tracks 'n' Treks - Johannes Salim Ismaiel-Wendt - E-Book

tracks 'n' Treks E-Book

Johannes Salim Ismaiel-Wendt

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Beschreibung

Gäbe es die Schlüsselkonzepte postkolonialer Studien auf Vinyl, dann läge auf dem einen Plattenspieler vielleicht 'The Black Atlantic' von Gilroy. Ich hätte eine 12´´ Version von Texten wie 'De-Linking' von Mignolo oder auch eine Single wie 'London liegt in den Tropen' von Uh-Young Kim. Auf dem anderen Deck würde sich zeitgleich ein Album von Keziah Jones, Natacha Atlas, Jan Delay, Quio, Chronomad oder Pinch drehen. Ich würde die Beats von beiden Plattentellern synchronisieren und mit dem Mischpult tracks'n'treks mixen. Mit 'tracks'n'treks' liegt endlich ein Buch vor, das dicht entlang der Spuren und Gestaltungsformen von Track Music denkt. Aus World Beat, HipHop, Electronica und Dub Step heraus entwickelt es sein Weltenwissen, kritische Kulturtheorien und Handlungsstrategien. Johannes Ismaiel-Wendt hinterfragt das Begehren nach der Verknüpfung von Musik mit kulturellen Geographien, kritisiert rassistische musikethnologische Perspektiven und bietet ein andersartiges musikwissenschaftliches Analysewerkzeug. Das Buch richtet sich an kritische GeisteswissenschaftlerInnen genauso wie an popinteressierte LeserInnen. Es synchronisiert seine Gegenstände in so eigener track-musikalischer Art, dass die Augen beim Lesen ganz Ohr werden.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Johannes Ismaiel-Wendt studierte Kulturwissenschaft, Soziologie und Musikwissenschaft, promovierte 2010 an der Universität Bremen und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Er schreibt, komponiert, hält soundlectures und lehrt über Ästhetiken elektronischer Musik, Sounds und Routen des Black Atlantic. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist Performance als Postkoloniale Wissensgenese.

[Im UNRAST Verlag ist von ihm erschienen: »Herbert Grönemeyers Platzverweise: Über Verortung und Aneignung von Musikkultur im WM-Deutschland.« In: Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hrsg.): re/visionen. Münster 2007.]

Johannes Ismaiel-Wendt

tracks ’n’ treks

Populäre Musik und Postkoloniale Analyse

Diese Veröffentlichung lag am 25.3.2010 dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Gutachter waren Prof. Dr. Sabine Bröck (Universität Bremen) und Prof. Dr. Alexander Weheliye (Northwestern University (Chicago)). Betreut wurde die Arbeit außerdem von Dr. Jochen Bonz. Die Forschungsarbeit wurde durch ein Promotionsstipendium der Heinrich Böll Stiftung gefördert.

Die vorliegende Fassung ist eine gekürzte Version der Dissertation. Kapitel über Typologien musikalischer Zeichen sowie ein Exkurs über (Pop-)Musikanalyse und ihre Krisen sind nicht in das Buch aufgenommen.

Diese Veröffentlichung lag am 25.3.2010 dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Gutachter waren Prof. Dr. Sabine Bröck (Universität Bremen) und Prof. Dr. Alexander Weheliye (Northwestern University (Chicago)). Betreut wurde die Arbeit außerdem von Dr. Jochen Bonz. Die Forschungsarbeit wurde durch ein Promotionsstipendium der Heinrich Böll Stiftung gefördert.

Die vorliegende Fassung ist eine gekürzte Version der Dissertation. Kapitel über Typologien musikalischer Zeichen sowie ein Exkurs über (Pop-)Musikanalyse und ihre Krisen sind nicht in das Buch aufgenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Johannes Ismaiel-Wendt:

tracks ’n’ treks

1. Auflage, Oktober 2011

eBook UNRAST Verlag, Juni 2022

ISBN 978-3-95405-113-7

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Populäre Musik und Postkoloniale Analyse

[beat juggling] Einleitung

[Pre-Listenings] Aufbau

Teil I Postkoloniale Gehörbildung

Topophilie der Agenten populärer MusikWie populäre Musik sortiert wird

Topophobie der musikalischen Gestalten

Die topographische InversionVon der bewegten Musik zur kulturellen Geographie

Inszenierte RäumlichkeitAn postkoloniales Denken herantasten

Wie das Postkoloniale in die Musik kamPostkolonialismus: Kolonisierung – Dekolonisierung – Rekolonisierung

Kultur als Kolonialismus

Was meint »postkolonial«?

Popmusik ist postkoloniale Musik.

Objektverlust durch »Objektivierung«

Die Weltkarte der Musik

(Pop-)MusikEthnoLogik

TRX Studies

Ein (nicht ganz) neuer Forschungsansatz

Track vs. Song

Teil II 8TRX

TRX Studies in dieser Arbeit

Lesehinweise

Erotik des Hörens

DJ Cheb i Sabbah – »Hajti Fi Gurini (Longing for my Lover)«

audioscapes / audiotreks

DJ Cheb i Sabbah – »Hajti Fi Gurini« (2005)

Spurensicherung in »Hajti Fi Gurini« (5′39″)

Performative Räume in »Hajti Fi Gurini«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und WirklichkeitenVon Urkreisen und Kulturkreisen in »Hajti Fi Gurini«

Asian Dub Foundation »Burning Fence«

audiotreks / audioscapes

Asian Dub Foundation – »Burning Fence« (2008)

Spurensicherung in »Burning Fence« (4′08″)

Performative Räume in »Burning Fence«

Weltauslegungen, Weltaneignungen, WirklichkeitenMarkierte Desorientierung

Natacha Atlas – »Diaspora«

audioscapes / audiotreks

Natacha Atlas – »Diaspora« (1995)

Spurensicherung in »Diaspora« (6′47″)

Performative Räume in »Diaspora«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und WirklichkeitenTracking Diasporas, Synthesizing Diasporas

Keziah Jones – »Kpafuca«

audioscapes / audiotreks

Keziah Jones – »Kpafuca« (2003)

Spurensicherung in »Kpafuca« (3′50″)

Performative Räume in »Kpafuca«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und Wirklichkeiten

Jan Delay – »Kartoffeln«

audioscapes / audiotreks

Jan Delay – »Kartoffeln« (2006)

Spurensicherung in »Kartoffeln« (5′20″)

Performative Räume in »Kartoffeln«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und WirklichkeitenIdentität aufführen, das »Kartoffelige« vorführen

Quio – »Bratwurst«

audioscapes / audiotreks

Quio – »Bratwurst« (2007)

Spurensicherung in »Bratwurst« (3′38″)

Performative Räume in »Bratwurst«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und WirklichkeitenLiquidizing Anti-Flow

Chronomad – »Aksak«

audioscapes / audiotreks

Chronomad – »Aksak« (2004)

Spurensicherung in »Aksak« (6′16″)

Performative Räume in »Aksak«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und Wirklichkeiten Semipermeable Membrane / Palimpseste

Pinch – »Trauma«

audiotreks / audioscapes

Pinch – »Trauma« (2007)

Spurensicherung in »Trauma« (4′32″)

Performative Räume in »Trauma«

Weltauslegungen, Weltaneignungen und WirklichkeitenDas »Unheimliche« oder »An Echo in the Bone«

Teil IIIBeweg-Gründe

Post Production

8 TRX / Overdubs

Tiefe Beweg-Gründe

Rewind/Fast Forward: Die Bassspuren

Bass Matters

Topoi und Motive

Rewind/Fast Forward: Topoi und Motive

Topoi und Motive: Titel TRX

Monitoring

[Monitoring unter Kopfhörern]

Beweg-Grund: TRX Studies als politisches Theorieprojekt

Repräsentation vs. Sensation

Genre und Gender

Wider die Angehörigkeit hören

Anhang

tracks ’n’ treks Equalizer

Literaturverzeichnis

Discographie

Lyrics

Glossar – Fachbegriffe aus der Musikwissenschaft und -praxis

Anmerkungen

Populäre Musik und Postkoloniale Analyse

[beat juggling] Einleitung

Wenn es die Schlüsselkonzepte postkolonialer Studien als Grooves auf Vinylscheibe gäbe …

… dann läge auf dem einen Plattenspieler vielleicht The Black Atlantic (Gilroy 1993) oder »The Question of Cultural Identity« (Hall 1992). Ich hätte eine 12″-Version von Texten wie »De-Linking« von Walter Mignolo (2007) oder eine Single wie »London liegt in den Tropen« von Uh-Young Kim (20.06.2008). Auf dem anderen Plattenspieler würde sich zeitgleich ein Album von Keziah Jones (2003), Natacha Atlas (1995), Quio (2007), Chronomad (2004) oder Pinch (2007) drehen. Mit einem Mischpult und durch Anhalten und Zurückdrehen der Platten würde ich versuchen, die Beats von beiden Plattentellern zu synchronisieren und tracks ’n’ treks zu mixen.

Die Kanäle am Mischer werden gespeist durch zwei parallele Entwicklungen der letzten Jahrzehnte:

[Kanal 1] Postkoloniale Theorien

Einen Ausgangspunkt bildet das Weltverständnis kritischer postkolonialer Theorien. In den Studien zeitgenössischer Kulturphilosophinnen und -philosophen, zu deren prominentesten wohl Homi K. Bhabha, Stuart Hall, Edward Said und Gayatri Spivak gehören, wird eine Kritik entwickelt, die essenzialistische und statische Kulturkonzeptionen verwirftIdeen über die Geschlossenheit beziehungsweise Einheit von ethnischen Gemeinschaften, Nationen und Kulturen wurden de-zentriert (Hall 1994a: 187). Kulturelle Geographien, die durch starre, lokal fixierte Konzepte wie »Tradition«, »Heimat« oder »kulturelle Wurzeln« abgegrenzt werden, sind als phantasiert und nicht haltbar dekonstruiert. Stattdessen werden Kulturen in postkolonialen Studien prozesshaft und dynamisch definiert. Es ist auch die Rede von »Diaspora-Ästhetik« (Hall 2000a: 107). Solche Konzepte bedienen, die Trek- oder Bewegungseffekte von Sklaverei und kolonialer sowie postkolonialer Migrationen berücksichtigend, ein neues Weltverständnis von Hybridität und Fluidität.

[Kanal 2] Populäre Musik

Die zweite, ebenso wichtige Quelle dieser Arbeit ist zeitgenössische populäre Musik. In verschiedenen Musikstilen wie HipHop oder elektronischer Musik – Track Music – hat sich in den letzten Jahren ein Korpus herausgebildet, der ein den postkolonialen Theorien ähnliches Weltverständnis propagiert. Diaspora und Migration werden verstärkt zum Thema gemacht, und es entwickelt sich eine Ästhetik, die Hybridität und starke Fluktuation hörbar zu machen versucht.

[Hook]

tracks ’n’ treks, der Titel dieser Schrift, denkt zeitgenössische Kompositions- und Studiotechnik, in der digitale und analoge Tonspuren (audio tracks) übereinander gelagert werden, im Kontext dynamischer Kulturkonzeptionen. Trek, die strapaziöse Reise, steht dabei für Dynamik und zentrale Erfahrungsparadigmen des Postkolonialismus: Sklaverei, Diaspora und Migration.

[Backspin]

Fluktuation hörbar zu machen versucht / Fluktuation hörbar zu machen versucht

[Crossfader: Mittlere Position]

Populäre Musik ist welthaltig. In ihr werden einerseits kulturelle Landkarten, cultural geographies, fixiert, und andererseits wuchern aus ihr kulturelle Vermischungsmetaphern wie nie zuvor. In jedem Track sind Treks, Bewegungen gespeichert, die mit einem postkolonial gebildeten Gehör wahrgenommen werden können.

Populäre Musik ist weltgewaltig. Sie vermag Bewegungen zu gestalten – wir hören die Welt, wie wir sie noch gar nicht kennen. Musik ist als kulturelle Praxis zu begreifen, die gestaltet und entstaltet, die Wissen generieren und veralbern kann.[1] Sie regt postkoloniales Denken erst an.

Die Hinwendung zu dynamischeren Entwürfen von Kulturen in postkolonialer Theorie und populärer Musik hat sich nicht unabhängig voneinander entwickelt. Für die postkoloniale Theoriebildung sind Entwicklungen in der Musik ein wichtiger Erkenntnisfaktor. Paul Gilroy denkt The Black Atlantic. Modernity and Double-Consciousness (1993) dicht entlang der Musik von James Brown, Jimi Hendrix, George Clinton und Fela Kuti. Stuart Hall (1992) bezieht sich mehrfach auf Entwicklungen im Reggae, um die Dynamik der Begriffe »Diaspora«, »kulturelle Identitäten« oder »invention of tradition« zu erklären. Edward Saids Strategie des »contrapuntual readings« (1994a: 66) entspringt als Idee sicher seiner vertieften Auseinandersetzung mit klassischer Musik aus Europa. Um die Reihe der prominentesten postkolonialen Theoretikerinnen und Theoretiker zu vervollständigen, möchte ich noch festhalten, dass sich letztlich auch Gayatri Spivak mit ihrer Frage Can the subaltern speak? (1994) im weitesten Sinne mit Konzepten des Hörens/Gehört-Werdens und der Stimme beschäftigt. tracks ’n’ treks stellt die Frage, wie sich postkoloniale Theorie und populäre Musik gegenseitig beeinflussen können oder sich möglicherweise schon beeinflusst haben.

[Effekt auf Kanal 1]

Durch die Berücksichtigung von populärer Musik kann die postkoloniale Theorie einen wichtigen erweiternden Impuls erfahren. Postkoloniale Theorien sind bisher eng entlang der Sozialwissenschaften entwickelt worden und oft sehr textorientiert. Die gegenseitige Beeinflussung von beispielsweise Romanautoren als migratorische Subjekte, den in ihren Büchern entworfenen kulturellen Geographien und den Ansätzen einiger postkolonialer Theoretikerinnen und Theoretiker liegt auf der Hand. Längst haben sich postkoloniale cultural studies etabliert. Musik als fruchtbarer Ausgangspunkt zur postkolonialen Theoriebildung wird darin zwar immer wieder als belegendes Beispiel benannt, aber nicht ernsthaft analysiert. Musik mit der Möglichkeit zu anderer sinnlicher, im Wesentlichen nicht nur durch Sprache kodierte Erfahrung, vermag narrative Entwürfe kultureller Geographien sicherlich zu überschreiten. In ihrer Ästhetik und im Musik-»Spiel« werden Bewegungslinien und kulturelle Kreuzungen erlebbar, die den bekannten, oft vorschnell textkulturell überdeterminierten Weltanschauungen vorgelagert sind.

[Effekt auf Kanal 2]

In der Musikwissenschaft ist verstanden worden, dass »Globalisierung« und verstärkte kulturelle Durchmischung in populärer Musik eine Ästhetik des »Cut and Mix« oder die Collagentechnik hervorgebracht haben. Ein analytisches Instrumentarium, das darüber hinaus auch wichtige klangliche Unterschiede wahrnimmt, ist auf einer minimalen Stufe entwickelt. Dabei existieren durchaus verschiedene, untersuchenswerte Kompositionsstrategien, die sich aus den dahinter stehenden Kulturkonzeptionen ergeben. Die Musikwissenschaften haben den Trackmodus als Konzept der Gegenwart gerade einmal in seiner besonderen Ästhetik wahrgenommen; genauer beschrieben und von anderen Kompositionsmodi abgegrenzt ist er höchstens in Ansätzen. Tracks gar paradigmatisch, als eine andere zeitgenössische Epistemologie zu hören – das ist eine Auffassung mit einem Forschungsfeld, das diese Arbeit parallel zu postkolonialen Studien erst noch mit erschließen muss. Offensiver: Das Ziel dieser Forschung ist es, impulsgebend für ein neues Hören zu sein und so tracks ’n’ treks studies voranzutreiben.

[Hook]

tracks ’n’ treks, der Titel dieser Schrift, denkt zeitgenössische Kompositions- und Studiotechnik, in der digitale und analoge Tonspuren (audio tracks) übereinander gelagert werden, im Kontext dynamischer Kulturkonzeptionen. Trek, die strapaziöse Reise, steht dabei für Dynamik und zentrale Erfahrungsparadigmen des Postkolonialismus: Sklaverei, Diaspora und Migration.

[In den Cases und Regalen]

Die Vorbereitung: Neben dem Mischpult stehen die Bücher und Platten für tracks ’n’ treks bereit: Platten aus den Jahren um die letzte Jahrtausendwende – von 1995 bis 2008. Stilistisch ist hier nichts festgelegt. Es gibt HipHop und Disco Alben, so etwas wie Pop-Avantgarde und sogenannten Global Beat. Es gibt aktuelle Bücher über populäre Musikforschung und Bücher, die Schlüsselkonzepte postkolonialer Theorien erklären. Die meisten sind, wie die Schallplatten, in den Jahren 1995 bis 2008 erschienen. Diese Ressourcen müssen erst einmal inspiziert werden. Hier hängt alles zusammen. Die Bücher und die Scheiben tragen ähnliche Begriffe in ihren Titeln: »Sonic Afro-Modernity«, »Black Orpheus«, »Crossroads«, »De-Colonisation«, »Diaspora«… Hier werden offensichtlich ganz bestimmte Pfade zusammengeführt und es wird besonders gehört.

[Pre-Listenings] Aufbau

Das vorliegende Buch ist, das macht bereits die Einleitung deutlich, wie ein Mehrkanal-Mischpult oder ein Multitrack Recorder aufgebaut und funktioniert entsprechend den Arbeitsweisen von DJs oder Recording Artists: Das Pult erhält Eingangssignale (Input) über zwei Kanäle, nämlich populäre Musik/Popmusikforschung und postkoloniale Theorien. Mixing und Recording sind ein Prozess, was bedeutet, dass der neu entstehende Track, also dieses Buch, seine Argumentation förmlich erwandert. Den Leserinnen und Lesern wird angeboten, die Schritte der Produktion mitzuverfolgen. Dabei werden drei größere Schritte getan:

Die Teile I und II sind das, was DJs als »digging in the crates« bezeichnen. Für tracks ’n’ treks wird zunächst in den Kisten wissenschaftlicher Literatur gesucht und gelesen, und zwar in Schriften zur postkolonialen Theorie wie auch zum Studium populärer Musik. Das Zusammengetragene ist vor allem in »Teil I Postkoloniale Gehörbildung« niedergeschrieben. Mit einem »Crossfader« werden in diesem Teil Überleitungen zwischen den unterschiedlichen Theorien und Thesen geschaffen. Diese Überblendungen erfassen also durchaus zentrale Aussagen der Arbeit. Im »Teil II 8TRX« wird eine andere wichtige Kiste geöffnet, nämlich eine mit Schallplatten gefüllte. Daraus werden acht Singles ausgewählt und angehört – sogar sehr intensiv angehört – und darauf hin analysiert, welche interessanten Passagen und popmusikalischen kompositorischen Strategien sie in Bezug auf postkoloniale Theoriebildung bereithalten.

Im »Teil III Beweg-Gründe« schließlich werden Samples aus den 8TRX ausgeschnitten. Am Monitor unter Kopfhörern wird vorgehört, was als Mix oder als neuer Track produziert werden kann. Was bringt tracks ’n’ treks als Ausgangssignal (Out Put)?

Als wichtige Ergänzung oder Besonderheit von tracks ’n’ treks möchte ich noch folgende Elemente vorstellen:

Im Anhang ist ein Glossar angefügt, in dem einige Instrumente vorgestellt und spezielle musikpraktische, -technische und -wissenschaftliche Begriffe erklärt werden. Für Leserinnen und Leser, die mit diesen Begrifflichkeiten und mit populären Musikstilen nicht so vertraut sind, empfiehlt es sich, vor der Lektüre der Forschungsarbeit einen Blick auf dieses Glossar zu werfen.

Im Teil I sind in die fließende Argumentation sogenannte »Begriffsmonster« eingeschoben. Das sind Kurztexte, in denen in zeitgenössischen Diskursen beliebte Konzepte – wie »Kultur«, »Rasse«, »Ort« oder »Identität« – kritisch definiert werden.

Der Anhang enthält einen sogenannten »Equalizer«, der als eine Art Index dient. Im Wesentlichen soll er aber die in der Forschung zentral gesetzten Termini und Konzepte miteinander in ein Verhältnis setzen. Nach der Lektüre von tracks ’n’ treks lassen sich mit dem »Equalizer« die entwickelten Grundeinstellungen noch einmal schnell überblicken.

Teil I Postkoloniale Gehörbildung

Topophilie der Agenten populärer Musik

Wie populäre Musik sortiert wird

Verweise auf Orte, Regionen, Länder beziehungsweise Nationen oder Kontinente bilden ein zentrales Ordnungssystem populärer Musik. Meines Erachtens sind Raumverweise neben Sex- und Gender-Verweisen die bedeutsamste Ordnungskategorie populäre Musik. Herkunfts- beziehungsweise Bestimmungsverweise sind Hinweise auf stiltypische Spielarten – und von sehr unterschiedlicher kulturell repräsentierender Qualität: Es gibt Disco und Club Music (Hör-Orte), Detroit House und Hamburger Schule (Städte), Mali Blues und Britpop (Länder). Es gibt Präfixe wie »afro-« oder »latin-«, die Musik und ganze Kontinente aufeinander beziehen. Und es gibt sogar Verortungen, die nach Höhenlage oder Vegetation unterscheiden: Alpenmusik oder Jungle/Drum ’n’ bass. Der Versuch, eine Liste zu erstellen, in der Ortsverweise in Künstlernamen, auf Alben und in Songs vorkommen, wäre wegen der enormen Länge zum Scheitern verurteilt: Von Africando bis zur Zulu Nation, von »Living in Amerika« bis »Tales of Zimbabwe« wären unzählige Ortskennungen zu finden. Neben den konkreten sprachlichen Verweisen auf Orte assoziieren wir viele Stile mit bestimmten Gegenden: Salsa – und wir denken automatisch an Kuba oder New York, Tango – und wir haben Argentinien im Sinn, Banghra – und wir versetzen uns nach Punjab, London oder Birmingham. Geographische beziehungsweise topographische Verweise, Grenzziehungen sind konstitutiver Teil populärer Musik.

Auf der anderen Seite der gleichen Medaille bestehen Entgrenzungsphantasien, die durch populäre Musik beflügelt werden. Die Aufhebung von nationalen oder ethnischen Grenzen durch das verbindende Element Musik wird beispielsweise in »Weltmusik«, »Global Beats« und »Crossover« erträumt. Motti wie »One World-One Voice« (Various Artists 1990), »One World, Many Cultures« (Various Artists, Putumayo 2006), die großen Festivals, auf denen seit den 70er Jahren internationale Solidarität gefeiert wird (Wagner 2001: 20),[2] stehen für die Befriedung der Welt und die Überschreitung nationalistischen und rassistischen Denkens.

Allerdings bleibt meist auch die musikalische Grenzüberschreitungsphantasie in ihrer Logik einer statischen Verknüpfung von Musik mit Orten verhaftet. Darüber hinaus wird häufig die Biographie der Musikerinnen und Musiker mit der Musik verwechselt, beziehungsweise beides wird absolut aneinander gebunden. In Musikankündigungen heißt es dann beispielsweise:

Die Band […] verbindet die klassische indische Raga-Tradition mit Elektronik, Jazz und Pop à la Bollywood. Mit einer Besetzung aus Sitar, Tablas und Cello kreieren sie einen vielfarbigen Sound, der alle Grenzen überschreitet«, »Die mongolischen Klänge und der Obertongesang sind erkennbar von westlichem Einfluss zwischen Klassik und Jazz inspiriert«, »Ahoar heißt das irakische Sumpfland im Delta von Euphrat und Tigris. Die Musik von Ahoar entsteht aus dem Zusammenfluss von westlichem Jazz und klassischem irakischem Maqam (Creole Weltmusikfestival 2007).[3]

Im CD-Geschäft fällt auf, dass gerade sogenannte Weltmusik nach Ländern sortiert wird.

So oder so stellt sich mir die Frage: Gibt es überhaupt eine kausale Verbindung zwischen Musikstilen und Territorien? Gibt es eine spezielle Ästhetik, bestimmte musikalische Parameter, die eine Verknüpfung zwischen Musik und Orten erklären?

Es lässt sich, auch wenn die Musikwissenschaft und im Besonderen die Musikethnologie gerne so tut (siehe »MusikEthnoLogik«), für keinen der oben erwähnten Stile ein Gestaltungsmittel entdecken, das konsequent in jedem ihnen zugeordneten Stück wiederzufinden wäre. Was ist clubbish an Club Music? Welche afrikanische Musik und welche Afrikaner bezeichnet das Präfix »afro-«? Was ist westlicher Jazz? Kann eine Band aus Japan Britpop machen? Und warum ist Grunge kein Britpop? Was ist eigentlich Pop? Kann gut verkaufte Volksmusik auch Pop sein? Was ist Weltmusik? Qua negativen Definitionsansatz alle Non-Western-Musik? Was ist dann Western-Music? Bach? Eine durchschlagende monotone Techno-Bassdrum oder Rummtata im Dreivierteltakt? Eine eindeutige Zuordnung von Musik nach Orten lässt sich in keinem Fall rechtfertigen.

Die Verklammerung zwischen Musik und Orten basiert lediglich auf idealtypischen Konstruktionen. Zumeist besteht in Bezug auf Stile ein unerklärtes / unerklärbares »populäres Wissen«,[4] nach dem Musik kartiert wird. Und es gibt, das sei hier schon einmal vorangestellt und später weiter ausgeführt, auch ein aufwendig generiertes »offizielles Wissen« über die Verklammerung von Musik und Orten. Musik und Geographie werden, wie Christoph Mager in seiner Dissertation HipHop, Musik und die Artikulation von Geographie (2007) aufzeigt, mindestens seit dem frühen 20. Jahrhundert in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen eng zusammengedacht (ebd.: 28). Termini und Forschungsarbeitstitel wie »Geographie of Music«, »Soundscapes«, »The Place of Music«, »Sonic Geographies«, »Sonorous Geographies« (Aufzählung nach Mager 2007: 24) unterstreichen, dass intensiv versucht wird, »Musik und Klang mit geographischen Bezügen aufzuarbeiten und zu systematisieren« (ebd.).[5]

Das Musikstück selbst ist – wenn überhaupt ein Ort – zunächst eine Terra incognita oder Tabula rasa. Die enge Verbindung zwischen Orten und Musik geht auf all diejenigen zurück, die in die popmusikalische Praxis eingebunden sind. Musizierende, Produzierende, Rezipierende und Forschende scheinen eine Sehnsucht nach der Kopplung musikalischer Gestaltungsmittel und Stile an Territorien und damit indirekt an Kulturen zu haben. Dieses Begehren nach Verortung bezeichne ich als Topophilie der Agenten populärer Musik.

Topophobie der musikalischen Gestalten

Die musikalische Gestalt selbst ist, im Unterschied zu ihren Agenten, topophob.[6] Sie kann nicht bestehen, wenn sie irgendwo, irgendwie fixiert wird. Musik entspringt in vielerlei Hinsicht Bewegungen. Der Musikwissenschaftler Martin Pfleiderer fasst verschiedene Bewegungsaspekte von Musik zusammen:

Den physikalischen Grundlagen von Musik liegen zahlreiche Bewegungen zugrunde, so die körperlichen Spielbewegungen der Musiker und die mechanischen Schwingungen der Musikinstrumente und Lautsprechermembrane, die sich wellenartig ausbreitenden Bewegungen der Luftteilchen und die Bewegungen der Basilarmembran im Innenohr. In fast allen Musikkulturen der Welt steht Musik zudem in enger Verbindung mit den Körperbewegungen bzw. mit dem Tanzen der Zuhörer, nicht selten tanzen auch die Musiker (2006: 94).

Musik funktioniert demnach nicht in der Starre. Würden wir die Lautsprechermembranen einer Hi-Fi-Anlage vollständig auf einen unbeweglichen Körper festkleben, würden wir aus dieser Anlage auch keine Musik mehr hören können. Die Topophobie, das Unbehagen gegenüber der Verortung von Musik, meint im übertragenen Sinne auch eine Angst vor dem zu engen, abgeschlossenen Ort (Klaustrophobie).

Musik ist und braucht Bewegung. Wer einmal ein Musikinstrument zu spielen erlernt hat (und sei es die Soundbearbeitung am Computer oder das Training der Stimme) weiß, dass Musizieren zu einem großen Teil das Speichern von Bewegungsabläufen voraussetzt. Neben den physikalischen Bewegungen zählt Pfleiderer noch Bewegungsmetaphern auf, die in den zur Beschreibung von Musik häufig angewandten Partizipien zum Ausdruck kommen. Tonfolgen werden mit Worten wie »steigend«, »fallend«, »hüpfend« nachgezeichnet. Rhythmen sind beispielsweise »stampfend«, »hinkend«, »kreisend«. Wobei eine Verknüpftheit der Bewegungsmetaphern mit den physikalischen Bewegungen naheliegend ist (ebd.: 99).

Martin Pfleiderer deutet neben den physikalischen Bewegungen und der Bewegungsmetaphorik kurz eine dritte Ebene musikalischer Bewegung an, wenn er die emotionale Erfahrung der Hörerinnen und Hörer, ihr »inneres ›Bewegt-Werden‹« erwähnt (ebd.: 95). Dieser Bewegungsaspekt ist nicht zu vernachlässigen, denn nicht selten wird die Aufgabe von Musik darin gesehen, die Rezipienten auf eine emotionale Reise zu schicken. Manchmal ist dieses »innere Bewegt-Sein« sogar nach außen sichtbar. So zum Beispiel in der Art, wie die Hörenden tanzen.

Letztendlich, was nicht heißt, dass hiermit alle Bewegungsaspekte von Musik erwähnt sind, besteht auch noch ein äußeres »Bewegt-Werden« von Musik. Auf Tourneen von Musikerinnen und Musikern und durch die Verbreitung von Instrumenten, kompositorischen Ideen und Spieltechniken wird und wurde Musik immer schon bewegt. Heute wird dieser Prozess durch den Vertrieb von Tonträgern und anderen Medien noch beschleunigt. Die Transportierbarkeit von Musik bringt außerdem den Effekt mit sich, dass sie sich unterschiedlichen Hörorten anzupassen scheint. Der Musikwissenschaftler Peter Wicke schreibt, dass Popmusik eine feststehende und gültige Implementierung ihrer Klanggestalt nicht kenne. Er verdeutlicht den polymorphen Charakter von Musiken wie folgt:

Derselbe Song unter Kopfhörern zu Hause gehört, als Bestandteil einer 90minütigen Bühnenperformance erlebt oder aber im Club als Tanzvorlage genommen, ist nur dem Namen nach derselbe Song. Wird er beim Tanz von der Bassline her erschlossen, ergibt sich ein anders strukturiertes Gebilde als beispielsweise bei der subjektzentrierten ästhetischen Wahrnehmung unter Kopfhörern entlang des Wort-Ton-Verhältnisses (Wicke 2003)

Wenn die Verortung von Musik durch ihre Agenten als Fixierung verstanden wird, der Gegenstand selbst aber dynamisch, beziehungsweise in vielerlei Hinsicht von Bewegung geprägt ist, dann besteht eine Diskrepanz zwischen (Re-)Präsentationsformen und den Formen des Objekts. Eine grundlegende Kontingenz besteht in der Beziehung zwischen polymorpher, bewegungsgenerierter Musik und der Verortung von Musik.

[Crossfader]

Die hier eingeführte Gegenüberstellung der Topophilie der Agenten der Popmusik versus die Topophobie der musikalischen Gestalten scheint zunächst nur ein Pseudo-Dilemma darzustellen. Tatsächlich macht dieses kontingent vermittelte Verhältnis aber das zentrale Problem aus, dem sich diese Arbeit widmet. Sobald nämlich die Frage danach gestellt wird, warum es dieses behagliche Schaffen von Spiel-Räumen (die Topophilie), die Verweise auf Orte, Nationen und Kontinente in populärer Musik gibt, tun sich weltpolitisch höchst relevante Diskussionen um Exklusion, Rassismus und Kolonialismus auf. Und bei genauerem Lesen wie auch mit etwas Musikkenntnis lässt sich dieses Dilemma auch schon aus der Unterschiedlichkeit der einzelnen topographischen Musikbezeichnungen selbst erkennen. Bezeichnungen wie »Underground«, »Jungle« zielen offensichtlich auf eine alternative Topographie jenseits von politischen Weltkarten und Musikbezeichnungen, in denen Städtenamen wie London, Bristol, New York vorkommen, sollen oftmals wohl eher auf multinationale, transkulturelle (Ein-)Wanderungsgesellschaften hinweisen, als dass sie eine ein-nationalistische oder -rassistische Idee verfolgen.

Bevor hier jedoch die rassistische und kolonialistische Problematik und die alternativen Feinheiten der Topophilie eingebracht werden, fragt das folgende Teil-Kapitel danach, wie die räumliche beziehungsweise geographische Aufladung von Musik überhaupt funktioniert. Über einige Erkenntnisse aus den Performance Studies / der Theaterwissenschaft und soziologischen Raum-Theorien soll nachvollzogen werden, wie die topographische Determinierung von Musik möglich ist.

Die topographische Inversion

Von der bewegten Musik zur kulturellen Geographie

»Booom Booom tà. Booom Booom tà.« Der Drummer spielt auf einer extrem tiefen Bassdrum und einer knalligen Snare einen auf ZweiUnd betonten Beat.[7] Der Sänger Gentleman steht auf der Bühne. Er erzählt irgendetwas im jamaikanischen Patois. Dann sagt er »Jah maan!« und die ganze Band setzt ein ( »Runaway« (2002)).

»Booom Booom tà« und Gentleman: Die erste Referenz ist vielleicht die stilistische: »Ah! Das ist Reggae, Dancehall oder Ragga Muffin oder… « Hinter dieser Idee von Stil liegen dann zusätzliche Gedankenketten verborgen, wie: »Gentleman, das ist Reggae / Jamaika / ein Weißer spricht Patois / macht Nicht-Weiße-Musik / nicht gerade die Lieblingsmusik meiner Eltern / …«

Zwei Takte »Booom Booom tà« und bei Menschen mit an populäre Musik gewöhnte Ohren sprudeln schon Ahnungen zur stilistischen, kulturellen oder gar rassischen Verortung. Dabei besitzt keine Musik, so wird auch noch in den Kapiteln zu »Musik verstehen?« ausgearbeitet werden, ein naturgegebenes Idiom für solche Kategorisierungen. Es gibt keine natürlichen Intervalle oder Rhythmen, die von sich aus eine ganz bestimmte oder eindeutige Bedeutung, einen Ort oder gar eine Hautfarbe haben. Schallwellen sind zunächst bedeutungsleer. Wie wird aber »Booom Booom tà« jamaikanisch, Schwarz oder Weiß? Diese Frage zielt auf eine semiotische Erörterung des Wandlungsprozesses vom eigentlich offenen musikalischen Zeichen und Geschehnis zu seiner topographischen und kulturellen Determinierung. Es ist gleichzeitig auch die Frage nach der Diskursivität dieses Inversionsprozesses.

Peter Wicke beschreibt den Vermittlungsprozess vom Klanggeschehen hin zur bedeutungsgeladenen Musik, indem er zwischen »Soundtrack« und »Musik« unterscheidet. Eine »Tonspur« wird erst durch Medien, Worte und Ideologien zu »Musik«. »Soundtracks« werden zu »Musik«, »wenn sie vom hörenden Subjekt aufgenommen und in die Geographie eines individuell gelebten Lebens übersetzt werden« (2004: 117). Diese Unterscheidung zwischen »Soundtrack« und »Musik« sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon bei der Komposition und Produktion von Tonspuren Kodierungen stattfinden. Bereits die Musikerinnen und Musiker produzieren nach Lautbedeutungen beziehungsweise es existiert bei ihnen ein (latentes) Ordnungsbewusstsein. Interessanterweise schreibt Wicke von der Übersetzung in die Geographie eines individuell gelebten Lebens und vergleicht somit Rezeption mit Kartierungsprozessen. Dieser Prozess der musikalischen Bedeutungsaufladung ist in Ansätzen auch vergleichbar mit der Kodierung des Zeichens, wie sie in der sprachwissenschaftlichen Semiotik erklärt wird. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Dietrich bezieht sich beispielsweise in seiner ausführlichen Studie über Repräsentationen Lateinamerikas im deutschen Schlager auf Ferdinand de Saussure. Er geht von einem (Ton-)Zeichen aus, das zunächst unabhängig von Bedeutungen in Ort und Zeit daher komme und dann von verschiedenen Seiten mit Bedeutungen gefüllt werde. Dietrich vergleicht Musik mit Sprache, welche »im Spannungsverhältnis zwischen Sprechendem und Angesprochenem, Lautbild (Zeichen) und Vorstellungsinhalt (Bedeutung)« entstehe (2002: 12).

Töne sind kommunikative Zeichen, deren Abfolge (Melodie), innere Ordnung (Harmonie) und Geschwindigkeit (Rhythmus) für sich selbst noch keinen ›objektiven‹ Inhalt repräsentieren, diesen aber durch den sozialen und bewußten Akt der Schöpfung, der Interpretation und des Anhörens erhalten. […] Ist ein Klang aber einmal zum Ton geworden, so erhält er, wie das Wort in der Sprache seine kommunikative Funktion, seine ›‹Rechte und Pflichten‹ (ebd.: 14).

Der Prozess der Wandlung vom Lautbild zum Vorstellungsinhalt, vom Klang zum Ton, vom »Soundtrack« zur »Musik« ist ein schöpferischer, ein performativer Akt, der zwischen Musikerinnen / Musikern und Hörerinnen / Hörern stattfindet.

»Booom Booom tà. Booom Booom tà.« Jetzt ruft nicht Gentleman »Jah maan«, sondern Shakira singt: »Aaaiaaiaaaa!« Digitale Fanfaren erklingen. Shakira und Wyclef Jean singen gemeinsam den Titel »Hips don’t lie«, und Jean ruft immer wieder: »Shakira! Shakira!«. Für die Grammy-Verleihung 2007 ist ein orientalisch anmutender Palast aufgebaut. Shakira macht barfüßigen »Belly Dance« (siehe Youtube Video Shakira, »Hips don’t lie« (2007)). »Booom Booom tà« ist nun nicht mehr Signal für Reggae und Jamaika. »Booom Booom tà« ist jetzt ein Teil in der Inszenierung der Phantasien über die Latina und den Orient.

Inszenierte Räumlichkeit

An postkoloniales Denken herantasten

Die Verweise auf Orte, Regionen, Länder (Nationen) und Kontinente, die ich in der Einführung des Topophilie-Begriffs als konstitutiven Teil populärer Musik ermittle, zielen auf Erinnerungen. Die Musiken sind nicht an einen festen Ort gebunden, sie sind überall hin transportierbar und sollen dennoch mit Orten in Verbindung gebracht werden. Dies kann nur über die Imagination gelingen. In der Theaterwissenschaft hat sich eine Zweiteilung des Raumbegriffs etabliert, die diese beweglichen und fixierenden Prozesse, die oben im musikalischen Kontext gegenübergestellt sind, zu integrieren vermag. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte unterscheidet in ihrem Buch »Ästhetik des Performativen (2004) zwischen geometrischen und performativen Räumen. Den geometrischen Raum fasst sie als eine Art Behälter auf. Er sei als Container vorstellbar, der unabhängig von dem, was sich in ihm ereigne, immer als derselbe erscheine – zum Beispiel die 30 m2 große Grundfläche der Bühne.[10] Der performative Raum

… eröffnet besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, für Bewegung und Wahrnehmung, die er darüber hinaus organisiert und strukturiert. […] Jede Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten vermag ihn zu verändern. Er ist instabil, ständig in Fluktuation begriffen. Räumlichkeit einer Aufführung entsteht im und durch den performativen Raum, sie wird unter den von ihm gesetzten Bedingungen wahrgenommen (ebd.: 187).

Im Theater ist (fast) immer klar, so Fischer-Lichte, dass der Raum, in dem eine Aufführung stattfindet, also meistens die Bühne, nicht mit dem Raum, der durch die Aufführung hervorgebracht wird, gleichzusetzen ist (ebd.). Der performative Raum wird durch Requisiten und Bewegungen repräsentiert und von den Zuschauenden imaginiert. Für diese Arbeit sei besonders die Funktion der Klänge zur Herstellung des performativen Raumes hervorgehoben: Sie lassen Klang-Räume entstehen.

Der Philosoph Gernot Böhme, der »Atmosphäre« als Grundbegriff einer neuen Ästhetik untersucht, spricht auch von »Musikatmosphären« oder von »akustischer Möblierung« (2006: 35). Dabei fasst auch er Räumlichkeit weniger konkret physiographisch auf, sondern eher rand- und ortlos, nicht lokalisierbar, als Träger von Stimmungen (ebd.: 29).

Dieses Verständnis des performativen Raums ist insofern interessant, weil es erstens eine Beziehung zwischen Bewegung und Raum herstellt, zweitens darauf aufmerksam macht, dass schon Klänge Räumlichkeit herstellen können, und drittens klarstellt, dass Räumlichkeit eine Frage der Wahrnehmung ist. Auch in der Soziologie wird Raum prozesshaft verstanden. Das Platzieren von Menschen und Gütern, das Fischer-Lichte beschreibt, bezeichnet die Soziologin Martina Löw als »Spacing« (2001: 158). Sie definiert Räume wie folgt:

Raum [ist] eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern […]. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letzteres ermöglicht es, Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen (ebd.:: 160 [Hervorhebung im Orig.]).

In den Einführungen zur Topophilie der Agenten populärer Musik und der Topophobie der musikalischen Gestalt behaupte ich, es bestehe eine Diskrepanz zwischen der aus Bewegung generierten Musik und einer topographischen Fixierung. Mit diesen Definitionen lässt sich eine Verknüpfung der Bewegung mit performativer Räumlichkeit verstehen, oder umgekehrt: eine Musik, die keine Räumlichkeit herstellt, ist nicht vorstellbar. Die Stereophonie oder der Dolby-Surround-Sound sind evidente Beispiele für eine elektroakustische Bewegung von Klängen, die Räumlichkeit suggerieren. »Durch mehr als einen Lautsprecher [entsteht] gewissermaßen ein akustischer Raum im Realraum« (Supper 1997: 125). Von der topophoben musikalischen Gestalt bis zur geographisch fixierenden Kopplung und der Repräsentation von konkreten Orten, Ländern oder Kontinenten muss es aber noch einige Zwischenschritte geben. In solchen repräsentativen Verklammerungen spielen kollektive, kulturelle und politische Dimensionen eine wichtige Rolle, die sich mit dem Begriff »Imaginative Geography« von Edward Said (1978 [2006]: 49) erfassen lassen.

Ganz ähnlich wie in der Theaterwissenschaft und der Raumsoziologie betont der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Said mit den »imaginären Geographien« die wechselseitige Beziehung zwischen Räumen, Erinnerung und sozialer Praxis. Er macht deutlich, dass Räume nicht nur durch Erinnerung erkannt werden, sondern, dass die Erinnerung selbst durch performative Prozesse entsteht. Manchmal werden erst Grenzen für einen eigenen Raum abgesteckt und dann werden Phantasien über das, was außerhalb dieses Raumes geschieht, freigesetzt. Imaginierte(s) Andere(s), also Negativ-Spieglungen, sind dann konstitutives Moment für den eigenen Raum (ebd.: 54). Said erklärt unter Bezugnahme auf Bachelards Poetics of Space am Beispiel eines Hauses mit Kellern, Korridoren und Ecken, dass letztlich das Imaginierte mehr Bedeutung hat als irgendwelche geometrischen Fakten. »The objective space […] is far less important than what poetically it is endowed with, which is usually a quality with an imaginative or figurative value we can name and feel: thus a house may be haunted, or homelike, or prisonlike, or magical« (ebd.: 55).

Dieses Prinzip des Vorgestellten erkennt Said auch in der kollektiven Verortung von Subjekten. Er versteht Kulturen und kulturelle Identitäten ebenso als imaginiert. Die deutschen Wörter vorstellen / Vorstellung bieten sich hier zum Gebrauch an, weil sie eine Imagination vor dem inneren Auge wie auch die performative Dimension des Kulturellen erfassen. Alle Identitäten haben das, »was Edward Said (1990) ›imaginäre Geographien‹ nennt«, schreibt Stuart Hall:

Ihre charakteristische ›Landschaft‹ ihr Gefühl für einen Ort, ein Zuhause, eine Heimat, und ebenso gut ihre Verortung in der Zeit – die erfundenen Traditionen, die Vergangenheit und Gegenwart verbinden, die Ursprungsmythen, die die Gegenwart in die Vergangenheit zurückprojizieren (1994a: 210).

Vereinnahmte Räume werden mit sozialen Praktiken und Erzählungen so abgeglichen, dass sie scheinbar übereinstimmen, zum Beispiel werden musikalische Spielweisen und Instrumente mit einer ganz bestimmten politischen Region verklammert und bilden solcherart einen Bestandteil einer ganz bestimmten kulturellen Identität. Ich schreibe hier bewusst »abgeglichen«, denn am Anfang kann zwar ein geographischer oder geometrischer Raum stehen, aber die soziale Praxis und Diskursivität lässt die Räumlichkeit, die Wahrnehmung als Raum, erst entstehen.

Bei einem Vergleich zwischen Erika Fischer-Lichtes Ausführungen über den »performativen Raum« und Edward Saids Terminus »Imaginative Geography« zeigt sich: Beide verstehen Räumlichkeit als Effekt sozialer Praxis und Erzählung. Die Theorien stimmen in der Hinsicht überein, dass Räumlichkeit flüchtig, transitorisch und erfunden ist.«Sie existiert nicht vor, sondern wird […] immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht« (Fischer-Lichte 2004: 187). Said stellt in seiner Orientalismus Studie explizit eine Beziehung zwischen erfundenen Räumen und dem Theater her:

The idea of representation is a theatrical one: the Orient is the stage on which the whole East is confined. On this stage will appear figures whose role it is to represent the larger whole from which they emanate. The Orient then seems to be, not an unlimited extension beyond the familiar European world, but rather a closed field, a theatrical stage affixed to Europe (1978 [2006]: 63).

Die »imaginäre Geographie« des Orients ist bei Said verknüpft mit kultureller oder kollektiver Vereinnahmung des Räumlichen. Hier ist angedeutet, dass er die Dimension der Macht in den performativen Raum einführt, wenn er auszuloten versucht, wer den Raum definiert. Dieser Aspekt soll im nächsten Teil-Kapitel weiter ausgebreitet werden.

Auf Musik bezogen lässt sich zunächst festhalten, dass von dem durch Bewegung gekennzeichneten musikalischen Zeichen bis zur topographischen Inversion mehrere Schritte liegen: Spacing und Syntheseleistung, oder auch akustische Möblierung, die performativen Raum entstehen lassen, und schließlich die Verknüpfung mit kollektiv vereinnahmten Geographien.

Die performative Räumlichkeit steht nicht in einem paradoxen Verhältnis zu dem durch Bewegung generierten musikalischen Ereignis – sie ist ein unvermeidbarer Effekt. Oder: Das Gehör ist auch ein Orientierungsorgan. Wenn aber die imaginierte Geographie als Fixum aufgefasst, als geometrischer Raum gedacht wird, besteht doch wieder Kontingenz in der Beziehung zwischen Repräsentationsform und der Form(-ung) des musikalischen Objekts.

[Crossfader]

Nach der Erkenntnis, wie die räumliche und atmosphärische Aufladung von Musik funktioniert, bleibt als Ausgangspunkt bestehen: Musik wird mit fixen Orten kurzgeschlossen und infolgedessen sind ihr die Bürden lokaler Repräsentationspolitiken auferlegt. Bisher habe ich nicht konsequent zwischen Musik im Allgemeinen und populärer Musik im Besonderen unterschieden. Im nächsten Teil-Kapitel möchte ich populäre Musik / Popmusik genauer definieren, und zwar von der Qualität der Verknüpftheit mit imaginären Geographien ausgehend. Üblicherweise wird der Begriff Popmusik im Zusammenhang mit Verkaufszahlen, technischer Reproduzierbarkeit, elektrischen / elektronischen Instrumenten und Sounds, in Abgrenzung zu »Klassik« oder ähnlichem gedacht.[11] Mein Ausgangspunkt hier ist, dass Popmusik durch eine besonders starke topographische, ethnisierte, kulturalisierte und rassisierte Ausrichtung gekennzeichnet ist, deren Ursprünge ich im Kolonialismus suchen möchte. Die These, die hier entwickelt wird, lautet: Jeder Popsong ist unwiderruflich mit dem Kolonialismus verknüpft. Populäre Musik ist postkoloniale Musik.

Wie das Postkoloniale in die Musik kam

Postkolonialismus: Kolonisierung – Dekolonisierung – Rekolonisierung

Was meint Kolonialismus und Postkolonialismus im Kontext dieser Arbeit und wie nehmen sie Einfluss auf Musik? Wenn ich hier im Zusammenhang von Popmusik über Kolonialismus schreibe, ziele ich nicht (nur) ab auf eine seit Ende des 19. Jahrhunderts von den Vereinigten Staaten ausgehende imperialistische Expansions- und Wirtschaftspolitik, welche die USA zum Ende des 20. Jahrhunderts zur einzig verbleibenden sogenannten Supermacht machen sollte. Ich meine auch nicht die in den USA ihren Ursprung nehmenden Geschichten über die Entstehung und Verbreitung vieler Popmusikstile von Blues, Jazz und Rock (’n’ Roll) bis HipHop und House oder die angebliche Beherrschung des Musikmarktes.

Der Kolonialismusbegriff, der für diese Arbeit relevant ist, meint tatsächlich denjenigen, dessen Beginn häufig mit der Jahreszahl 1492 und der vermeintlichen »Entdeckung« Amerikas gekennzeichnet wird. In Folge der Reise des Christopher Columbus kam es bekanntermaßen zu Eroberungen, von nie da gewesener globaler Dimension, Ausbeutung von Land und Menschen, Genoziden und Sklavenhandel. In der Ursache ist der Kolonialismus von einer fatalen Idee der Repräsentation beherrscht, die mit einem Spektakel der Kartierung, Kulturalisierung, Ethnisierung und Rassisierung einhergeht.

Diese These markiert den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit – ich übernehme sie unter anderem aus Studien wie dem zuvor angeführten Werk Orientalism von Edward Said. Die fixe Idee der Repräsentation und ihre umfangreichen offenen und latenten Wirkungen in Geschichte und / oder Gegenwart zu erkennen und zu kritisieren, ist eine Grundintention aller postkolonialen Studien. Einige Grundzüge der kolonialen Denkweise und der postkolonialen Kritik daran möchte ich im Folgenden kurz skizzieren. Dabei kann und soll hier nicht ein Überblick oder eine Einführung in postkoloniale Theorien gegeben werden, die sich in den letzten Jahrzehnten in den verschiedensten Disziplinen und in Bezug auf unterschiedlichste Lebensbereiche entwickelt haben. Vielmehr möchte ich von einer ersten Darlegung einiger Kerngedanken über Repräsentation, Kultur und Imperialismus zu einer ausführlicheren Begründung für das Zusammendenken von populärer Musik und Kolonialismus gelangen. Das heißt, ich stelle kurz zentrale Überlegungen postkolonialer Studien vor, ohne noch einmal ihre ausführliche Beweisführung zu wiederholen beziehungsweise auf die Kritik aus unterschiedlichen Lagern einzugehen. Die vorliegende Arbeit möchte entlang populärer Musik selbst Nachweise erbringen und eine Diskussion entwickeln – es soll also erläutert werden, inwiefern die topographische Inversion der Musik ein Teilbereich der Kartierung und Eroberung der Welt ist.

Kultur als Kolonialismus

Eine Logik – richtiger: Unlogik –, die im Mittelpunkt des Kolonialismus steht, ist die »Rassisierung der Anderen« (Hall 2004b: 122). Um Versklavung und Vernichtung rechtfertigen zu können, mussten Menschen nämlich erst zu Gruppen niederer Wesen beziehungsweise zu Nicht-Menschen erklärt werden. Der Kolonialismus hat zu einer Explosion kultureller oder »imaginärer Geographien« geführt (ebd.: 123), weil er auf ein rassistisches Denken, auf kulturelle Hierarchien und auf den Binarismus »Zivilisierte« vs. »Primitive« angewiesen ist (Ashcroft, Griffiths, Tiffin 2000:198). Diese (Un-)Logik führte bereits Franz Fanon in seinem Buch Le damnés de la terre (1961) aus, auf das sich zahlreiche postkoloniale Studien berufen. Fanon klagt darin unter anderem an:

Und man kann nicht leugnen, daß die Hauptverantwortlichen für diese Rassisierung des Denkens oder zumindest der Denkweisen die Europäer sind und bleiben, die unablässig die weiße Kultur den anderen Unkulturen gegenübergestellt haben (1966 [deutsche Übersetzung]: 162).

Begriffsmonster »Rasse, Ethnie, Nation«[12]

Die Begriffe »Rasse« oder auch »Schwarz« und »Weiß« sollen in dieser Arbeit exakt in diesem Sinne definiert sein: Es gibt keine »Rassen« und auch keine »Schwarzen« und »Weißen« – nur als Erfindung zur Herstellung von Herrschaftsbeziehungen. Es gibt sie ausschließlich als Wirkmächtigkeit der Repräsentationspraxis. »Race does not exist. But it does kill people« (Collette Guillaumin 1995: 107). Auch die Termini »Ethnie« und »Nation« werden in dieser Arbeit in diesem Sinne in eine Reihe mit dem »Rasse«-Begriff gestellt, so sie denn an einer Idee der biologischen Unter- und Überordnung festhalten oder sonst reine, homogene Gemeinschaften (re-)präsentieren sollen (Gilroy 1992: 87).

Die Eroberungen, das Ausbeuten von Land und Menschen musste, so schreiben Maria Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in ihrer Einführung zur Postkolonialen Theorie (2005), ab sofort durch einen Legitimierungsdiskurs begleitet werden, »der den Kolonialismus als ›zivilisatorische Mission‹ präsentierte« (ebd. 15). Sie führen aus: »Rationalisten, Modernisten und Liberale in Europa haben immer wieder – trotz des Eingeständnisses der begangenen Gewalttaten – hervorgehoben, dass Kolonialismus und Imperialismus letztlich der ›unzivilisierten‹ Welt die Aufklärung Europas, seine Rationalität und seinen Humanismus gebracht haben« (ebd.). Das bedeutete und bedeutet die zum Teil sehr gewaltvolle Verbreitung europäischen Wissens, europäischer und christlicher Moralvorstellungen und europäischer Sprachen. Deshalb schreibt Edward Said in seinem Buch Culture and Imperialism auch von »Culture as Imperialism« (1994a: 264) und vertritt die Theorie, dass die Idee der höher zu bewertenden europäischen Kultur eine unerlässliche Rolle bei der Okkupation des Großteils der Welt durch die europäischen Mächte spielte.

Im Mittelpunkt der europäischen Kultur während der vielen Jahrzehnte imperialer Expansion stand ein unbeeindruckter und unerbittlicher Eurozentrismus. Dieser Eurozentrismus akkumulierte Erfahrungen, Territorien, Völker, Geschichten, er studierte sie, klassifizierte sie, verifizierte sie (Said 1994b: 302).

Kultur als Konzept der Repräsentation und des Kolonialismus bedingen sich gegenseitig. Das anthropologische Konzept »Kultur« wäre wahrscheinlich nicht erfunden worden, wenn das »koloniale Theater« es nicht zwingend zur Kontrolle und Regulation gebraucht hätte, so schreibt Nicholas Dirks: »[I]n certain important ways, culture was what colonialism was all about« (1992: 3).

Wie oben geschrieben, kompiliere ich hier zunächst einmal nur Aussagesätze aus unterschiedlichen kolonialismuskritischen Arbeiten und möchte damit zugleich auf die längeren Beweisführungen, Diskussionen und entsprechende Post-Colonial Studies Reader verweisen. Für diese Arbeit sind zwei Punkte von besonderer Bedeutung:

Bei den verschiedensten Kolonisationsformen handelt es sich um Herrschaftsbeziehungen, die über »Rasse«- und »Kultur«-Diskurse legitimiert wurden und werden (Castro Varela und Dhawan 2005: 13). Kolonisierung meint die Explosion der Erzählungen von »Rassen«, »Ethnien«, »Nationen« oder »Kulturen« und deren Unterdrückung und Ausbeutung.

[13]

Herrschaft wird nicht nur mit physischer und militärischer Gewalt durchgesetzt, sondern auch durch epistemische und ideologische Gewalt (Spivak 2008: 42). Kolonialisierung ist also auch als Durchsetzung des Erkenntnis- und Repräsentationssystems zu denken (Castro Varela und Dhawan 2005: 16). Der eurozentristische Kulturalisierungsprozess ist »

das verstärkende Parallelunternehmen zur ökonomischen und politischen Maschinerie als dem materiellen Zentrum des Imperialismus

« (Said 1994b: 302).

Was meint »postkolonial«?

Ich möchte für diejenigen Leserinnen und Leser, die sich schon ausführlicher mit postkolonialen Studien befasst haben, hier eine Anmerkung machen: Der Begriff »postkolonial« ist zwar nicht nur als Phase nach der Hochzeit des europäischen Kolonialismus und nach den Unabhängigkeitserklärungen der ehemals kolonisierten Staaten zu denken, sondern bedeutet eben auch das Fortwähren der Repräsentations-, »Rasse«- und »Kultur«-Diskurse. Dennoch möchte ich »postkolonial« auf einer eher erzählerischen Ebene kennzeichnen.

Diese narrative Form der Zusammenfassung wähle ich, weil trotz der berechtigten Kritiken an einer binären Gegenüberstellung von Kolonisator / Kolonisierten und an wiederum rassistisch verallgemeinernden Schuldzuweisungen, die aus verschiedensten Postkolonialen Studien selbst kommen (siehe dazu Do Mar Castro Varela und Dhawan 2005: 52, 101), nicht der Eindruck entstehen soll, als hätte es nicht doch eine ganz eindeutige Kolonisation durch europäische Mächte gegeben, die den Großteil der Welt unter sich aufteilten. Eine Kolonialismus Darstellung, die nicht zu lokalisieren ist, in der alles immer schon gemischt, ambivalent oder hybrid ist, möchte ich – obschon ich die Topophilie kritisiere – unbedingt vermeiden.

Maria Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan erklären, dass Postkoloniale Theorie und Analyse heute in einem Geflecht aus Kolonisierung, Dekolonisierung und Rekolonisierung stattfinde (ebd.: 24):

Dekolonisierung / Dekolonisation meint Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonisierten gegenüber den Kolonisatoren, die Befreiung von militärischer Besatzung und Ausplünderung geographischer Territorien sowie von der Produktion epistemischer Gewalt (ebd.: 8 und Said 1994a: 219). Dekolonisation bedeutet auch die Weigerung, die aufgezwungene Rolle im kulturalisierten Theater und in den rassistischen Diskursen zu spielen.[14]

Rekolonisierung oder Neo-Kolonialismus ist ein komplexer Prozess, weil sich in ihm Kolonisierung und Dekolonisierung kreuzen. Die Formen der Kolonisierung bei gleichzeitigen Dekolonisationsbestrebungen können oft nur subtil und perfide durchgesetzt werden. Außerdem können Kolonisatoren und Ziele der Ausbeutung wechseln. »Der Kolonialismus [erfindet] immer neue Wege […], um sich die Ressourcen der anderen Länder zu sichern (Do Mar Castro Varela und Dhawan 2005: 24).[15]

Auf dieser Ebene, die den (Post-)Kolonialismus, wie oben erklärt, als zu sehr vereinfachten Narrationsstrang darstellt, sei noch ein wichtiger Aspekt als geschichtliche Episode beigebracht, nämlich das, was Stuart Hall als »Der Rest im Westen« betitelt (1994a: 214). Damit meint er die Effekte der Globalisierung oder: das nicht (mehr) Funktionieren der einst gezogenen Grenzen auf den Landkarten, die gleichzeitig auch rassistische Grenzen abbilden sollten. Hall schreibt:

Nach dem zweiten Weltkrieg dachten die europäischen Kolonialmächte, sie könnten sich aus ihren kolonialen Einflußsphären zurückziehen und dabei alle Konsequenzen des Imperialismus hinter sich zurücklassen. Aber die globale Interdependenz wirkt nun in beide Richtungen: Der Export westlicher Stile, Vorstellungen, Waren und Konsumentenidentitäten wird gegenwärtig von einer Wanderungsbewegung von Menschen aus den Peripherien in das Zentrum in einer der größten und am längsten anhaltenden Welle ›ungeplanter‹ Migration der neueren Geschichte begleitet (Hall 1994a: 215).[16]

Selbstverständlich waren Europa oder die europäischen Nationen niemals »reine«, homogene Gemeinschaften, aber die Migrationsbewegungen aus den Kolonien (und nicht nur aus diesen) in den Westen haben zu einer kulturellen Pluralisierung des Westens geführt – zumindest im Sinne westlicher Repräsentationslogik: die Ideen von kultureller Reinheit sind in jedem Fall unterminiert (Hall 1994a: 208). Die erste Explosion der imaginären Geographien und des repräsentativen Spektakels hat sozusagen eine zweite Explosion der Zerstreuung mit sich gebracht, die sämtliche Kategorisierungen und Kartierungen wieder ins Wanken bringt: Sklaverei, Flucht vor Armut und Krieg sowie Arbeitsmigration haben auch wieder de-territorialisiert. Auch dadurch ist das Postkoloniale gekennzeichnet.

Popmusik ist postkoloniale Musik.

Musik ist kulturelle Praxis und wird Teil der Wissens- und Repräsentationssysteme »Rasse«, »Ethnie«, »Nation«. Dadurch, dass »Rasse«- und »Kultur«-Diskurse bis heute aufrechterhalten werden (Moore-Gilbert 1997: 12; Head 2003: 212) – der in der Musikwissenschaft noch immer übliche Terminus »außereuropäische Musik« macht dies bereits deutlich – unterliegt auch populäre Musik Aneignungs- und Sicherungsversuchen von Definitionsmacht. Eine erste Arbeitsthese lautet daher: Die inflationäre Verortung von Musik, die Topophilie der Agenten populärer Musik ist Folge und häufig auch Instrument kolonialistischen Denkens und Handelns in Repräsentationssystemen.

Die Erfindung von Musik als Element kontinentaler oder nationaler »Tradition« geht einher mit der Imaginierung / Vorstellung der Eroberung und Einteilung in Regionen. Als ein stichwortartiges Beispiel für eine solche erfundene Verklammerung sei Namibia als ehemalige deutsche Kolonie genannt: Bis zur Berliner Kongo-Konferenz lebten in dieser Gegend im Süden Afrikas verschiedenste Gruppen. Erst mit der 1884 getroffenen Entscheidung, dort Grenzen zu ziehen und diese Fläche Deutsch-Südwest bzw. Namibia zu nennen, kann es auch »namibische Künste« geben. Vor diesem kolonialistischen Akt gab es kein Ein-Repräsentationssystem Deutsch-Südwest. Die Festlegung der Grenzen war im Übrigen allein durch die Interessen europäischer Staatsmänner bestimmt, und ihre Gültigkeit behielten die Linien auf der Landkarte bis heute (Ayim 2001: 75). Diesen Gedanken der kolonialen Zirkularität »Geographie – Kultur – Geographie« werde ich in dem noch folgenden Teil-Kapitel »Die Weltkarte der Musik«, das die Wissenschaftsdisziplin Musikethnologie fokussiert, vertiefen. Formuliert ist die beschriebene Zirkularität schon lange bei Fanon:

Wenn der Neger, der niemals so sehr Neger gewesen ist wie seit seiner Beherrschung durch die Weißen, eine Kultur zu schaffen, Kultur zu beweisen beschließt, erkennt er, daß die Geschichte ihm ein genau abgestecktes Terrain anweist, ihm einen genau vorgeschriebenen Weg zeigt, und daß er eine Negerkultur zum Ausdruck bringen muss (1966: 162).

Musik als kultureller Ausdruck wird exakt in einer solchen repräsentativen Zwickmühle gefangen genommen. Diese Verklammerung von zugewiesenen Territorien und Kultur wirkt bis in die heutige populäre Musik hinein. Die Weltkarte lässt sich musikstilistisch von A bis Z durchbuchstabieren: »Afro Beat«, »Britpop«, »Celtic Folk«…

Populäre Musik ist hier deshalb als postkoloniale Musik definiert, weil in ihr die Stränge der Kolonisierung, Dekolonisierung, Rekolonisierung und Migrationsbewegungen in oben skizzierter Weise zusammenlaufen. Das Populäre in der Musik ist nicht einfach ein Massenphänomen, sondern die Masse gibt es unter anderem durch die kolonialen Verstrickungen. Es ist kein Zufall, dass sich gerade englisch- oder spanischsprachige Aufnahmen auf dem internationalen Musikmarkt einer solch großen Beliebtheit erfreuen oder so viele populäre Stile seit den 1970 Jahren in England entstanden sind. Die Geschichte der Popmusik nimmt ihren Ursprung im Geflecht des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, der heim(at)lichen Kulturen von Sklavinnen und Sklaven, in Widerstandsbewegungen der Unterdrückten, in (kulturindustrieller) Vereinnahmung von Bedeutungsneuschöpfungen und schließlich in einem erneuten Kampf darum. Populäre Musik ist postkoloniale Musik, weil sie nicht nur das »Spiel« der Kolonisatoren mit der Repräsentation ist, sondern auch durch »den Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation« geprägt ist (Hall 1994b: 59).[17][18]

Die postkoloniale Komplexität ist allerdings nicht zu verwechseln mit vereinfachten, essenzialistischen Erzählungen, bei denen am Anfang »african musical roots« stehen (Maultsby 1995: 183), die dann in der Geschichte der populären Musik von den Weißen gestohlen wurden. Der Beat eines Drum ’n’ bass-Tracks, den ein DJ ausgewählt hat, weil er findet, dass er »gut abgeht«, mag genauso klingen wie ein schneller gepitchtes Rhythmuspattern, das auch irgendwo bei einer kleinen Gruppe in Afrika zu finden ist. Er ist aber beides nicht: weder ein bedeutungsleeres Gestaltungsmittel noch Fortschreibung afrikanischer »Roots«. Seine Bedeutung wird in der und für die Repräsentation immer wieder neu erstritten: Vielleicht wurde der Beat in den »Worksongs« der Sklaven gespielt, vielleicht ein weiteres Mal in Civil Rights Freedom Songs, vielleicht im Soul und dann in Disco. Seine Bedeutung wird – wenn überhaupt – nur in der Re-konstruktion der jeweiligen Kontexte verstanden, in denen versucht wird, Handlungsmächte zu stabilisieren oder zu destabilisieren.

Der Ursprung der populären, postkolonialen musikalischen Gestalten liegt im »Rasse«- und »Kultur«-Diskurs des Kolonialismus und dessen fortwährenden Fragen der Repräsentation selbst.

[beat juggling]

Populäre Musik ist wie Schnee, der von einer »Lawine populärer Repräsentationen« (Hall 2004b: 122) überrollt wird, und dieser Schnee ist auch selbst Teil der Lawine. Populäre Musik ist durch die kolonialistische Weiße Idee der »Rasse« geprägt. Das ist schon daran zu merken, dass es Plattenregale gibt, auf denen das Etikett »Black Music« klebt. Eines mit der Aufschrift »White Music«, in dem vielleicht Beethovens, Udo Jürgens’ und Johnny Cashs Musik zusammen einsortiert sind, existiert hingegen nicht (Testcard Juni 2004: 4). Populäre Musik ist nicht koloniale Musik oder gar westliche Musik. Populäre Musik ist postkoloniale Musik, weil sie als Teil des repräsentativen Spektakels auch – vielleicht sogar vor allem – in den Westen selbst hineinwirkt. Wenn ich hier populäre Musik mit postkolonialer Musik gleichsetze, geschieht dies, weil ich in der populären Musik Prozesse wiedererkenne, die auch für postkoloniale Wirklichkeiten im Allgemeinen beschrieben werden. Voraussetzungen des Kolonialismus sind Verortung, Festschreibung, Kategorisierung bei gleichzeitigem Übersehen von Unterschieden.

Nur so konnten Herrschaftsbeziehungen inszeniert und legitimiert werden. Postkolonialismus ist schließlich neben den Aneignungskämpfen und Befreiungsbewegungen besonders von Migrationsbewegungen geprägt. Als Hypothese, die in der vorliegenden Studie tracks ’n’ treks weiterentwickelt werden soll, halte ich daher fest:

Die postkoloniale Welt ist geprägt durch einen topophilen Zeitgeist, während die Formen des Lebens stark durch Bewegung beeinflusst sind. Dies ist die Parallele, die ich zwischen Postkolonialismus und populärer Musik nachzeichnen möchte: Populäre Musik ist wesentlich geprägt durch die Topophilie ihrer Agenten, die Form hingegen ist äußerst flüchtig, polymorph und bewegungsgeneriert.

Begriffsmonster »Place, Music, Identity«

In den letzten Jahren erfreut sich in den Musik- und Kulturwissenschaften ein (eigentlich altes) Gedankenkartell, das sich aus den Konzepten »Place, Music and Identity« zusammensetzt, besonderer Beliebtheit (vgl. z.B. Bennet 2000; Connell und Gibson 2002; Witeley, Bennett, Hawkins 2005) (siehe »Weltkarte der Musik«). Es gibt nicht nur Hunderte, sondern Tausende von wissenschaftlichen Texten, die sich mit Fragen des Lokalen, der Globalisierung, Migration und ihrem Einfluss auf kulturelle Identitäten im Zusammenhang mit Musik beschäftigen.

Wenn ich hier populäre Musik als postkoloniale Musik definiere, so geht es mir gerade nicht um eine Diskussion über Musik und den heutigen, dynamisierten Wandel der Kulturen, sondern um die Kulturalisierung des sich schon immer Wandelnden – der topophoben, polymorphen musikalischen Gestalten.

Da ich nun postkoloniale Perspektiven mit populärer Musik synchronisiere und postkoloniale Musikstudien betreiben möchte, leite ich aus oben Beschriebenem drei zentrale Aspekte zur Herausbildung meines Forschungsinteresses ab. Aus diesen Aspekten konstituiert sich meines Erachtens die Grundintention nahezu aller postkolonialen Studien:

Sie dekonstruieren ›vorgestellte‹ Verortungen oder »Imaginative Geographies«.

Sie üben Kritik an einer rassistischen Repräsentationslogik (dabei wird ein konservativer Multikulturalismus mit eingeschlossen, der in seiner Logik der Idee von fixen Kulturen verhaftet bleibt).

Sie definieren den Kulturbegriff dynamischer und lösen ihn von Verweisen auf geographische Determinanten, indem Bewegungserfahrungen und eine Ästhetik der Bewegung starkgemacht werden.

Inzwischen gibt es zahlreiche postkoloniale Arbeiten, die als besonders geeignet für den Versuch gelten, eine neue Perspektive auf Kultur und deren Repräsentation zu bieten. Diese politischen Theorieprojekte haben sinnvolle Ansätze entwickelt, wie Spannungen, die durch die vorgeblichen Differenzen nationaler Kulturen oder ethnischer Gemeinschaften entstehen, gelöst werden können. Der Begriff »Kultur« ist in den verschiedenen Schulen der postcolonial studies erweitert und von geographischen Bezugspunkten gelöst worden. Ihre Theorien sympathisieren mit der Behauptung, dass dichotome Vorstellungen nicht mehr zu den vielschichtigen und konfliktreichen Verhältnissen der Weltgesellschaft passen. Spät- oder post-moderne Subjekte bewegen sich nicht in einem geschlossenen, »reinen« Kulturkreis, sondern sie sind de-zentriert. Menschen sind (verstärkt auch durch Effekte der Globalisierung) Grenzgänger und gelangen dadurch in Räume, in denen sie Bedeutungen und Machtstrukturen ständig neu aushandeln müssen. Als zentrale Erfahrungsparadigmen gelten Zerstreuung, Fragmentierung und Diskontinuität (Hall 1994c: 30).

Die postkoloniale Theoriebildung zielt auf ein Kulturverstehen in immateriellen, u-topischen Räumen. Dieses Begehren, das als gegenläufige Tendenz zur Topophilie aufgefasst werden kann, äußert sich in der Terminologie der Welt-Anschauung und in der stark bewegungsorientierten Räumlichkeitsmetaphorik: »Dislocation«, »Unhomeliness«, »Dritter Raum«, »Dissemi-nation« (Bhabha 1994), »Routes« statt »Roots«, »Chronotopes«, »Middlepassage« (Gilroy 1993). Solche Konzepte sollen in tracks ’n’ treks inhaltlich beleuchtet und vor allem an Bewegungsmetaphern und -formen, reflektiert werden, die aus populärer Musik herausgehört werden können.

[Crossfader]

Oben wird erzählt, dass der europäische Kolonialismus immer auch von einem Kulturalisierungsprozess begleitet war und mit einer Explosion »imaginärer Geographien« einherging. Es wird behauptet, Musik unterliege diesen Prozessen und dass Musik selbst zur Produktion der Repräsentationsdiskurse gebraucht werde. Die Vermittlung der Verkettung von Musik, Region, Kultur und Ethnie ist längst institutionalisiert beziehungsweise es hat sich eigens dazu eine wissenschaftliche Disziplin entwickelt, nämlich die Musikethnologie. Im Folgenden soll auf einige Zusammenhänge aus der Gründungsphase dieser Disziplin aufmerksam gemacht werden, um exemplarisch die tradierte, topophile Denkweise in kolonialen Repräsentationssystemen nachzuweisen.