Bücher in meinem Haus - Katrin Züger - E-Book

Bücher in meinem Haus E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

Beim Aufräumen fielen der Autorin Bücher in die Hände, von denen sie keine Ahnung (mehr) hatte, dass es sie gibt, und sie begann zu lesen, noch bevor sie mit dem Aufräumen fertig war. Dann wählte sie einige aus, eines für jeden Buchstaben des Alphabets (dem Namen der Autorin oder des Autors nach), um darüber zu schreiben. Dabei ist ganz Unterschiedliches zusammengekommen - schmale, mittlere und umfangreiche Werke, lakonische, präzise, rätselhafte, detailversessene Sprache, fortlaufende Geschichten neben scheinbar ungeordneten Gedankensplittern. Doch ist es Zufall, dass sich gewisse Themen wiederholen? Wohl nicht, denn der Mensch hat ja so seine Vorlieben. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie den ersten Sätzen. Der erste Satz sei wesentlich, heisst es, er werfe den Köder aus, wecke Gefühle und Vertraulichkeit. Dann fand sie, dass auch der letzte Satz seinen Platz haben soll. Hinzu kamen ausgewählte schöne Sätze dazwischen. Nachzulesen jeweils am Ende der Texte.

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Wer die Freude am ungelesenen Buch nicht kennt, der kennt auch die Freude des Lesens nicht.

Peter Bichsel

Wo nehme ich nur die Zeit her, so viel nicht zu lesen?

Karl Kraus

Ein Klassiker ist ein Buch, das die Leute loben, aber nicht lesen.

Mark Twain

Die grosse Zahl der Bücher nimmt einem die Lust daran und tötet das Vergnügen.

Joseph Joubert

Auch das schlechteste Buch hat seine gute Seite, nämlich die letzte.

John Osborne

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ursula Adam:

Die Zweitgeburt

Roland Buti:

Das Flirren am Horizont

Roger Caillois:

Steine

Astrid Dehe/Achim Engstler:

Auflaufend Wasser

Florbela Espanca:

Der Rest ist Parfum

Michael Fehr:

Glanz und Schatten

Gerd Gaiser:

Sizilianische Notizen

Willem Frederik Hermans:

Nie mehr schlafen

Meinrad Inglin:

Urwang

Joseph Joubert:

Alles muss seinen Himmel haben

Walther Kauer:

Spätholz

Erich Loest:

Wälder, weit wie das Meer

Bernard Mandeville:

Die Bienenfabel

Andreas Neeser:

Zwischen zwei Wassern

Robert Olmstead:

Amerika landeinwärts

Fernando Pessoa:

Das Buch der Unruhe

Yann Queffélec:

Barbarische Hochzeit

Jean-Pierre Rochat:

Hirt ohne Sterne

Leta Semadeni:

Tamangur

Sylvain Tesson:

Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt

John Updike:

Auf der Farm

Karl Valentin:

Riesenblödsinn

Swain Wolfe:

Die Frau, die in der Erde lebt

Gao Xingjian:

Der Berg der Seele

Hanya Yanagihara:

Das Volk der Bäume

Emil Zopfi:

Steinschlag

Vorwort

Im Haus gibt es Zimmer, mehrere davon, und einen Keller, in jedem Zimmer und im Keller stehen Regale, Regale mit Büchern, die meisten alphabetisch geordnet, sodass man sie leicht findet, wenn man den Namen der Autorin oder des Autors kennt. Weil die Regale auf die verschiedenen Räume verteilt sind und im Lauf der Zeit unterschiedlich befüllt wurden, mit Romanen und Erzählungen, Sach- und Fachbüchern, Bildbänden, Lehrbüchern, Reiseführern, je eigene Kategorien bildend, wie dies in Buchhandlungen ja auch der Fall ist, wird einem die Suche nicht allzu leicht gemacht. Hinzu kommt, dass manche Bücher sich unalphabetisch dazugesellt haben. Andere liegen ungeordnet in Stapeln auf dem Salontisch, auf der Kommode, auf dem Sekretär, auf dem Nachttisch, darauf wartend, gelesen zu werden. Wie der andere lagern in Schachteln, noch vom Umzug her, weil kein Platz zum Aufstellen mehr da war. Als ich mich vor einiger Zeit zum Aufräumen, Sortieren und Einordnen entschloss, fielen mir Bücher in die Hände, von denen ich keine Ahnung hatte, dass es sie gab, und ich begann zu lesen, noch bevor ich mit dem Aufräumen fertig war, sodass die Ordnung leider noch immer nicht die angestrebte ist. Um mir einen Aufschub zu gewähren, hatte ich eine Idee: Für jeden Buchstaben des Alphabets (dem Namen der Autorin oder des Autors nach) wählte ich ein Buch aus – eines, das ich noch nicht kannte, das ich schon lange lesen wollte oder schon lange wieder lesen wollte, und las es so gründlich, dass sich daraus eine Art Rezension ergab. Die nachfolgenden Texte sind das Ergebnis davon.

Dabei ist ganz Unterschiedliches zusammengekommen: schmale, mittlere und umfangreiche Werke; lakonische, präzise, rätselhafte, detailversessene Sprache; fortlaufende Geschichten neben scheinbar ungeordneten Gedankensplittern, zum Beispiel in den zwei Werken, die erst nach dem Tod des Autors erschienen sind: das «Buch der Unruhe» von Fernando Pessoa und «Alles muss seinen Himmel haben» von Joseph Joubert. Und thematisch? Ist es Zufall, dass sich gewisse Themen wiederholen? Die Natur vor allem, Landschaften, Reisen, Jahreszeiten, Wetter und Klima, Steine, Wasser, das Schicksal von Bauern und Hirten in abgelegenen Bergtälern – in «Urwang» von Meinrad Inglin zum Beispiel, in «Spätholz» von Walther Kauer oder «Hirt ohne Sterne» von Jean-Pierre Rochat. Als ich damit beschäftigt war, stiess ich auch noch auf einen Magazinbeitrag,1 in dem es um die Elektrifizierung der Schweiz geht: «Man kannte das Land als Sehnsuchtsort der Romantiker, wo Heidi und die Sennen lebten – man kannte es nicht als Laboratorium der Moderne, wo Maschinen an jeden Bach gestellt wurden, um auch noch die geringste Wasserkraft zu nutzen, und in jedem Krachen an den Produkten der Gegenwart getüftelt wurde. (…) Tatsächlich gab es 1911 nur wenige Länder in Europa, die dermassen elektrifiziert waren.» Zufall? Natürlich nicht. Man hat ja so seine Vorlieben und wählt entsprechend aus, wenn man kann. So habe ich wohl, mehr oder weniger bewusst, jene Bücher herausgegriffen, die sich mit der Welt im Allgemeinen und der Natur mit ihren Landschaften und Geschöpfen im Besonderen befassen, nicht so sehr jene über einzelne Menschen, die sich in Liebeswirren verlieren, über die, meine ich, doch längst alles gesagt und geschrieben ist, obwohl auch die ausgesuchten Bücher nicht ganz ohne sie auskommen. Oder Krimis, Thriller, Horrorgeschichten, Agentengeschichten, Fantasy, Science Fiction, lieber nicht. Und doch, ein Krimi, zumindest ein halber, hat es in die Liste geschafft: «Steinschlag» von Emil Zopfi.

Der erste Satz eines Buchs sei wesentlich, meinen Schreibratgeber und Verlage. Die ersten Worte würden den Köder auswerfen, Gefühle und Vertraulichkeit wecken, einen in eine andere Welt eintauchen lassen. Sie dürfen uns irritieren, verblüffen, Rätsel aufgeben, zum Lachen bringen, Geheimnisse andeuten – nur eines dürfen sie nicht: uns kalt und unberührt lassen, lese ich auf einer Website. Der Romananfang sei wichtig, sagen andere, aber man solle ihn nicht überbewerten, ein perfekter erster Satz nütze nichts, wenn der Rest des Texts ihm nicht standhalte. Tatsächlich finde ich nicht, dass mir der erste Satz gefallen muss, damit ich weiterlese. Dennoch: Ein schöner erster Satz ist etwas Schönes.

Da war einmal ein Wettbewerb, im Jahr 2007, veranstaltet von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen, auf der Suche nach dem schönsten ersten Satz in Romanen, Erzählungen, Kinder- und Jugendbüchern in deutscher Sprache. Wer gewann? Bei den Romanen und Erzählungen war es Günter Grass mit dem Butt: «Ilsebill salzte nach.» Im Ernst? Würde ich da überhaupt weiterlesen? Je nachdem. Ich habe ja vorher vielleicht den Klappentext gelesen. Und hätte das Buch eventuell gar nicht gekauft. Aber jetzt, wo ich es vor mir liegen habe, lese ich weiter. Vielleicht bis zum Ende, vielleicht auch nicht.

Meine drei liebsten ersten Sätze in den besprochenen Büchern:

«Um sieben Uhr würden sie kommen.»

(Walther Kauer, Spätholz)

«Nach einer Stunde fanden sie die Frau.»

(Emil Zopfi, Steinschlag)

«Es war im Juni des Jahres 1976.»

(Roland Buti, Das Flirren am Horizont)

Aber warum spricht kaum jemand vom letzten Satz? Ist nicht er es, der sich einprägt, weil man ihn als letzten liest? Bei mir wohl nicht, denn ich erinnere mich eher an die Anfänge als an die Schlüsse. Deshalb hier eine Lanze für den letzten Satz:

«So dicht fällt der Regen, dass alles Wasser wird.»

(Astrid Dehe/Achim Engstler, Auflaufend Wasser)

«Ich gebe dir mein Herz.»

(Hanya Yanagihara, Das Volk der Bäume)

«Endlich frei.»

(Robert Olmstead, Amerika landeinwärts)

Dann gibt es ja noch all die Sätze dazwischen. Darunter schöne Sätze, die man festhalten und bewahren möchte. Einige davon habe ich, wie die ersten und die letzten Sätze, am Ende der Beschreibungen aufgeführt. Man lese selbst. Einer der schönsten Sätze, wie ich finde, findet sich aber nicht hier, sondern in der Präambel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft: «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht, und die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Man sollte ihn sich jeden Tag dreimal vor Augen führen.

Die Ränge zwei und drei der «schönsten ersten Sätze» in der Erwachsenenliteratur im Wettbewerb belegten übrigens Franz Kafka und Siegfried Lenz:

«Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.» (Die Verwandlung)

«Hamilkar Schass, mein Grossvater, ein Herrchen von, sagen wir mal, einundsiebzig Jahren, hatte sich gerade das Lesen beigebracht, als die Sache losging.» (Der Leseteufel)

1 Markus Somm: Als das Silicon Valley in der Schweiz lag, Das Magazin 04/2020

Ursula Adam: Die Zweitgeburt

Vor über vierzig Jahren ist das Buch erschienen, 1980, eine kleine Ewigkeit ist seither vergangen. Als ich meinen Mitbewohner fragte, wann und warum er das Buch gekauft, ob er es gelesen und wie es ihm gefallen habe, zuckte er mit den Schultern. Es muss aber einen Grund gegeben haben, und der scheint mir Grund genug, das Buch meinerseits zu lesen. Der Umschlag ist stilisiert, weisses Eisenbahngleis auf braunem Schotterbett mit ebenso braunen Schwellen, das in einen schwarzen Tunnel führt, der in einen roten Berg gebohrt wurde, davor und neben der Trasse gelbe Erde, am Ende des Tunnels weisses Licht.

Ein Wir, dann ein Ich und ein Du, zuerst gross-, dann kleingeschrieben, warum auch immer. Ausserdem eine Sie, in der dritten Person, die Ich sein könnte. Sitzt vor einem plätschernden Brunnen auf einem Taubenplatz und sinniert. Dann wieder Ich. Ein weibliches. Sie (das heisst Ich) erinnert sich an Amerika, wo sie (ich) einmal war, das sonnigste Land, wo die Sonne zwar untergeht, aber jeden Tag wieder auf, ans Fernando Valley, an Disneyland. Spricht zu ihm. Dann wieder du. Wird zu er, er ist der Fluss, der sich nie langweilt. Dann wieder wir, auf dem Traunsee. Man feiert, tanzt, isst, badet, schläft im Haus mit griechischen Säulen, das am Morgen verschwunden ist. Wacht auf, gerädert, und fährt nach Hause, in den Hörsaal. Er verlässt sie, er muss zur Arbeit. Man weiss nicht, wer spricht, man versteht nicht, worüber gesprochen wird. Die Sintflut. Die Arche ist gebaut, zwei Menschen betreten sie, ein schwarzes Mädchen und eine weisse Frau oder umgekehrt, die eine gebiert die Träume der anderen, ein herziges Mischlingskind mit schwarzen Kulleraugen, die das Weiss sichtbar machen. Die Männer fehlen noch. Wir können keine Männer sehen. Einen haben wir erspäht, begraben unter einem Haufen aus Schallplatten und Büchern und verdorbenen Medikamenten, wir graben ihn aus mit unseren Händen, wir beide, Johanna, die jetzt Joan heisst. Johanna ist mein dritter Name, ich bin getauft, ich bin Christin, ich glaube nur das, was ich sehe, ich liebe Kitsch … Dann wird es wieder wir. Italien. Wer spricht zu wem? Ich und du. Die Mutter ist betrunken und rettet das Kind im letzten Augenblick vor dem Strassentod.

Der Beginn einer Liebesgeschichte. Die Liebe wird zum Moloch, vor dem einen graut. Sie fahren spazieren, ein Wochenende, haben ein Auto, Benzin und Zeit. Schlafen viel und befriedigen einander oft, es gibt Gründe, warum er nicht kommt, der Hund, das Kind. Er will wieder kommen, in zwei Stunden, in zwei Tagen, in zwei Jahren und für immer bleiben oder für immer wegbleiben. Das Übliche. Dann wieder du. Der gleiche oder ein anderer Mann? Auf jeden Fall einer, der viel trinkt.

Erinnerungen an früher. Drei Kinder, das mittlere schon tot. Ein Vorkriegskind, das die Ehe auslöste, ein Kriegskind und ein Nachkriegskind, zwei Buben und ein Mädchen, ein katholisches in einem evangelischen Krankenhaus, eine sanfte Geburt, trotz Querlage. Es soll die Ehe wieder aufbauen, die unvollendeten Ehezitate vollenden, die falschen richtigstellen. Ein Wunderkind, das mit acht Monaten zu laufen beginnt. Dann wieder sie, und wieder ich. Wer ist wer? Ich ruft Gott an, er ist nicht da, er ist ausgegangen, er braucht sie nicht, er hat schon einen Sohn, den muss er für die Opferung vorbereiten. Venedig, in einer dunklen Kirche. Ist es der Vater oder Gott Vater, den sie dort trifft? Was ist eine Germspeise? Sie fahren weiter. Was ist ein Fetzenquartier? Sie trennen sich. Was ist Ribiselsaft? Und so weiter.

Sätze, aus Wörtern zusammengesetzt, die ich kenne, die ich aber nicht zu einem Ganzen zusammenfügen kann. «Jüngling, ich sage dir, steh auf – , aber es sind doch nur Wörter, gesprochen wohin? Geschrieben auf Papier. Sie redet doch nur, er redet nur so daher, das sagt er oft, er sagt ja viel, die Währung wird weich, Reden und Tun sind zweierlei, wir fahren auf zweigleisigen Wortschienen direkt in den Tod.» Verstehst du, was ich meine?

Zunehmende Rhythmisierung, Jamben und Trochäen folgen sich regelhaft, man könnte leicht ein Gedicht daraus machen: «Wir reisen in den Süden, es regnet dreizehn Stunden lang, dann wird es hell, durch schwarze Wolken blitzt ein blaues Auge, es blitzt die Wolken weg, die wie Sand am Meer zerstieben …».

Ich strauchle auf der Suche nach Sinn und Zusammenhang. Kaum gelingt es mir, mir eine Szene vor Augen zu führen, fällt sie auch schon wieder auseinander. Formeln fliegen mir um die Ohren und denken nicht daran, sich erhaschen zu lassen. Berauschend dagegen die Sprachmacht, die an einzelnen Stellen aufblitzt und einen für die Anstrengung der Lektüre entschädigt: «Ich bin nicht sitzengeblieben, ich war gescheit, ein Lehrerkind, zuerst ganz gescheit, dann weniger, dann noch weniger, dann wieder gescheiter, zum Schluss am gescheitesten, wäre ich doch wenigstens barfuss durch alle Bildungseinrichtungen gelaufen, ich hätte gesunde Füsse.»

Ich bin nicht besonders gut im Lösen von Rätseln, lese lieber Klartext, auch wenn allzu viel Klarheit nicht erwünscht ist. Am Ende des Buchs überwiegen das Rätselhafte, Verwirrung, Zwiespältigkeit.

Der erste Satz: Eines Morgens noch vor der Dämmerung, noch vor dem Traumschlaf aufwachen und nach wissenschaftlicher Literatur greifen.

Schöne Sätze: Können Wörter zum Leben erwecken? Alle Menschen sind gleich, alle Menschen sind mir gleich. Auf einem Schiff, das zum Lido fährt, habe ich meinen Verstand verloren, der Fahrtwind hat ihn fortgeblasen. Ich suche eine Stelle, eine leere Stelle in meinem Hirn. Die Seen sind die Augen der Erde. Es regnet überall in diesem Land, ich sage Sintflut, du sagst nein, die Hügel brauchen es. Fragen Sie einmal Ihren Rotstift, der kann Ihnen sicher weiterhelfen. Und plötzlich ist da eine Höhle, es könnte auch die Hölle sein. Später sagst du, ich sehe aus, als ob ich um das Weltgeheimnis wüsste. Warum der Mensch warum erfunden hat, das ist die Frage. Die Augen suchen einen Punkt, den es nicht gibt, am Tag nicht, nicht bei Nacht. Ich hab dir doch gesagt, dass du keinem Engerling trauen sollst, er könnte sich als Engerling entpuppen.

Der letzte Satz: Ja, sagte er, ich habe es gesehen, ich bin in eine Kirche gegangen, ich habe mich auf den kalten Steinboden gekniet und dort meine Stirne so lange aufgeschlagen, bis ich tot war, endlich einmal wirklich tot, und dabei lebe ich heute noch, es hat mir das Leben gerettet, die kleinen Tode sind es, die den grossen besiegen, die täglichen Kopftode, die täglichen Geschlechtstode, unsere Schutzengel.

Roland Buti: Das Flirren am Horizont

Ein heisser Sommer. Seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Die Hitze drückt auf die Felder, verdorrt die Ernte. Ein warmer, von glühenden Partikeln durchsetzter Wind weht von den Bergen herab. Die Insekten werden in ihren Löchern gebraten. Oder taumeln im Flug und fallen wie vertrocknetes Obst auf den Boden, unter einem Himmel so gelb wie Maispapier. Die kleinen Säugetiere – Spitzmäuse, Feldmäuse, Igel, Wiesel – sind längst verdurstet, die Schmetterlinge fortgezogen, an einen Ort, wo noch Blumen blühen. Man sitzt in einem Backofen und wird geröstet. Auf dem Hof sterben die Hühner. Die Regierung hat den Notstand ausgerufen. Aus den Seen wird Wasser abgepumpt, um es in Tankwagen in die Dörfer zu schaffen. Das Militär ist im Einsatz, um die Felder notdürftig zu bewässern und an Pflanzen zu retten, was noch zu retten ist.

Die Geräusche klingen anders als sonst, es ist keine Feuchtigkeit in der Luft, um sie zu tragen. Das dürre Gras raschelt wie Seidenpapier und zerbröselt unter den Füssen, stellenweise ist es nackter Erde gewichen. Der Zementbelag des Wegs kocht. Das Tageslicht erlischt mit qualvoller Langsamkeit. Die Sonne lässt einen Schwall Wärme zurück, der noch auf der Erde lastet. Man hört ein feines, trockenes Knistern, als ob die Felder, erdrückt von der Hitze des Tages, noch leise weiterglühten. Nachts dringt das Zirpen der Grillen schrill und traurig durch die geöffneten Fenster. Irgendwie hält nichts mehr zusammen. Die Hecke ist nicht mehr mit der Wiese verbunden, der Weg passt nicht mehr zum Himmel, der Baum sieht aus, als würde er schweben, es ist zu viel Abstand zwischen den Dingen.

Dann verändert sich der Himmel. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen, hat sich in der Atmosphäre aufgelöst, dunkelgelb, staubgesättigt, kompakt wie Karamellsosse. Die Luft wird hart. Erste Tropfen fallen, machen ein Geräusch wie einschlagende Raketen, wirbeln den Staub auf. Donnergrollen, ein Blitzschlag, der die Wirklichkeit eine Sekunde lang in eine weisse Leinwand verwandelt. Die Gewitter zerhacken die vom langen Ausharren in der trockenen Luft ausgelaugten Pflanzen. Immer dichter wird der Regen, ein Vorhang aus Wasser, wie mit Eisenspänen gespickt. Er scheint nie wieder aufhören zu wollen, als hätten die Wolken den Belagerungskrieg gegen die Trockenheit gewonnen. Die Hühnerhalle ist zerstört. Die alte Stute Bagatelle verlässt den Stall, um im Freien zu sterben. Der Knecht wird von einem Balken erschlagen. Der Vater erwürgt fast die Freundin der Mutter, zusammen machen sich die beiden vom Hof. In diesem heissen Sommer entgleitet das Leben. Die traditionelle Landwirtschaft zerfällt, eine Ehe zerbricht, eine Kindheit geht zu Ende. Man taucht ein in die Hitze, die Stille, das Schweigen und die Gewissheit, dass die Katastrophe nicht aufzuhalten ist. Was war er anstrengend, dieser Sommer im Jahr 1976.

Der erste Satz: Es war im Juni des Jahres 1976.

Schöne Sätze: Ich liebe Vögel. Du weisst schon, dass sie direkt von den Dinosauriern abstammen? Es sind die einzigen Tiere, die singen. Sie singen wirklich, ganze Melodien. Das tun sie nur, weil sie fliegen. Sie können es noch immer nicht fassen, dass sie sich in die Luft erheben können. Deshalb hören sie nicht auf zu singen!

Der letzte Satz: Ich sagte mir, dass er sich wohl in diesem Augenblick wünschte, langsam von der Erde aufgenommen und sanft in die Tiefe gezogen zu werden, um sich endlich mit den Überresten all der Männer und Frauen zu verbinden, die von diesen ehemals fruchtbaren Böden genährt wurden.

Roger Caillois: Steine

Ein Buch über Steine. Wie belanglos. Steine zudem, die nicht Archäologen, Künstler, Diamanthändler, Architek ten, Bauherren, Juweliere, Landschützer und Grabschmücker interessieren. Steine vielmehr, die seit jeher, vielfach unbeachtet, den Unbilden der Witterung ausgesetzt sind, die von nichts zeugen als von sich selbst und eben deshalb von Interesse sind, für mich, die ich von Steinen fasziniert bin, gewöhnlichen, unauffälligen, unbehauenen, ungeschliffenen, so wie die Natur sie geformt hat, nicht von Menschenhand verunstaltet und in lächerliche Formen gemeisselt – Kugeln, Eier, Ringe, Broschen, Buchstützen, Briefbeschwerer.

Sie interessieren, weil sie vom Beginn des Planeten stammen, manchmal von einem anderen Stern. Weil sie die Geschichte der Erde zum Leben erwecken und diejenige des Menschen relativieren. Weil sie älter sind als das Leben, hartnäckiger, dem Menschen und der Zeit widerstehen, sich zwar klein-, aber nicht unterkriegen lassen, schon deshalb unsere Ehrfurcht und Ehrerbietung verdienen. Der Mensch, wenn er sich ihrer bewusst wird, beneidet sie um ihre Dauerhaftigkeit, ihre Härte, ihren Starrsinn, ihren Glanz, ihre Glätte, ihre Undurchdringlichkeit, weil sie sogar als zerbrochene noch ganz sind. Sie verweisen auf das scheinbar Gewöhnliche, Alltägliche, Kleine und Unbedeutende, obwohl es doch das Grösste und Älteste ist, älter als die Geschichte der Menschen und Mythologien. Nichts wird sie je verändern, ausser die Gewalt tektonischen Wütens und die allmähliche Abnutzung durch die Zeit. Sie überdauern das Leben, sind sich des Todes nicht gewärtig und haben nichts weiter zu tun, als sich Sand, Platzregen oder Brandung, Unwetter und Zeit übers Gesicht rieseln zu lassen.

Steine wie Girlanden, Nervengeflecht, Astwerk, Palmen, Farne, Moose, Medusen, Landschaften. Dendriten aus Mangan auf Sandstein, manchmal Achat, ausnahmsweise Quarz, breiten das Spitzengewebe ihres Laubwerks, das Haar ihrer Nerven in ihnen aus. Die Farben von Ziegelrot über alle Schattierungen des Ockers bis Schwarz. Im Honig oder in der blauen Milch des Achats skizzieren sie Landschaften: Hügel, Täler, Schluchten, von Tannen bestanden, zu erkennen an den zugespitzten Umrissen und den niederen, ein wenig aufwärts gebogenen Ästen, durch die Entfernung winzig gemacht. Im Bergkristall sind sie am deutlichsten erkennbar, von intensivem Schwarz, fleischig, gegabelt wie Zypressenblätter, aus verschachtelten Gelenken wie Tarsen von Gliederfüsslern. Sehen aus, als wären sie einmal lebendig gewesen.

Der Achat. Lehnt sich entschieden gegen die geringste Monotonie auf. Achatknollen. Graue, runzlige, eher abstossende Kugeln. Man muss sie zerbrechen, um der innewohnenden Schauspiele habhaft zu werden. Meist nur trübe, wenig durchscheinende Materie, die sich kaum vom erstbesten Feuerstein unterscheidet, manchmal aber launige Zeichnungen, parallele Adern, seltener mineralische Girlanden, Zacken von Spitzengewebe, explodierende Chrysanthemen, reglose Feuerwerkskünste in versteinerter Nacht, leuchtende Fenster von der Farbe der Alpenveilchen oder wilden Rosen, Tapeten und Vorhänge, die mitten im Stein an unsichtbaren Haken befestigt sind und deren Falten feierlich herabwallen.

Der Pyrit. Mein Liebling. Einer davon. Neben Hämatit, Magnetit, Turmalin. Obwohl er doch so häufig ist. Weil er auch wunderschön ist. Ein Kunstwerk der Natur, mit zauberhaftem Leuchten, Glänzen und Glimmern, je nachdem, wie man ihn ins Licht hält. Auch Schwefelkies, Katzengold (nicht von «Katze», sondern von «Ketzer»), Narrengold oder, wissenschaftlich korrekt, Eisen(II)-disulfid geheissen. Für feste Körper gilt, im Gegensatz zu Gasen, dass sie ihre Masse vollständig einnehmen und sich nicht durchdringen. Wie der in eine Planke eingeschlagene Nagel, der das Holz spaltet und sich einen Weg bahnt. Gilt das auch für den Pyrit? Es kommt vor, dass ein Polyeder in einen andern verschachtelt und von ihm aufgehoben wird, man erkennt ihn einzig an zwei seiner Ecken. Manchmal stecken Kuben schräg und nur ein Stückchen ineinander, jeder hat nur einen seiner Winkel eingebüsst, sodass der Anschein entsteht, man könnte sie ohne grosse Mühe voneinander loshaken. Jeder Verband wechselseitig sich durchdringender Kristalle verkündet das organische Gesetz der mineralischen Welt.

Der Hämatit, Blutstein, Eisenglanz, Specularit, Iserin, Roteisenstein, Roteisenerz oder Rötel. Kommt ebenfalls zahlreich vor. Mein zweitliebster Stein, nach dem Pyrit. Manchmal gleitet ein intensiv grüner, von Finsternis durchzogener Widerschein über das Eisen, verleiht ihm einen ungeduldigen Schimmer, lässt ihn erstrahlen in einem Abglanz unbekannter Herkunft, jäh eingefangen und rasch zurückgeworfen, wie der schwache Schein eines winzigen Blitzstrahls. Die Farbnuance ist kalt, sogar grausam, doch es wagen sich goldkäferfarbene Strahlen hervor, ein mattes Gold, manchmal ein Erdbeerrot, häufiger ein Jod- und Fuchsinviolett, das sogleich in das einhellig grüne Licht von Metallkäfern eingeschmolzen wird.

Ein Klumpen Kupfer, scheint sich vor Stolz zu blähen und gibt zu verstehen, dass er einst einer schrecklichen Weissglut ausgeliefert war, darauf am Grund stehenden Wassers zu endlosem Erkalten sich selbst überlassen fand, wo eine langsame Chemie ihn mit polychromer Patina überzog. Es dominiert das Grün, der nahezu vollständige Fächer der Grüntöne, von denen dennoch jedes sein Anderssein hervorhebt: hier das glänzende, fast schwarze Grün von Moosen nach dem Regen, dort das von Karbonaten, von Sulfiten angegriffene Samtgrün vergrabener Münzen, häufig trübe Blaus, die ins Grün hinüberspielen, die der Türkise, der Aquamarine und anderer blauer Steine ohne genauen Farbwert, im Grenzfall das zittrige, zögernde Grün sehr junger Mandeln, deren Flaum noch silbrig ist.

Woher das Bestreben von Menschen, in einem überspannten Kraftakt besonders lange und schwere Steine aufzurichten? Welcher Sinn liegt in einem hohen Stein, der ohne erschöpfende Anstrengung sich nicht in der Senkrechten befinden würde? Selten wurden so viel Erfindungsgeist und Energie für einen rätselhaften Gewinn verschwendet. Namen und Trugbilder der Götter, der Mächte, der Häuptlinge, denen diese kahlen Stellen geweiht wurden, sind längst der Erinnerung entfallen. In die aufrechten Steine ist kein Symbol, nicht einmal ein rudimentäres, eingegraben, so als stammten sie nicht nur aus einer Zeit vor der Schrift, sondern noch vor aller Zeichnung. Vielleicht hatten sie keinen anderen Auftrag, als das Paradox eines aufrechten Vierfüsslers anschaulich ins Gedächtnis zu rufen. Man hegt den Verdacht, dass sich der ursprünglichen Verirrung rasch ein blinder Drang zum Überbieten zugesellte, der dazu führte, immer verschwenderischeren, wagemutigeren und schweisstreibenderen Aufrichtungen nachzugehen. Dem törichten Wetteifer müssen aber fraglos Erfindung und Erprobung neuer Techniken zugeschrieben werden, etwa eine wirksamere Ökonomie im Ackerbau.

Steine in China. Mi Fu (1051–1107), grosser Liebhaber der Malerei und Kalligrafie, selber berühmter Maler, Kalligraf und Dichter der Song-Dynastie, Exzentriker, angriffslustig, unduldsam, verwegen, verschmähte ausgetretene Pfade, neigte zu Rätselhaftigkeit, Widerspruch, Herausforderung. War Gouverneur von Lien-schuei, in der Nähe von Ling-Pi, einer Gegend, berühmt für ihre Steine, die, wenn sie ordentlich zugeschnitten und geschliffen wurden, musikalische Kräfte entwickelten. Mi Fu sammelte sie, betrachtete und streichelte sie jeden Tag, gab ihnen Namen, ihrer Schönheit gemäss, und vernachlässigte darob seine Arbeit. Der Zensor Yang T’seu-Kong geriet in Unmut und kam, ihn zu ermahnen, ob es sich denn gezieme, dass er den lieben langen Tag mit Steinen spiele, anstatt sich um die Geschäfte der Provinz zu kümmern. Mi entnahm seinem Ärmel einen Stein, von tiefen Spalten durchbrochen, voller Gipfel und Höhlen, von traumhafter Färbung, drehte ihn um und um, um Yang zu überzeugen, und fragte: «Einen Stein wie diesen hier, muss man den nicht lieben?» Als Yang sich nicht dafür interessierte, liess Mi den Stein in den Ärmel zurückgleiten und holte einen anderen hervor, mit Stockwerken schroffster Gipfel von ausserordentlicher Bildung. Auch von diesem liess Yang sich nicht beeindrucken, und Mi liess ihn in den Ärmel zurückgleiten. Er präsentierte einen dritten, himmlisch in seiner Zeichnung und göttlich in seiner Ziselierung. Er blickte Yang ins Gesicht und fragte erneut: «Einen Stein wie diesen hier, muss man den nicht lieben?» Da erwiderte Yang, Mi sei nicht der Einzige, der den Stein liebe, er liebe ihn auch, riss Mi Fu den Stein aus den Händen, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Mi geriet ausser Fassung, versuchte viele Monate lang, wieder in den Besitz des schönsten Stücks seiner Sammlung zu gelangen, setzte Schreiben auf, in denen er um Rückerstattung bat, vergeblich.

Steine sind nichts weniger als belanglos.

Der erste Satz: Von Steinen spreche ich, die stets draussen genächtigt haben oder in ihrem Lager und der Nacht der Adern ruhen.

Mein liebster Satz: Jeder Stein ist ein potenzielles Gebirge.

Der letzte Satz: Zum Zeugnis dessen und wie andere Chinesen, die später Marmorplatten signierten, die sie nicht bemalt hatten, füge ich heute, schwach und vermessen, wie die Menschen nun einmal sind, als Schuldiger und Richter meines Textes und weil es in diesem armseligen Landstrich der Natur überdies der Brauch ist, meinen gestammelten Bekenntnissen meinen vergänglichen Namen hinzu und mache ihn dergestalt lächerlich.

Astrid Dehe / Achim Engstler: Auflaufend Wasser

Ein Taschenbuch, ein Bleistift, ein Halstuch, eine Kiste: Das ist alles, was von einem Ertrunkenen geblieben ist. Zu sehen im Museum Altes Zollhaus auf Baltrum, in einer Vitrine, eine Art Stillleben auf weissem Grund, das Holz der Kiste und des Bleistifts ungleich gefärbt wie Treibgut. Haben im Wasser gelegen und lange gebraucht, um zu trocknen. Ein paar Worte auf den aufgeschlagenen Seiten des Buchs. Geschrieben von einem jungen Matrosen, der auf einer Sandbank im Wattenmeer gelandet ist, im dichten Nebel, unweit von seiner Insel, die Insel unerreichbar, da die Flut unaufhaltbar am Steigen ist. Nimmt Abschied von den Eltern, den Brüdern und Schwestern. Was da am 23. Dezember 1866 und darum herum genau geschehen ist, erfährt man nicht. Man muss es sich vorstellen.

Nach Hause wollte Tjark Evers, auf seine Insel, um mit der Familie Weihnachten zu feiern. Mittags sass er noch auf der Schulbank, in der Navigationsschule in Timmel, will Schiffer werden, wie alle Männer seiner Familie. Wollte eigentlich auf dem Festland bleiben und für die Steuermannsprüfung lernen, hat es sich dann aber anders überlegt. Zu viert sind sie am Morgen losgefahren, gleich nach dem Beginn der Flut, die zwei Bootsmänner, er und einer, der ebenfalls nach einer Überfahrt gesucht und das Boot am Südwestende Langeoogs verlassen hat. Es herrscht Flaute. Man sieht nicht weit. Nebel rundherum. Tjark nimmt den Seesack, springt hinaus auf den Sand. Ein paar Schritte noch bis zum Ostrand von Baltrum. Wenn er stramm marschiert, schafft er es zum Gottesdienst ins Dorf. Das Boot verschwindet im Nebel.

Jetzt steht er da, von den Bootsleuten keine Spur mehr, als habe es sie nie gegeben, in dichtem Grau, Lufttempera