Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen - Lukas Eibensteiner - E-Book

Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen E-Book

Lukas Eibensteiner

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Beschreibung

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dem schulischen Drittpracherwerb des Spanischen und untersucht, wie die spanischen Vergangenheitstempora erworben werden und inwiefern sprachliche Vorkenntnisse diesen Erwerbsprozess beeinflussen. Eine mit mehr als hundert Schüler*innen durchgeführte empirische Untersuchung liefert Evidenz dafür, dass vor allem Englisch- und Französischvorkenntnisse einen positiven Einfluss haben, allerdings in unterschiedlichen semantischen Kontexten. Der Autor plädiert daher für einen sprachvernetzenden Unterricht, der sich an den Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik orientiert.

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Seitenzahl: 548

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Lukas Eibensteiner

Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen

Wie L2-Kenntnisse des Englischen, Französischen und Lateinischen den L3-Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Spanischen beeinflussen

Anhang mit ausgewählten Untersuchungsmaterialien:

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2197-6384

ISBN 978-3-8233-8435-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0250-6 (ePub)

Inhalt

Danksagung und Widmung1  Einleitung2  Tempus und Aspekt2.1 Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive2.1.1 Lexikalischer Aspekt2.1.2 Grammatikalischer Aspekt2.1.3 Unterscheidung von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt2.2 Der zeitrelationale Ansatz von Klein (1994)2.3 Tempus und Aspekt im Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen2.3.1  Das Deutsche2.3.2 Das Englische2.3.3 Das Lateinische2.3.4 Die romanischen Sprachen2.3.5 Konklusion: Tempus und Aspekt aus einer sprachvergleichenden Perspektive3  Grundlegende Theorien, Modelle und Hypothesen des Zweit- und Drittspracherwerbs3.1 Kognitivistische Ansätze der Zweitspracherwerbsforschung3.2 Die Rolle von explizitem und implizitem Wissen3.3 Deklarativ-prozedurale Modelle des Zweitspracherwerbs3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb3.5  Konklusion: L2- ≠ L3-Erwerb4  Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb4.1  Transfer als kognitiver Prozess4.2 Faktoren, die Transfer beeinflussen4.2.1 Der Einfluss von genetischer Verwandtschaft, sprachstruktureller Ähnlichkeit und (Psycho-)Typologie4.2.2 Der Einfluss von Form-Bedeutungs-Paaren4.2.3  Der Einfluss von Sprachniveau, recency of use und weiteren Faktoren4.3 Transfermodelle4.3.1 Holistische Mehrsprachigkeitsmodelle4.3.2 L2-Status-Faktor-Modelle4.3.3  Generativistische Transfermodelle4.3.4  Modelle des konzeptuellen Transfers4.4  Konklusion: Transfer als komplexes Phänomen5  Der Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Zweit- und Drittspracherwerb des Spanischen5.1 Faktoren, die den Erwerb von perfektivem und imperfektivem Aspekt beeinflussen5.1.1 Semantische Ansätze: Lexical Aspect Hypothesis und Default Past Tense Hypothesis5.1.2  Diskursive Ansätze: Die Diskurshypothese5.1.3 Syntaktische Ansätze: Über den Erwerb von syntaktischen Merkmalen5.1.4 Kognitive Ansätze: Frequenz, Salienz und Prototypikalität5.1.5 Zwischenfazit: Interaktion diverser Variablen5.2 Einfluss von sprachlichem Vorwissen5.2.1 L1-Transfer in Studien zum Zweitspracherwerb5.2.2  L1-/L2-Transfer in Studien zum Drittspracherwerb5.3  Konklusion: L2-Einfluss als kaum berücksichtigte Variable – Darstellung der Forschungsdesiderata6  Methodologie6.1 Forschungsfragen und Hypothesen6.1.1 Theoretische Annahmen der Hypothesen6.1.2 Hypothesenblock 1: Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch6.1.3  Hypothesenblock 2: Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge6.1.4  Hypothesenblock 3: Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Französisch6.2  Untersuchungsmaterial6.2.1 Pilotstudie6.2.2  C-Test6.2.3 Bildgeschichten6.2.4 Semantische Interpretationsaufgaben6.2.5 Fragebogen6.2.6 Reflexionsaufgabe6.3  Probanden6.3.1  Gruppierungsvariable Aspektwissen Englisch6.3.2 Gruppierungsvariable Schulische Sprachenfolge6.3.3 Gruppierungsvariable Aspektwissen Französisch6.3.4 Muttersprachliche Kontrollgruppe6.4 Vorgehensweise6.5 Datenkodierung und Analyseverfahren6.5.1 C-Test6.5.2 Bildgeschichten6.5.3 Semantische Interpretationsaufgaben6.5.4  Fragebogen6.5.5 Reflexionsaufgabe7  Darstellung der Ergebnisse7.1 Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch7.1.1 Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten7.1.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe7.1.3  Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Englisch: Ein Fokus auf Gruppe A7.1.4 Exemplarische Darstellung ausgewählter Probanden (Gruppe A)7.2 Der Einfluss der schulischen Sprachenfolge7.2.1  Ergebnisse der Nacherzählung der Bildgeschichten7.2.2 Ergebnisse der Interpretationsaufgabe7.2.3  Der Einfluss von Aspektwissen in der L2 Französisch: Ein Fokus auf Gruppe B7.2.4  Exemplarische Darstellung ausgewählter Probanden (Gruppe B)7.3  Eine qualitative Darstellung des metasprachlichen Bewusstseins der Lernenden7.3.1  Explizites Regelwissen: Welche Faustregeln verwenden Lernende, um über (im-)perfektiven Aspekt zu sprechen?7.3.2  Nützlichkeit von Sprachvergleichen: Welche Sprachen empfinden die Lernenden als hilfreich und welche Sprachvergleiche stellen sie an?8  Interpretation und Diskussion der Ergebnisse8.1 Zusammenfassung der Ergebnisse8.1.1 Ergebnisse des quantitativen Teils8.1.2  Ergebnisse des qualitativen Teils8.2 Form-Bedeutungs-Assoziationen zwischen den Zweitsprachen Englisch und Französisch und der Drittsprache Spanisch8.2.1 Die Extended Default Past Tense Hypothesis8.2.2  Der Einfluss von sprachstruktureller Nähe und Sprachtypologie8.3 Der Einfluss von lexikalischem Aspekt und Prototypikalität8.4 Ausblicke auf das Lateinische8.5  Limitationen und zukünftige Studien8.5.1 Theoretische Herausforderungen8.5.2 Methodische Herausforderungen8.5.3 Herausforderungen im Hinblick auf das Sampling8.5.4 Zusätzliche Möglichkeiten für zukünftige Studien8.6  Didaktische Implikationen8.7  Fazit9  Bibliographie9.1 Print9.2 InternetAbkürzungsverzeichnis

Danksagung und Widmung

Die vorliegende Monographie wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. Sie wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Menschen nicht möglich gewesen.

An erster Stelle möchte ich meinen beiden Betreuern danken, die mich in den letzten Jahren begleitet haben und mir immer mit gutem Rat zur Seite gestanden sind. Lieber Peter, dank dir konnte ich in einem vertrauten Umfeld meine ersten wissenschaftlichen Schritte tätigen. Dir verdanke ich auch die Stoßrichtung gen Mehrsprachigkeitsdidaktik und Drittspracherwerb sowie meine Liebe zu den kleineren romanischen Sprachen. Dafür möchte ich dir vielmals danken! Lieber Hannes, du hast mich in meiner Zeit in Mannheim wissenschaftlich großgezogen. Du hast mich bei meinen ersten Tagungen begleitet, meine ersten PowerPoint-Folien und Artikel Korrektur gelesen sowie meine ersten methodischen Entwürfe kritisch begutachtet und mit mir diskutiert. Du hast all meine Projekte ständig wertgeschätzt und bestmöglich gefördert. Dir verdanke ich meine psycholinguistische und empirische Ausrichtung sowie die Möglichkeit, mich wissenschaftlich voll entfalten zu können. Du hast mich in allen Belangen unterstützt und bist immer für mich da gewesen. Dafür bin ich dir zu unendlichem Dank verpflichtet!

Darüber hinaus möchte ich allen Kolleg*innen danken, die mit mir Fragen diskutiert haben, die mich im Rahmen dieser Arbeit beschäftigt haben. Auch dem Research und Study Centre und dem Romanischen Seminar der Universität Mannheim sowie den dort tätigen wissenschaftlichen Hilfskräften danke ich für ihre Unterstützung. Des Weiteren sei allen Lehrer*innen und Schüler*innen, ohne die die vorliegende Arbeit nicht hätte durchgeführt werden können, mein Dank ausgesprochen. ¡Muchas gracias!

Schließlich möchte ich mich noch bei meiner Familie bedanken, die mir in all den Jahren eine unglaubliche Stütze war. Ihr habt mich in all meinen Entscheidungen unterstützt und seid mir in allen Lebenslagen zur Seite gestanden. Das Vertrauen, das ich euch entgegenbringe, und der Rückhalt, den ich bei euch habe, sind unbezahlbar. Ich danke euch für die unendliche Liebe, die ihr mir Tag für Tag entgegenbringt. Euch soll diese Arbeit gewidmet sein.

1 Einleitung

In Deutschland haben im Schuljahr 2018/19 fast 500.000 Schülerinnen und Schüler1 allein an allgemeinbildenden Schulen fremdsprachlichen Unterricht im Fach Spanisch erhalten (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Spanisch ist damit nach Englisch, Französisch und Latein diejenige Fremdsprache, die in dieser Schulform am meisten unterrichtet wird – Tendenz steigend. An deutschen Schulen wird Spanisch in der Regel als Dritt- oder Viertsprache angeboten (vgl. Bär 2012: 37). Dies bedeutet, dass Spanischlernende nicht bei null anfangen, sondern auf zahlreiche sprachliche Wissensressourcen zurückgreifen können. „Es wäre [daher] in höchstem Maße unvernünftig und unökonomisch, diese Wissensressourcen nicht im Fremdsprachenunterricht zu verwerten – ignorieren läßt sich vorhandenes Sprachwissen ohnehin nicht“ (Müller-Lancé 2006b: 462). Die Didaktiken der romanischen Sprachen plädieren deshalb nicht umsonst für eine Implementierung sprachvernetzender Ansätze in den Fremdsprachenunterricht (vgl. Fernández Ammann et al. 2015; Leitzke-Ungerer et al. 2012; Meißner/Reinfried 1998a; Klein/Stegmann 1999; Reimann 2016; Rückl 2016). Mehrsprachigkeitsdidaktische Lehrwerke (vgl. Holzinger et al. 2012) und die Integration solcher Ansätze in die meisten Lehrpläne (vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz 2012) sind diesbezüglich wichtige Meilensteine, auch wenn weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Ein wesentliches Merkmal dieser sprachvernetzenden Ansätze stellt das Ziel dar, das Transferpotential der Lernenden optimal zu nutzen. Obwohl es Studien im Bereich der romanistischen Fremdsprachendidaktik gibt, die sich unter anderem mit Transfer befassen (vgl. beispielsweise Bär 2009), findet sich kaum Grundlagenforschung, die Transferphänomene zwischen den im deutschsprachigen Raum häufigsten Schulfremdsprachen aus einer (psycho-)linguistischen Perspektive untersucht. Diesem Forschungsdesiderat wird sich das vorliegende Werk widmen.

Die Unterscheidung der beiden spanischen Vergangenheitstempora perfecto simple und imperfecto stellt ein großes Problem für deutschsprachige Lernende des Spanischen dar. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es die Opposition von perfektivem und imperfektivem Aspekt im Deutschen nicht gibt. Obwohl zahlreiche Untersuchungen vorhanden sind, die sich mit dem Zweitspracherwerb dieser beiden Tempora beschäftigt haben (vgl. Comajoan 2014; Salaberry 2008), finden sich kaum Studien, die explizit deutschsprachige Lernende oder den schulischen Kontext erforschen (vgl. Hinger 2016, 2017 und Diaubalick/Guijarro-Fuentes 2016, 2017, 2019 für zwei Ausnahmen). Darüber hinaus gibt es keine Studien, welche das Spanische als Drittsprache fokussieren und den Einfluss von sprachlichem Vorwissen auf den Erwerb des perfecto simple und des imperfecto analysieren. Gerade dieses sprachliche Vorwissen stellt aber eine große Hilfe beim Erwerb des Spanischen dar. Während es im Deutschen die Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv nicht gibt, können die Lernenden prinzipiell sowohl auf das Englische (progressive-Form) als auch auf das Französische (passé composé, passé simple, imparfait) oder das Lateinische (Perfekt, Imperfekt) zurückgreifen. Inwiefern germanophone Spanischlerner von diesem Vorwissen beeinflusst werden bzw. es für den Erwerb der Unterscheidung von perfecto simple und imperfecto nutzen können, stellt die Leitfrage der vorliegenden Arbeit dar.

Zur Beantwortung dieser übergeordneten Forschungsfrage werden quantitative und qualitative Methoden trianguliert. Das Untersuchungssetting beinhaltet einen C-Test, mündliche Sprachproduktionsdaten, semantische Interpretationsaufgaben in drei Sprachen, einen Fragebogen sowie eine stimulated-recall-Reflexionsaufgabe. Die Studie wurde mit 109 germanophonen, schulischen Lernenden des Spanischen als Drittsprache (L3) durchgeführt. Die Ergebnisse der Untersuchung deuten darauf hin, dass der sogenannte L2-Status sowie sprachstrukturelle und typologische Faktoren für die Wahl der Transferbasis entscheidend sind. Da zwischen dem Deutschen und dem Spanischen hinsichtlich der Unterscheidung von perfektiv/imperfektiv keine sprachstrukturellen Ähnlichkeiten bestehen, transferieren die Lernenden ihr aspektuelles Wissen aus einer Zweitsprache (L2), das heißt aus dem Englischen oder dem Französischen. Dieses Resultat, dass im L3-Erwerb primär das L2-System transferiert wird bzw. dass typologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen, steht im Einklang mit zahlreichen Studien und Modellen, wie beispielsweise dem Rollen-Funktions-Modell (vgl. Williams/Hammarberg 1998), dem L2-Status-Faktor-Modell (vgl. Bardel/Falk 2007) oder dem Typological Primacy Model (vgl. Rothman 2010a). Diese gängigen Transfermodelle werden mit der Default Past Tense Hypothesis von Salaberry (2000, 2008), die den L2-Erwerb von perfektiv/imperfektiv im Spanischen beschreibt, verknüpft. Die Verzahnung von Salaberrys Hypothese mit den Transfermodellen ermöglicht eine Ausweitung derselben, wodurch sie den Bedürfnissen des L3-Erwerbs gerecht wird. Diese erweiterte Form wird als Extended Default Past Tense Hypothesis bezeichnet.

Für die Fremdsprachendidaktik bedeuten diese Ergebnisse einerseits, dass das gesamte sprachliche Repertoire der Lernenden ausgeschöpft werden sollte und dass sprachliches Vorwissen vor allem dann zu positivem Transfer führt, wenn sprachstrukturelle Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen vorhanden sind. Diese in der Theorie durchaus schon lange vorhandenen Annahmen werden durch die empirische Evidenz der vorliegenden Studie untermauert.

Die Arbeit gliedert sich neben der Einleitung in sieben weitere Kapitel, von denen die ersten vier theoretischer Natur sind. Die letzten drei befassen sich mit dem Untersuchungsdesign, den Ergebnissen und der Interpretation derselben. In Kapitel 2 werden einige Grundbegriffe der Tempus- und Aspektforschung eingeführt und mithilfe von Beispielen veranschaulicht. Dies betrifft vor allem die Abgrenzung von lexikalischem/grammatikalischem Aspekt und Tempus. Im Anschluss werden die Vergangenheitssysteme der in der vorliegenden Arbeit behandelten Einzelsprachen näher erläutert. Es wird zuerst auf die beiden germanischen Sprachen, Deutsch und Englisch, eingegangen, bevor im Anschluss daran das Lateinische beschrieben wird. Im letzten Teil des Kapitels werden die romanischen Sprachen, Französisch und Spanisch, dargestellt.

Kapitel 3 beschreibt grundlegende Begrifflichkeiten der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung. Es wird auf die Explizit-implizit-Debatte eingegangen und die deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman (2001) und Paradis (2009) werden vorgestellt. Darauffolgend wird in Anlehnung an das Faktorenmodell von Hufeisen (2000) dargelegt, warum sich der Erwerb einer Zweit- von jenem einer Drittsprache unterscheidet.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit Transfereffekten im Zweit- und Drittspracherwerb und geht dabei auf verschiedene Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Sprachtypologie, die Psychotypologie oder das Sprachniveau ein. In der Folge werden unterschiedliche Transfermodelle erörtert. Zu diesen zählen sowohl holistische Mehrsprachigkeitsmodelle (vgl. Herdina/Jessner 2002) als auch Transfermodelle aus dem Bereich der kognitiven Linguistik (vgl. Jarvis 2011) sowie der generativistischen Zweit- und Drittspracherwerbsforschung (vgl. Flynn et al. 2004). Des Weiteren werden die L2-Status-Faktor-Modelle beschrieben (vgl. Bardel/Falk 2007).

Studien, die sich mit dem Erwerb von perfektiv/imperfektiv in einer Zweit-/Drittsprache beschäftigen, werden schließlich in Kapitel 5 behandelt. Im ersten Teil werden unterschiedliche Hypothesen besprochen (z. B. Lexical Aspect Hypothesis (vgl. Andersen 1986), Default Past Tense Hypothesis (vgl. Salaberry 2000)) und es wird auf Untersuchungen eingegangen, die empirische Evidenz für die entsprechenden Hypothesen liefern. Der zweite Teil beschäftigt sich mit L1- und L2-Transfer im Bereich des L3-Erwerbs von perfektivem und imperfektivem Aspekt.

Mit Kapitel 6 beginnt der empirische Teil der Arbeit. Es geht zuerst auf die Forschungsfragen und Hypothesen der Hauptstudie ein. Im Anschluss daran wird das Untersuchungsmaterial vorgestellt und kritisch diskutiert, worauf eine Charakterisierung der Probanden folgt. Am Ende steht eine kurze Beschreibung der Vorgehensweise sowie der Datenkodierung und -auswertung.

In Kapitel 7, das sich in einen quantitativen und einen qualitativen Abschnitt untergliedert, werden schließlich die Ergebnisse der Hauptstudie präsentiert. Im quantitativen Teil wird der Einfluss des englischen und französischen Aspektwissens sowie der schulischen Sprachenfolge auf den Erwerb von perfektiv/imperfektiv im Spanischen dargestellt. Im qualitativen Teil werden die Aussagen der Lernenden bezüglich expliziten Regelwissens als auch im Hinblick auf eine sprachvergleichende Herangehensweise analysiert.

Schließlich werden in Kapitel 8 die Ergebnisse zusammengefasst und unter Rückgriff auf die bestehende Forschungsliteratur diskutiert. Am Ende des Kapitels steht eine Auflistung der Limitationen der Studie und es werden Handreichungen für zukünftige Untersuchungen gegeben. Ein Abschnitt zu didaktischen Implikationen sowie ein kurzes Fazit beschließen die vorliegende Arbeit.

2 Tempus und Aspekt

Die (Zeit-)Linguistik beschäftigt sich mit der Frage, wie das physikalische Phänomen der Zeit versprachlicht werden kann. Laut Klein (2009b: 40–41) greifen die diversen Einzelsprachen dafür auf sechs Möglichkeiten zurück: Tempus, (grammatikalischer) Aspekt, lexikalischer Aspekt, Temporaladverbien, Temporalpartikeln und Diskursprinzipien. Die nachstehenden Ausführungen fokussieren die ersten drei Möglichkeiten und konzentrieren sich dabei primär auf die temporale Domäne der Vergangenheit und die aspektuelle Unterscheidung von perfektiv/imperfektiv. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile: Zuerst werden die Unterschiede zwischen lexikalischem und grammatikalischem Aspekt diskutiert. Im Anschluss wird ein System zur Tempusanalyse vorgestellt (vgl. Klein 1994), das schließlich dazu verwendet wird, die Vergangenheitsformen des Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen zu beschreiben und voneinander abzugrenzen.

2.1Tempus und Aspekt aus einer typologischen Perspektive

2.1.1Lexikalischer Aspekt

Beim lexikalischen Aspekt (en. lexical aspect) handelt es sich um die inhärente Semantik des Verbs und dessen Argumente.1 In Anlehnung an Vendler (1957) spricht man von vier sogenannten Zeitschemata (en. time schemata) oder Aspektklassen, die mithilfe folgender Taxonomie zusammengefasst werden können:

Aspektklassen

dynamisch

telisch

durativ

Beispiel

Zustände (en. states)

-

-

+

sein

Aktivitäten (en. activities)

+

-

+

(Lieder) singen

Accomplishments2

+

+

+

ein Lied singen

Achievements

+

+

-

den Gipfel erreichen

Tab. 1:

Klassifikation lexikalischer Aspektklassen (in Anlehnung an Vendler 1957)

Diese Taxonomie beruht im Wesentlichen auf drei aspektuellen Unterschieden: (1) Zustandswechsel (statisch vs. dynamisch), (2) inhärente(s) Ende/Limit/Grenze (telisch vs. atelisch) und (3) zeitliche Ausdehnung (punktuell vs. durativ) (vgl. Filip 2012). Diese drei aspektuellen Unterschiede werden im Folgenden voneinander abgegrenzt:

(1) Der wesentliche Unterschied zwischen statischen und dynamischen Prädikaten liegt darin, dass die Semantik eines Zustands keinen Zustandswechsel nach sich zieht, jene einer Aktivität hingegen schon (vgl. ebd.: 728). Laut Comrie (1976: 48–51) müssen dynamische Prädikate einer ständigen Zufuhr von Energie unterliegen, um fortgesetzt zu werden. Wenn beispielsweise eine Person keine Energie aufwendet, um die Aktivität des Singens aufrechtzuerhalten, wird die Handlung abrupt ein Ende nehmen. Zustände hingegen benötigen Energie, um in den Zustand gebracht zu werden. Haben sie diesen aber erreicht, verweilen sie darin und benötigen keine Energie für die Aufrechterhaltung desselben (z. B. das Buch, das ins Regal gestellt wird, bleibt dort stehen – es ist/verweilt in dem Regal):

With a state, unless something happens to change that state, then the state will continue […]. With a dynamic situation, […] the situation will only continue if it is continually subject to a new input of energy (ebd.: 49).

(2) Der wesentliche Unterschied zwischen telischen und atelischen Prädikaten liegt darin, dass die Semantik von telischen Prädikaten einen inhärenten Endpunkt besitzt. Sie beschreiben also Aktionen, die sich in Richtung eines Endpunktes bewegen und erst dann wahr sind, wenn dieser erreicht wurde. Atelische Situationen hingegen sind schon in dem Moment wahr, in dem sie beginnen (vgl. Garey 1957: 106). Diesen Unterschied veranschaulicht Comrie (1976: 44–48) anhand der Sätze John singt und John singt ein Lied. Obwohl beide Prädikate eine gewisse Dauer ausdrücken und dynamisch sind, gibt es einen wichtigen Unterschied hinsichtlich der Telizität. Egal zu welchem Zeitpunkt John mit dem Singen aufhört, ist die Aussage, dass er gesungen hat, wahr, was auf die Atelizität des Prädikats zurückzuführen ist. Beim zweiten Satz hingegen ist dies nicht der Fall. Wenn John das Singen eines Liedes in der Mitte abbricht und beispielsweise noch die letzte Strophe fehlt, ist die Aussage, dass John ein Lied gesungen hat, nicht wahr, sondern nur dann, wenn John das Lied (inkl. der letzten Strophe) tatsächlich fertig gesungen hat. Dies ist auf den inhärenten Endpunkt von telischen Prädikaten wie bei ein Lied singen zurückzuführen. Wie dieses Beispiel zeigt, interagiert die Semantik der Verben mit den Argumenten derselben. Das atelischen Verb singen in John singt erhält erst durch das Hinzufügen des Akkusativobjektes ein Lied einen inhärenten Endpunkt (= das Ende des Liedes) und wird somit zu einem telischen Prädikat (vgl. auch Comrie 1976: 45).

Die Aspektklasse hängt allerdings nicht nur von der Präsenz oder Nichtpräsenz eines Objekts ab, sondern auch davon, ob es sich um eine gequantelte oder eine kumulative Nominalphrase handelt (vgl. Krifka 1989).3 Beispielsweise wird ein Prädikat als telisch interpretiert, wenn die Nominalphrase gequantelt ist und als atelisch, wenn sie kumulativ ist:

(1)

John singt ein Lied.

(gequantelt → telisch)

(2)

John singt Lieder.

(kumulativ → atelisch)

(3) Der dritte aspektuelle Unterschied, auf dem die oben genannte Taxonomie beruht, ist derjenige zwischen Durativität und Punktualität. Im Gegensatz zu punktuellen Prädikaten nehmen durative eine gewisse Zeitspanne ein:

[D]urativity simply refers to the fact that the given situation lasts for a certain period of time […], [whereas] punctuality […] means the quality of a situation that does not last in time (Comrie 1976: 41–42).

Die oben diskutierte Verbalphrase ein Lied singen drückt eindeutig eine gewisse zeitliche Ausdehnung aus, weshalb ihr das Merkmal [+ durativ] zukommt und sie in der Vendlerschen Taxonomie den accomplishments zugeordnet wird. Achievements unterscheiden sich insofern von dieser Kategorie, als sie durch das Merkmal [+ punktuell] zu charakterisieren sind. Dies trifft prinzipiell auf das in Tabelle 1 genannte Prädikat den Gipfel erreichen zu. Das Problem, das mit der Opposition durativ/punktuell einhergeht, ist, dass eigentlich jede Handlung eine gewisse Dauer hat. Comrie (1976: 41–44) veranschaulicht dies folgendermaßen: Wenn man sich einen Film ansieht, in welchem eine Person hustet, und diese Szene in Zeitlupe abspielt, dann wird das vermeintlich punktuelle Verb husten in die Länge gezogen und dadurch durativ. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die Semantik der Punktualität nur schwer zu fassen ist. Aufgrund dieser Problematik, und in Anlehnung an zahlreiche dreiteilige Taxonomien, werden in der vorliegenden Arbeit die Kategorien der accomplishments und achievements zusammengefasst und unter den Begriff der telics subsumiert (vgl. De Swart 1998; Klein 1994; Salaberry 2011; Verkuyl 1999; für einen Überblick vgl. Tatevosov 2002: 320–321):

Aspektklassen

dynamisch

telisch

Zustände (statisch)

-

-

Aktivitäten (aktivisch)

+

-

Telics (telisch)

+

+

Tab. 2:

Dreigliedrige Einteilung von lexikalischem Aspekt

Nachdem in diesem Kapitel über lexikalischen Aspekt gesprochen und dieser in Zustände, Aktivitäten und telics eingeteilt wurde, wird das nächste Kapitel von der grammatischen Kategorie des Aspekts handeln.

2.1.2Grammatikalischer Aspekt

Im Unterschied zum lexikalischen Aspekt handelt es sich bei Tempus und Aspekt1 um grammatikalische Kategorien des Verbs. Tempus wird als grammatikalisierte Zeitreferenz verstanden, die das Ereignis, über das gesprochen wird, zu einer anderen Zeit, meist dem Jetzt des Sprechens, in Bezug setzt (vgl. Comrie 1976: 1–2; Comrie 1985: 9). Im Unterschied zur Kategorie Tempus wird Aspekt oft metaphorisch als ein Scheinwerfer, der die entsprechende Situation fokussiert, dargestellt. Dies ist mit der auf Holt (1943: 6) basierenden und von Comrie (1976: 3; Hervorhebung durch den Verfasser) leicht überarbeiteten Definition gemeint, dass es sich bei Aspekt um die unterschiedlichen Möglichkeiten handelt, die interne temporale Beschaffenheit einer Situation zu betrachten: „[A]spects are different ways of viewing the internal temporal constituency of a situation“. Auch Klein (1994: 16; Hervorhebung durch den Verfasser) spricht von unterschiedlichen Perspektiven, die ein Sprecher einnehmen kann, um eine Situation zu beschreiben: „[Aspects are] different perspectives which a speaker can take and express with regard to the temporal course of some event, action, process“. Beide Definitionen betonen, dass Aspekt mit der Perspektivnahme des Sprechers zu tun hat und daher bis zu einem gewissen Grad subjektiv ist (vgl. Baudot 2004: 31; Comrie 1976: 4; Lindschouw 2017: 412; Salaberry 2008: 22–25).

Tempus und Aspekt bilden demnach den grammatischen Kern der funktional-semantischen Kategorien der Temporalität bzw. jener der Aspektualität. Eine funktional-semantische Kategorie wird nicht nur durch morphologische oder syntaktische, sondern auch mithilfe von „wortbildenden und lexikalischen Mitteln[,] […] durch die Kombination all dieser Mittel oder kontextuell ausgedrückt“ (Haßler 2016: 7). Es ist wichtig, diese Trennung zwischen einer grammatischen und einer funktional-semantischen Kategorie vorzunehmen. Beispielsweise haben Sprachen, die keinen Aspekt im Sinne einer grammatischen Kategorie besitzen, trotzdem die Möglichkeit, aspektuelle Unterscheidungen mithilfe von beispielsweise lexikalischen Mitteln auszudrücken.

Im Hinblick auf die grammatische Kategorie des Aspekts wird üblicherweise zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterschieden. Perfektive Verbformen stellen die Situation in ihrer Totalität dar

without reference to its internal temporal constituency: the whole of the situation is presented as a single unanalyzable whole, with beginning, middle, and end rolled into one (Comrie 1976: 3).

Demnach wird durch die Verwendung perfektiver Verbformen die Handlung als ein begrenztes Ganzes betrachtet, deren Anfang und Ende in die Perspektive des Sprechers mit eingeschlossen sind (vgl. Dahl 1985: 78; Smith 1997). Im Russischen beispielsweise wird der perfektive Aspekt mithilfe von Präfixen markiert (vgl. Klein 2009b: 55–56; De Swart 2012: 756–758):

(3)

Ivan

na-pisa-l

pis’mo.

Ivan

PERF.schreiben.PAST

Brief.

 

‚Ivan schrieb einen Brief (fertig).‘

In Beispiel 3 wird durch das Anfügen des Präfixes {na-} das Schreiben des Briefes als in sich abgeschlossenes Ganzes betrachtet, was impliziert, dass der Brief fertig geschrieben wurde. Bei Sprachen, die einen perfektiven Aspekt besitzen, ist es nicht möglich, diese Abgeschlossenheit kontextuell zu negieren. Beispielsweise macht die kontextuelle Vorgabe, dass Lucas auch in der Gegenwart noch krank ist, den spanischen Beispielsatz ungrammatisch:

(4)

*Lucas estuvo enfermo y todavía lo está.

 

(Beispielsatz aus Salaberry 2008: 48)

Mithilfe solcher Vorgaben, die einen Kontext etablieren, der bis zur Gegenwart andauert, kann überprüft werden, ob eine Sprache einen perfektiven Aspekt besitzt. Diese Herangehensweise, die mithilfe eines sogenannten conjunction test durchgeführt wird, findet in der Aspektforschung häufig Anwendung (vgl. Smith 1997: 194).

Imperfektiver Aspekt hingegen „make[s] explicit reference to the internal temporal structure of a situation, viewing a situation from within“ (Comrie 1976: 24). Er ist unbegrenzt und Anfang und Ende der Handlung werden nicht fokussiert (vgl. Bybee/Dahl 1989: 55; Smith 2012: 2588), wodurch der Eindruck entsteht, die Situation werde „von innen“ betrachtet. In Beispielsatz 5 wird die Handlung durch die Verwendung der imperfektiven Verbform pisal als nicht abgeschlossen dargestellt. Es bleibt somit unklar, ob Ivan den Brief fertig geschrieben hat oder nicht:

(5)

Ivan

 

pisa-l

pis’mo.

Ivan

 

schreiben(IMP).PAST

Brief.

‚Ivan war dabei, einen Brief zu schreiben.‘

In Anlehnung an Comrie (1976: 25) kann der imperfektive Teil der Opposition weiter in eine habituelle, kontinuative und progressive Komponente unterteilt werden:

Abb. 1:

Taxonomie aspektueller Oppositionen (vgl. Comrie 1976: 25)

Die Semantik der Habitualität bezieht sich auf regelmäßige, sich wiederholende Situationen (vgl. Bertinetto/Lenci 2012: 852), die eine charakteristische Eigenschaft einer Zeitspanne wiederspiegeln (vgl. Comrie 1976: 27–28).2 Demnach beschreibt Habitualität eine Situation

which is characteristic of an extended period of time, so extended in fact that the situation referred to is viewed […] as a characteristic feature of a whole period (ebd.).

Die Frage, was eine charakteristische Eigenschaft ist, lässt Comrie offen und verweist darauf, dass es sich dabei um keine linguistische, sondern um eine konzeptuelle Frage handelt. Die Zeitspanne, in welcher die betrachtete Situation wiederholt wird, ist an sich unbegrenzt, weshalb die Einteilung der Habitualität als Subkategorie der Imperfektivität prinzipiell gerechtfertigt ist (vgl. Carlson 2012: 835).

Vom Begriff der Habitualität müssen diejenigen der Generizität und Iterativität abgegrenzt werden. Eine generische Lesart entsteht, wenn der Satz als Subjekt eine generische Nominalphrase besitzt, die sich nicht auf einzelne Individuen oder bestimmte Gruppen von Individuen bezieht, sondern auf die Klasse an sich. Carlson (2012: 830–831) veranschaulicht den Unterschied zwischen einer generischen und einer habituellen Lesart anhand von zwei Beispielsätzen, die ins Deutsche übersetzt wurden und im Folgenden in leicht veränderter Form dargestellt werden. Bezieht sich die Nominalphrase auf einen bestimmten Löwen (= ein einzelnes Individuum, beispielsweise im Tiergarten Schönbrunn), dann entsteht eine habituelle Interpretation (Beispielsatz 6); verweist sie auf die gesamte Spezies der Löwen, kommt dem Satz eine generische Lesart zu (Beispielsatz 7). Wie die beiden Beispielsätze veranschaulichen, wird die jeweilige Interpretation vom Kontext evoziert bzw. erst durch diesen deutlich:

(6)

Der Löwe im Tiergarten Schönbrunn brüllt für gewöhnlich.

(7)

Löwen brüllen.

Iterativität hingegen bezieht sich auf die Wiederholung spezifischer Sachverhalte, die als in sich abgeschlossenes Ganzes betrachtet werden (vgl. Bertinetto/Lenci 2012: 854–860). Man kann das Konzept der Iterativität anhand des folgenden Satzes veranschaulichen:

(8)

El lector se levantó, tosió cinco veces y dijo…

Beim fünfmaligen Husten handelt es sich um einen räumlich und zeitlich spezifischen Sachverhalt, der als begrenzte und in sich abgeschlossene Situation interpretiert wird. Iterativität bezeichnet demnach eine bestimmte Iteration, die in einem begrenzten zeitlichen Rahmen stattfindet. In Sprachen, die über eine aspektuelle Opposition von perfektiv/imperfektiv verfügen, wird die iterative Semantik daher üblicherweise mithilfe von perfektiven Verbformen ausgedrückt (vgl. Salaberry 2008: 49).

In Comries Gliederung wird der habituellen Subkategorie die kontinuative3 gegenübergestellt, welche Comrie (1976: 26) als Imperfektivität, die keine Habitualität ist, definiert. Kontinuität wird überdies in eine progressive und eine nicht progressive Komponente untergliedert, wobei erstere als die Kombination von progressiver und nicht statischer Bedeutung definiert wird (vgl. ebd.: 35). Im Allgemeinen wird eine Situation als progressiv bezeichnet, wenn die entsprechende Handlung zu einem bestimmten (Referenz-)Zeitpunkt als im Verlauf befindlich dargestellt und ihr dynamischer Charakter betont wird (vgl. Bybee/Dahl 1989: 55; Mair 2012: 803–807; für weitere Informationen zum Begriff des Referenzzeitpunktes siehe Kapitel 2.2). Dieser Referenzzeitpunkt kann durativ oder punktuell sein. Wenn eine Sprache über eine entsprechende Progressivperiphrase verfügt, wird Ersteres auch als duratives, Letzteres als fokussierendes Progressiv bezeichnet (vgl. Bertinetto et al. 2000: 527). Im Unterschied zum durativen Progressiv, bei welchem die Handlung während eines länger andauernden Zeitintervalls als im Verlauf befindlich dargestellt wird (z. B. from 2 to 4), greift das fokussierende Progressiv einen bestimmten Zeitpunkt heraus (z. B. at 7 p.m.):

(9)

At 7 p.m. I was still working.

(fokussierend)

(10)

From 2 to 4 I was reading a book.

(durativ)

 

(Beispielsätze aus Declerck 2006: 33)

Die Comriesche Definition, dass Progressivität die Kombination von progressiver mit nicht statischer Bedeutung ist, ist insofern problematisch, als sich die Sprachen der Welt dahingehend unterscheiden, in welchen Kontexten bzw. mit welchen Verben eine progressive Form angewandt werden kann (vgl. Bertinetto et al. 2000: 537; Bertinetto 2000: 583–585; Comrie 1976: 35; Mair 2012: 812–813). Bestimmte Verben besitzen die Möglichkeit, sowohl als statisch als auch als dynamisch interpretiert zu werden. Als Beispiel nennt Comrie (1976: 35) die Verwendung der Progressivperiphrase mit Verben der (passiven) Sinneswahrnehmung (en. verbs of inert perception). Während im Englischen eine Kombination dieser Verben mit einer Progressivperiphrase in den meisten Fällen seltsam klingt, ist dies im Spanischen problemlos möglich:

(11)

?I am seeing you there under the table.

(12)

Te estoy viendo debajo de la mesa.

Trotz solcher sprachspezifischen Unterschiede gilt diese Restriktion bezüglich statischer Prädikate als definitorisches Merkmal von Progressivität (vgl. ebd.: 12; Deo 2012: 165; Mair 2012: 806). Damit unterscheidet sie sich von der kontinuativen Semantik, welcher bezüglich der Kombination mit lexikalischem Aspekt keine Einschränkungen unterliegen (vgl. Comrie 1976: 25; Mair 2012: 806). Darüber hinaus ist bei der Kontinuität der (Referenz-)Zeitpunkt durativ (vgl. García Fernández 2004: 43; Pérez Saldanya 2004: 215–216; Real Academia Española 2009: 1689). Ein Überblick über die beiden gerade besprochenen Semantiken findet sich in Tabelle 3:

 

Progressivität

Kontinuität

 

fokalisierend

durativ

Kombination mit lexikalischem Aspekt

nicht statisch

nicht statisch

frei

Referenzzeitintervall

punktuell

durativ

durativ

Tab. 3:

Abgrenzung von Progressivität und Kontinuität

Auch wenn es aus typologischer Sicht sinnvoll erscheinen mag, die Semantiken des progressiven und kontinuativen Aspekts getrennt zu behandeln (vgl. Mair 2012: 806–807), ist eine solche Trennung bei Sprachen, die nicht über unterschiedliche Marker, sondern beispielsweise nur über ein Imperfekt verfügen, schwierig (vgl. Arche 2014: 811). Es sei deshalb an dieser Stelle schon vorweggenommen, dass im empirischen Teil der Arbeit die Restriktionen bezüglich der Kombinierbarkeit mit lexikalischem Aspekt herangezogen werden, um Progressivität und Kontinuität voneinander abzugrenzen. Eine Handlung, die als unbegrenzt betrachtet wird, nicht habituell ist und in Kombination mit nicht statischen Prädikaten auftritt, wird als progressiv bezeichnet; wird sie ausschließlich mit statischen Prädikaten kombiniert, wird von (nicht progressiver) Kontinuität gesprochen.4

2.1.3Unterscheidung von grammatikalischem und lexikalischem Aspekt

Das Verhältnis von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt ist Mittelpunkt zahlreicher Debatten. Vertreter des unidimensionalen Ansatzes nehmen an, dass grammatikalischer und lexikalischer Aspekt auf semantischer Ebene dasselbe ausdrücken (vgl. De Swart 1998; Verkuyl 1972, 1999). Befürworter des bidimensionalen Ansatzes hingegen sind der Meinung, dass lexikalischer und grammatikalischer Aspekt getrennt betrachtet werden müssen und unterschiedliche aspektuelle Informationen kodieren (vgl. Depraetere 1995; Smith 1997, 2012). Im Folgenden wird ein Überblick über die verschiedenen Positionen geliefert.

Depraetere (1995) nimmt das imperfective paradoxon (vgl. Dowty 1979: 133–138) als Ausgangspunkt, um die Wichtigkeit der Unterscheidung von (A-)Telizität und (Un-)Begrenztheit (en. (un)boundedness) zu betonen. Sie definiert beide Konzepte folgendermaßen:

(A)telicity has to do with whether or not a situation is described as having an inherent or intended endpoint; (un)boundedness relates to whether or not a situation is described as having reached a temporal boundary (Depraetere 1995: 2–3).

Demnach kann eine Situation als begrenzt oder unbegrenzt dargestellt werden, und zwar unabhängig davon, ob sie einen inhärenten Endpunkt besitzt. Das Prädikat write a nursery rhyme in Beispielsatz 13 ist zwar telisch, wird aber durch die Verwendung der progressive-Form als unbegrenzt dargestellt:

(13)

She is writing a nursery rhyme.

(telisch, unbegrenzt)

 

(Beispielsatz aus Depraetere 1995: 3)

Auch Smith (2012: 2581) unterscheidet zwei Arten aspektueller Information, die zwar miteinander interagieren, aber voneinander unabhängig sind. Die Situation selbst hat ihre inhärente Semantik, welche durch den grammatikalischen Aspekt semantisch sichtbar gemacht werden kann. Grammatikalischer Aspekt operiert gewissermaßen auf der inhärenten Semantik der Verbalphrase. Im Gegensatz zu Vendlers (1957) Zeitschemata verwendet Smith eine fünfteilige Gliederung und spricht von sogenannten Situationstypen,1 die vom Verb und dessen Argumenten bestimmt werden. Die aspektuelle Grundbedeutung dieser Situationstypen kann durch zusätzliche Information, wie beispielsweise Adverbien oder grammatikalische Morpheme, geändert werden (vgl. Smith 2012: 2585–2586).2 Dieses Phänomen, das in der Literatur als situation type shift oder coercion bezeichnet wird, wird nach einem kurzen Überblick über Vertreter des unidimensionalen Ansatzes näher beschrieben. Diese sind der Meinung, dass grammatikalischem und lexikalischem Aspekt dieselben aspektuellen Konzepte zugrunde liegen (vgl. De Swart 1998; Verkuyl 1972, 1999). Im Unterschied zu Depraetere (1995) unterscheiden sie also beispielsweise nicht zwischen (A-)Telizität und (Un-)Begrenztheit.

Verkuyl (1999) geht von zwei aspektuellen Grundbedeutungen aus, die er als durativ und terminativ bezeichnet.3 Für die aspektuelle Interpretation eines Satzes schlägt er eine kompositionelle Analyse vor. Ein Verb kann prinzipiell den Wert [+/- ADD TO] haben, je nachdem ob es statisch [- ADD TO] oder dynamisch [+ ADD TO] ist. Im ersten Schritt verbindet sich das Verb mit seinen Argumenten, die wiederum die Werte für eine spezifische oder unspezifische Quantität ausdrücken, das heißt, die Werte [+/- SQA] haben können. Ist das Verb statisch, so ist der [SQA]-Wert der Argumente belanglos und der aspektuelle Wert des Satzes bleibt durativ. Wenn das Verb hingegen dynamisch ist, hängt die Interpretation von den entsprechenden [SQA]-Werten ab. Damit ein Satz als terminativ interpretiert werden kann, müssen sowohl [ADD TO]- als auch [SQA]-Werte positiv sein. Dies wird von Verkuyl (1999: 131) als plus principle bezeichnet. Aus dieser kompositionellen Analyse ergeben sich drei grundlegende aspektuelle Kategorien, die in Tabelle 4 zusammengefasst sind:

Nominalphrase

[+/- SQA]

[- SQA]

[+ SQA]

 

Zustand

Prozess

Ereignis

Verb

[- ADD TO]

[+ ADD TO]

[+ ADD TO]

Tab. 4:

Dreiteilige Klassifikation der Aspektkategorien nach Verkuyl (1999: 131)

De Swart (1998: 351) übernimmt eine solche dreiteilige Taxonomie und unterscheidet ebenfalls zwischen den Aspektklassen der Zustände (statisch, atelisch), der Prozesse (dynamisch, atelisch) und der Ereignisse (dynamisch, telisch). Auf den Eventualitäten (= ein Überbegriff für unterschiedliche Situationen), aus denen sich durch eine entsprechende Klassifizierung die drei Aspektklassen ergeben, operieren Tempus- und Aspektoperatoren, und zwar in der Reihenfolge, die durch die nachstehende syntaktische Struktur wiedergegeben wird: [Tempus [Aspekt* [Eventualitätsbeschreibung]]] (vgl. De Swart 2012: 765).4

Prinzipiell reicht die Aspektklasse der Eventualitätsbeschreibung aus, um die Aspektualität eines Satzes adäquat zu interpretieren. Folglich sind in den Sätzen 14 und 15 keine Aspekt-Operatoren notwendig. Der Vergangenheits-Operator PAST und die Aspektklasse allein sind ausreichend, um die Situation adäquat zu deuten (vgl. De Swart 1998: 352–353):

(14)

Anne was ill.

(Zustand, unbegrenzt)

 

[PAST [Anne be ill]]

(15)

Anne wrote a letter.

(Ereignis, begrenzt)

 

[PAST [Anne write a letter]]

Aspekt-Operatoren kommen dann zum Einsatz, wenn die in der Aspektklasse kodierte aspektuelle Information neu interpretiert werden muss. Wenn der Sprecher die Information in Satz 15 beispielsweise in einer progressiven Lesart darstellen möchte, muss der inhärente Endpunkt der Situation aufgehoben werden. Die dafür notwendige Änderung der Aspektklasse wird durch den Aspekt-Operator PROG durchgeführt. Er erzeugt einen Wechsel von einem Ereignis zu einem Prozess:

(16)

Anne was writing a letter.

 

[PAST [PROG [Anne write a letter]]]

Solche aspectual shifts können entweder durch explizite Aspekt-Operatoren oder durch einen kontextuell erzwungenen Re-Interpretationsprozess vonstattengehen. Letzteres nennt De Swart coercion:

The view of coercion as an eventuality description modifier implies that coercion is of the same semantic type as an aspectual operator […]. The main difference between grammatical operators and coercion is that coercion is syntactically and morphologically invisible: it is governed by implicit contextual reinterpretation mechanisms triggered by the need to resolve aspectual conflicts (De Swart 1998: 360; Hervorhebung durch den Verfasser).

Im Unterschied zu Aspekt-Operatoren ist dieser als coercion bezeichnete kontextuell erzwungene Re-Interpretationsprozess syntaktisch und morphologisch unsichtbar. Um ihn in der syntaktischen Struktur sichtbar zu machen, führt De Swart unterschiedliche coercion-Operatoren ein (z. B. Ceh), deren Funktionsweise anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht wird:

(17)

John played the sonata for eight hours.

 

[PAST [FOR eight hours [Ceh [John play the sonata]]]]

Die Beschreibung der Situation John play the sonata, bei der es sich um die Aspektklasse Ereignis handelt, führt durch die Verbindung mit der Adverbialphrase for eight hours zu einem Konflikt aspektueller Werte, da for-Adverbialphrasen nur mit den Aspektklassen der Zustände oder der Prozesse kombiniert werden können (vgl. ebd.: 356). Durch die Verwendung des coercion-Operators Ceh wird die Aspektklasse Ereignis zu einer homogenen Situation5 uminterpretiert, was die Verbindung mit der Adverbialphrase for eight hours möglich macht. Salaberry (2008: 63) kritisiert an De Swarts Argumentation, dass nicht ganz klar ist, warum es sich in Beispiel 17 um einen impliziten coercion-Prozess (Ceh) und nicht um die Anwendung eines expliziten Aspekt-Operators (for eight hours) handeln sollte. Trotz dieses durchaus berechtigten Einwandes stellt De Swarts Analyse insofern einen wichtigen Beitrag dar, als sie eine Lösung für die Interaktion von lexikalischen, grammatikalischen sowie pragmatischen Elementen vorschlägt und die Wichtigkeit des Kontextes für die aspektuelle Interpretation eines Satzes betont.

Die Kernaussage dieses Kapitels ist, dass grammatikalischer und lexikalischer Aspekt miteinander interagieren. Im Laufe der Arbeit wird diesbezüglich von prototypischen und nicht prototypischen Kombinationen gesprochen. Der semantische Prototyp von telischen Prädikaten wie auch von perfektivem Aspekt ist, dass sie Situationen gewissermaßen begrenzen. Bei statischen Prädikaten und imperfektivem Aspekt ist genau das Gegenteil der Fall. In diesen beiden Kombinationen von lexikalischem und grammatikalischem Aspekt wird demnach ein sehr ähnlicher semantischer Prototyp sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatikalischer Ebene ausgedrückt. Man spricht daher auch von prototypischen Kombinationen. Im Falle der Kombination von statischen Prädikaten und perfektivem Aspekt bzw. von telischen Prädikaten und imperfektivem Aspekt trifft Gegenteiliges zu und man spricht von nicht prototypischen Kombinationen (vgl. McManus 2011: 17, 2013):

 

statisch

telisch

perfektiv

nicht prototypisch

prototypisch

imperfektiv

prototypisch

nicht prototypisch

Tab. 5:

Prototypische und nicht prototypische Kontexte

Im nächsten Kapitel wird ein System vorgestellt, das es ermöglicht, Tempus- und Aspektsysteme durch die Analyse der internen temporalen Beschaffenheit von Situationen zu beschreiben. Solche Systeme werden üblicherweise als zeitrelational bezeichnet (en. time-relational approaches; vgl. Gvozdanovic 2012: 784–791).

2.2Der zeitrelationale Ansatz von Klein (1994)

Das Kleinsche System baut auf jenem von Reichenbach (1947) auf. Im Zentrum von Reichenbachs Überlegungen steht das Jetzt des Sprechens, der Sprechzeitpunkt (en. point of speech, abgekürzt als S), also ein deiktisches „an der Sprechsituation orientiertes Zeitintervall“ (Vater 2007: 32).1 Vom Sprechzeitpunkt ausgehend, ist es dem Subjekt möglich, zeitliche Referenz zu einem Ereignis, das versprachlicht werden soll, herzustellen. Dieses findet zu einem bestimmten Zeitpunkt, dem Ereigniszeitpunkt, statt (en. point of event, abgekürzt als E). Prinzipiell ist es allein mit diesen beiden Zeitpunkten möglich, die temporalen Relationen der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit darzustellen:

Formen, deren Semantiken durch diese grundlegenden Relationen beschrieben werden können, werden auch als absolute Tempora (vgl. Comrie 1985: 36) oder basic tenses (vgl. Klein 2009b: 43) bezeichnet.

Zur Darstellung jener Tempora, die keine direkte Relation zum Sprechzeitpunkt herstellen, führt Reichenbach einen weiteren zeitlichen Bezugspunkt ein, den Referenzzeitpunkt (en. reference point, abgekürzt als R).2 Dieser kann im selben Satz festgelegt oder durch den Kontext gegeben sein. Er wird beispielsweise benötigt, wenn man über ein Ereignis sprechen will, das vor einem Ereignis stattgefunden hat, das wiederum vor dem deiktischen Zentrum liegt. Als Beispiel kann das deutsche Plusquamperfekt in Beispielsatz 18 genannt werden (vgl. Heinold 2015: 80):

(18)

Peter: „Maria hatte die Fenster schon geputzt, als ich heimkam.“ [E < R <S]

Die Fettmarkierung von Peter verweist darauf, dass es einen Sprechzeitpunkt gibt, zu welchem Peter die Äußerung tätigt. Die Tätigkeit (E), über die gesprochen wird (Maria Fenster putzen), findet in der Vergangenheit statt und liegt somit vor dem Sprechzeitpunkt. Zwischen dem Sprechzeitpunkt und dem Ereigniszeitpunkt liegt aber noch ein weiteres Ereignis (ich heimkommen), das durch den Referenzzeitpunkt dargestellt wird (kursiv). Diese Relation (E < R < S) kann auf einer Zeitachse folgendermaßen dargestellt werden:

Abb. 2:

Die temporale Relation des Plusquamperfekts

Das für diese Arbeit relevanteste Problem des Reichenbachschen Systems ist, dass es die aspektuelle Opposition von perfektiv und imperfektiv nicht befriedigend ausdrücken kann (vgl. Haßler 2016: 19; für weitere Kritikpunkte vgl. Klein 2009b: 45; Stowell 2012: 187–189). In seinem System werden beispielsweise sowohl das spanische imperfecto als auch das perfecto simple gleichermaßen beschrieben:

Das Tempussystem von Klein (1994, 2009a, b) baut auf jenem von Reichenbach auf. Dadurch, dass Klein nicht von Zeitpunkten, sondern von Zeitspannen spricht (vgl. Klein 2009a: 22), lassen sich aspektuelle Relationen darstellen. Um diese Zeitspannen zu benennen, verwendet Klein zwar andere Begrifflichkeiten, die aber durchaus gewisse konzeptuelle Ähnlichkeiten zu den Zeitpunkten Reichenbachs aufweisen:

Reichenbach (1947)

Klein (1994)

Sprechzeitpunkt

Zeit der Äußerung

(en. time of utterance, TU)

Ereigniszeitpunkt

Zeit der Situation/Situationszeit

(en. time of situation, TSit)

Referenzzeitpunkt

Topikzeit

(en. topic time, TT)

Tab. 6:

Gegenüberstellung von Reichenbach (1947) und Klein (1994)

Klein (1994: 36–48) veranschaulicht das Zusammenspiel der drei Zeitspannen anhand der folgenden Situation: Ein Richter fragt einen Zeugen, was er beim Betreten eines Raumes, in welchem ein toter Mann auf dem Boden lag, gesehen hat. Darauf antwortet dieser das Folgende:

(21)

A man was lying on the floor.

 

– – – – – [–] – – – – – < TU

Durch eine sogenannte questio (= die Frage des Richters), die entweder explizit gestellt wird oder implizit durch den jeweiligen Kontext vorgegeben ist, wird die Topikzeit festgelegt (dargestellt durch die eckigen Klammern [ ] in Beispielsatz 21). Sie fokussiert jene Zeitspanne, über die tatsächlich eine Aussage gemacht wird. Klein (1994: 4) beschreibt sie folgendermaßen: „[The topic time] is the time span to which the speaker’s claim on this occasion is confined.“ In Beispielsatz 21 bezieht sie sich demnach auf diejenige Zeitspanne, zu welcher der Raum betreten wurde. Die Situationszeit hingegen nimmt auf die Zeitspanne von a man lie on the floor Bezug (dargestellt durch – – – – – –). Sie ist nicht auf die relativ kurze Zeitspanne der Topikzeit beschränkt. Der Mann lag auf dem Boden, sowohl bevor der Zeuge den Raum betreten hat als auch danach.

Beispielsatz 21 stellt exemplarisch dar, dass die Topikzeit in der Situationszeit eingeschlossen ist und vor der Zeit der Äußerung liegt (= die Aussage vor Gericht). Es ist die Relation von TSit und TT, welche es ermöglicht, aspektuelle Informationen darzustellen: „Aspects are ways to relate the time of situation to the topic time: TT can precede TSit, it can follow it, it can contain it, or be partly or fully contained in it“ (ebd.: 99). Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, wie TT und TSit zueinander in Bezug treten können. TT kann wie in Beispielsatz 21 vollständig in TSit enthalten sein (= TT incl TSit). Die damit einhergehende Unbegrenztheit von TSit im Hinblick auf TT erzeugt die für die Beschreibung des imperfektiven Aspekts so bekannte Innenperspektive (vgl. ebd.: 108).

Eine zweite Möglichkeit ist, dass TT (nur teilweise) in TSit enthalten ist (= TT at TSit). Klein (1994: 102–103) veranschaulicht diese TSit-TT-Relation anhand desselben Beispiels. Allerdings bittet der Richter den Zeugen nun, alle Ereignisse zu schildern, die er zwischen zwei und fünf Uhr erlebt hat. In dieser dreistündigen Zeitspanne, bei welcher es sich um die Topikzeit handelt, ist es durchaus möglich, dass eine Freundin des Zeugen, Mary, um halb drei eingeschlafen und um halb fünf wieder aufgewacht ist. In diesem Fall ist TSit vollständig in TT enthalten. Laut Klein stellt diese Relation den perfektiven Aspekt dar, da Anfang und Ende der Handlung in der TT und somit in der Perspektive des Sprechers eingeschlossen sind:

(22)

Mary slept.

[  – – – – – – – – ]

Klein (1994: 108) hält fest, dass es sich bei all den verschiedenen Beziehungen zwischen TSit und TT um rein temporale Relationen handelt, welche die eher metaphorische Beschreibung der Begrenztheit fassen können:

These definitions are strictly in terms of temporal relations. But it appears that they neatly reflect the intuitions behind more metaphorical characterizations such as ‘seen from the inside’ or ‘completed’. In the case of the IMPERFECTIVE, for example, the time for which an assertion is made falls entirely within the time of the situation; this gives the impression that the situation is, so to speak, seen from its inside.

Die Beziehung zwischen TT und TSit eignet sich demnach, um perfektiven und imperfektiven Aspekt darzustellen. Im Unterschied dazu beschreibt die Relation zwischen TT und TU die genuin temporalen Eigenschaften der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit. In den genannten Beispielen liegt TT vor TU, weshalb die Situation als in der Vergangenheit liegend interpretiert wird. Wenn sich TT simultan zu TU befindet, wird eine gegenwärtige Situation beschrieben; wird sie nach TU situiert, handelt es sich um die Zukunft.

Bevor im nächsten Kapitel darauf eingegangen wird, wie perfektive und imperfektive Aspektualität in den für diese Arbeit wichtigen Einzelsprachen ausgedrückt wird, ist es sinnvoll, die wesentlichen Inhalte der letzten beiden Kapitel noch einmal zusammenzufassen. Hinsichtlich des lexikalischen Aspekts wird eine dreiteilige Klassifikation verwendet, die auf den folgenden Begrifflichkeiten beruht:

Zustände:

[- dynamisch], [- telisch]

Aktivitäten:

[+ dynamisch], [- telisch]

Telics:

[+ dynamisch], [+ telisch]

Bezüglich des grammatikalischen Aspekts wird zwischen perfektivem und imperfektivem Aspekt unterschieden (begrenzt vs. unbegrenzt), wobei letzterer in eine habituelle, eine kontinuative und eine progressive Komponente unterteilt wird. Zur Beschreibung der Tempussysteme der Einzelsprachen wird auf das Kleinsche Systems zurückgegriffen. Diesbezüglich werden die Begrifflichkeiten der Äußerungszeit (TU; auch Sprechzeitpunkt), der Situationszeit (TSit) und der Topikzeit (TT; auch Referenzzeit) übernommen. Temporale Unterschiede werden durch die Relation von TU und TT ausgedrückt, aspektuelle durch die Beziehung von TT und TSit. Vorzeitigkeit wird demnach als TT vor TU beschrieben. Perfektiver Aspekt wird durch die Inklusion von TSit in TT (oder graphisch durch [– – – – –]) dargestellt; imperfektiver durch das Enthaltensein von TT in TSit (oder graphisch durch – – – [– – –] – – –). Da Klein hauptsächlich zwischen perfektiv und imperfektiv unterscheidet, werden im Folgenden die Semantiken der Kontinuität und Habitualtität nicht mithilfe seines Systems erläutert.3 Eine stark simplifizierte Darstellung des Aspektualitätsverständnisses der vorliegenden Arbeit findet sich in Abbildung 3:

Abb. 3:

Darstellung des Aspektualitätsverständnisses der vorliegenden Arbeit

Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie das Deutsche, das Englische, das Lateinische, das Französische und das Spanische die Opposition von perfektiv/imperfektiv versprachlichen.

2.3Tempus und Aspekt im Deutschen, Englischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen

In diesem Kapitel wird analysiert, wie die in dieser Arbeit behandelten Einzelsprachen die aspektuelle Unterscheidung von perfektiv und imperfektiv ausdrücken. Der Fokus liegt dabei auf der temporalen Domäne der Vorzeitigkeit und der grammatischen Kategorie des Aspekts. In manchen Fällen wird aber auch auf lexikalische und pragmatische Ausdrucksmittel eingegangen. Wenn eine Sprache zwei (teilweise) bedeutungsgleiche Formen besitzt, um (Im-)perfektivität auszudrücken, werden beide Formen beschrieben (z. B. im Französischen bei passé simple und passé composé). Da weder das Plusquamperfekt noch „echte“ Perfekt-Konstruktionen (z. B. das englische present perfect oder das spanische perfecto compuesto) im empirischen Teil der Arbeit untersucht werden, wird nicht weiter auf diese Formen eingegangen. Das Kapitel gliedert sich wie folgt: Nachdem zuerst auf das Deutsche und das Englische eingegangen wird, werden im Anschluss daran das Lateinische sowie die beiden romanischen Sprachen, Französisch und Spanisch, beschrieben.

2.3.1 Das Deutsche

Dieses Kapitel startet mit einem kurzen Überblick über die beiden deutschen Vergangenheitsformen, das Perfekt und das Präteritum. Darauffolgend wird argumentiert, dass ihre Semantik weitgehend bedeutungsgleich ist und dass die wenigen Unterschiede pragmatischer oder stilistischer Natur sind. Schließlich wird auf diverse Möglichkeiten des Deutschen eingegangen, Aspektualität auszudrücken.

Beim Präteritum (z. B. sie machte) handelt es sich um ein Vergangenheitstempus, „[das] eine Situation einem Referenzintervall zu[ordnet], das vor dem Sprechereignis liegt“ (Vater 2007: 53). In der Kleinschen Terminologie heißt dies, dass sich die Topikzeit (TT) vor der Zeit der Äußerung (TU) befindet (vgl. auch Rothstein 2007: 36–39).1

Im Unterschied zum Präteritum ist die Topikzeit beim Perfekt (z. B. sie hat gemacht) variabel in Bezug auf die Äußerungszeit (vgl. Vater 2007: 64). Ihre Lokalisierung vor der Äußerungszeit stellt die Standardinterpretation des Perfekts dar, dennoch kann durch die Situierung von TT simultan zu TU der so oft diskutierte Gegenwartsbezug erzeugt werden. Ob TT vor oder simultan zu TU lokalisiert wird und damit die Frage, ob eine perfektische2 oder eine vorzeitige Lesart in den Vordergrund rückt, hängt nicht von grammatikalischen, sondern von pragmatischen Verfahren ab (für eine ausführliche Analyse vgl. Klein 1999, 2000; Musan 1999; Welke 2005, 2010). Daraus folgt, dass das Perfekt „in seiner denotativen Bedeutung vollkommen synonym zum Präteritum“ ist (Welke 2010: 20). Seine Grundbedeutung ist demzufolge die eines Vergangenheitstempus, was dadurch deutlich wird, dass es in den meisten Fällen nicht in Opposition zum Präteritum tritt, sondern mit ihm ausgetauscht werden kann.

Diese weitgehende Austauschbarkeit beider Formen ist ein Zeichen dafür, dass das Deutsche keine obligatorischen, vollständig grammatikalisierten Mittel besitzt, um zwischen perfektiv und imperfektiv zu unterscheiden. Das Deutsche wird somit als Nicht-Aspektsprache gehandhabt (vgl. Andersson 2004; Ballweg 2004; Baudot 2004; Behrens et al. 2013; Bohnemeyer/Swift 2004; Schwenk 2012; Thieroff 1992; Zifonun et al. 1997). Im Hinblick auf die Perfektivität zeigt sich dies insofern, als durch das Hinzufügen eines gegenwärtigen Kontextes Sätze im Perfekt und im Präteritum nicht ungrammatisch werden (siehe conjunction test in Kapitel 2.1.2; Beispiele in Anlehnung an Smith 1997: 194):

(23)

Letzten Sommer haben sie ein Haus gebaut. Es kann sein, dass sie das Haus noch immer bauen.

(24)

Letzten Sommer bauten sie ein Haus. Es kann sein, dass sie das Haus noch immer bauen.

Sowohl die Verwendung des Perfekts (Beispielsatz 23) als auch jene des Präteritums (Beispielsatz 24) impliziert nicht, dass das Haus fertig gebaut wurde. Beide Sätze sind somit akzeptabel, was zeigt, dass die Begrenztheit nicht Teil der Semantik der beiden Tempora ist, sondern sich aus dem Kontext ergibt.

Auch die Analyse mithilfe des Kleinschen (1994) Tempussystems veranschaulicht, dass es zwischen Präteritum und Perfekt keine aspektuelle Unterscheidung im Sinne der Opposition perfektiv/imperfektiv gibt. Zur Illustration wird auf die in Kapitel 2.2 genannten Beispiele in etwas modifizierter Form eingegangen. Durch die questio des Richters wird ein Topikzeit-Intervall etabliert, zu dem die Situationszeit (TSit) in Bezug gesetzt wird. Ist die Topikzeit in der Situationszeit eingeschlossen, wird der imperfektive Aspekt dargestellt; ist TSit jedoch in TT enthalten, der perfektive (vgl. ebd.: 108). Beispielsweise könnte der Richter fragen, was der Zeuge zwischen 14 und 17 Uhr gemacht hat, was einem Topikzeit-Intervall von drei Stunden gleichkommen würde. Der Zeuge könnte das Folgende antworten:

(25)

Ich habe einen Kaffee mit Freunden getrunken.

[  – – ]

(26)

Ich trank einen Kaffee mit Freunden.

[  – – ]

Im Anschluss könnte der Richter vom Zeugen wissen wollen, was dieser beim Betreten des Raumes, in dem sich der Tote befand, gesehen hat. In diesem Fall ist TT punktueller Natur und TSit ist nicht auf das kurze Zeitintervall von TT beschränkt. Auf die Frage antwortet der Zeuge Folgendes:

(27)

Ein Mann ist auf dem Boden gelegen.

– – – – [–] – – – –

(28)

Ein Mann lag auf dem Boden.

– – – – [–] – – – –

In Sprachen, die über eine aspektuelle Unterscheidung verfügen, müsste für die Relation zwischen Topik- und Situationszeit in den Beispielsätzen 25 und 26 perfektive Morphologie, in den Beispielsätze 27 und 28 hingegen imperfektive Morphologie verwendet werden. Die Beispiele demonstrieren, dass sowohl das Perfekt als auch das Präteritum für dieselben aspektuellen Nuancen verwendet werden kann, und beweisen somit zusätzlich zum conjunction test, dass es im Deutschen keinen Aspekt im Sinne einer grammatischen Kategorie gibt.

Für die Unterscheidung von perfektiv und imperfektiv greift das Deutsche auf nicht grammatische Mittel zurück (z. B. lexikalische oder pragmatische). Beispielsweise argumentieren Bohnemeyer und Swift (2004; vgl. auch Ballweg 2004), dass die aspektuelle Interpretation in aspektlosen Sprachen von der Telizität der Prädikate abhängt:

[T]here are languages – e.g. German […] – in which the aspectual reference of clauses or verb phrases […] depends on the telicity of the event predicates they encode (Bohnemeyer/Swift 2004: 264).

Diesbezüglich führen sie den Begriff der „telicity-dependent aspectual reference“ ein (ebd.: 266). Wird die aspektuelle Information nicht morphologisch markiert, wird den Sätzen basierend auf der Telizität der Prädikate ein Aspekt-Operator zugeordnet:

By telicity-dependent aspectual reference, we mean the phenomenon that clauses or verbal projections not overtly marked for viewpoint aspect are assigned semantic viewpoint aspectual operators on the basis of the telicity of their event predicates (ebd.).

Daraus ergibt sich, dass Sätze mit atelischem Prädikat (z. B. die partitive Konstruktion an einem Brief schreiben in Beispiel 29) imperfektiv und Sätze mit telischem Prädikat (Beispiel 30) perfektiv interpretiert werden:

(29)

Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie an einem Brief.

(imperfektiv)

(30)

Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief.

(perfektiv)

 

(Beispielsätze aus ebd.: 268)

Die Standardinterpretation von Satz 29 ist dementsprechend, dass Mary schon an einem Brief geschrieben hat, bevor der Raum betreten wurde. Beispielsatz 30 hingegen wird dermaßen interpretiert, dass Mary in dem Moment, in dem der Raum betreten wurde, begonnen hat, einen Brief zu schreiben. Bohnemeyer und Swift betonen, dass diese Deutungen nicht die einzig gültigen sind, sondern dass sie lediglich die Standardinterpretation der entsprechenden Sätze darstellen. Demnach handelt es sich um eine pragmatische Implikatur, woraus sich ergibt, dass durch einen anderen Kontext eine andere Interpretation erzeugt werden kann:

(31)

Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie einen Brief. Überrascht blickte sie auf, legte den Stift zur Seite, und lächelte mich an.

 

(Beispielsatz aus ebd.: 269)

Da in allen angeführten Beispielen prinzipiell beide Lesarten möglich sind, greift das Deutsche meist zusätzlich auf lexikalische Mittel zurück (z. B. Verbalperiphrasen), um die entsprechende Interpretation deutlich zu machen. Durch inchoative Verben wie beginnen kann beispielsweise die perfektive Lesart hervorgehoben werden:

(32)

Als ich Marys Büro betrat, begann sie, einen Brief zu schreiben.

Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Präfixen. In Beispielsatz 33 wird beispielsweise durch das Präfix {aus-} die Perfektivität der Handlung betont:

(33)

Johann hat das Glas Wasser ausgetrunken.

Progressivität hingegen wird unter anderem durch die Verwendung von Adverbien wie gerade akzentuiert (vgl. Ebert 2000: 631; Heinold 2015: 63–64):

(34)

Als ich Marys Büro betrat, schrieb sie gerade an einem Brief.

Das Adverbium gerade kann mit allen Tempora und Aspekten (auch mit Progressiv-Konstruktionen) kombiniert werden und ist als rein lexikalische Ausdrucksweise von Progressivität zu verstehen (vgl. Ebert 2000: 631). Darüber hinaus ist es möglich, gerade als lexikalische Modifizierung zur Disambiguierung zweideutiger Sätze einzusetzen. In Beispielsatz 36 wird das Adverb verwendet, um die Ambiguität des Satzes zwischen einer habituellen und einer progressiven Lesart aufzuheben (vgl. Heinold 2015: 64):

(35)

Ich rauche.

(habituell oder progressiv)

(36)

Ich rauche gerade.

(progressiv)

Eine weitere Möglichkeit, den dynamischen Charakter einer Handlung zu betonen, ist die Verwendung von dabei + sein (finit) + zu (vgl. Ebert 2000: 607). Diese Periphrase ist, anders als beispielsweise die am-Periphrase, auch in der Standardsprache verwendbar (vgl. Ballweg 2004: 78):

(37)

Als ich Marys Büro betrat, war sie dabei, an einem Brief zu schreiben.

Die am-Periphrase (auch ,rheinische Verlaufsform‘) wird mithilfe von sein (finit) + am + substantivierter Infinitiv gebildet (vgl. Ebert 2000: 607). Sie wird in der Literatur auch als deutsches Progressiv bezeichnet und „kennzeichnet […] den entsprechenden Prozeß als im Verlauf befindlich, es liegt also eine Binnenperspektive vor, Grenzen werden nicht sichtbar“ (Zifonun et al. 1997: 1877). Die Frage, ob diese Form bereits vollständig grammatikalisiert ist, wird in der Literatur intensiv diskutiert (vgl. Heinold 2015: 60–66). Das obere Ende des Spektrums nimmt Thiel (2008: 13) ein, die das deutsche Progressiv „in verschiedenen sprachlichen Registern und geografischen Regionen“ nachgewiesen und eine Liste sprachnormierender Instanzen erstellt hat, welche die am-Periphrase anerkennen. Auch Van Pottelberge (2005: 171) argumentiert, dass die rheinische Verlaufsform „unbestreitbar zu den systematisch bildbaren Einheiten der Grammatik [gehört] und […] in diesem Sinne eine grammatikalisierte Verbform [ist]“. In seiner Darstellung erkennt er aber an, dass der Funktionsbereich der Periphrase insofern relativ eingeschränkt ist, als ihr Gebrauch nicht obligatorisch und in der deutschen Standardsprache nicht sehr häufig ist. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Ballweg (2004: 78), der erwartet, „dass bei fortschreitendem Grammatikalisierungsprozess das Deutsche der Zukunft über ein [vollständig grammatikalisiertes] Progressiv verfügen wird“. Auch wenn Behrens, Flecken und Carroll (2013) dem am-Progressiv eine systematische Bildung nicht absprechen, können sie anhand ihrer empirischen Studie zeigen, dass L1-Sprecher des Deutschen die Periphrase kaum aktiv produzieren. Daraus schließen sie, dass die Progressivperiphrase keine grammatikalische Option im Standarddeutschen ist (vgl. Behrens et al. 2013: 126; vgl. auch Mair 2012: 804 für eine ähnliche Sichtweise). Ebert (2000: 606) und Ballweg (2004: 78) stellen außerdem fest, dass die rheinische Verlaufsform hauptsächlich in informalen Kontexten und in der gesprochenen Sprache verwendet wird. Schließlich sei an dieser Stelle erwähnt, dass es noch weitere Periphrasen gibt, wie beispielsweise beim + substantivierter Infinitiv + sein oder im + substantivierter Infinitiv + sein, die allerdings eine wesentlich eingeschränktere Verwendung aufweisen (vgl. Ebert 2000: 630–631).

Auch Habitualität wird im Deutschen nicht mithilfe grammatischer Mittel markiert. Typisch ist die Verwendung von Adverbien wie immer oder für gewöhnlich (vgl. Heinold 2015: 66) oder des infinitivregierenden Verbs pflegen (vgl. Barz et al. 2009: 410; Dahl 1985: 96). Aufgrund des geringen Stellenwerts wird der Ausdruck von Habitualität in deutschen Grammatiken normalerweise nicht oder nur bedingt besprochen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Deutsche über keine grammatikalischen Mittel verfügt, um aspektuelle Unterschiede auszudrücken. Um zwischen Perfektivität und Imperfektivität zu unterscheiden, greift es auf pragmatische oder lexikalische Ausdrucksmittel wie Adverbien oder nicht vollständig grammatikalisierte Periphrasen zurück. Im nächsten Kapitel wird auf das Englische eingegangen und es wird dargelegt, wie Aspektualität in dieser Sprache ausgedrückt wird.

2.3.2Das Englische

Im Unterschied zum Deutschen besitzt das Englische eine vollständig grammatikalisierte und obligatorische aspektuelle Opposition zwischen progressiv und nicht progressiv. Sie findet sich auf allen Zeitstufen und kommt durch die Unterscheidung zwischen der periphrastischen Konstruktion be + V-ing und den entsprechenden nicht progressiven Formen zum Ausdruck (vgl. Bertinetto et al. 2000; Comrie 1976: 32–40; Dahl 1985: 90–95; Declerck 2006: 32–34; Hewson 2012: 514; Mair 2012). Im Folgenden wird die temporale Domäne der Vorzeitigkeit fokussiert und es wird mithilfe des Kleinschen Systems der Unterschied zwischen past progressive und simple past herausgearbeitet. Im Anschluss daran wird unter Zuhilfenahme des conjunction tests gezeigt, dass es sich beim englischen simple past um keine genuin perfektive Verbform handelt und schließlich wird darauf eingegangen, welche Ausdrucksmittel das Englische verwendet, um habituelle Semantik auszudrücken.

Mithilfe des Kleinschen Systems und der in Kapitel 2.2 etablierten questio kann die progressive Semantik dargestellt werden. Als Antwort auf die Frage, was der Zeuge beim Betreten des Raumes gesehen hat, könnte dieser das Folgende antworten:

(38)

My friend was talking to a man.

(progressive-Form)

– – – – [–] – – – –

 

Die progressive-Form in Beispielsatz 38 fokussiert dasjenige Zeitintervall, zu dem der Raum betreten wurde (= Topikzeit). Das Sprechen des Freundes (= Situationszeit) ist nicht auf das kurze Zeitintervall der Topikzeit beschränkt. TT ist somit in TSit enthalten, woraus sich die progressive Lesart ergibt. Stellt der Richter die questio allerdings etwas anders und fragt, was der Zeuge während seines Aufenthaltes in dem Raum getan hat, ist die folgende Antwort möglich:

(39)

I talked to a friend.

(simple past)

[  – – ]

 

Die Zeit, die der Zeuge in dem Raum verbringt (= Topikzeit), hat eine längere Zeitdauer als das Gespräch mit dem Freund (= Situationszeit). TSit ist somit in TT enthalten, woraus sich laut Klein (1994) die Abgeschlossenheit des simple past ergibt.

Aus der bisherigen Darstellung könnte man schließen, dass die Opposition von simple past und past progressive mit der Opposition von perfektiv und imperfektiv vergleichbar ist. Dies ist aber in zweierlei Hinsicht problematisch (vgl. Comrie 1976: 7): Auf der einen Seite kann das simple past problemlos Habitualität ausdrücken (vgl. Tagliamonte/Lawrence 2000); auf der anderen Seite erzeugt es nur mit nicht statischen Verben eine perfektive Lesart; mit statischen ist die Interpretation offen (vgl. Smith 1997: 170–171). Dies äußert sich insofern, als eine kontextuelle Negierung der perfektiven Lesart mit statischen Verben möglich ist (Beispielsatz 41), wohingegen sie mit nicht statischen (Beispielsatz 40) einen ungrammatischen Satz erzeugt:

(40)

*Lucas finished the manuscript and he is still finishing it.

(41)

Lucas was sick, and he still is sick.

 

(Beispielsätze aus Salaberry 2008: 48)

Dass die perfektive Lesart des simple past in Kombination mit statischen Prädikaten kontextuell negiert werden kann, bedeutet, dass sie von der Semantik der Verben abhängt. Dies lässt darauf schließen, dass das englische simple past keine genuin perfektive Verbform ist und dass es sich um einen Tempus- und nicht um einen Aspekt-Marker handelt: „[T]he English Simple Past is not regarded as an aspectual marker but a tense marker, [as] it conveys the meaning of perfectivity […] in a pragmatically ‘cancellable way’“ (Salaberry 2008: 48). De Swart (2012: 761) spricht deshalb von einer aspektneutralen Form:

[W]e can view the Simple Past as an aspectually neutral tense, which just locates the state or event introduced by the predicate-argument structure in the past […]. The neutral interpretation accounts more easily for stative descriptions […], or the habitual interpretation […].

Die aspektuelle Unterscheidung im Englischen beläuft sich also nicht auf perfektiv/imperfektiv, sondern auf progressiv/nicht progressiv. Die englische progressive-Form hat mehrere Lesarten: Sie kann sowohl mit einer fokussierenden/punktuellen als auch mit einer durativen Referenzzeit kombiniert werden (vgl. Bertinetto 2000: 565–566; Declerck 2006: 33). Dies zeigt sich beispielsweise durch die Verwendung von adverbialen Ergänzungen, die ein Geschehen zeitlich limitieren:

(42)

At 7 p.m. I was still working.

(fokussierend)

– – – – – [–] – – – – – –

 

(43)

From 2 to 4 I was reading a book.

(durativ)

– – – [ – – – – ] – – – –

 

 

(Beispielsätze in Anlehnung an Declerck 2006: 33)

In Kapitel 2.1.2 wurde darauf eingegangen, dass progressiver Aspekt normalerweise nicht mit statischen Prädikaten verwendet werden kann. Dies trifft auch auf die englische progressive