universität Zürich tätig, daneben Lehraufträge an der Universität Zürich in Linguistik und Unterricht an der Schule für Angewandte Linguistik SAL in Zürich. Diverse Fachpublikationen. Seit 2011 eigenes Schreibbüro »Text und Kontext« (www.textundkontext.ch). 2012 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung »Meine Welt hat in einem Schächtelchen Platz«, 2013 folgte »Strandsteine in der Atacama« und 2015 »Flaches Land«. Katrin Züger lebt in Aeugst am Albis.

Ferner bitte ich dich, bedenken zu wollen, dass sich alles immer ändert, die Tageszeiten, Morgen, Mittag und Abend.

Robert Walser, Poetenleben

John nahm sich vor, die Menschheit zu beobachten. Wenn sie lernte, musste etwas davon zu merken sein.

Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit

Ein Meisterwerk der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, weil er bei allem Determinismus glaubt, er agiere als freies Wesen.

Georg Christoph Lichtenberg

Hingegen leidet das Insekt durch seinen Tod noch nicht so viel wie der Mensch durch dessen Stich.

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung

Auch wenn ich in Gedanken anerkennen kann, dass ein anderer Mensch ein lebendiges Wesen ist wie ich, hat er für mein wahres Ich stets weniger Bedeutung als ein Baum, wenn der Baum schöner ist.

Fernando Pessoa, Buch der Unruhe

»Wenn du ein Baum bist, musst du bedenken, dass Baumzeit ganz anders ist als Menschenzeit«, belehrte sie der Fuchs.

Swain Wolfe, Die Frau, die in der Erde lebt

Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen oder sind; aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt?

Gottfried Keller, Briefe

Inhalt

Scharfer Frost und dichter Nebel

Grundstück am See

Rosettas Stein

Das Verschwinden der Sterne

Bücherwanderung

Umleitung

Wegweiser

Blick in die Berge

Schroffes Gelände

Die Erfahrung der Welt

Mirko ist gestorben

Eine gute Nachricht

Die Klavierspielerin

Der Kuckuck

Die Wand

Meine Freundin Ada

Jenny

Natascha

Saskia

Wümmler

Ketterer

Herr Hades

Frau Bose

Kältetod

Namenstag

Hoffnungsschimmer

Frühstückseis

Die Häscher

Letzte Reise

Das schöne Kleid

Das alte Tram

Neandertaler und Ewenken

Himmel und Hölle

Querereien

Der Regenbogen

Das Telefon

Der Steinbruch

Annas Schiff

Scharfer Frost und dichter Nebel

Mila geht zu einem Wäldchen am Ufer des Sees. Sieht Blässhühner an der Arbeit. Der Nebel lichtet sich, die Sonne bricht durch. Der frisch gepflügte Acker ist von Krähen und Staren bevölkert. Unverwüstliche Gänseblümchen säumen den Weg. Kaum geköpft, wachsen sie wieder nach. Noch ist Sommer. Spätsommer. Mücken tanzen im Sonnenlicht. Ein Mäuschen wagt sich hervor, schnuppert hier und da, begleitet Mila ein Stück, bevor es wieder im Unterholz verschwindet. Dort locken die roten Beeren das Aronstabs. Sie sind giftig, doch der Aasgeruch ist verschwunden. Von ferne ist das Lachen eines Grünspechts zu hören. Oder ist es ein Eichelhäher? Eine Ringelnatter schlängelt sich durch das Blattwerk der Seerosen. Ein toter Igel liegt zusammengerollt am Wegrand. Das Schilf steht jetzt so dicht, dass es den Durchgang von beiden Seiten bedrängt. Schachtelhalme mischen sich darunter, erstaunlich mächtige, versuchen die Schilfrohre zu übertrumpfen. Lebende Fossilien, stolze Zeugen alten Lebens, als es noch keine Menschen gab. Wachsen seit dreihundert Millionen Jahren auf der Erde, fast unverändert, nur an Grösse haben sie eingebüsst, waren einmal bis zu dreissig Meter hohe Bäume, bildeten die ersten Wälder der nördlichen Hemisphäre und vermoderten dann zu Steinkohle. Vom See ist kaum etwas zu sehen. Die Teichrohrsänger, die im Frühling gerne von Stängel zu Stängel hüpfen und ihren leisen, rhythmischen Gesang erklingen lassen, sind nicht mehr zu hören, und die Iris, die leuchtend blau aus dem durchsichtigen Grün hervorstachen, sind längst verblüht und protzen jetzt mit dicken Kapselfrüchten.

Ein Mann steht am Geländer und wirft einen Zwanziger in den Kanal. Mila geht vorbei, denkt sich nichts dabei. Am Horizont leuchten die Berge. Morgenrot, Abendtod, hat ihre Grossmutter jeweils gesagt. Meistens stimmte es. Als Mila zurückschaut, steht der Mann noch immer da, starrt aufs Wasser, wartet, auf die Vermehrung seines Zwanzigers vielleicht, oder eine neuzeitliche Pflanze, die daraus erwächst. Er sieht verwahrlost aus. Jetzt wundert sich Mila doch ein wenig.

Auf den Wiesen ist die Heuernte in vollem Gang. Nach dem vielen Regen ist es höchste Zeit. Es gibt kaum mehr Wildblumen. Die eine oder andere Skabiose, wilde Malven, Wegwarten. Und gewöhnlicher Hornklee. Sommervögel flattern herum, Kohlweisslinge, Bläulinge, kleine Füchse, Kaisermäntel. An den Bäumen und Sträuchern reifen die Beeren. Die Vogelbeeren der Eberesche, wilde Himbeeren, Brombeeren, Hagebutten. Von den Vögeln noch weitgehend in Ruhe gelassen. Der Weg steigt nun an, gibt den Blick auf den See frei. Haubentaucher paddeln vorbei, halten gehörig Abstand. Stockenten ruhen sich am Ufer aus, meistens als Paar, manchmal zu dritt, oft ein Männchen, zwei Weibchen. Im Wald ist es kühl. Mila ist froh darum, denn die Sonne hat sich durchgesetzt, hat die letzten Wolkenfetzen zum Schmelzen gebracht. Ein paar Jungs haben den Fischersteg in Beschlag genommen. Hoffentlich wissen sie, wie man Fische artgerecht fängt und fachmännisch tötet. Denn das wollen sie doch, sie fangen und töten, um sie zu essen, weil sie Hunger haben. Ein paar Laubbäume zeigen Lust, sich zu verfärben. Ein Baumstumpf ist über und über mit Pilzen behangen, braunorange mit hellgelben Lamellen, fast ohne Stiel. An einem toten Stamm, den kaum mehr etwas zusammenhält, lagern Zunderschwämme.

Die Strasse dröhnt. Verdirbt die Stimmung. Trupps von Motorrädern donnern vorbei. Haben nichts Besseres zu tun. Spüren nicht, wie sie stören. Am Himmel bilden sich neue Schlieren. Wind kommt auf, noch zeigt er sich mild. Mila geht auf einem verborgenen Pfad, der ans Ufer hinunterführt, setzt sich hin und wartet. Er kommt fast immer, früher oder später, der Eisvogel, der hier in der Nähe in einem der lehmigen Hänge sein Nest haben muss. Hockt sich gern auf einen toten Ast, der einmal ein Baum war und jetzt einsam und blank gescheuert aus dem Wasser ragt. Späht nach Nahrung, die vorüberfliesst. Sein Gefieder glitzert blau und orange im Abendlicht. Die Sonne ist jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Wolken haben sich verdichtet, drängen in den Vordergrund. Erste Tropfen fallen. Zwischendurch ein Regenbogen, der sich über den See spannt. Dann ist es nur noch grau. Blitz und Donner kündigen sich an. Ein wütender Windstoss bringt den Wald zum Seufzen. Mila macht sich auf den Weg.

Grundstück am See

Was ist mit den Menschen, dass du sie nicht magst? fragt Rudi. Die Menschen sind mir egal, sagt Meret. Sie sind ja einfach da und können nichts dafür. Man kann ihnen aus dem Weg gehen, wenn auch nicht ganz. Man muss sich mit ihnen abgeben. Das erfordern die Tradition, die Gesellschaft, die Umstände. Man ist nicht allein auf der Welt. Und manchmal ist man froh um sie. Ein bisschen viele sind es halt, und es werden immer mehr. Man fragt sich, woher sie alle kommen. Was mich stört? Ihre Sorglosigkeit. Meinen, ihnen gehöre die Welt. Sehen nur sich, breiten sich aus und hinterlassen ein Trümmerfeld. Reden vom Schöpfer, der es so gewollt hat. Machen Berge platt, rotten Pflanzen aus, fällen Bäume, lassen Vögel in Fensterscheiben fliegen und Flüsse zu Rinnsalen verkommen, jagen Wölfe, zwingen Tieren ihren Willen auf, statt sie ihr Leben leben zu lassen. Ich will, dass es noch Wildnis gibt.

Meret lebt auf einem Grundstück am See, hat es von einer entfernten Verwandten geerbt. In einem alten, einst herrschaftlichen Haus, mit Blick aufs Wasser. Ist nicht mehr ganz jung, war nie schön, hat nie durch ihr Äusseres Aufmerksamkeit erregt. Hat es trotzdem geschafft, als Forscherin. Hat das Leben der Quallen studiert. Quallen sind interessante Wesen, gehören zu den ältesten Tieren der Erdgeschichte, haben fast siebenhundert Millionen Jahre Evolution überdauert, bevölkern noch heute die Ozeane, bestehen zu neunundneunzig Prozent aus Wasser, töten Plankton und kleine Fische mit Gift, können auch Menschen gefährlich werden. Ihnen gehört die Zukunft.

Das ist lange her. Man kennt Meret im Dorf. Eine mürrische, eigenbrötlerische, menschenfeindliche ältere Dame. Um den See herum gibt es zauberhafte Natur, Röhricht, Sträucher, Bäume, Wasservögel, Singvögel. Die Natur spart nicht, sie prasst mit Formen und Farben. Aber sie verschwendet nicht, alles wird wieder verwertet, selbst ein Schneckenhäuschen, das eine Mauerbiene zur Kinderstube für ihre Bienenlarve ausgebaut hat. Meret möchte sie schützen, die Natur, vor den Menschen, die alles vereinnahmen, bedrängen, zerstören. Sie wollen ihr Grundstück, für einen Zugang zum See, um dort zu baden. Die Leute im Dorf verstehen sie nicht. Was sie gegen die Menschen habe, fragt man sie. Es gehe um die Vögel, nicht um die Menschen, sagt Meret. Wir tun doch den Vögeln nichts, sagen die Leute. Wollen doch nur ein bisschen planschen, tauchen, um die Wette schwimmen, ein Freizeitzentrum bauen, Arbeitsplätze schaffen.

Grün ist es jetzt draussen, im Frühling, wo es auf den Sommer zugeht. Der Raps ist schon verblüht, die Rispen stehen hoch, reifen heran, werden bald geschnitten. Meret schaut dem Sinken der Sonne zu, auf einem Findling in ihrem Garten sitzend, ein Konglomerat aus bunten Brocken, in Urzeiten zusammengebacken, von einem mächtigen Gletscher hierher verfrachtet und erschöpft liegen gelassen. Denkt an den Film, kürzlich im Fernsehen, über das Tal mit den bizarren Felsformationen, die der Erosion trotzen, wie Mahnmale in den Himmel ragen und als Kulissen für Westernfilme herhalten müssen. Land der Indianer. Navajo. Ein Country-Sänger hat sich in das Land verliebt, will Cowboy-Lager organisieren, den Leuten zeigen, wie es ist, eine Woche wie zu Cowboy-Zeiten zu leben. Warum Cowboys, die dort nicht hingehören, warum nicht Indianer, in ihrem angestammten Land, die einst von den Cowboys verjagt, verschleppt, entwürdigt wurden und sich immer noch gegen die Eindringlinge behaupten müssen? Meret schüttelt den Kopf.

Sie hatte ein gutes Leben. Sie braucht die Menschen nicht, ein paar wenige nur, zum Einkaufen, Esswaren, Wäsche, Putzmittel, die eine oder andere Medizin. Trinkt guten Wein, geniesst die Stille, den Gesang der Vögel, das Rauschen der Bäume im Wind. Schreibt Tagebuch. Liest die alten Philosophen, nichts, was zu einer menschenfreundlichen Haltung beiträgt. »Der Mensch nämlich ist das grausamste Tier. Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, da war das sein Himmel auf Erden.« Es fühlt sich richtig an, immer mehr, je älter sie wird. Es ist gut, sich klein und unbedeutend zu machen, unsichtbar über die Erde zu wandeln und spurlos zu verschwinden.

Am Ende gibt sie doch nach und macht den Weg frei über ihr Grundstück zum Wasser, aber nur einen sehr schmalen.

Rosettas Stein

Nichts würde Rosetta daran hindern, es wieder zu tun. Dieser Stein. Er lag in ihrer Hand, wartete darauf, geworfen zu werden. Rolf würde nichts merken. Er würde auch nichts abbekommen. Dann war es so weit. Er kam nach Hause. Er hatte die letzten Jahre auf dem Meer verbracht. Es war nicht seine Schuld. Jetzt stand sie da und träumte. Von Wellen und Schaumkronen. Das Meer, unergründlich, smaragdfarbene Ewigkeit. Rosetta setzte sich hin, auf einen Felsblock, und verlor sich in der Betrachtung. Sah plötzlich Geisterschiffe durch den Dunst schweben. Dem Meer war es egal, was auf dem Land geschah. Es schlug wie eh und je, seit Millionen von Jahren, gegen die Klippen. Färbte sie kieselgrau, schliff sie glatt, schuf Brüche, Kerben, Spalten und Abgründe. Rosetta wünschte sich, wie das Meer zu sein. Sie knipste ein paar Bilder, verwaschene, verwischte, verwunschene Traumbilder voller geheimnisvoller Farben und Linien, indem sie die Kamera seitwärts schwenkte, ging ein Stück weiter, zum nächsten Schauplatz, setzte sich hin, auf einen Felsblock, hing ihren Gedanken nach. Die Zeit dehnte sich, bis sie stillstand.

Weit draussen lag eine Insel, ein Felsen vielmehr, von Vögeln in Beschlag genommen. Ein fernes, aber erreichbares Paradies. Möwen, Kormorane, Reiher. Ein geschäftiges Kommen und Gehen, irgendwoher, irgendwohin. Besonders die Möwen sorgten für Unrast, stiessen schrille Schreie aus, als würden sie sich über etwas beschweren. Als Rosetta abends nochmals vorbeikam, waren sie weg. Das war ungewöhnlich. Wohin waren sie verschwunden, alle zusammen? Sie vernahm ein leises Rumpeln in der Erde, verlor einen Moment lang das Gleichgewicht, fasste sich wieder. Eine unirdische Stille legte sich wie ein sich ausbreitender Ölteppich über die Landschaft. Auch die melodiösen Rufe der Haubenlerchen mit dem kecken Schopf, die man wegen der unauffälligen Färbung nur hörte, nicht sah, wenn sie tagsüber das trockene, ausgedünnte Grasland durchstreiften, und die Trompetengesänge der Wüstengimpel, die nur in diesen südlichen Gefilden vorkommen, waren verklungen. Selbst das Meer beruhigte sich. Ohne die Peitsche des Windes lag es da, glatt und tiefblau, wirkte seltsam dickflüssig, als könnte man darüber gehen, ohne zu versinken.

Die Sonne rutschte langsam hinter die Hügel, die sich neben dem Strand auftürmten und im Gegenlicht immer schwärzer wurden. Der Himmel trotzte der Entfärbung und behielt noch eine Weile sein von feinen weissen Linien durchzogenes Blau. Rosetta begann zu frösteln und kehrte ins Haus zurück, das sie gemietet hatte, um ein paar Wochen mit Rolf zu verbringen, unter der Sonne des Südens, die sich so viel freundlicher zeigte als die zuhause, wenn es nicht gerade regnete und stürmte wie in den vergangenen Tagen. Aber Rolf kam nicht.

Manchmal fand es Rosetta schön, das Leben. Wenn die Sonne schien, wenn sie nicht grübelte, wenn sich Rolf mit ihr freute, wenn sie zusammen einen Ausflug machten, zum Beispiel in die mittelalterliche Stadt, wenn sie die alten Gebäude betrachteten, den Garten mit den Rosen und ihren anmutigen Namen, wenn sie den Hirschen zuschauten, ihr blutwarmes und pulsierendes Geweih berührten, darüber staunten, wie über die absterbenden Bäume, die säuberlich auf einer Tafel vermerkt waren, damit jeder es beachte, das Sterben der Bäume, der Wälder, der Natur, der Lebensgrundlage. Wenn nicht einmal die Menschenmassen, die sich auf der Uferpromenade tummelten, ihren Frieden zu stören vermochten, sie vielmehr in sie eintauchten, sich sogar zum Kaffeetrinken niederliessen, ein paar belanglose Worte wechselten, mit den Blicken die Enten auf dem dahineilenden Wasser des Flusses begleiteten, dann war es schön, hier zu sein.

Im Nachhinein war es ein Traum. Die Grenzen verschwammen. Vielleicht war das ganze Leben ein Traum, sodass es sich nicht lohnte, Dinge real zu erleben, weil man sie sich ja erträumen konnte. Weil sie, wenn nicht im Moment, so doch nach kurzer Zeit als unwirklich erschienen, nie dagewesen, nur in der Vorstellung präsent. Als Rosetta versuchte, sich an Einzelheiten des Ausflugs zu erinnern, war sie nicht sicher, ob es tatsächlich so gewesen war. Ein Gefühl des Grauens beschlich sie.

Sie sass zuhause am Schreibtisch, mit Blick in den Frühling. Grüne Wiesen, Sträucher, blühende Bäume, gelbe Rapsfelder, blauer Himmel. Liess den Blick schweifen über die Vielfalt der Farben und die Geschäftigkeit der Vögel. Eine riesenhafte Krähe hatte sich zuoberst auf die Föhre gesetzt, die das Haus überragte. Zwei Elstern kamen geflogen, attackierten die Krähe. Sie flatterte auf, versuchte zu entkommen, hatte den Angreifern trotz ihrer Mächtigkeit ausser Flucht nichts entgegenzusetzen. Die Elstern verfolgten sie, griffen immer wieder an, hackten sie mit dem Schnabel. Es gelang der Krähe, sich frei zu fliegen, sich auf den Giebel eines Dachs zu retten. Die Elstern bemächtigten sich des anderen Endes des Dachs, liessen die Krähe nicht aus den Augen. Sehr beunruhigt wirkte diese nicht. Alltag für sie? Vielleicht deshalb hielten sie sich so gern in Rudeln auf. Doch allzu oft waren die Krähen die Angreifer. Bedrängten Rotmilane, die über dem Forst oder der offenen Landschaft kreisten, einfach so, ohne Not, verloren nach einer Weile das Interesse, wandten sich anderen Dingen zu, während der Milan weiter seine Kreise zog. War es Neid, weil keine Krähe so schön im Wind zu segeln vermochte wie ein Milan?

Es hatte wieder zu stürmen begonnen. Alles war grau, nass und glitschig. Hell und Dunkel flossen ineinander. Der Regen peitschte gegen die Scheiben, spritzte durchs offene Fenster, aufs Fensterbrett, auf den Teppich, auf die aufgestapelten Bücher. Der Wind warf sich gegen Häuser, Bäume und Menschen, die sich ihm heldenhaft entgegenstemmten. Tropfnasse Blätter wirbelten durch die Luft. So wie draussen sah es in Rosetta aus. Anfangs war es nur ein dumpfes Gefühl, eine Leere, in die ab und zu ein Gedanke drang. Dem einen Gedanken folgten weitere, nisteten sich ein, begannen sich zu jagen, zu überstürzen, zu einem unentwirrbaren Knäuel zu verknoten. Wieder ein wuchtiger Windstoss, der durch Ritzen und Spalten blies und die Fensterscheiben erklirren liess.

Rosetta sah Düsternis, Armut, Gier, Boshaftigkeit, Feindschaft, Krieg. Nein, hier gab es keinen Krieg. Dem Land ging es gut, es schwelgte im Wohlstand, im Konsum, im Eigennutz. Rosetta schaffte es nicht, das Licht ohne die Schatten zu sehen. Das Licht wurde von der Dunkelheit bedrängt, die immer wieder ihre Tentakel ausstreckte, sie manchmal zum Schein zurückzog, um erneut anzugreifen. Rosetta wurde schwer ums Herz. Die Gedanken lasteten, nichts, das von aussen kam, brachte Ablenkung, kein Vogelgezwitscher, keine blühende Blume, kein plätschernder Bach. Allein der tobende Sturm bot sich an zur Identifikation, verschaffte geringfügige Erleichterung. Ein Sturm im Innern und ein Unwetter draussen, das müsste eigentlich ein Gleichgewicht ergeben. Rosetta wünschte sich einen Hammer, um sich all die marternden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen.

Sie hatte das Gefühl, in einem Tunnel zu gehen, mit durchsichtigen Wänden. Draussen gab es Kulissen und Statisten. Die Statisten huschten vorbei, wie Schemen. Niemand sprach zu niemandem, frühmorgens auf der Strasse, wenn sie zur Arbeit ging, auf dem Weg, den sie seit vielen Jahren nahm. Wenig hatte sich in der Zeit verändert. Ausser den Strassen, die immer wieder neu aufgerissen wurden. Die Narben waren längst nicht mehr zu verbergen. Auch das unablässige Rauschen war dasselbe. Nein, nicht ganz, es war lauter geworden. Es schmerzte manchmal in den Ohren. Und der Geruch der Abgase hatte sich verschärft, liess sie zeitweise taumeln, fast ohnmächtig werden, riss sie aus der Tunnelwelt. Träume waren es, die ihre klägliche Existenz bereicherten. Wo waren ihre Freunde? Ach ja, es gab ja keine.

Ob die Uhr merkte, wie sinnlos ihr Ticken war? Wäre es nicht besser, sie würde sich ein bisschen Ruhe gönnen, um uns spüren zu lassen, dass Zeit und Geld nicht dasselbe ist? Zeit, Raum und Materie entstanden mit dem Urknall. Vor ein paar Milliarden Jahren. Möglich, dass sie uns noch eine Weile erhalten bleiben. Ein paar Milliarden Jahre. Rosetta war beruhigt. Für den Augenblick. In weniger als einer Milliarde Jahre wird die Temperatur an der Erdoberfläche hundert Grad Celsius übersteigen, Meere und Seen verdampfen. Nochmals sieben Milliarden Jahre später wird die Sonne aufhören zu scheinen. Die Sterne verblassen, immer weniger neue Sterne entstehen. Um die weitere Existenz von Leben ist es schlecht bestellt.

Dann kam der Sommer. Doch weiterhin redeten alle vom Wetter. Rosetta und Rolf fuhren nach Griechenland. Besuchten Klöster auf Sandsteinfelsen, die wie Schiffe im Dunst zu schweben schienen, Ruinen in göttlichem Gelände, Säulenlandschaften, Statuen, heisse Sonne, Strände, Meer. Die Zeit verging, ohne dass man etwas dafür tun musste. Sie übernachteten im Wohnmobil auf Zeltplätzen. Nachts spielten Leuchtkäfer Laternen. Der Morgen begann mit einem Vogelkonzert. Rosetta mochte Tiere. Vögel, Frösche, Raupen und Schmetterlinge. Man sollte sich mehr den Tieren widmen. Damit man sieht, dass nicht allein der Mensch zählt.

Die Natur entschwindet uns. Wir haben sie erzürnt, sodass sie sich immer wahrnehmbarer entzieht. Der Wald stirbt. Vögel verschwinden. Amphibien werden von Autos überfahren, wenn sie im Frühling zu ihren Laichplätzen wandern. Dem Feldhasen geht es schlecht. Bär und Wolf werden abgeschossen. Dem Menschen liegt es nicht, einmal angelaufene Entwicklungen zu stoppen. Man könne nichts machen, sagen die Leute auf der Strasse. Alle tragen sie bei zur Verödung der Welt. Und tun, als hätten sie keine Schuld. Reden von Familie, Kindern, Freunden, von Mode, Autos, Vergnügen, von Kaufen und Verkaufen, von Karriere und Wirtschaftswachstum. Die Leute beharren auf ihren Traditionen. Für Rosetta war das alles schon sehr unbedeutend geworden.

Hätte man mehr miteinander reden sollen? Aber was? Rolf hatte eine gleichgültige Art. Dachte nicht daran, an gestern oder an morgen zu denken. Ein glücklicher Mensch, genoss die drei Sekunden, die die Gegenwart bedeuteten. Wer gleichgültig ist, regt sich weniger auf, sagte er. Wenn sie sich nur besser erklären könnte. Rolf verzärtelte die Katze. Rosetta mochte sie nicht, fürchtete, sie könnte ihre Gedanken lesen. Die Möglichkeit des vollständigen Auseinanderlebens bestand. Rosetta zog den Ring vom Finger. Er tat ihr weh. Den ganzen Tag schon.