Neue Wortgeschichten - Katrin Züger - E-Book

Neue Wortgeschichten E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

Wörter sammeln. Warum nicht. Aber wie geht das? Ich weiss nicht. Sie sind ja einfach da. Schweben durch die Luft, stehen schwarz auf weissem Papier, in der Zeitung, im Magazin, auf dem Plakat, auf dem Werbebanner, flimmern über den Bildschirm, lassen sich hören, vernehmen, verschwinden wieder oder bleiben hängen. Einige davon habe ich gesammelt, in den «Wortgeschichten». Wörter, die ich gefunden oder aufgestöbert habe, die mir zugeflogen oder über den Weg gelaufen sind, wohlgefällige, liebenswerte, hintergründige, rätselhafte, fragwürdige, ungeklärte, unerhörte, hintersinnige.

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Ich hoffe auch, eine Blume zu finden, die Rocky-Mountain-Katzenpfötchen genannt wird, eine meiner Lieblingsblumen, schon des Namens wegen.

Edward Abbey, Die Einsamkeit der Wüste

Wenn ich das Wort «Sicheldünen» höre, schnappe ich mir meine Siebenmeilenstiefel.

Sylvain Tesson, Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt

Wenn Worte Tiere wären, dann wäre dieses Wort ein armer, geprügelter Hund: «Nachhaltigkeit».

Max Küng, Das Magazin

Fremdwörter gibts, die sind uns so vertraut, dass sie rund im Mund liegen. Ciao ist so ein Wort. Es kommt aus dem Italienischen und ist so unerhört viel schöner als Hello oder Hallo, dass es sich mittlerweile in den Sprachalltag vieler Länder geschlichen hat.

Oliver Meiler, Tages-Anzeiger

Für sprachliche Schönheit gibt es keine objektiven Wertmassstäbe.

Walter Krämer, Roland Kaehlbrandt, Lexikon der schönen Wörter

Ich schrieb noch hartnäckiger als zuvor, und schliesslich setzte ich nach drei Monaten das Wort finis unter meine Arbeit.

A. J. Cronin, Wendepunkt meines Lebens

Inhalt

Vorwort

H

IER, DORT UND ANDERSWO

1 Allmend

2 Kaieteur

3 Itasca

4 Giudecca

5 Dazu

6 Flutbasalt

7 Ammonit

8 Diamantenstaub

9 Höhlenblumen

10 Turpenlöcher

11 Arvenbüel

12 Dürrenbach

13 Margel

14 Schwarzgrätli

15 Selbsanft

16 die Gastlosen

17 Wyssi Frau

18 Bienenpass

19 Tidenhub

20 am Ende seiner Kräfte

21 weisser Sand

22 Caatinga

23 Paradiese der Wüste

24 Kalimantan

25 Panthalassa

W

ACHSEN, GEDEIHEN, VERGEHEN

26 Fledermaus

27 Seelenvogel

28 das Geheimnis des Mauerseglers

29 vernachlässigte Ameise

30 Wanderratte

31 Distelfalter

32 Glattnackenrapp

33 Eisvögel

34 Singdrossel

35 Hoatzin

36 Weisskopfmöwe

37 Kudzu

38 Blacken

39 Streu

40 Schleimpilz

41 Eselsdistel

42 Gelbes Ordensband

43 Froschkonzert

44 Holzwurm

45 Fluke, Finne, Barte

46 Sporopollenin

47 Wirbeltierchauvinismus

48 Rückeroberung

49 Zugunruhe

50 Geissbock

W

AS

M

ENSCHEN SO ALLES TREIBEN

51 Bergzeit

52 Rotsockentrott

53 Zwilch

54 Affenjäckchen

55 Büro

56 Winkekatze

57 Dinge

58 Retroprodukt

59 Postauto

60 Christbaum

61 Dienstweihnachtsbaum

62 Besuchstraining

63 Glückskiller

64 Manuskript

65 Kürzestgeschichte

66 Mütze

67 Robidog

68 Lismer

69 Weggefährte

70 stundenlang

71 Schneemann

72 Nuggi

73 Maseru

74 Quiz

75 Sinn des Lebens

F

RISCHER

F

ISCH UND WILDES

G

RÜN

76 Appetitlexikon

77 Reisslasche

78 Pommes-Chips mit perfektem Bruchverhalten

79 Birnel

80 Schnebelkuh

81 rezent

82 Erbsli

83 Rüebli

84 Kürbissuppenrezept

85 Wurzelgemüse

86 Malachitgrünes Schatzkästchen

87 Aromat

88 Keimkraft

89 Paniermehl

90 Kirsche

91 Wacholder

92 Tannat

93 Schwarzer Knoblauch

94 Schupfnudeln

95 Glutpfann

96 Ribelmais

97 Grits

98 rotes Gold

99 Halunke

100 Stilles Kochen

W

ER ALS

W

ERKZEUG EINEN

H

AMMER HAT …

101 Färberwaid

102 Ledischiff

103 Container

104 Pritschenwagen

105 Holzkohlenmeiler

106 Zahnstocher

107 Duckdalben

108 Acqua alta

109 Sekundensprung

110 das letzte Zwinkern der Fallblätter

111 Absperrhahn

112 Dolendeckel

113 Kettensäge

114 Damaszener Messer

115 Heimwehfluhbahn

116 Bsetzi-Stei

117 Leistenprobleme

118 Wellblech

119 Styropor

120 Knallfolie

121 Vielflächen-Versenkregner

122 Schlachtnebenprodukt

123 Landemanöver

124 Sollbruchstelle

125 Zündholz

M

IT DEM

W

ISSEN WÄCHST DER

Z

WEIFEL

126 Laniakea

127 Sternenstaub

128 Feinabstimmung

129 Ereignishorizont

130 Rotverschiebung

131 endotherm, exotherm

132 Marmor

133 Lantal

134 Anastylose

135 Feder

136 Corona

137 Rieselfreudigkeit

138 Geschiebedefizit

139 Spazierluftigkeit

140 Personenhydraulik

141 Wasserversorgung

142 Ode an die Flocken

143 gähnen

144 Mauerblümchen

145 Gotteszahl

146 Hypokoristikum

147 Null

148 Ich

149 Zeit

150 Hausputz

F

RAGEND SUCHT MAN SICH DEN

W

EG

151 Blümchenweg

152 Tönnchen

153 Knick

154 Casa de Contratación

155 Blau

156 Orange

157 Schlange

158 weisse Elefanten

159 deinken

160 Fanschal

161 Fantum

162 Skiabos

163 Stylinggel

164 Bergaufschwimmen

165 Kamikaze

166 Maler Koch

167 Toutes directions

168 Mange-tout

169 Wissenslücke

170 Flussgedanken

171 Spontanvegetation

172 Risografie

173 Wasichu

174 Wu Wei

175 Warum Menschen keine Eier legen

S

PRACHE,

W

ÖRTER,

G

LÜHWÜRMCHEN

176 Anspitzkrümel

177 Nähmaschinenschrittchen

178 Glöggli

179 onda verde

180 überlaufen

181 bebadbar

182 knistern

183 aufbäumen

184 einwecken

185 Schlüttli

186 Übeltäter

187 abgebrannt

188 Musse

189 Furunkel

190 Strumpf

191 tschutten

192 schnäderfräsig

193 abschmecken

194 aufbacken

195 paradox

196 kongenial

197 Windeseile

198 Wohlfühlgedanken

199 Zettelmine

200 Sätzesammler

Index und Referenzen

Vorwort

Wörter sammeln. Warum nicht. Aber wie geht das? Ich weiss nicht. Sie sind ja einfach da. Schweben durch die Luft, stehen schwarz auf weissem Papier, in der Zeitung, im Magazin, auf dem Plakat, auf dem Werbebanner, flimmern über den Bildschirm, lassen sich hören, vernehmen, verschwinden wieder oder bleiben hängen. Einige davon habe ich gesammelt, in den «Wortgeschichten». Wörter, die ich gefunden oder aufgestöbert habe, die mir zugeflogen oder über den Weg gelaufen sind, wohlgefällige, liebenswerte, hintergründige, rätselhafte, fragwürdige, ungeklärte, unerhörte, hintersinnige. Dreihundertsechsundsechzig Wörter, eines für jeden Tag in einem Schaltjahr.

Das Jahr ist längst vorbei, die Wörter bleiben. Und neue kommen hinzu. Es gibt ja so viele. Also habe ich weiter gesammelt. Für neue Wortgeschichten. Nochmals dreihundertsechsundsechzig sollten es sein, mindestens eine für jeden Buchstaben, alphabetisch, das ist bequem, ich weiss, aber wozu haben wir denn das Alphabet. Wollte wissen, welche Anfangsbuchstaben sich häufen, ob sich daraus sogar meine Lieblingsbuchstaben ableiten lassen. Doch dann entschied ich mich anders. Verliess das Alphabet, ging eher assoziativ vor, mehr oder weniger, das eine Wort führte zum anderen, irgendwie. Thematisch gruppiert ergaben sich so zweihundert neue Wortgeschichten.

Was mir aufgefallen ist? Dass die meisten Wörter Hauptwörter sind. Dingwörter, Substantive, Nomen. Warum nur? Vielleicht weil sie so gut für sich allein stehen und eigenständig etwas bedeuten, Assoziationen, Erinnerungen, Gefühle hervorrufen, viel mehr als Verben, die oft zu Funktionalverben verkommen, oder Adjektive, die auch etwas bedeuten, aber erst im Kontext richtig zur Geltung kommen, in Kombination mit Substantiven, deshalb heissen sie ja Adjektive. Ganz anders Artikel, Präpositionen, Konjunktionen, deren Bedeutung primär syntaktischer Art ist.

Ein Konzept, das dazu passt: Buchstabenhäufigkeitsverteilung. Eine statistische Grösse, die angibt, wie oft ein bestimmter Buchstabe in einem Text oder einer Sammlung von Texten vorkommt. Im Duden-Korpus zum Beispiel, das rund zwei Milliarden Wortformen umfasst, zusammengestellt aus Zeitungs-, Zeitschriften-, Ratgebertexten, Literatur, Reden, Gebrauchsanweisungen: Das E schlägt alle, es folgen N, I, S und R, erst dann kommt A, mein Lieblingsvokal. Und wie sieht es mit der Häufigkeit der Anfangsbuchstaben aus? Dass das S auch hier so oft zum Zug kommt, ist kein Zufall, denn S-Wörter nehmen sagenhafte zwölf Prozent des Duden-Universalwörterbuchs ein.

Ein Vergleich mit anderen Sprachen, etwa Italienisch oder Russisch, zeigt, dass die Häufung des E kein Naturgesetz, sondern eine deutsche Besonderheit ist. Im Althochdeutschen sah das noch anders aus, da gab es so klangvolle Wörter wie farawa (Farbe), perga (Berge), gabala (Gabel), lunganna (Lunge), westanawint (Westwind), zeichanunga (Zeichnung), silabarling (Silberling), luginari (Lügner), ubilwurhto (Übeltäter), merihunt (Seehund), gelofaro (goldgelb), sibunfalt (siebenfach), abafaran (abfahren), bislipfen (ausgleiten), liogan (lügen), eitaren (eitern). Was ist passiert? Das Deutsche hat einen Druckakzent, keinen melodischen Akzent wie andere Sprachen. Dadurch erhält die betonte Silbe ein starkes Gewicht, die anderen Silben verlieren an Bedeutung. Auf dem Weg vom Alt- zum Mittelhochdeutschen wurden sie abgeschwächt, die vollen Vokale veränderten sich zum Schwa-Laut [], zum Beispiel am Ende von «Farbe» oder «anfangen». Schade eigentlich, dadurch hat das Deutsche das Volltonige verloren, das ich im Italienischen so mag.

Hier, dort und anderswo

1 Allmend

Ich gehe die Strasse hoch, bewundere die Landschaft zu meinen Füssen, in silbriges Blaugrau getaucht, die Berge in der Ferne, immer noch schneebedeckt, in ungewöhnlicher Klarheit. Gehe weiter, hinter dem Dorfberg durch, einst Urheber eines Bergsturzes, nachdem die Gletscher der letzten Eiszeit abgeschmolzen waren, führte zu dem idyllischen kleinen See, der heute gern zum Baden, Paddeln und Fischen genutzt wird, zum Leidwesen der Wasservögel und Fische, aber dort will ich nicht hin. Wandere vielmehr westwärts, halbwegs hinunter ins Tal, wieder hoch, hinauf auf einen Grat, linkerhand mehr oder weniger dichter Wald, rechterhand lichtere Bäume, auf einem Abhang, der steil hinunterfällt aufs flache Land, durch das sich eine lärmige Strasse windet. Auf dem Grat ein schmaler Fussweg, von Bikern verunstaltet, kurvig, ab und zu eine Lichtung, an einer Stelle eine Reihe seltsamer Steine, eingepackt in dunkelgrünes Moos, stehen da in Reih und Glied, Megalithen vielleicht, oder auch nur eine vergessene Panzersperre. Gelange auf einen breiteren Weg, der eine oder andere Biker kommt mir entgegen. Passiere eine Lichtung, von Holzfällern geschlagen, ein trauriger Anblick, die Strünke noch frisch von Leben, ragen schmerzverzerrt in die Höhe. Am Wegrand aufgestapelt die geschundenen Stämme, spiegeln sich im Wasser, das sich in einer Senke gesammelt hat. Eine 180-Grad-Wendung führt mich auf den Weg zurück Richtung Ausgangspunkt. Der Wald ist dicht, aus dem Geäst dringt Vogelgezwitscher, zu sehen ist nichts, höchstens einmal eine Amsel, die gern im Boden wühlt und schäkernd Reissaus nimmt, wenn ich ihr zu nahe komme. Verschiedene Wege kommen von irgendwoher, verbinden sich mit dem meinen. Aus einem Brunnen plätschert Wasser. Weiss der Himmel, wie er hierkommt, so allein. Etwas weiter talwärts ein Holzhaus, eine Hütte, sagt nicht, wofür sie da ist, an der Tür ein Plakat, Achtung vor Jungtieren, am Rand ein Schild, blaues Metall, darauf in grauer Schrift: Allmend 1.

Ein schönes Wort, Allmend. Was bedeutet es? Die Allmend oder Allmende ist für alle da. Belegt seit dem 10. Jahrhundert, vielleicht gab es sie schon früher. Spielte eine wichtige Rolle im frühen Mittelalter, wo Wiesen, Weiden, Äcker, Heiden, Steinbrüche, Moore, Wälder, Flüsse im Besitz aller Dorfbewohner waren, sodass jeder im Wald Holz hacken, seine Kühe auf die Wiese schicken oder Wasser aus dem Fluss holen konnte. Jeder Dorfbewohner hatte zusätzlich zu seinem Privatgrund Zugang zu einer Allmend. Das funktionierte erstaunlich lange, bis ins 15., 16. Jahrhundert, aber irgendwann nicht mehr so recht. Es kam zu Streitereien. Wer darf wann wie viele Tiere auf die Wiese treiben, wie viel Holz hacken, wie viel Wasser beziehen? Deshalb wurde die Nutzung eingeschränkt. Oder die Herrscher beanspruchten die öffentlichen Flächen für sich. Im Zug der Industrialisierung musste immer mehr Wohnraum her. Heute sind die meisten ehemaligen Allmenden in Privatbesitz oder gehören den Gemeinden.

Zurück ins Jahr 1620. Die Ankunft in der Neuen Welt war hart. Von den gut hundert Passagieren, die im September die Mayflower bestiegen hatten, um in Neuengland die Kolonie Plymouth zu gründen, lebte nach den Wintermonaten nur noch die Hälfte. Für die Übrigen hing die Existenz von der ersten Ernte ab. Die Siedler hatten Glück. Indianer vom Stamm der Wampanoag halfen mit Saatgut aus, zeigten ihnen, wie man Mais anbaut. Nachdem die erste Ernte eingebracht war, wurde ein Fest gefeiert. So entstand Thanksgiving, das Erntedankfest, das in den USA 1863 zum Feiertag erklärt wurde und seither jeden vierten Donnerstag im November gefeiert wird. Die Mühsal war aber nicht zu Ende. Im folgenden Jahr fiel die Ernte wieder mager aus. Vielleicht weil die Siedler mit indianischem Mais wenig Erfahrung hatten, weil sie sich zu wenig um die Aussaat gekümmert hatten oder weil zu viel gestohlen wurde. Die Siedler überlegten sich deshalb, wie sie die Ernte erhöhen konnten.

Zu jener Zeit gab es kein Privateigentum, die ganze Siedlung war eine grosse Allmend, die von der Gemeinschaft bearbeitet wurde, die Ernte verteilte man proportional auf die Einwohner. Zwar versuchten die Siedler mit den Londoner Investoren, die die Übersiedlung finanziert hatten, auszuhandeln, dass sie zwei Tage pro Woche auf eigenen kleinen Parzellen arbeiten durften, doch dies wurde abgelehnt. Nach sieben Jahren sollten alle Errungenschaften zwischen den Investoren und den Siedlern gleichmässig aufgeteilt werden. Niemand war wirklich glücklich damit. Junge Männer beschwerten sich, dass sie ihre Arbeitskraft für die Frauen und Kinder anderer Familien einsetzten, ohne dafür entschädigt zu werden. Frauen beklagten sich, dass sie die Wäsche und andere Hausarbeiten für andere Männer machen mussten, was sie als eine Art Sklaverei ansahen. Nach einer langen Debatte fällte der Gouverneur einen wegweisenden Entscheid: Er teilte jeder Familie ein Stück Land aus der Allmend zu, dessen Ernte sie zu einem guten Teil behalten konnte. Die Änderung soll sehr erfolgreich gewesen sein. 1623 fiel die Ernte entsprechend gut aus. Von da an habe es in Plymouth keinen Hunger mehr gegeben.

Ein Jahr später ging die Privatisierung noch einen Schritt weiter. Der Gouverneur wollte die Parzellen jedes Jahr per Lotterie den Familien neu zuweisen, doch die Siedler argumentierten, damit komme die mühselige Pflege des Bodens im nächsten Jahr einer anderen Familie zugute. So kam es, dass ein Teil des Landes kontinuierlich durch dieselbe Familie bebaut wurde. Der Gouverneur erkannte, dass der Kollektivismus aus ökonomischen und moralischen Gründen versagte. Es sei vermessen zu glauben, dass das Wegnehmen von Besitz und dessen Vergemeinschaftung die Menschen glücklich mache. Vielmehr habe der Gemeinschaftsbesitz in Plymouth viel Verwirrung und Unmut gestiftet. Dies habe sogar unter gottesfürchtigen Menschen dazu geführt, dass sie den Respekt voreinander verloren. Die entscheidende Lektion: Erst mit der Umstellung von Gemeinschafts- auf Privatbesitz wurde der Hunger in Plymouth besiegt.

Ich gehe weiter durch den Wald, gefolgt von Wiesen und Feldern, schönes Grün, goldiges Braun, von den reifen Gersten-, Weizen- und Rapsfeldern, ab und zu hüfthohes Gras mit ein paar Skabiosen, Kratzdisteln und so und einem Schild: Diese Blumen sind für die Insekten. Bitte kaufen Sie Ihre Blumensträusse im Blumenladen. Schön. Über die Strasse geht es hoch, heim ins Dorf. Allmenden gibt es hier keine mehr, immerhin noch die Allmendstrasse, die ja irgendwie auch allen gehört.

2 Kaieteur

Im Fernsehen läuft ein Krimi. Sehe einen Schauspieler, ein älterer Herr, Musikagent, der die beste Zeit hinter sich hat, sein bester Kunde ist tot, umgebracht, Mord in der Schlagerszene. Kommt mir nicht bekannt vor, erinnere mich aber an die Stimme, aus einem anderen Film, unverkennbar, scheint mir, eher hohe Tonlage, gedrungen, näselnd, ein bisschen krächzend. Ich schweife ab, die Gedanken wandern, von der Stube in die weite Natur. Und da kommt es geflogen, das Wort, das ich suche, von irgendwoher: Kaieteur.

Ein Naturspektakel, im Reich der Patamona-Indios, versteckt im Dschungel, am Eingang der Potaro-Schlucht in Guyana («Land der vielen Wasser») im Norden Südamerikas, ein eher kleines Land, weniger als eine Million Einwohner, umgeben von Venezuela, Brasilien, Suriname und Atlantik: die Kaieteur-Wasserfälle. Fast fünfmal so hoch wie die Niagarafälle, doppelt so hoch wie die Victoriafälle. Über zweihundert Meter stürzt das Wasser des Potaro-Flusses in einem Guss in die Tiefe, begleitet von schillernden Regenbogen, weiss aufspritzender Gischt, weithin hörbarem Tosen.

Schon die Anreise zu den Wasserfällen ist ein Abenteuer, drei Tage dauert sie im Geländewagen und per Boot, etwas schneller gehts mit dem Buschflugzeug ab Georgetown, der Hauptstadt. Aufsteigender Nebel umhüllt das dichte Grün des Regenwalds, durch den sich die breiten Arme der Flüsse Mazaruni und Essequibo ziehen. Das Flugzeug landet unweit des halbkreisförmigen Sandsteinbeckens, in das sich die Fälle ergiessen. Noch eine Viertelstunde Marsch durch den Regenwald, mit lohnendem Blick ins Dickicht, denn hier lebt der seltene, daumennagelgrosse Guayana-Goldfrosch in den wassergefüllten Blättern grosser Bromelien. In den Baumkronen krächzen grüne Aras mit leuchtend roten Köpfen und auffällig gefiederte orangerote Tiefland-Felsenhähne, aber auch Harpyien, Tukane, Stirnvögel und Kolibris. Zu den grösseren Tieren zählen der gefleckte Ozelot und der Guyana-Brüllaffe. Im Wasser tummeln sich Riesenotter. Zwischen den zwanzigtausend gezählten Pflanzenarten huschen seltene Echsen, flattern riesige Schmetterlinge. Ein letztes Stück, und man steht vor dem Ziel der Reise, in unberührter Landschaft, abseits des Massentourismus, keine Zäune, Geländer, Absperrketten, kein Restaurant, kein Hotel, nur ein einfaches Guesthouse mit wenigen Übernachtungsplätzen. Noch ein Schauspiel in den Abendstunden: Der Himmel wird schwarz – vor Mauerseglern, die sich zu Tausenden in atemberaubendem Tempo die Fälle hinunterstürzen, um zu den Schlafplätzen in der Kaverne hinter der Wasserwand zu gelangen.

Der Name soll übrigens auf eine indigene Legende zurückgehen, wonach Häuptling Kai einst über die Kante des Wasserfalls gepaddelt ist, um sich dem Gott Makonaima zu opfern und so Frieden für sein Volk der Patamona zu erlangen, das von kriegerischen Kariben bedrängt wurde. Kaieteur bedeutet demnach so viel wie «Kai fällt».

Und was ist mit dem Krimi im Fernsehen? Da habe ich leider unwiederbringlich den Faden verloren.

3 Itasca

Ich schaue mir einen Film an und verstehe ein Wort nicht. «Eitäsca» oder so. Ich recherchiere und finde es heraus, von der Schreibung her: Itasca. Aber was bedeutet es? Ein See ist gemeint, Lake Itasca. Ist lateinisch, ein Kofferwort aus veritas (Wahrheit) und caput (Kopf), sollte indianisch klingen, nach der Sprache der Anishinabe, warum auch immer. Der See im Itasca State Park in Minnesota, an sich eher unscheinbar, gewinnt an Statur und Bedeutung als Ursprung des Mississippi, der sich vom Ufer des Sees aufmacht und fast dreitausendachthundert Kilometer südwärts durch die USA fliesst, an Masse zunimmt, andere Flüsse wie den Missouri, den Meramec und den Ohio aufnimmt, sich auch mal in die Umgebung ergiesst, dort mächtige Sümpfe produziert und am Ende in den Golf von Mexiko mündet. Durchquert nahezu das gesamte Staatsgebiet der USA von Nord nach Süd, fliesst durch acht Bundesstaaten, Minnesota, Illinois, Missouri, Kentucky, Arkansas, Tennessee, Mississippi, Louisiana, bildet zudem die Grenze von Wisconsin und Iowa. Entwässert bis auf das Gebiet um die grossen Seen das ganze Gebiet zwischen den Rocky Mountains im Westen und den Appalachen im Osten. Man möchte mitreisen, durch urtümliche Landschaften mit überraschender Flora und Fauna, nicht unbedingt dort, wo er sich reguliert, begradigt, eingedämmt und beschmutzt durch schaurige Industriestädte windet.

«Ol’ man river, that ol’ man river, he don’t say nothing, but he must know something, cause he just keeps rolling» heisst es in dem alten Lied. Man wüsste gern, was er uns zu erzählen hat, so lange gibt es ihn ja schon, so viel hat er erlebt, doch er treibt dahin, verliert kein Wort, tut, was er tun muss: fliessen.

4 Giudecca

Lange hat es gedauert, bis ich mich mit auf den Weg gemacht habe. Was soll ich dort, fragte ich jeweils mich und die anderen, wenn die Gelegenheit dazu bestanden hätte. Einerseits mag ich Städte nicht besonders, ausser die, in deren Nähe ich lebe, aber da sehe ich das Städtische nicht mehr, gehe ohne Seitenblicke meiner Wege, besorge mir, was ich brauche, gehe den gleichen Weg zurück, hinaus aus der Stadt, nach Hause. Auch hemmen mich grössere Menschenansammlungen, welcher Art auch immer. Aber jetzt könnte man es ja versuchen, in einem Moment, der günstig erscheint, wegen der Jahreszeit, in der ein bisschen Ruhe einkehrt, weil es etwas kühler ist, die Menschen zuhause noch mit guten Vorsätzen fürs neue Jahr beschäftigt sind und ausserdem rekordverdächtiges Hochwasser im November und Dezember die Besucher abzuschrecken scheint. Denn, nicht wahr, bei Hochwasser ist man doch sehr eingeschränkt, trotz der Bretterstege, längliche Konstrukte auf vier Metallfüssen, auf denen man knapp über der Wasseroberfläche den Sehenswürdigkeiten nachgehen kann, ohne durchs Wasser waten zu müssen, aber wer mag schon den ganzen Tag in Stiefeln herumgehen.

Venedig also, im Januar, in einem Hotel, einem ehemaligen Palazzo, vor wenigen Jahren eröffnet, fantastische Lage, wir hatten ja keine Ahnung, liessen uns eine Liste von Möglichkeiten aufs Handy schicken, haben uns für eine der erstbesten entschieden. Genossen sechs Tage in dieser wunderbaren Stadt, mit keiner anderen zu vergleichen. Wenn es eine schöne Stadt gibt, in der alles passt, ist es Venedig. Stundenlang sind wir herumgewandert, haben fast alle zugänglichen Orte besucht, befanden uns oft allein auf den Fondamente, Calli und Campi, und selbst die Piazza San Marco war nahezu menschenleer, zumindest am Morgen früh, wenn wir loszogen. Nur in den Gassen mit den edlen Geschäften gabs zuweilen erschwertes Durchkommen. Schlenderten also durch die Quartiere Dorsoduro, blieben dort gern stehen vor der letzten Gondelwerft Venedigs, in der noch gearbeitet wird, bewunderten die meisterliche Arbeit und abends im Nebel das mystische Licht, das durch die Ritzen der Bretterwände und Türen drang, San Polo, Cannaregio, San Marco, Castello, fuhren mit dem Vaporetto auf dem Canal Grande und zu den Inseln Murano, Burano, Torcello, Sant’Erasmo und Lido. An der Isola di San Michele mit dem Friedhof sind wir immerhin vorbeigefahren, und die Silhouette der Isola die San Giorgio Maggiore hatten wir von der Riva degli Schiavoni aus immer mal wieder vor Augen. Nur die Museen haben wir links liegen gelassen, zu verführerisch war das Wetter, die Sonne, der Nebel, leichter Dunst, der mir zum Festland hin durchaus ein bisschen verdreckt schien. Ein andermal vielleicht. Wie auch Giudecca.

Davon erhaschten wir Blicke, jedes Mal, wenn wir aus dem Hotel traten, oder später, wenn wir zufrieden und erschöpft von dem vielen Schauen zurückkehrten, die Fondamenta delle Zattere abschreitend, diese grossflächige Promenade, von der Punta della Dogana her, von der Sonne beleuchtet, die Leute entspannt flanierend, auch die Einheimischen, scheint mir, wenn sie nicht gerade mehr oder weniger eilig einer Arbeit zustrebten. Selbst der Betreiber der Bar mitten auf dem Platz samt Hündchen, das sich mit Schnuppern die Zeit vertrieb, nahm es wohl gemütlicher, auch wenn es weniger Umsatz bedeutete. Daneben der Canale della Giudecca, mit Bootsgeräuschen aller Art, kleinere Gefährte mehrheitlich, Vaporetti, die Autofähre, vom Lido herkommend oder dahin zurückfahrend, nicht aber, zu unserem Erstaunen, ein einziges Kreuzfahrtschiff, welche Wohltat. Und jenseits des Kanals eben die Insel Giudecca. Venedigs stillster Ort. Einst als Verbannungsort für Venedigs Juden gedacht, dann entschied man sich doch fürs Ghetto in Cannaregio.

Giudecca, die etwas verschupfte Insel, zumindest was die Touristen betrifft. Viel ist passiert seit dem Mittelalter, als reiche Bürger der Stadt hier ihre Sommerpaläste errichteten, mit Lustgärten, die später mit Fabriken und Arbeiterwohnungen überbaut wurden, dann, in den letzten fünfzig Jahren oder so, der Niedergang von Industrie und Handwerk und eine teilweise skrupellose Stadtplanung, die alte Bauwerke abreissen oder notfalls in Brand stecken liess, um neues Bauland zu gewinnen, zum Beispiel für das Molino Stucky, ein Fünfsternhotel, und der Gentrifizierung den Weg bereitete. Von über vierzig Werften, einem Theater, mehreren Fabriken, einer Brauerei ist kaum mehr etwas übrig.

Der letzte Tag. Um neun Uhr treten wir aus dem Hotel, die Sonne steht auf halber Höhe über dem Kanal, Postkartenstimmung, ein letzter Blick auf San Giorgio Maggiore in diesigem Licht, lockere Geschäftigkeit auf der Promenade. Wir wenden uns nach rechts, gehen vorbei an einem Lastwagen, aus dem Waren ausgeladen werden, Stück für Stück, von Hand zu Hand gereicht, Nachschub für den Supermarkt, den ich bisher nicht wahrgenommen habe, durch die Hintertür, die weit offen steht, sehe hinein in prall gefüllte Regale. Von irgendwoher muss die Insel ja versorgt werden. Aber ein Lastwagen auf der Fondamenta delle Zattere? Das kann nicht sein, wie auch, wo es doch nur Kanäle und keine Strassen gibt. Aber er steht da, auf einem Floss, so grün wie das Wasser, kaum als Floss zu erkennen, man könnte meinen, er schwebe über dem Wasser. Genau dafür wurden die breiten Kaianlagen seinerzeit, im Jahr 1519, gebaut: für die hier anlegenden Flösse (zattere). Wir gehen weiter, mit leichtem Gepäck, extra leicht, weil wir es ja über weite Strecken tragen müssen, zur Stazione Maritima, und wohnen gleich noch einem Spektakel bei: Kormorane, Hunderte, Tausende, kommen geflogen, wassern, fliegen wieder los, allein, in Gruppen, weiss der Himmel, was sie so geballt hierhertreibt. Wir passieren Kanäle, Schiffe, Werkstätten, gelangen auf verschlungenen Wegen zur Piazzale Roma, wo unser Auto steht. Bezahlen fürs Parkieren, verstauen das Gepäck, steigen ein und fahren hinaus aus der Stadt.

5 Dazu

Wir sind fast am Ende der Reise angelangt. Haben Schanghai besucht, die Skyline des Finanzdistrikts Pudong bewundert, den Fluss Huang Po befahren und den Shanghai Tower bestiegen, den zweithöchsten Wolkenkratzer (nach dem Burj Kalifa in Dubai) mit dem schnellsten Lift der Welt. Reisten nach Hangzhou mit dem berühmten West Lake, in die Wasserstädte Nanxun und Tang Mo, quälten uns durch die Menschenmassen in der Bergwelt von Huangshan (Gelber Berg) mit den gewaltigen Granitgipfeln und Zhangjiajie mit den bizarr geformten Sandsteinpfeilern, die dem Film Avatar zugrunde liegen, erreichten schliesslich Chongqing, die einwohnermässig grösste Stadt überhaupt (dreissig Millionen). Haben noch Chengdu vor uns und die in der Höhe schneebedeckten Landschaften von Sichuan mit Pässen über viertausend Meter und Bergen über sechstausend Meter, schliesslich das Wolong-Gebiet mit den wildlebenden Pandas.

Von Chongqing aus machen wir einen Abstecher, gut hundertfünfzig Kilometer westwärts, nach Dazu, zu den berühmten Grotten mit über sechzigtausend Steinskulpturen, die aus dem blanken Fels gemeisselt wurden, zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert in der Tang- und Song-Zeit, unter buddhistischen, konfuzianischen und daoistischen Einflüssen, Zeugen aus der letzten Phase der einst florierenden chinesischen Steinbearbeitungskunst. Von den fünf Orten, auf die die Steinskulpturen verteilt sind, besuchen wir Baodingshan, den «Schatzkammerberg» mit zehntausend Skulpturen, entstanden während der Südlichen Song-Dynastie zwischen 1179 und 1252 unter der Leitung des Mönchs Zhao Zhifeng.

Wir sind also da, wandern Richtung Monument, auf langer, breiter Strasse, flankiert von Wiesen. Mitten drin ein Schild, mit chinesischen Zeichen und englischer Umschreibung: Grasses are growing, don’t disturb them. Die meisten Besucher gehen achtlos daran vorbei. Ich bleibe stehen und erfreue mich an der Formulierung. Noch ein Stück, und wir erreichen die Grotten, die in Hufeisenform angeordnet sind, begrüsst vom Todesdämon Mara, der das Rad der Wiedergeburten hält. Geht man weiter, winkt Erlösung: Buddha. Höhepunkte sind die riesige vergoldete Guanyin-Felsfigur mit tausend Händen und der liegende Monumental-Buddha, der den historischen Shakyamuni darstellt. Neben diversen Paradies- und Höllenversionen sind auch Hirten- und Bauernszenen zu sehen. Am Schluss folgt die Geburtengeschichte von Siddhartha Gautama. Auffallend die satten Farben, mit denen die Figuren bemalt sind. Und die Vielfalt von Ausprägungen. Dabei dachte ich, Buddha sei Buddha, der aus eigener Kraft die Reinheit und Vollkommenheit seines Geistes erreicht hat, der Buddhismus eine sanfte Religion oder gar keine Religion, sondern eine Lebensweise. Wie kann es sein, dass sich so viele verschiedene Buddhas an einem Ort tummeln, von variablem Aussehen, gütige, gerechte, auch wilde, grimmige, kriegerische?

6 Flutbasalt

Seit sich vor dreieinhalb Milliarden Jahren das erste Leben auf der Erde entwickelte, entstanden rund vier Milliarden Arten, von denen über neunundneunzig Prozent wieder ausgestorben sind. Etwa ein Zehntel davon fiel den grossen Massenaussterben zum Opfer. Ein Massenaussterben liegt vor, wenn innerhalb eines geologisch kurzen Zeitraums – oft in Zehntausenden von Jahren – grossräumig mindestens vierzig bis fünfzig Prozent unterschiedlichster Arten an Land und im Wasser verloren gehen. In der Erdgeschichte geht man von fünf solchen Ereignissen aus, wobei man sich nicht ganz einig ist, welche als kleine, mittelschwere oder grosse Ereignisse zu zählen sind. Daran, dass das Leben auf der Erde vor zweihundertzweiundfünfzig Millionen Jahren durch eine katastrophale Entwicklung fast zum Erliegen gekommen wäre, zweifelt jedoch niemand: Am Ende der Perm-Zeit starben in nur sechzigtausend Jahren über neunzig Prozent aller im Wasser und fünfundsiebzig Prozent der an Land lebenden Spezies aus, eine Killer-Kaskade, die schwer zu stoppen war, das verheerendste Aussterbe-Ereignis der Erdgeschichte, die Mutter aller Massenaussterben. Doch die Natur überwand die Katastrophe, fand neue Wege und läutete das Zeitalter der Dinosaurier ein. Mindestens dreissig Millionen Jahre brauchte sie dafür.

Und heute? Vorsichtige Schätzungen des World Wide Fund for Nature (WWF) gehen davon aus, dass es zwischen dreizehn und zwanzig Millionen Arten auf der Erde gibt. 1,75 Millionen davon sind beschrieben – Tiere, Pflanzen, Pilze, andere Organismen. Der Homo sapiens ist eine von ihnen, wider Erwarten besonders beständig und dominant, hat sich gegen sechs andere Menschenarten durchgesetzt. So ist die Grösse der menschlichen Population um ein Vielfaches höher, als es ökologische Theorien aufgrund unserer Lebensgeschichte und Körpermasse vorhersagen würden. Der Mensch erkundete, bevölkerte und veränderte jeden Winkel auf der Erde, auch das Klima. Das wirkt sich aus. Die heutigen Arten und Ökosysteme sind durch Verschmutzung, Raubbau an natürlichen Ressourcen, Vernichtung und Zerstückelung von Lebensräumen oder deren Störung durch eingeschleppte Arten bedroht. Das sechste Massenaussterben hat begonnen. Das erste, das nicht durch eine Naturkatastrophe, sondern einen biologischen Faktor in Gang gesetzt wurde: den Menschen. Begonnen hat es vor fünfzigtausend bis hunderttausend Jahren mit der Ausbreitung des Homo sapiens, die zweite Phase setzte vor zehntausend Jahren mit dem starken Wachstum der Bevölkerung und der Landnutzung ein, die dritte mit der Industrialisierung. Wird die Natur auch diesmal einen Ausweg finden?

7 Ammonit

Ein Eisbär liegt auf der Kommode, die einmal ein Nussbaum war, cremefarbig, feines Fell aus winzigen Kerben, die Hinterbeine nach hinten, die Vorderbeine im Halbkreis vor sich hin gestreckt, den schlanken Kopf darauf gelegt, seitwärts, sodass er einen anschaut, wenn man sich ihm auf Augenhöhe nähert, mit erhabenem, abgeklärtem, staunendem, vielleicht auch traurigem Blick. Der Eisbär war nicht immer ein Eisbär. Er war einmal ein Walross, mit leuchtend weissen Zähnen, irgendwann umgekommen, am Polarmeer, von Jägern gejagt oder aus Altersschwäche. Mark Napowatuk, siberischer Yupik aus Gambell, weit draussen auf der St.-Lawrence-Insel im Bering-Meer, zu Alaska gehörend, könnte auch Sibirien sein, von der Lage her, nahm den einen Walrosszahn und begann zu schnitzen. Einen Eisbären. Als er fertig war, blieb er in Gambell, ist immer noch da, vielleicht, der Eisbär wanderte ins Museum of the North der University of Alaska in Fairbanks. Dort war ich, auf der Durchreise zur Prudhoe Bay, kurzer Abstecher, und kaufte ihn. Er stach mir ins Auge, unter all den anderen Schnitzereien, wegen seiner schlanken Gestalt, seines traurigen Blicks, seines leuchtenden Materials, seines schönen Fells, was weiss ich. Er hat die weite Reise angetreten, über Länder und Meere, jetzt liegt er da, neben einem in die Weite des Himmels blickenden Vogel aus australischem Eisenholz, einem Elefanten aus afrikanischem Malachit und einem Holzkästchen mit kunstvoller Intarsienarbeit aus Madagaskar, still und ruhig, rührt sich nicht vom Fleck, ausser wenn ich ihn abstaube.

Dann ist da auch noch ein Ammonit, von der Schwäbischen Alb. Ammoniten sind die Stars unter den Fossilien. Die logarithmische Spiralform bezaubert. Ein Kunstwerk der Evolution, die die Tiere zu Überlebenskünstlern gemacht hat. Was war ihr Geheimnis? Am Anfang ihrer Entwicklung, vor rund dreihundert Millionen Jahren, bestanden sie aus nicht viel mehr als einer Röhre, in Kammern unterteilt und auf einer Seite verschlossen. Auch die Gehäuse der Embryonen, wenige Millimeter gross, waren bei den frühesten Arten nur wenig aufgerollt und bedeutend grösser als die der Nachfahren. Allmählich begannen sie sich aufzurollen, wurden beweglicher und wussten sich besser gegen Feinde zu wehren, Fische zum Beispiel. Im Lauf der Evolution änderten sie die Fortpflanzungsstrategie, das Embryonalgehäuse wurde kleiner, das Erwachsenengehäuse grösser. Grössere Tiere konnten mehr Eier tragen, aus denen die Embryonen schlüpften. Ein Erfolgsrezept, denn immerhin überlebten die Ammoniten drei der fünf grossen Massenaussterben. Eine erstaunliche Leistung, denn erdgeschichtlich betrachtet war das Leben alles andere als ein Spaziergang. Eiszeiten kamen und gingen, der Meeresspiegel stieg und sank um Hunderte Meter, die Temperatur, der Sauerstoffgehalt und der Säuregehalt der Ozeane schwankten. Dank der grossen Vielfalt überstanden jeweils zwei bis drei Arten die Katastrophe. Aus den wenigen Arten entwickelte sich meist rasch eine neue Vielfalt, selbst nach dem grössten Massenaussterben, vor zweihundertzweiundfünfzig Millionen Jahren, das die Weltmeere traf und den Grossteil der marinen Arten verschwinden liess.

Weil sich die Arten so schnell entwickelten, hat jede Zeitperiode ihre charakteristische Form, und weil sie dank ihren gasgefüllten Schalen gute Schwimmer waren, breiteten sich neue Arten weltweit aus. Tiefseetaucher waren die Ammoniten indessen keine. Sie wagten sich in eine Tiefe von höchstens dreihundert Meter, einem grösseren Wasserdruck hätte die Schale nicht standgehalten. Heute kommen die bis zu zwei Meter grossen Fossilien in Meeresablagerungen verschiedener Tiefen und Zeitalter vor. Da sie sich im Vergleich zu vielen anderen Lebewesen schneller an eine veränderte Umwelt anpassten, kann anhand der unterschiedlichen Formen das Alter der Gesteinsschichten bestimmt werden. Wegen des Gehäuses, das sozusagen ihre gesamte Lebensgeschichte vom Embryo bis zum geschlechtsreifen Tier erzählt, sind die Ammoniten zu wichtigen Leitfossilien der Geologen geworden. Doch so gut erhalten sie sind, bei ökologischen Fragen wird es schwierig. Der Speiseplan der ältesten Ammoniten lässt sich kaum aus den Versteinerungen herauslesen. Von einigen Arten weiss man, dass sie sich von Plankton ernährten. Das könnte ihnen zum Verhängnis geworden sein. Das letzte grosse Massenaussterben vor sechsundsechzig Millionen Jahren nahm ihnen die Nahrung. So sind sie doch noch ausgestorben. Oder auch nicht. Nicht ganz. Es gibt überlebende Verwandte: Tintenfische und Perlboote, marine Kopffüsser wie die Ammoniten. Es droht jedoch weiterhin Gefahr, weniger für die Tintenfische, mehr für die Perlboote, denn das Perlmutt ihrer Gehäuse ist als Schmuck sehr gefragt.

8 Diamantenstaub

Der Yellowstone National Park im Winter. Die ersten Fröste sind so extrem, dass sie für ein seltenes Schauspiel sorgen: Diamantenstaub. Auch Polarschnee genannt. Schnee, der nicht aus Wolken fällt. Diamantenstaub entsteht bei Windstille, wenn die Temperaturen derart fallen, dass die Feuchtigkeit in der Luft kristallisiert. Dann wirbeln winzige Eiskristalle herum und glitzern im Sonnenlicht, das sie brechen. Der Himmel kann dabei völlig wolkenlos sein. Da die bodennahe Luft unter solchen Bedingungen unzählige kleine Eisnadeln enthält, können bei Vorhandensein einer geeigneten Lichtquelle – Sonne, Mond, künstliches Licht – variantenreiche Halos entstehen. Besonders typisch ist das Phänomen für die kälteste Region der Erde, die Antarktis. Lässt sich aber auch weiter nördlich ab und zu beobachten, hier, in der kältesten Gegend der USA, wie man sieht. Das Glitzern des Diamantenstaubs mag betörend sein, doch die Wetterbedingungen, die ihn entstehen lassen, verheissen Ungemach.

9 Höhlenblumen

Sie wachsen, wie sie wollen. Bilden Arme, spriessen nach unten, nach oben, seitwärts, ändern auch mal die Richtung. Höhlenblumen. Zerbrechliche, blau-weisse Gebilde aus Calciumcarbonat, hängen an der Decke, erinnern an Korallen, Wurzeln oder Disteln. Wachsen nicht wie Tropfsteine und andere Höhlenmineralien durch Ausfällung, bei der sich die im Wasser gelösten Mineralien auf dem Boden oder an den Wänden einer Höhle ablagern, langsam übereinandergeschichtet werden und eine gewisse Gesetzmässigkeit erkennen lassen: Schwerkraft, Winde, unterschiedliche Gesteinshärten, die zu erklärbaren Formen führen. Doch die Höhlenblumen, zum Beispiel die der Asperge-Grotte im Süden Frankreichs, wachsen scheinbar ungeordnet. Als ob sie von irgendwelchen Lebewesen gesteuert würden. Bakterien vielleicht, oder Pilzen. Tatsächlich hat man solche gefunden, dreieinhalb Milliarden Jahre alt. Bakterien und Pilze, die Gestein produzieren? Faszinierend. Doch noch ist unklar, ob sie es wirklich tun und falls sie es tun, warum und wie es geschieht. Haben die kleinen Wesen einen ökologischen Vorteil, wenn sie sich eine kleine Stadt aus Stein bauen? So vieles weiss man nicht. Noch nicht.

10 Turpenlöcher

Kann sein, dass ich mich verirrt habe. In unwegsamem Gelände. Dabei hat nichts darauf hingewiesen. Nicht der breite Weg, den ich eingeschlagen habe, der doch gewiss irgendwohin führen muss. Tut er ja auch, da, ein Holzhaus, das Riethüsli, ist sogar angeschrieben, modert vor sich hin. Dann plötzlich geht der Weg über in Holzplanken, einzelne zerfallen, zerfressen, andere fehlen, in den Zwischenräumen sammelt sich Wasser, nebenan mehr Wasser, ein Tümpel, ein Teich, die Fortsetzung des Wegs uneinsehbar. Eigentlich schön hier, die Bäume, die Sträucher, das Moor, der Morast, das blauschwarze Wasser, der blaue Himmel über allem, die kühle Bise, die mit ihren Böen das an den Ästen verdorrte Laub zum Rascheln bringt. Sonst ist es still. Totenstill. Kein Plätschern des Wassers. Keine Vögel. Warum nur? Vielleicht ist es ihnen zu kalt. Oder es gibt keine mehr.

Ich kehre um. Da war doch noch eine Hütte, mit einem Plakat an der Wand. Mal sehen, was da steht. Aufwertungsmassnahmen im nationalen Hochmoor Unterrifferswilermoos/Chrutzelen. Auf dem Gebiet der Unterrifferswiler Allmend erhob sich einst ein ausgedehntes Hochmoor. Wegen Torfabbau und dem Anlegen drainierender Gräben sind die ehemaligen Moorflächen stark abgetrocknet. Nun sollen die moorspezifischen Lebensräume wieder hergestellt werden. So wird die bestehende Vernässungsmassnahme «Bruch» saniert. Durch die präzise Einstellung des Wasserstands unter oder leicht über der Bodenoberfläche erhalten die Torfmoose und andere Feuchtlandarten wieder bessere Wachstumsbedingungen. Für die Sanierung müssen leider einige Bäume gefällt werden. Weitere Arbeiten sollen dafür sorgen, für die spezialisierten Tiere und Pflanzen optimalen Lebensraum zu schaffen, durch Einbau von Spundwänden, Nachpflege der alten Holzschlagflächen, Entbuschen der Hochmoorflächen «Turpenlöcher» (Turpe, ein altes Wort für Torf), die Schaffung offener Wasserflächen im Randbereich der Schilffläche. Die Arbeiten werden von Unternehmen, Zivildienstleistenden und ansässigen Landwirten ausgeführt. Von diesen Massnahmen profitieren zahlreiche Arten wie Libellen, Amphibien, Sonnentau, Moosbeere, das geschützte Scheidige Wollgras und natürlich Torfmoose, die Bausteine des Wunderwerks Hochmoor, die an der Seite ständig weiterwachsen und unten fortwährend absterben, den Torf bildend. Gerade mal einen Millimeter wachsen Hochmoore in einem Jahr, ein Meter Torf entspricht somit tausend Jahren Wachstum. Das Zwanzigfache ihres Eigengewichts können sie an Wasser aufnehmen, sind somit unglaubliche Wasserspeicher. Und sie scheiden aktiv Säure aus, weshalb ein Hochmoor so sauer wie eine Zitrone ist.

Nachdem Lebensraum abgewertet wurde, soll er nun also wieder aufgewertet werden. Eine Frage der Perspektive. Ich gehe weiter auf dem schmalen Fussweg durch den Wald, gelange auf eine ausladende Wiese, nehme von dort den Feldweg Richtung Dorf, steige hoch, wandere an einer Baumschule vorbei, brauche noch eine gute Stunde bis nach Hause. Was aber bedeutet Chrutzelen? Das muss ich noch herausfinden.

11 Arvenbüel

Arvenbüel, hoch über dem Walensee, ein Teil von Amden. Liegt mitten im grössten Verbreitungsgebiet des Auerhuhns in den nordöstlichen Voralpen. Auerhühner sind in der Schweiz stark gefährdet, in nur vierzig Jahren hat sich ihr Bestand auf etwa vierhundert Brutpaare reduziert. Um den Tieren einen ungestörten Lebensraum zu bieten, wurde ein rund zwanzig Quadratkilometer grosses Waldreservat ausgeschieden. Im Arvenbüel starten wir für eine Schneeschuhwanderung durch das Amdener Wildruhegebiet Vorder Höhi. Auf eingeschneiter Strasse gehts hoch zur Alp Looch, von dort auf dem Sommerwanderweg auf den Flügespitz, weiter zur Bärenegg. Man könnte auch westlich um den Flügespitz herum wandern, doch die Route ist zurzeit praktisch nicht markiert, sodass man sich ohne GPS leicht verirrt, und wir würden die Tiere in ihrer Winterruhe stören. Die Schiblerwiti kurz nach der Bärenegg, sonnseitig ausgerichtet, vor kalten Nordwinden geschützt, eignet sich fürs Picknick und bietet auch noch schöne Ausblicke in die Glarner Gipfelwelt. Dann gehts abwärts, zur Brücke über den Zopfenbach nach Altschen und schliesslich mit Nonstop-Bergsicht zurück nach Arvenbüel. Acht Kilometer, je vierhundertsiebzig Meter Auf- und Abstieg, etwa dreieinvier tel Stunden, unbedingt Lawinengefahr beachten!

Die Arve, Königin der Alpen, auch Zirbe oder Zirbelkiefer genannt, aus der Familie der Kieferngewächse. Ihre Heimat sind die Alpen und die Karpaten. Wächst langsam, aber stetig, bis zu einer Höhe von fünfundzwanzig Meter, auf fünfzehnhundert bis zweitausendachthundert Meter über Meer, bildet meist die Baumgrenze, trotzt ihr Leben lang Wind und Wetter sowie Temperaturschwankungen von minus vierzig bis plus vierzig Grad, ist somit von den einheimischen Baumarten am besten an das raue Gebirgsklima angepasst, wird bis zu tausend Jahre alt. Einzigartig ist ihr Geruch, belebend-rustikal, wegen der ätherischen Öle, nimmt man an. Arvenduft soll das Wohlbefinden erhöhen, schont das Herz, fördert Schlaf, vertreibt Bakterien. Zum Beispiel in Form eines Arvenkissens, gefüllt mit Arvenspänen aus den Bündner Bergen in einer Hülle aus Maulbeerbaumpapier, eignet sich zum Beduften des Kleiderschranks, zum Dekorieren der Wohnung oder für einen wohligen Schlaf.

Die Samen heissen Arvennüsse, obwohl es keine Nüsse sind, sondern Samen. Der Tannenhäher liebt sie trotzdem, vergräbt sie als Nahrungsvorrat in Baumstrünken, unter Steinen und Felsblöcken oder an Böschungen, wo die Schneedecke nicht allzu dick ist, legt bis zu zehntausend Verstecke an, findet die meisten davon wieder, aber doch nicht alle und sorgt so für die Verbreitung. Auch der Mensch mag die Nüsschen, zum Beispiel in Guetzli, Nuschpignas, Arvenzapfen von Giacometti, Furnaria-Pastizaria-Café Giacometti in Lavin, Specialitas our dal cumün dal Parc Nazional, enthält Arvenkerne, Zucker, Butter, Haferflocken, Weizenmehl, Eier, Honig, Haselnüsse, Vanillezucker, Backpulver, Kochsalz jodiert, Nährwerte 100 g: 441 kcal, 23 g Fett, 50 g Kohlenhydrate, 8 g Eiweiss.

Aus Amden sind die Arven verschwunden, sind früheren Rodungen zum Opfer gefallen, denn Arvenholz ist beliebt für Zimmer und Möbel, oder haben sich, bedrängt von Fichte und Klimawandel, in höhere Lagen verzogen. Der Name ist geblieben: Arvenbüel.

12 Dürrenbach

Ein Strassenschild, normiert, hellgraue Schrift auf blauem Grund. Eine schmale Strasse, asphaltiert, führt zu einem Bauernhof. Das kenne ich doch. Ich erinnere mich. An ein Schauspiel. Unerwartetes Spektakel. Der Bauer pflügte den Acker, auf dem er zuvor Weizen, Gerste oder Raps geerntet hatte, eingehüllt in eine Wolke aus staubiger Erde, aufgewirbelt von seinem Traktor und dem Pflug, den er hinter sich herzog und dessen Zähne sich in die trockene Erde fras sen. Spuren eines langen, heissen Sommers. Die Mäuse hatten sich verkrochen, blieben in ihren Höhlen, um der Hitze zu trotzen. Zulasten der Greifvögel, denen die Nahrung fehlte. Kein Wunder, schwebten sie jetzt zu Dutzenden herbei. Ich blieb stehen, staunte, meinte zu träumen. Ein Storch. Wo ich hier noch nie einen gesehen hatte. Stelzte über den gepflügten Teil des Ackers und pickte eifrig, was immer sich ihm darbot. Weitere kamen geflogen, als hätte sie jemand benachrichtigt. Schritten in geordneter Einer- oder Zweierkolonne im Gleichschritt hinter dem Traktor her, liessen sich nicht abhalten vom Staub, der auch sie erfasste. Riesenhafte Raubvögel liessen sich nieder, hockten auf der Erde, inmitten der Störche, warteten und spähten, hoben ab, kreisten, bis auch für sie ein Happen abfiel. Was hielt der Bauer von seiner Gefolgschaft? Freute er sich wie ich über den unerwarteten Anblick und darüber, dass er an diesem Tag mehr als eine gute Tat vollbringen konnte? Schwer zu sagen. Ich sah ihn nur von hinten, weit weg, verwischt, umhüllt vom staubigen Dunst.

Jetzt stehe ich da, schaue auf das Schild, als ob ich es noch nie gesehen hätte. Dabei lese ich es jedes Mal, wenn ich vorbeilaufe. Dürrenbach. Vergesse es immer gleich wieder, versuche erneut, es zu memorieren, weil doch Namen dazu da sind, dass man sie sich merkt.

13 Margel

Ein kleines Tal, ganz in der Nähe, wo ich wohne und doch noch nie war. Mit einem Biohof, dem Margel. Und einer Besonderheit. Sechshundert Holunderbäume wachsen da. Bei Vollblüte sieht es aus, als ob über Nacht Schnee gefallen wäre. Oder jemand die Landschaft mit St. Galler Spitze überzogen hätte. Die Pracht ist einem Handel zu verdanken, geschlossen zwischen der Bauernfamilie und dem Zältli-Hersteller Ricola vor vielen Jahren: Die Firma finanziert die