Transformationen der Gefühle - Dominik Perler - E-Book

Transformationen der Gefühle E-Book

Dominik Perler

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Beschreibung

Was sind Gefühle? Um diese, in der aktuellen Philosophie heiß umstrittene Frage zu beantworten, geht Dominik Perler einen philosophiehistorischen Weg: Er diskutiert die Theorien von Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Montaigne, Descartes und Spinoza, um einen neuen Blick auf die gegenwärtigen Debatten zu werfen. In seinem überaus klar und verständlich geschriebenen Buch zeichnet er nach, wie sehr sich der theoretische Rahmen zur Erklärung von Gefühlen verändert hat und damit gleichzeitig die Frage, wie man seine Emotionen kontrollieren kann. Der große Reichtum dieser Debatten, zeigt Dominik Perler, eröffnet ganz neue theoretische Zugänge zur alten Frage: Was sind Gefühle?

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Seitenzahl: 868

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Dominik Perler

Transformationen der Gefühle

Philosophische Emotionstheorien1270–1670

Fischer e-books

Vorwort

Man fragt sich »Was bedeutet ›ich fürchte mich‹ eigentlich, worauf ziele ich damit?« Und es kommt natürlich keine Antwort, oder eine, die nicht genügt.

Die Frage ist: »In welcher Art Zusammenhang steht es?«

 

Ludwig Wittgenstein, Philosophische UntersuchungenII, ix

Emotionen sind in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen gerückt und vor allem in psychologischer, biologischer und neurowissenschaftlicher Hinsicht erforscht worden. Die empirischen Studien konzentrieren sich vorwiegend auf eine Erklärung der Genese und Struktur von Phänomenen wie Freude, Furcht und Traurigkeit, die unter dem geläufigen Etikett ›Emotionen‹ zusammengefasst werden. Doch was veranlasst uns dazu, ein einziges Etikett auf eine Reihe von Phänomenen anzuwenden? Nach welchen Kriterien werden diese Phänomene von anderen abgegrenzt und klassifiziert? Wie werden sie beschrieben oder gar definiert? Und wem werden sie zugeschrieben? Diesen Fragen geht das vorliegende Buch nach. Es zielt nicht auf eine empirische Untersuchung ab, sondern auf eine Begriffsklärung. Die theoretische Landkarte, auf der einzelne Emotionen erfasst und in Beziehung zueinander sowie zu anderen geistigen und körperlichen Phänomenen gesetzt werden, soll analysiert werden.

In den fünf Kapiteln wird eine philosophiehistorische Perspektive gewählt. Einflussreiche Emotionstheorien, die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit entstanden sind, sollen rekonstruiert und diskutiert werden. Dabei geht es nicht um eine möglichst lückenlose Aufarbeitung des umfangreichen Textmaterials, auch nicht um eine Quellen- oder Rezeptionsgeschichte, sondern um eine Analyse systematisch relevanter Probleme und um einen Vergleich verschiedener Theorieansätze. Gerade der philosophiehistorische Blick macht deutlich, dass es weit mehr als eine einzige Landkarte gibt, auf der Emotionen in ihrer Beziehung zu Sinnesempfindungen, Wahrnehmungen, Überzeugungen, Willensakten und anderen Phänomenen eingezeichnet werden können. Erst wenn die jeweilige Karte genauer betrachtet wird, lässt sich erläutern, was unter einzelnen Emotionen zu verstehen ist.

Angesichts der Vielfalt an theoretischen Landkarten soll nicht ein bestimmtes Erklärungsmodell herausgegriffen werden, sondern es soll auf Transformationen der metaphysischen, handlungstheoretischen und moralpsychologischen Kontexte aufmerksam gemacht werden, in denen Emotionen diskutiert wurden. Gleichzeitig soll auch untersucht werden, wie in den jeweiligen Kontexten die Frage nach einer Transformation der Emotionen beantwortet wurde. Wie wurde erklärt, dass wir Emotionen nicht nur passiv »erleiden«, sondern häufig auch aktiv kontrollieren, indem wir sie mäßigen, manchmal auch unterdrücken oder gerade umgekehrt entfachen? Es geht also um eine zweifache Transformation: eine Veränderung des theoretischen Rahmens, aber auch der Emotionen selbst. Der besondere Reiz philosophiehistorischer Untersuchungen liegt darin, dass sie die enge Verbindung der beiden Transformationen vor Augen führen, denn je nach theoretischem Rahmen wurde die Möglichkeit, Emotionen zu mäßigen oder zu entfachen, ganz unterschiedlich erklärt.

Die vorliegende Studie richtet sich nicht ausschließlich an ein Fachpublikum. Daher ist auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur verzichtet worden. In den Anmerkungen wird aber auf die wichtigste Literatur verwiesen, und es werden auch Differenzen zu bestehenden Interpretationen deutlich gemacht. Die Verweise auf die Primärquellen sind so weit wie möglich in den Haupttext eingearbeitet worden, so dass jeder Leser und jede Leserin gezielt zu den Editionen greifen und die Interpretationen überprüfen, aber auch vertiefen kann. Sämtliche Zitate (mit Ausnahme derjenigen Spinozas) sind in eigener Übersetzung aus dem Griechischen, Lateinischen, Französischen und Englischen übertragen worden.

Ohne die Ermunterung und tatkräftige Unterstützung zahlreicher Personen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Mein Dank richtet sich zunächst an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Leibnizpreis-Projekt »Transformationen des Geistes. Philosophische Psychologie 1500–1750« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich habe ihnen Vorarbeiten und entstehende Kapitel auf internen Kolloquien vorgestellt und viel von ihren kritischen Nachfragen, Verbesserungsvorschlägen und Präzisierungen gelernt. Rebekka Hufendiek, Martin Lenz, Stephan Schmid, Pedro Stoichita und Markus Wild danke ich herzlich für ausführliche schriftliche Anmerkungen zu früheren Fassungen der einzelnen Kapitel. Im Frühling 2009 hatte ich im Rahmen einer Gastprofessur an der Universität Tel Aviv die Gelegenheit, ein Graduiertenseminar zu den in diesem Buch diskutierten Texten zu unterrichten. Die Gespräche mit den dortigen Studierenden sowie mit David Konstan, der sich gleichzeitig in Tel Aviv aufhielt, waren mir eine große Hilfe. Den Kolleginnen und Kollegen am dortigen Cohn Institute danke ich für den überaus herzlichen Empfang. Auch den Berliner Studierenden, mit denen ich mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte in Seminaren bearbeitet habe, verdanke ich zahlreiche Anregungen.

Auf Vorträgen in Vancouver, Toronto, Montreal, St. Louis, Leuven, Utrecht, Jerusalem, Würzburg, München, Freiburg i.Br., Basel, Graz, Rom, Jyväskylä und Berlin habe ich Ideen vorgestellt, die in dieses Buch eingeflossen sind. Ich danke allen Diskussionsteilnehmern für wertvolle Fragen, vor allem aber für Hinweise auf Unklarheiten, die mich dazu motiviert haben, meine Argumente zu präzisieren und angesichts der zahlreichen philologisch-historischen Bäume den philosophischen Wald nicht aus dem Blick zu verlieren. Bei der Literaturbeschaffung sowie bei den Druckvorbereitungen haben mich Luz Christopher Seiberth und Sebastian Bender tatkräftig unterstützt. Dafür sei ihnen aufrichtig gedankt.

In den Berliner Exzellenzclustern »Topoi« und »Languages of Emotion« habe ich stimulierende Gesprächspartner, aber auch engagierte Helfer für die Organisation von Tagungen und Lesegruppen zu Seelen- und Emotionstheorien gefunden; allen bin ich zu Dank verpflichtet. Die letzten Arbeiten konnte ich in idyllischer Umgebung am Istituto Svizzero di Roma abschließen. Ich danke der Institutsleitung für die Gastfreundschaft und für ein Geschenk, das im hektischen Universitätsalltag immer wertvoller wird: Zeit zum Lesen und Schreiben.

 

Berlin, im Mai 2010

Einleitung

Ein philosophischer Zugang zu Emotionen

Kaum etwas scheint uns vertrauter zu sein als die Fülle von Emotionen, die wir täglich erleben. Wir freuen uns, wenn wir ein schönes Geschenk erhalten, fürchten uns, wenn wir bedroht werden, und geraten in Zorn, wenn wir von einer großen Ungerechtigkeit erfahren. Auch bei anderen Menschen können wir immer wieder Emotionen feststellen. Wir sehen, wie jemand von Wut gepackt wird, beobachten, wie Kinder vor Freude lachen, und stellen fest, dass zerstrittene Paare sich voller Hass trennen. Emotionen sind im Alltag so allgegenwärtig und natürlich, dass sie keine Erklärung erfordern. Das Bedürfnis nach einer Erklärung taucht erst auf, wenn wir über die bunte Aufzählung punktuell beobachteter Emotionen hinausgehen und all die Phänomene analysieren wollen, die wir an uns selber und an anderen feststellen. Welche Analyse wäre aus heutiger Sicht hier angebracht?

Es scheint zunächst, als könne uns nur eine empirische Analyse weiterbringen, weil nur sie zu einer Einsicht in die Genese und allgemeine Struktur von Emotionen verhilft. Wenn wir nämlich biologische, psychologische, neurowissenschaftliche und andere empirische Untersuchungen durchführen, können wir nicht nur einzelne Emotionen beschreiben, sondern auch erklären, durch welche Reize sie hervorgerufen werden, in welchen Gehirnstrukturen sie sich manifestieren und welche Verhaltensmuster sie auslösen. Wir können dann auch erklären, warum bestimmte Typen von Emotionen mit einem bestimmten Körperausdruck einhergehen, und sind auf dieser Grundlage vielleicht imstande, eine Klassifikation von Basisemotionen vorzunehmen. Wenn wir darüber hinaus auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen anstellen, die ebenfalls empirisch fundiert sind, können wir erläutern, wie, ausgehend von den Basisemotionen, je nach Kontext unterschiedliche sozial und kulturell geprägte Emotionen entstehen. Wir können zudem untersuchen, welcher Wert diesen Emotionen beigemessen wird, wie er sich in der historischen Entwicklung verändert hat und welche Differenzen sich dabei in verschiedenen sozialen Gruppen feststellen lassen. Wenn sich diese Untersuchungen auf eine Fülle von Daten stützen und den etablierten Methoden der empirischen Forschung genügen, können wir über eine rein subjektive, mehr oder weniger anekdotische Beschreibung einzelner Emotionen hinausgehen und eine Theorie der Emotionen erstellen – eine Theorie, die über die Natur und die besondere Funktion von Emotionen Aufschluss gibt.

Bleibt hier noch Platz für eine philosophische Analyse? Das Bedürfnis nach einer solchen Analyse taucht immer dann auf, wenn die Begriffe, die wir sowohl im Alltag als auch in empirischen Untersuchungen verwenden, unklar oder unscharf sind. Erst wenn diese Begriffe geprüft und in ihrer gegenseitigen Relation erläutert werden, erhalten sie klare Konturen. Erst dann wird auch ersichtlich, was mit ihnen überhaupt erklärt werden soll, in welchen Gesamtrahmen sie sich einfügen und auf welchen expliziten oder impliziten Annahmen sie beruhen. Philosophische Probleme sind daher immer begriffliche Probleme: Sie betreffen nicht die empirischen Daten, sondern die Art und Weise, wie wir die Daten einordnen und auswerten. Folglich lassen sich philosophische Probleme nicht dadurch lösen, dass immer mehr Daten angehäuft und immer mehr empirische Einzeluntersuchungen angestellt werden. Es muss vielmehr über die jeweiligen Ordnungsschemata und ihre Voraussetzungen reflektiert werden.

Natürlich werden solche Schemata auch in den empirischen Einzeldisziplinen kritisch diskutiert. Neue empirische Einsichten werden häufig dadurch gewonnen, dass bereits vorhandene Daten im Rahmen neuer Theorien interpretiert werden oder dass scheinbar selbstverständliche Annahmen in Frage gestellt werden. So ermöglichte erst eine kritische Reflexion über die Annahmen des Behaviorismus eine »kognitive Wende« in der empirischen Emotionsforschung. Erst dadurch wurde es möglich, Emotionen als Zustände mit einem kognitiven Gehalt zu verstehen und die Entstehung dieses Gehalts näher zu untersuchen.[1] Innerhalb der empirischen Wissenschaften gibt es also durchaus Theoriedebatten und daraus hervorgehende Theorierevisionen. Solche Debatten gehen aber meistens von allgemein akzeptierten Grundbegriffen aus, denn nur auf der Grundlage gemeinsamer Begriffe kann überhaupt ein Dissens entstehen. So kann man sich nur dann darüber streiten, wie der kognitive Gehalt von Emotionen entsteht, wenn man sich mehr oder weniger einig ist, was unter einem solchen Gehalt zu verstehen ist.[2] Genau bei diesen begrifflichen Grundlagen setzen die philosophischen Analysen an. Sie gehen nicht davon aus, dass der Begriff von kognitivem Gehalt oder andere Grundbegriffe bereits klar sind, sondern zielen gerade hier auf eine Klärung ab. Mindestens fünf Probleme tauchen dann auf.

Erstens stellt sich die scheinbar naive, aber grundlegende Frage, ob wir überhaupt von den Emotionen sprechen dürfen. Man könnte dies das Einheitsproblem nennen: Ist der Emotionsbegriff ein hinreichend klar abgegrenzter Begriff, der sich auf eine einheitliche Klasse von Phänomenen anwenden lässt? Es liegt nahe, sogleich eine positive Antwort zu geben, denn es scheint uns nicht schwerzufallen, Freude, Furcht, Wut, Zorn und viele andere Emotionen einer einheitlichen Klasse zuzuordnen, die wir von der Klasse der Überzeugungen oder jener der Sinnesempfindungen abgrenzen. Gegen diese Erwiderung ist aber immer wieder Einspruch erhoben worden. »Emotionen bilden keine natürliche Klasse«, hielt Amélie Oksenberg Rorty provokativ fest.[3] Es ist keineswegs plausibel, dass alle Phänomene, die wir normalerweise unter dem Begriff der Emotion zusammenfassen, tatsächlich zusammengehören. Vielleicht ist unser Begriff irreführend, ähnlich wie der Begriff ›Fisch‹ irreführend ist, wenn wir ihn auf Forellen und Wale anwenden; nur weil wir diese Tiere im Wasser sehen, gehören sie noch lange nicht zur selben Kategorie von Lebewesen. Oder vielleicht beruht unser Begriff nur auf einer historisch gewachsenen Konvention, die jederzeit geändert werden könnte. Vielleicht beruht er auch auf der falschen Annahme, es müsse irgendetwas Verbindendes für Freude, Furcht, Wut, Zorn usw. geben. Doch gibt es das tatsächlich? Betrachten wir die spontane Furcht, die jemanden ergreift, wenn ein großer Hund auf ihn einstürzt, und den Zorn, der in ihm aufkommt, wenn er daran denkt, dass Manager Millionengehälter bekommen, während Millionen von Menschen verhungern. Die Furcht ist eine durch Sinnesreize unmittelbar ausgelöste Reaktion, der Zorn hingegen das Resultat einer moralischen Überlegung. Auch eine Katze, die von einem Hund angefallen würde, würde sich fürchten, aber sie wäre nie imstande, in Zorn zu geraten. Warum sollte es sich hier trotzdem um zwei Phänomene handeln, die zu ein und derselben Klasse gehören? Vielleicht sollte man die spontane Furcht eher zusammen mit instinktgesteuerten Sinnesempfindungen klassifizieren, den Zorn hingegen mit moralischen Urteilen. Auf jeden Fall ist es erklärungsbedürftig, warum wir ganz unterschiedlich geartete Phänomene in eine Schublade legen – vielleicht enthält diese Schublade ein Sammelsurium von buntgemischten Dingen.

Dies führt gleich zu einem zweiten Problem, das man das Strukturproblem nennen könnte. Selbst wenn man einräumt, dass zu Recht ein einziger umfassender Begriff für unterschiedliche Phänomene verwendet wird, stellt sich die Frage, wodurch sie sich auszeichnen. Was ist das besondere strukturelle Merkmal, das uns erlaubt, Emotionen von anderen geistigen Phänomenen abzugrenzen? Verschiedene Antworten bieten sich an. Man könnte erwidern, dass sie sich durch Intentionalität auszeichnen, d.h. durch die Gerichtetheit auf Gegenstände oder Sachverhalte. Wir freuen uns ja immer über etwas, fürchten uns vor etwas, hoffen auf etwas usw. Doch dieses Merkmal findet sich auch bei anderen geistigen Phänomenen, manche würden sogar sagen, dass es das Merkmal geistiger Phänomene schlechthin ist, denn auch Überzeugungen, Wahrnehmungen, Wünsche, Vorstellungen usw. sind intentional.[4] Weiter könnte man erwidern, dass Emotionen eine körperliche Komponente aufweisen. So zittern wir, wenn wir in großer Furcht sind, und erröten vor Freude. Doch auch dieses Merkmal findet sich bei anderen Phänomenen, insbesondere bei Sinnesempfindungen (etwa Schmerz) sowie bei länger andauernden Stimmungen (etwa Niedergeschlagenheit). Man könnte auch festhalten, dass Emotionen eine phänomenale Komponente haben. Es fühlt sich nämlich auf eine bestimmte Weise an, zornig oder freudig zu sein. Aber natürlich findet sich auch diese Komponente bei Sinnesempfindungen und Stimmungen. Weiter könnte man anführen, dass Emotionen eine motivationale Komponente haben. Wenn wir uns vor einem großen Hund fürchten, sind wir ja spontan zu einem Fluchtverhalten motiviert, und wenn wir über eine Ungerechtigkeit zornig sind, wollen wir sogleich etwas dagegen unternehmen. Diese Komponente findet sich allerdings auch bei Trieben, Begierden und Wünschen; sie alle motivieren uns zu einer Handlung. Schließlich könnte man darauf hinweisen, dass Emotionen sich durch eine evaluative Komponente auszeichnen. Wenn wir uns über ein Geschenk freuen, betrachten wir es als etwas Gutes, und wenn wir uns vor dem Hund fürchten, schätzen wir ihn als gefährlich und schlecht für uns ein. Doch auch diese Komponente findet sich nicht ausschließlich bei Emotionen; Wünsche und vor allem Werturteile sind ebenfalls evaluativ. Gibt es also nichts, was ausschließlich Emotionen auszeichnet? Oder sollte man nach einem weiteren, ganz besonderen Merkmal suchen? Oder liegt die Besonderheit der Emotionen darin, dass sie ein Bündel von strukturellen Merkmalen aufweisen, die sich mit denjenigen anderer geistiger Phänomene überschneiden? Wie ist dann das Verhältnis von Emotionen zu Sinnesempfindungen, Stimmungen, Wünschen, Werturteilen usw. zu erklären? Diese Fragen zeigen, dass es nicht ausreicht, nur den Begriff der Emotion zu klären. Man muss ein ganzes Begriffsnetz aufspannen, damit verschiedene geistige Phänomene geordnet und in Beziehung zueinander gesetzt werden können.

Die Rede von geistigen Phänomenen wirft sogleich ein drittes Problem auf, das Zuschreibungsproblem: Wem oder was sollen Emotionen zugeschrieben werden? Natürlich dem Geist, könnte man sogleich erwidern. So naheliegend und trivial diese Antwort auch sein mag, so fragwürdig ist sie bei genauerer Betrachtung. Wenn Emotionen nämlich eine körperliche Komponente haben, betreffen sie auch den Körper, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass sie eine neuronale Grundlage haben, was wohl für alle geistigen Phänomene gilt. Emotionen manifestieren sich in konkreter Gestik und Mimik. Sind sie trotzdem nur geistige Phänomene? Ist Furcht etwas Geistiges und das Zittern bloß eine Begleiterscheinung oder eine kontingente Wirkung? Das scheint kaum plausibel. Wir fürchten uns ja nicht und zittern noch nebenbei oder danach, sondern wir zittern in der Furcht; das körperliche Verhalten ist ein konstitutiver Bestandteil.[5] Sind Emotionen daher auch dem Körper zuzuschreiben? Oder einer Körper-Geist-Einheit? Was wäre unter einer solchen Einheit zu verstehen? Mit solchen Fragen betritt man sogleich metaphysisches Gelände, denn erst wenn hinreichend klar ist, um welche Entitäten es sich bei Körper und Geist handelt, lässt sich der Status des Subjekts erklären, dem Emotionen als »gemischte« Phänomene zugeschrieben werden.

Das Zuschreibungsproblem ist noch in einer weiteren Hinsicht relevant. Wenn Emotionen einer Körper-Geist-Einheit zugeschrieben werden sollten, sind offensichtlich nur Lebewesen, die über einen Geist verfügen, mögliche Träger von Emotionen. Doch können wir nicht auch Tieren Emotionen zuschreiben, wie das Beispiel der Katze zeigt, die sich vor dem Hund fürchtet? Heißt dies, dass wir auch der Katze einen Geist zuschreiben müssen? Oder bedeutet dies nur, dass es so etwas wie einen »Minimalgeist« mit kognitiven Strukturen braucht, damit eine Emotion auftreten kann? Wie ließe sich ein solcher Geist charakterisieren und von einem »Maximalgeist« abgrenzen, wie man ihn bei einem erwachsenen Menschen findet?[6] Auf jeden Fall müssen die Begriffe von Geist und kognitiver Struktur geklärt werden, wenn die Rede von Emotionen als geistigen Phänomenen nicht vage bleiben soll. Das Zuschreibungsproblem kann aber auch als mereologisches Problem aufgefasst werden: Sind Emotionen dem ganzen Lebewesen zuzuschreiben oder nur einem Teil, etwa dem Gehirn oder einem kognitiven Subsystem? Ist es zulässig, die in einigen empirischen Wissenschaften durchaus übliche Aussage zu treffen, Freude und Furcht seien im Gehirn, und man könne sie dort sehen, etwa mit Hilfe bildgebender Verfahren? Auch diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn die Begriffe von System und Subsystem geklärt sind.[7]

Zudem gibt es ein viertes Problem, das durch die Rede von Phänomenen häufig verdeckt wird. Man könnte es das Kategorienproblem nennen: Um welche Art von Entitäten handelt es sich bei den Emotionen? Zu welcher Kategorie gehören sie? Hier bietet sich wieder eine spontane Antwort an. Man könnte erwidern, dass sie nichts anderes als Zustände eines Geistes oder eines ganzen Lebewesens (sei dies nun ein Mensch oder ein Tier) sind. In Furcht oder Freude zu sein hieße dann nichts anderes, als in einem bestimmten Zustand zu sein. Dagegen spricht aber die Tatsache, dass eine Emotion nichts Statisches ist. Betrachten wir einen konkreten Fall. Die Eltern eines zehnjährigen Mädchens warten abends auf ihre Tochter, die nicht von der Schule nach Hause gekommen ist, und geraten in Angst. Je länger sie warten, desto größer wird ihre Angst. Dann hören sie im Radio von einem schweren Verkehrsunfall, der in ihrer Nähe geschehen ist – ihre Angst steigert sich zur Panik. Doch kurz danach rufen die Eltern einer Mitschülerin an und berichten, das Mädchen sei bei ihnen – die Angst flaut ab. Offensichtlich ist Angst in diesem Fall ein länger andauernder Prozess, der in seiner Intensität zu- und abnehmen kann. Lässt sich ein solcher Prozess als Zustand charakterisieren? Und lässt er sich als einfacher Zustand beschreiben? Oder müsste man von einem komplexen Zustand sprechen, der sich aus vielen Einzelzuständen (Wahrnehmungen, Vorstellungen, Empfindungen, Wünschen, Urteilen usw.) zusammensetzt, die verändert oder ausgetauscht werden können? Was bewirkt dann, dass alle diese Zustände eine Einheit ergeben? Zudem stellt sich die Frage, ob Emotionen immer aktuelle Zustände oder Prozesse sind. Angenommen, jemand beschreibt die Eltern des Mädchens als sehr ängstliche Personen, die sich immer gleich Sorgen machen. Ist die Disposition, in Angst zu geraten, selber schon eine Emotion? Oder ist sie nur die Voraussetzung dafür? Und wie genau entsteht dann aus der Disposition ein aktueller Zustand oder ein Prozess? Diese Fragen lassen sich erst beantworten, wenn grundsätzlich geklärt ist, was unter Zuständen, Prozessen und Dispositionen zu verstehen ist. Deshalb lassen sich Emotionen nur vor dem Hintergrund eines umfassenden metaphysischen Modells kategorisieren.

Schließlich gilt es noch ein fünftes Problem in den Blick zu nehmen, das man das Zurechnungsproblem nennen könnte. Es ist unklar, ob wir einer Person (oder vielleicht auch einem Tier) eine Emotion als etwas zuschreiben können, das sie irgendwie lenken oder kontrollieren kann und das somit in ihrem Zurechnungsbereich liegt, für den sie auch verantwortlich gemacht werden kann. Emotionen haben nämlich einen ambivalenten Charakter. Einerseits scheinen sie Phänomene zu sein, die wir in der Tat steuern können, indem wir sie gezielt in uns entfachen oder mäßigen. So kann jemand zur Zeitung greifen und so viele Artikel über überzogene Managergehälter lesen, bis er zornig wird und voller Rage zu schimpfen beginnt. Er kann umgekehrt aber auch versuchen, die komplexen ökonomischen Hintergründe zu verstehen und dadurch seinen Zorn zu mäßigen, oder er kann ganz einfach seine Aufmerksamkeit einem anderen Thema zuwenden und dadurch ebenfalls seinen emotionalen Zustand verändern. Doch es gibt auch Emotionen, die uns geradezu überfallen und die wir nicht beeinflussen können. Wer vor einem knurrenden Kampfhund steht, wird von Furcht gepackt und kann sich noch so lange einreden, dass der Hund gut dressiert ist, seine Furcht wird nicht einfach abflauen oder gar verschwinden. Und wer sich Hals über Kopf verliebt, wird von einem unbändigen Gefühl gepackt, das sich durch keine rationale Überlegung mäßigen oder gar tilgen lässt – man ist diesem Gefühl einfach ausgeliefert. Wie können nun Emotionen etwas sein, das wir einerseits aktiv hervorbringen und steuern können, andererseits aber auch etwas, das wir passiv erfahren und das uns geradezu überfällt? Gibt es zwei Arten von Emotionen, aktive und passive? Oder haben alle Emotionen einen aktiven und einen passiven Aspekt? Und wofür können wir verantwortlich gemacht werden: nur für die Emotionen, die wir selber steuern können? Doch wie weit reicht die Steuerbarkeit? Kann jemand wie auf Knopfdruck den Zorn mäßigen oder abstellen, indem er die geeigneten Überlegungen anstellt? Oder gibt es auch hier ein Element, das der Kontrolle entzogen ist? Auf diese Fragen lässt sich erst eine Antwort finden, wenn die Begriffe von Aktivität und Passivität geklärt sind und wenn die kognitiven Mechanismen in den Blick genommen werden, mit denen auf Emotionen Zugriff genommen werden kann. Dies wiederum setzt voraus, dass erläutert wird, was unter solchen Mechanismen überhaupt zu verstehen ist und in welchem Sinne sie einer Person zugeschrieben werden können.

Bei den genannten fünf Problemen handelt es sich natürlich nicht um eine vollständige Liste der philosophischen Probleme, die es zu klären gilt. Dies sind nur einige Grundprobleme, die gleichsam Eingangstore zu weiteren Problemen in der Philosophie des Geistes, Metaphysik, Handlungstheorie und Moralpsychologie darstellen. Wer sich mit Emotionen beschäftigt, kommt aber kaum darum herum, sie zu erörtern. Denn eine Einsicht in die Natur und Struktur von Emotionen lässt sich erst gewinnen, wenn hinreichend klar ist, was unter geistigen Phänomenen und ihren Merkmalen, einer Geist-Körper-Einheit, einem komplexen Zustand und einem kognitiven Mechanismus zu verstehen ist. Eine Analyse dieser begrifflichen Probleme ersetzt natürlich keine empirischen Untersuchungen, da nach wie vor Daten erforderlich sind, auf die einzelne Begriffe anzuwenden sind. Ebenso wenig ersetzt sie die Methoden- und Theoriediskussionen innerhalb der empirischen Einzeldisziplinen. Es wäre unangemessen, philosophische Begriffsarbeit einfach an die Stelle von empirischer Arbeit zu setzen oder anzunehmen, es könne so etwas wie reine Begriffsarbeit geben, die empirische Befunde nicht beachten muss. Umgekehrt ersetzen empirische Untersuchungen aber auch nicht die philosophische Begriffsarbeit, sondern führen unweigerlich zu ihr hin, weil sie in der Strukturierung und Auswertung des Datenmaterials immer auf fundamentale Begriffe zurückgreifen, die keineswegs selbstverständlich sind und einer Erklärung bedürfen. Nur wenn diese Begriffe geklärt werden, wird erkennbar, in welchen Rahmen sich die empirischen Befunde einordnen. Und nur dann wird auch ersichtlich, wie die Natur und die Funktion von Emotionen erklärt werden können.

Wozu historische Analysen?

Es liegt nahe, mit der Begriffsanalyse vor dem Hintergrund heutiger empirischer Untersuchungen anzusetzen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die philosophischen Debatten in interdisziplinären Kontexten (etwa in den fächerübergreifend angelegten Kognitionswissenschaften) einen neuen Aufschwung erlebt haben.[8] Denn in diesen Kontexten können neue empirische Befunde unmittelbar aufgegriffen werden, und es lässt sich auch testen, wie angemessen einzelne Begriffe sind und wie weit die Erklärungskraft ganzer Theorien reicht. Warum sollte man sich in philosophiehistorischer Perspektive mit Emotionen befassen? Und warum sollte man sich ausgerechnet mit der Periode zwischen 1270 und 1670 beschäftigen, wie dies in den folgenden Kapiteln der Fall ist?[9] Verschiedene Antworten bieten sich an.

Zunächst kann man darauf hinweisen, dass in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Debatten zahlreiche begriffliche Unterscheidungen und Präzisierungen getroffen worden sind, die auch in heutigen Diskussionen noch relevant sind. So stellten bereits die Autoren des 13. Jahrhunderts (unter ihnen prominenterweise Thomas von Aquin) fest, dass Emotionen immer ein »formales Objekt« haben, d.h. ein in bestimmter Hinsicht spezifiziertes und evaluiertes Objekt. So richtet sich Furcht auf einen Gegenstand, der als schlecht und bedrohlich evaluiert wird, Freude hingegen auf einen, der als nützlich und gut eingeschätzt wird. Es lassen sich verschiedene Arten von Emotionen unterscheiden und klassifizieren, wenn das jeweilige formale Objekt betrachtet wird. Diese Einsicht haben Anthony Kenny und nach ihm eine Reihe von Gegenwartsautoren wieder aufgegriffen.[10] Ein weiteres Beispiel: Spinoza stellte fest, dass Emotionen notwendigerweise körperliche Anteile haben und daher sowohl unter einem körperlichen als auch unter einem geistigen Aspekt beschrieben werden müssen. Daran hat in den neueren Debatten Antonio Damasio wieder angeknüpft, indem er Spinozas Theorie als Inspirationsquelle für neurobiologische Theorien angepriesen hat.[11] Trotz der historischen Ferne sind zentrale Punkte der Theorien aus dem 13. bis 17. Jahrhundert immer noch relevant.

Zudem lässt sich feststellen, dass diese Theorien gelegentlich auch wichtige negative Inspirationsquellen sind. Sie werden gleichsam als Kontrastfolien für eine angemessene Emotionstheorie verwendet. Die wohl beliebteste Zielscheibe ist die cartesische Theorie. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass man erst dann eine adäquate Erklärung der Emotionen geben kann, wenn man sich vom »cartesischen Erbe« verabschiedet und eine Reihe von Annahmen verwirft, etwa die Annahme, dass Emotionen lediglich geistige Gefühle sind, die von den körperlichen Zuständen real verschieden sind, und die weitere Annahme, dass diese Gefühle keinen kognitiven Wert haben, weil sie keine klaren und deutlichen Ideen sind und damit auch nicht anzeigen, wie die Dinge in der Welt sich wirklich verhalten. So hat etwa John Deigh behauptet, Descartes stehe am Anfang einer langen Tradition von nichtkognitivistischen Theorien, die Emotionen auf phänomenale Erlebnisse reduzieren. Dies sei genau jene Tradition, die es heute zu bekämpfen gelte.[12] Diese Einschätzung ist zwar durchaus anfechtbar und lässt sich schwer mit einigen Aussagen Descartes’ vereinbaren, in denen er die Emotionen nicht von körperlichen Zuständen abtrennt und ihnen auch nicht jeden kognitiven Wert abspricht.[13] Aber ganz gleichgültig, ob die negative Bezugnahme auf Descartes exegetisch angemessen ist oder nicht, sie zeigt, dass eine Theorie des 17. Jahrhunderts immer noch eine Herausforderung darstellt.

Schließlich ist die Periode zwischen 1270 und 1670 auch deshalb für Gegenwartsdebatten von besonderem Interesse, weil zu dieser Zeit ein tiefgreifender Umbruch stattfand. Aristotelische Theorien, die Emotionen im Rahmen einer hylemorphistischen Metaphysik erklärten (vor allem jene von Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, die bis in das 17. Jahrhundert hinein einflussreich waren), wurden nach und nach von neuen Theorien abgelöst, die von einem mechanistischen Verständnis natürlicher Prozesse ausgingen. Das heißt: Während die Aristoteliker noch wie selbstverständlich annahmen, dass Emotionen durch die Aktualisierung von Vermögen und die Aufnahme von Formen zustande kommen, behaupteten die Anti-Aristoteliker, dass die Rede von versteckten Vermögen und transferierten Formen nicht nur unverständlich, sondern empirisch auch unbegründet ist. Emotionen können nur dadurch zustande kommen, dass Gegenstände auf mechanische Weise, d.h. durch Druck und Stoß, auf den Körper einwirken, in ihm Reize hervorbringen, die im Gehirn verarbeitet werden und ihrerseits Zustände im Geist hervorbringen oder mit solchen Zuständen einhergehen. Je nach Art des einwirkenden Gegenstandes und des körperlichen Reizes entstehen dann unterschiedliche Emotionen, und die Aufgabe einer Emotionstheorie besteht darin, die einzelnen Relata in der Kausalrelation sowie die Relation selbst genau zu beschreiben. Descartes hielt programmatisch fest, er befasse sich nicht als Redner oder Moralphilosoph mit den Emotionen, »sondern nur als Naturwissenschaftler«.[14] Die mechanistische Erklärung für die Genese einzelner Emotionen, die er dann gab, wirkt aus heutiger Sicht natürlich in vielen Punkten antiquiert. Doch der methodische Ansatz erscheint immer noch attraktiv: Emotionen sind im Rahmen einer umfassenden Theorie über körperliche Reizaufnahme und kognitive Reizverarbeitung zu untersuchen. Eine Beschäftigung mit der cartesischen Theorie und mit früheren, aristotelisch geprägten Theorien ist dann anregend, weil man sich vor Augen führen kann, welcher methodische Wandel stattgefunden hat, und weil man die Gründe für diesen bis heute einflussreichen Wandel erforschen kann. Zudem wird dann deutlich, welche Annahmen sich trotz des Wandels bis heute gehalten haben und in kognitionswissenschaftlichen Debatten wieder auftauchen.

Es scheint somit, als gäbe es Motivation genug, um sich der Emotionsproblematik in historischer Perspektive zu nähern und die Theoriediskussionen im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht zu untersuchen. Allerdings bergen die genannten Gründe eine Gefahr in sich. Sie gehen alle von Gegenwartsdebatten aus und fragen, welche positiven oder negativen Bezugspunkte es in einer früheren Epoche gibt. Wie selbstverständlich setzen sie voraus, dass das heutige Verständnis von Emotionen und heutige methodische Annahmen verpflichtend sind; frühere Diskussionen dienen lediglich als positive oder negative Hintergrundfolie. Damit droht aber die Gefahr, dass man sich einer »Tyrannei der Gegenwart« unterwirft, wie Daniel Garber pointiert festgestellt hat.[15] Heutige Phänomenbeschreibungen, heutige begriffliche Differenzierungen und heutige methodische Postulate werden als verbindlich angesehen. Frühere Theorien sind dann nur noch von Interesse, insofern sie heutige Einsichten antizipieren oder Irrwege aufzeigen, die es zu vermeiden gilt. Doch eine Beschäftigung mit älteren Theorien kann auch und sogar in hohem Maße philosophisch anregend sein, weil sie aufzeigen, dass andere Phänomenbeschreibungen, andere begriffliche Differenzierungen und andere methodische Postulate möglich sind – vielleicht sogar solche, die den heutigen diametral gegenüberstehen. Sie eröffnen, bildlich gesprochen, einen anderen Raum, in dem die Dinge einander ganz anders zugeordnet sind. Dadurch wird man herausgefordert, den eigenen Raum aus kritischer Distanz zu betrachten und nicht einfach als den Theorieraum schlechthin anzunehmen. Gerade mit Blick auf die Frage nach der Natur und Funktion von Emotionen empfiehlt es sich, eigene explizite oder implizite Annahmen zurückzustellen und sich auf die historischen Kontexte einzulassen. Dann wird man unweigerlich mit den fünf anfangs genannten Grundproblemen konfrontiert.

Betrachten wir das Einheitsproblem. Schon das deutsche Wort ›Emotion‹ (oder das Äquivalent in einer anderen modernen Sprache) suggeriert, dass es einen mehr oder weniger genau abgegrenzten Phänomenbereich gibt, der sich von jenen Bereichen unterscheidet, die durch andere Wörter – etwa ›Sinnesempfindung‹, ›Körpergefühl‹ oder ›Stimmung‹ – bezeichnet werden. Ein kurzer Blick auf die Wortgeschichte zeigt aber, dass es sich hier um ein ziemlich junges Wort handelt. Zwar findet sich ›Emotion‹ bereits in philosophischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts,[16] aber zu einem philosophischen Terminus technicus wurde dieses Wort erst um 1820, und als psychologischer Fachausdruck etablierte es sich sogar erst im späten 19. Jahrhundert.[17] Auch das heute geläufige Wort ›Gefühl‹ war in der Neuzeit noch ungebräuchlich. Wenn es überhaupt verwendet wurde, so in wahrnehmungstheoretischen Debatten, um den Tastsinn zu bezeichnen und von anderen Sinnesmodalitäten abzugrenzen.[18] Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren, die vorwiegend lateinisch und französisch schrieben, benutzten die Ausdrücke ›passio‹ (fr. ›passion‹) und affectus (fr. ›affection‹).[19] Dies ist weit mehr als eine sprachliche Eigenheit, wie zwei Beispiele verdeutlichen mögen.

Johannes Duns Scotus eröffnet seine um 1300 entstandene Analyse der passiones, indem er die »niederen« in der sinnlichen Seele von den »höheren« in der rationalen Seele unterscheidet. Zur ersten Gruppe gehören für ihn paradigmatisch die Schmerzen, zur zweiten die Zustände der Traurigkeit.[20] Aus heutiger Sicht ist dies verwirrend. Warum sollten Schmerzen und Traurigkeit einer einzigen Kategorie von seelischen Zuständen zugeordnet werden? Sollte man Schmerzen nicht zusammen mit anderen Sinnesempfindungen (etwa Kitzelgefühlen) klassifizieren, Traurigkeit hingegen zusammen mit anderen Emotionen (etwa Furcht oder Freude)? Warum zieht Scotus hier keine Trennlinie? Offensichtlich wendet er andere als die uns geläufigen Kriterien an, um seelische Zustände einzuteilen.[21] Für ihn ist zunächst nur wichtig, ob ein Zustand vorliegt, den die Seele aktiv hervorbringt (eine actio oder operatio), oder einer, der in ihr hervorgebracht wird und den sie erleidet (eine passio). Sowohl Schmerzen als auch Traurigkeit werden in der Seele hervorgebracht und gehören daher zur selben Kategorie. Dadurch ergibt sich für Scotus ein vom heutigen Bild abweichendes Verständnis dessen, was zu einer Klasse von Phänomenen gehört, und es stellen sich für ihn auch andere Probleme. Aus seiner Sicht gilt es vornehmlich zu untersuchen, wie eine passio hervorgebracht wird und wie sich die Seele oder der beseelte Körper dadurch verändert.

Spinoza gibt am Ende des dritten Teils der Ethik eine Liste sämtlicher Affekte (affectus). Er hält zunächst fest, dass dazu grundlegend die Begierde gehört, die nichts anderes als eine Form des Strebens (appetitus) ist, und zählt dann zahlreiche andere Formen auf, darunter Liebe und Hass, Freude und Traurigkeit, aber auch Ehrgeiz (ambitio) und Schwelgerei (luxuria).[22] Auch das wirkt verwirrend. Warum ist Streben die Grundform der Affekte? Werden dadurch nicht Wünsche und Absichten, die ebenfalls Formen des Strebens sind, mit den Emotionen vermengt? Und warum führt Spinoza auf seiner Liste neben den klassischen Emotionen noch Phänomene auf, die eher zur Kategorie der Charaktereigenschaften (wie Ehrgeiz) oder zu jener der Laster (wie Schwelgerei) gehören? Er operiert offensichtlich mit einem anderen Klassifikationskriterium als Scotus, aber auch mit einem anderen, als heute viele verwenden würden. Für ihn gehört all das zur selben Klasse von Phänomenen, was eine Form des Strebens ist, und innerhalb dieser Klasse lassen sich die einzelnen Typen von Phänomenen nur mit Blick auf die jeweilige Art des Strebens unterscheiden. Daher geht er von den Fragen aus, was unter einem Streben zu verstehen ist und wie sich verschiedene Arten des Strebens unterscheiden lassen.

Diese beiden Beispiele, die noch näher untersucht werden sollen,[23] sind nicht nur interessant, weil sie zeigen, dass in zwei unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedliche Klassifizierungen geistiger Phänomene vorgenommen wurden. Sie sind vor allem bemerkenswert, weil sie vor Augen führen, dass keineswegs klar ist, was zu einer einheitlichen Klasse von Phänomenen gehört. Es ist überhaupt fraglich, warum all das, was wir heute gewöhnlich unter dem Etikett ›Emotionen‹ zusammenfassen, zu einer solchen Klasse gehört. Gehören tatsächlich Liebe und Hass oder Freude und Traurigkeit zusammen, wie heute meistens angenommen wird? Oder nicht eher Schmerz und Traurigkeit? Oder vielleicht Begierde und Schwelgerei? Um Oksenberg Rortys provokative Aussage wieder aufzugreifen, könnte man sagen: Emotionen bilden keine natürliche Klasse, die immer und überall gleich ist und nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Was als natürliche Klasse bestimmt wird, hängt entscheidend davon ab, welches Klassifikationssystem verwendet wird. Eine Beschäftigung mit früheren Theorien ist philosophisch (und nicht bloß ideen- oder rezeptionsgeschichtlich) spannend und wichtig, weil sie uns zwingt, das jeweilige System in den Blick zu nehmen und die Differenzen zu dem uns vertrauten System genau zu betrachten.

Ähnliches gilt auch für das zweite der eingangs genannten Probleme, das Strukturproblem. In heutigen Diskussionen wird meistens angenommen, Emotionen zeichneten sich durch mehrere Merkmale aus. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem phänomenalen Merkmal geschenkt. Es scheint nämlich selbstverständlich, dass es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, freudig oder zornig zu sein, und dass wir die einzelnen Typen von Emotionen mit Bezug auf den jeweiligen phänomenalen Gehalt voneinander unterscheiden können. Die entscheidende Frage lautet dann, was unter diesem Gehalt zu verstehen ist: eine phänomenale Eigenschaft (ein »Quale«), zu der wir einen privilegierten Zugang haben? Wenn ja, was genau ist diese Eigenschaft? Und wie verhält sie sich zu physikalischen Eigenschaften? Natürlich ist es heute umstritten, ob eine solche Eigenschaft überhaupt angenommen werden soll, aber zumindest herrscht Einigkeit darüber, dass es so etwas wie ein inneres Erleben oder Empfinden von Emotionen zu erklären gilt.[24] Wendet man sich dann den spätmittelalterlichen Debatten zu, stellt man mit Erstaunen fest, dass ein solches Erleben gar nicht thematisiert wird. Die Aristoteliker fragen nur, durch welche Veränderungsprozesse passiones ausgelöst werden, wie die Seele selbst sich dadurch verändert und welche weiteren Prozesse – insbesondere Körperbewegungen – dadurch ausgelöst werden. Selbst wenn sie (wie etwa Duns Scotus) explizit das Problem diskutieren, wodurch sich Schmerz und Traurigkeit auszeichnen, werfen sie nicht die Frage auf, wie es sich denn anfühlt, Schmerzen zu haben oder traurig zu sein. Heißt dies, dass sie das phänomenale Merkmal einfach übersehen? Oder versuchen sie, es auf andere Merkmale zu reduzieren? Oder bedarf es in ihren Augen schlichtweg keiner Erklärung? Auf jeden Fall veranlassen uns die mittelalterlichen Texte, darüber nachzudenken, was denn erklärungsbedürftige Merkmale von Emotionen sind. Vielleicht sind die Merkmale, die wir spontan für erklärungsbedürftig halten, gar nicht die besonders problematischen Merkmale, sondern bloß diejenigen, die innerhalb eines bestimmten theoretischen Rahmens (etwa des materialistischen, der heutige Debatten dominiert) problematisch erscheinen.[25]

Noch verwirrender verhält es sich mit Montaigne, der viele Beispiele aufgreift, die bereits von den Aristotelikern diskutiert wurden. So geht er in einem seiner Essais ausführlich auf den Zorn ein, der seit der Antike als exemplarischer Fall einer Emotion diskutiert wurde.[26] Doch er bemüht sich nicht darum, die besonderen Merkmale des Zornes zu analysieren oder gar eine Definition zu geben. Er reiht vielmehr verschiedene Schilderungen von zornigen Menschen aneinander: Manchmal werden Zornige gewalttätig und manchmal nicht, manchmal werden sie ganz aufgeregt, und manchmal bleiben sie ruhig, manchmal versuchen sie, sich zu kontrollieren, und manchmal nicht usw. Er scheint sich nicht für eine allgemeine Charakterisierung des Zornes oder gar für eine Abgrenzung dieser Emotion von anderen Emotionen zu interessieren, sondern konzentriert sich auf einzelne, teilweise widersprüchliche Beispiele. Dies wirft methodische Fragen auf: Hält Montaigne die Bestimmung definitorischer Merkmale für unsinnig oder gar für unmöglich? Glaubt er, dass man Emotionen gar nicht anhand besonderer Merkmale voneinander und von anderen geistigen Phänomenen abgrenzen kann? Wie sollte es dann noch möglich sein, eine Theorie der Emotionen zu erstellen? Die skeptische Haltung Montaignes gegenüber einer Definition und Klassifikation von Emotionen zwingt uns, darüber nachzudenken, was eine Bestimmung von Merkmalen überhaupt leisten kann. Und sein Insistieren auf der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der einzelnen Emotionen regt zu einer Reflexion darüber an, ob die Suche nach allgemeinen Merkmalen überhaupt sinnvoll ist.

Eine gewisse Verwirrung stellt sich auch unweigerlich ein, wenn man sich dem dritten Problem zuwendet, dem Zuschreibungsproblem. Aus heutiger Sicht scheint es selbstverständlich, dass Emotionen sowohl körperliche als auch geistige Anteile haben und daher einer Körper-Geist-Einheit zuzuschreiben sind. Sie sind Paradebeispiele für »verkörperte« geistige Einschätzungen von bestimmten Situationen und Reaktionen auf sie.[27] Auch viele spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Philosophen hielten die körperliche Komponente für essentiell. So wies Thomas von Aquin darauf hin, dass alle passiones (darunter auch Liebe, Freude und viele andere Zustände, die heute als Emotionen bezeichnet werden) körperliche Veränderungen beinhalten und daher strenggenommen nicht der Seele, sondern dem beseelten Körper zuzuschreiben sind.[28] Auch Descartes betonte trotz seiner berühmten These, dass Geist und Körper real verschieden sind, Emotionen würden der Geist-Körper-Einheit und damit einer Person zukommen, nicht einem reinen Geist.[29] Aber natürlich wichen die beiden Autoren in der Erklärung dieser Einheit beträchtlich voneinander ab. Während es sich für Thomas um eine hylemorphistische Einheit handelt, liegt für Descartes eine Verbindung zweier Substanzen vor. Daher erhält die scheinbar selbstverständliche These, dass Emotionen Zustände mit körperlichen und geistigen Anteilen sind, erst dann einen präzisen Sinn, wenn klar ist, was jeweils unter Körper und Geist (oder Seele) verstanden wird. Eine Beschäftigung mit den beiden Autoren ist philosophisch anregend, weil sie uns unweigerlich dazu veranlasst, die jeweiligen metaphysischen Modelle in den Blick zu nehmen. Diese Modelle antizipieren nicht einfach heutige Modelle (weder die Annahme einer substantiellen Form wie bei Thomas noch die Postulierung einer immateriellen Substanz wie bei Descartes scheint den meisten Gegenwartsphilosophen attraktiv), sind aber gerade deshalb von Interesse. Sie verdeutlichen nämlich, dass gegenwärtige Modelle nicht alternativlos sind und dass sie ebenfalls auf metaphysischen Annahmen beruhen, die es zu prüfen gilt.

Der Blick auf vergangene Debatten zeigt aber auch, dass die Ansicht, Emotionen hätten immer körperliche Anteile, keineswegs unangefochten war. Bereits Johannes Duns Scotus und nach ihm noch expliziter Wilhelm von Ockham behaupteten, dass es neben den sinnlichen Emotionen, die an den Körper gebunden sind, auch höherstufige gibt, die im rationalen Teil der Seele existieren. Da dieser Teil Ockham zufolge vom sinnlichen Teil real verschieden ist und sogar dann weiterexistieren kann, wenn der Körper zugrunde geht, kann es auch unkörperliche Emotionen geben.[30] Diese Ansicht mag heute befremdlich wirken. Was soll denn Liebe oder Freude sein, die sich nicht in einer konkreten Gestik und Mimik manifestiert, ja nicht einmal physiologische Vorgänge beinhaltet? Ist denn körperlose Liebe überhaupt noch Liebe? Der Reiz dieser Ansicht, die natürlich auch theologisch motiviert war (etwa in christlichen Debatten über die Gottesliebe oder den Zustand der guten und schlechten Seelen nach dem Tod), liegt aber gerade in ihrer Provokation. Sie wirft unweigerlich die Frage auf, ob körperliche Zustände oder Prozesse tatsächlich notwendige und nicht bloß kontingente Bestandteile von Emotionen sind. Und sie fordert dazu heraus, die Struktur der rein geistigen Zustände sowie ihrer Träger genau zu bestimmen. Erst wenn diese Struktur hinreichend klar ist, wird auch deutlich, welcher besondere Bestandteil bei einer Körper-Geist-Einheit hinzukommt. Natürlich wird auch erst dann verständlich, worin sich eine Person als eine solche Einheit von einem reinen Geist unterscheidet.

Das Zuschreibungsproblem stellt sich im historischen Kontext noch in einer weiteren Hinsicht, nämlich wenn es – wie bereits erwähnt – als mereologisches Problem aufgefasst wird: Sollten Emotionen der ganzen Person oder einem Teil von ihr zugeschrieben werden? Die Lektüre mittelalterlicher Texte wirft unweigerlich diese Frage auf. Einerseits betonten nämlich alle Aristoteles-Interpreten, dass die Person als natürliches Lebewesen Emotionen hat. In Anlehnung an eine berühmte Stelle in De anima hielten sie fest, Zorn sei ein Zustand des ganzen belebten Körpers, und man könne nur verschiedene Aspekte dieses Zustandes unterscheiden, nicht aber besondere innere Träger der Emotion.[31] Gleichzeitig behaupteten sie aber, Zorn könne einem bestimmten »Seelenteil« zugeschrieben werden, nämlich dem sinnlichen. Thomas unterteilte diesen sogar nochmals und hielt fest, Zorn sei dem sinnlich-appetitiven Seelenteil zuzuschreiben.[32] Wer ist nun zornig: die ganze Person, ihre Seele oder ein Seelenteil? Erst wenn der metaphysische Rahmen deutlich wird, in dem von der Seele und ihren Teilen die Rede ist, lässt sich diese Frage beantworten. Ähnlich verwirrend verhält es sich auch bei frühneuzeitlichen Autoren. So behauptete Descartes einerseits in seiner offiziellen Definition der passions, sie seien besondere »Perzeptionen der Seele«; andererseits unterstrich er, man könne sie nur der Einheit von Seele und Körper zuschreiben und benötige sogar einen nichtreduzierbaren Grundbegriff für diese Einheit.[33] Wem ist dann eine Emotion zuzuschreiben: der ganzen Person als einer solchen Einheit oder ihrer Seele als einem Teil der Einheit? Diese Frage fordert nicht nur dazu heraus, das mereologische Zuschreibungsproblem im jeweiligen Kontext genauer zu betrachten. Sie veranlasst uns auch, über die eigene Zuschreibungspraxis zu reflektieren und zu erläutern, wem oder was wir eine Emotion zuschreiben.[34] Gerade die Spannungen, die in den historischen Texten zutage treten, lassen dieses Problem sichtbar werden.

Betrachten wir nun das vierte Problem, das Kategorienproblem. Auch hier zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Debatten, dass die Rede von Emotionen als geistigen Zuständen gar nicht so selbstverständlich ist, wie sie heute erscheint. Die aristotelischen Autoren sprachen von Bewegungen (motus), Veränderungen (immutationes) oder Aktualisierungen (actus) der seelischen Vermögen und damit eher von Prozessen.[35] Damit stellt sich sogleich die Frage, woraus ein solcher Prozess besteht und wie er sich vollzieht. Hat er Teile? Erstreckt er sich über eine gewisse Zeit? Kann er an Intensität zu- oder abnehmen? Wie verhält er sich zu anderen Prozessen oder Zuständen? Zudem versuchten die Aristoteliker, diese Prozesse im Rahmen der klassischen Kategorienlehre zu erklären, und schrieben sie meistens der Kategorie der Qualität zu.[36] Auch das wirft Fragen auf: Was genau ist eine Qualität? Wie verhält sie sich zu einer Substanz als ihrem Träger und wie zu anderen Qualitäten? In welchem Sinn kann ein Prozess überhaupt eine Qualität sein, wenn er doch nicht als etwas Statisches in einer Substanz vorkommt (wie etwa eine Farbe), sondern sich entwickelt? Erst wenn man sich den gesamten metaphysischen Rahmen vergegenwärtigt, wird verständlich, wie die Aristoteliker die Emotionen kategorisierten und wie sie durch die Unterscheidung verschiedener Arten von Entitäten – etwa Zuständen und Prozessen – gewissen Tatsachen (etwa dass Emotionen länger andauern können und nicht bloß momentan aufflackern) Rechnung tragen konnten.

Auch die frühneuzeitlichen Anti-Aristoteliker sprachen nicht von Zuständen, aber auch nicht von Veränderungen oder Aktualisierungen von Vermögen. So hielt Spinoza fest, die Emotionen bzw. Affekte seien »Modi des Denkens« und damit Ideen.[37] Damit stellt sich wieder die Frage nach ihrer kategorialen Zugehörigkeit: Was sind Modi? Haben sie eine statische oder eine dynamische Struktur? Wie verhalten sie sich zu der Substanz, in der sie existieren? Gibt es nur einfache oder auch komplexe Modi? Lässt sich eine Emotion, die sich über eine gewisse Zeit erstreckt, als ein komplexer Modus charakterisieren? Wie grenzt sich ein solcher Modus von anderen ab? Die Antworten, die sich bei Spinoza auf diese Fragen finden, muten auf den ersten Blick seltsam an. So lehnt er es ab, selbständige Träger für die Modi anzunehmen. Damit lehnt er natürlich das den aristotelischen (und auch vielen heutigen) Autoren geläufige Modell ab, es gebe einzelne Substanzen oder selbständige Dinge, in denen die Emotionen als Zustände oder Prozesse vorkommen. Es gibt für ihn eine einzige Substanz, in der höchstens Bündel von Modi vorkommen; eine Emotion kann nur Bestandteil eines solchen Bündels sein. Wie fremd und erklärungsbedürftig dieses Modell auch erscheint, es ist gerade deshalb reizvoll, weil es eine Alternative zum heute geläufigen Modell darstellt und es nicht bloß antizipiert. Zudem macht es in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam, dass es nicht ausreicht, bloß von geistigen Zuständen zu sprechen und ihre jeweilige Genese und Wirkung zu untersuchen. Mindestens so wichtig ist es, die metaphysische Frage aufzuwerfen, um was für Entitäten es sich dabei handelt und wie sie sich zu anderen Entitäten verhalten.

Werfen wir schließlich einen Blick auf das fünfte Problem, das Zurechnungsproblem. Man könnte zunächst den Eindruck gewinnen, dieses Problem habe sich für die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren gar nicht gestellt. Sie betonten nämlich immer wieder, dass wir die Emotionen beherrschen können, ja sogar beherrschen müssen, wenn wir verantwortungsvoll handeln wollen. So behauptete Thomas von Aquin an einer berühmten, später immer wieder zitierten Stelle, dass wir die Emotionen »auf politische Weise« lenken können.[38] Descartes schloss Les passions de l’âme mit der Bemerkung ab, von den Emotionen hänge das ganze Gut und Übel unseres Lebens ab, und wir sollten alles daransetzen, ihrer Herr zu werden.[39] Montaigne gab praktische Ratschläge, wie man Gefühle der Traurigkeit und Einsamkeit überwinden kann,[40] und Spinoza widmete den ganzen letzten Teil der Ethik der »Macht des Verstandes« über die Affekte.[41] Alle diese Autoren scheinen die Emotionen durchgehend als Phänomene aufgefasst zu haben, die in unserem Zurechnungsbereich liegen: Wir können sie steuern, mäßigen oder sogar ganz überwinden. Die Frage ist nur, wie dies gelingt, nicht so sehr, ob es überhaupt möglich ist. Liest man die Ausführungen zur Regulierbarkeit der Emotionen etwas genauer, fällt aber auf, dass diese Philosophen auch einräumten, dass Emotionen uns manchmal geradezu überfallen und wir nichts gegen sie ausrichten können. Thomas wies mit Nachdruck darauf hin, dass sie vom sinnlichen – nicht vom rationalen – Vermögen hervorgebracht und manchmal einfach durch Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozesse in uns ausgelöst werden, ob wir dies wollen oder nicht.[42] Montaigne verfasste sogar einen ganzen Essay zum Problem, dass »unsere Affekte uns über uns hinaustragen«,[43] ohne dass wir etwas dagegen ausrichten können, und sowohl Descartes als auch Spinoza wiesen auf kausale Prozesse hin, die in uns aufgrund bestimmter Naturgesetze ablaufen und die sich einer rationalen Kontrolle entziehen.[44] Offensichtlich waren sie sich bewusst, dass Emotionen nicht wie auf Knopfdruck ein- oder ausgeschaltet und reguliert werden können. Dann stellt sich aber die Frage, welchen Sinn die Aufforderungen zur Beherrschung der Emotionen ergeben. Wie soll es möglich sein, etwas zu beherrschen, was sich unserer Kontrolle entzieht? Und wie sollen wir für etwas verantwortlich gemacht werden können, was uns manchmal genauso befällt wie Schmerz- oder Hungergefühle? Offensichtlich sind hier Präzisierungen erforderlich. Es muss erläutert werden, welche Emotionen gegebenenfalls kontrolliert werden können und welche nicht, und es muss auch erklärt werden, mit welchen Mechanismen eine (vielleicht auch nur beschränkte) Kontrolle erfolgen kann. Auf jeden Fall darf nicht von vornherein angenommen werden, Emotionen seien nur »niedere« Zustände, die ohnehin immer »höheren« rationalen Zuständen unterstehen und von ihnen reguliert werden. Vor allem darf in historiographischer Hinsicht nicht angenommen werden, das Zurechnungsproblem sei für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren ohnehin schon gelöst gewesen. Im Gegenteil: Gerade die Rede von passiones als Zuständen, die wir »erleiden« und trotzdem irgendwie steuern sollen, machte dieses Problem virulent.

Die kurzen Bemerkungen zu den fünf Grundproblemen reichen natürlich nicht aus, um die Lösungsstrategien und theoretischen Annahmen der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren bereits ganz verständlich zu machen. Es wird Aufgabe der folgenden Kapitel sein, die bloß angedeuteten Punkte zu erläutern und durch konkrete Textanalysen zu vertiefen. Die knappen Ausführungen machen aber hoffentlich deutlich, warum es sich lohnt, eine philosophiehistorische Perspektive zu wählen und sich intensiver mit Emotionstheorien aus der Zeit zwischen 1270 und 1670 zu beschäftigen. Wenn man nicht unkritisch von Gegenwartsdebatten ausgehen will, kann der Hauptgrund nicht darin liegen, dass diese Theorien einige Punkte antizipieren, die auch heute noch diskutiert werden, und dass man in ihnen positive oder negative Bezugspunkte für Gegenwartsmodelle findet. Dann würde man nur nach einer Hintergrundfolie für die heutigen, als verbindlich akzeptierten Modelle suchen. Wenn es sich lohnt, frühere Theorien zu untersuchen, dann vor allem, weil man dadurch unweigerlich zu philosophischen Grundproblemen hingeführt wird. Gerade die Tatsache, dass spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren teilweise mit anderen Voraussetzungen und Annahmen an diese Probleme herangingen und dass sie teilweise andere Lösungsvorschläge erarbeiteten, als man dies heute erwarten würde, macht eine Analyse ihrer Theorien verlockend. Sie ermöglichen es, andere theoretische Räume zu betreten als die heute vertrauten, die verschiedenen Räume miteinander zu vergleichen und dadurch zu einer kritischen Einschätzung zu gelangen – der gegenwärtigen Theorien ebenso wie der vergangenen.

Eine zweifache Transformation

Der Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit wird seit den einflussreichen Arbeiten von Thomas Kuhn häufig als eine Zeit der »wissenschaftlichen Revolution« bezeichnet.[45] Dies ist aber gleich in zweifacher Hinsicht irreführend. Erstens gab es keinen abrupten Theorienwechsel, in dem mechanistische Theorien unvermittelt an die Stelle von »vorrevolutionären« aristotelischen Theorien traten. Aristotelische und nichtaristotelische Theorien (und daneben auch platonische, stoische oder epikureische) bestanden vielmehr über längere Zeit hinweg nebeneinander, manchmal vermischten sie sich sogar, und die Vertreter der »modernen« Theorien bedienten sich alter Elemente.[46] Zweitens gab es auch keinen Paradigmenwechsel, in dem alte Kernbegriffe schlagartig durch neue ersetzt wurden. Es kam vielmehr zu schleichenden Umdeutungen von Begriffen, teilweise auch zu einer mehrdeutigen Begriffsverwendung. Der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin eröffnete daher ein Buch über die wissenschaftliche Revolution mit dem lakonischen Satz: »Die sogenannte wissenschaftliche Revolution hat es nie gegeben, und davon handelt dieses Buch.«[47] Ähnliches könnte man auch mit Blick auf die Philosophiegeschichte sagen: Eine Revolution, die traditionelle, vornehmlich aristotelisch ausgerichtete Theorien wegfegte, hat es nie gegeben. Das bedeutet aber keineswegs, dass nur eine Rezeption und kontinuierliche Weiterentwicklung bestehender Theorien erfolgte. Im 17. Jahrhundert wurde durchaus fundamentale Kritik an früheren Theorien geäußert, metaphysische Annahmen wurden über Bord geworfen, und methodische Prinzipien wurden neu festgelegt. Doch dies war eher ein Prozess der schleichenden Veränderung und Neuinterpretation, selbst wenn die »modernen« Autoren sich als radikale Erneuerer inszenierten, und auch dieser Prozess wird erst verständlich, wenn frühere Theorien, insbesondere die aristotelisch-scholastischen, in den Blick genommen werden. Erst dann zeigt sich nämlich, an welchen Punkten die Kritik ansetzte, was von der Kritik betroffen war und was nicht. Erst dann wird auch deutlich, wo die Möglichkeiten und Grenzen der neuen Theorien lagen. Zudem dürfen auch die Theorien vor 1600 nicht als monolithischer Block wahrgenommen werden; bereits innerhalb der aristotelischen Tradition gab es Veränderungen und Umdeutungen zentraler Begriffe. Es gilt daher, Transformationsprozesse in den Blick zu nehmen, die sich über mehrere Jahrhunderte hinzogen.

Dies gilt besonders für eine Untersuchung von Emotionstheorien, wie ein Beispiel verdeutlichen mag. Wer »vorrevolutionäre« aristotelische Theorien einfach den »modernen« gegenüberstellt, geht meistens von folgender Opposition aus: Die Aristoteliker arbeiteten mit einem Modell, das drei Teile der Seele (einen vegetativen, einen sinnlichen und einen rationalen) unterschied, und schrieben die Emotionen dem sinnlichen Teil zu. Da sie diesen Teil im Körper lokalisierten, fassten sie die Emotionen als körperlich verankerte Zustände oder als »Regungen« (motus) im Körper auf. Die frühneuzeitlichen Anti-Aristoteliker – allen voran Descartes – hingegen zielten auf eine Mechanisierung der sinnlichen Seele ab und zogen daher eine klare Trennlinie zwischen den mechanischen Vorgängen im Körper und den Ideen im Geist. Da sie die Emotionen als Ideen auffassten, ordneten sie sie im Geist an und fassten sie als »private« Zustände oder Ereignisse auf, die nur durch ein inneres Bewusstsein zugänglich sind.[48] Kurz gesagt: Es kam zu einer Verschiebung der Emotionen von der körperlich-sinnlichen auf die geistige Ebene.

Eine solche krude Opposition ist allerdings aus mehreren Gründen unangemessen. Erstens wurde das aristotelische Modell nicht einfach durch ein mechanistisches oder gar cartesisches ersetzt. Noch 1641 (also genau in jenem Jahr, in dem Descartes die Meditationes veröffentlichte) behauptete der französische Moralist Jean-François Senault, die Seele umfasse drei Teile und die Emotionen seien Bewegungen oder Regungen der sinnlichen Seele.[49] Und Eustachius a Sancto Paulos Summa philosophiae quadripartita, die das traditionelle Modell konzis zusammenfasste, wurde bis weit in das 17. Jahrhundert hinein als verbindliches Handbuch genutzt.[50] Es gab somit eine Koexistenz aristotelischer und nichtaristotelischer Modelle. Zweitens vertraten die »modernen« Philosophen nicht die simple These, Emotionen seien nichts anderes als Ideen und somit rein geistige Zustände. Wie bereits festgehalten wurde, ist es für Descartes entscheidend, dass Emotionen der Körper-Geist-Einheit zuzuschreiben sind und dass sie daher notwendigerweise körperliche Anteile haben. Natürlich erläutert er diese Anteile anders als die Aristoteliker, indem er mechanische Vorgänge und nicht etwa Prozesse der Form-Übertragung anführt. Aber damit verschiebt er die Emotionen nicht von einer körperlichen auf eine geistige Ebene, sondern interpretiert die körperliche Ebene in einem anderen theoretischen Rahmen. Auch Spinoza, der genau wie Descartes von einer mechanistischen Beschreibung des Körpers ausgeht, vertritt entschieden die These, dass Emotionen auf beiden Ebenen anzusiedeln sind, ja dass die beiden Ebenen gar nicht voneinander zu trennen sind.[51] Drittens schließlich ist festzuhalten, dass bereits im 14. Jahrhundert einige Autoren – unter ihnen prominenterweise Ockham – der Meinung waren, dass die rationale und die sinnliche Seele real verschieden sind und dass es einige Emotionen gibt, die ausschließlich im rationalen Teil existieren und nicht an körperliche Vorgänge gebunden sind.[52] Ironischerweise behaupteten also gerade einige aristotelische Autoren, dass es rein geistige Emotionen gibt, während die mechanistisch orientierten Autoren auf die körperliche Verankerung aller Emotionen hinwiesen.

Wie diese Beispiele hoffentlich verdeutlichen, wäre es kaum hilfreich, einfach die »vorrevolutionären« Autoren zu einer homogenen Gruppe zusammenzufassen und den »revolutionären« Philosophen des 17. Jahrhunderts gegenüberzustellen. Ein differenziertes Bild entsteht erst, wenn man die Modelle einzelner Denker genauer betrachtet, im jeweiligen Kontext rekonstruiert und mit alternativen Modellen vergleicht. Dabei gilt es, auf die bereits genannten Transformationsprozesse zu achten. Diese Prozesse betreffen zuallererst den metaphysischen Rahmen, denn je nach Rahmen verändert sich der Platz, der den Emotionen zugeschrieben wird. Konkret heißt dies: Wenn Ockham sich von Thomas von Aquin abgrenzt und behauptet, dass es nicht nur im sinnlichen, sondern auch im rationalen Seelenteil Emotionen gibt, und wenn er ebenfalls in Opposition zu Thomas eine reale Verschiedenheit dieser beiden Seelenteile postuliert, verändert er offensichtlich den metaphysischen Rahmen, und zwar innerhalb der aristotelisch-scholastischen Tradition. Dann gilt es zu fragen, was sowohl Thomas als auch Ockham unter Seelenteilen verstehen, wie sie die Einheit der verschiedenen Teile erklären und wie sie in den jeweiligen Teilen die Emotionen von anderen psychischen Zuständen oder Prozessen abgrenzen, etwa von Sinneswahrnehmungen (im sinnlichen Teil) und von Urteilen oder Willensakten (im rationalen Teil). Erst wenn der gesamte Rahmen deutlich wird, lässt sich der spezifische Platz der Emotionen verstehen, und erst dann lässt sich auch verstehen, welche Umdeutungen stattgefunden haben. Gleiches gilt natürlich auch für spätere Theorien, etwa für jene Descartes’ und Spinozas. Erst wenn der dualistische bzw. monistische Rahmen klare Konturen gewinnt, wird einsichtig, wie die körperlichen und geistigen Anteile der Emotionen zu verstehen sind. Erst dann wird auch einsichtig, welche aristotelischen Elemente in die beiden Rahmen integriert und welche verworfen wurden. Daher soll in den folgenden Analysen ein besonderes Augenmerk auf die Transformationen des jeweiligen metaphysischen Rahmens gerichtet werden.

Im Anschluss an das fünfte der genannten Probleme soll noch eine weitere Transformation in den Blick genommen werden. Sämtliche Autoren im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit interessierten sich nicht nur für die Frage, wie Emotionen als natürliche Zustände oder Prozesse in uns (sei dies nun in einem bestimmten Seelenteil oder in der Einheit aus Körper und Seele) entstehen, sondern mindestens so sehr auch für die weitere Frage, wie wir mit den Emotionen umgehen können, ja umgehen sollen. Sie fügten daher die metaphysischen und naturphilosophischen Untersuchungen immer in einen größeren handlungstheoretischen Kontext ein, manchmal sogar in einen moralphilosophischen. Dies zeigt sich bereits im systematischen Platz, den sie der Untersuchung von Emotionen zuwiesen. So diskutiert Thomas von Aquin die passiones animae in einem umfassenden Teil der Summa theologiae, dem ein ebenso umfassender über die menschlichen Handlungen vorausgeht und ein weiterer über die Tugenden folgt. Wichtig ist für ihn die Frage, welche Rolle die Emotionen bei der Entstehung von Handlungen spielen und wie wir durch einen kontrollierten Umgang mit den Emotionen zu moralisch Handelnden werden können. Auch für Spinoza ist trotz aller metaphysischen Differenzen zu Thomas und anderen früheren Autoren der handlungstheoretische oder gar therapeutische Kontext nach wie vor maßgeblich.[53] Auf eine Beschreibung und Klassifikation der Emotionen im dritten Teil der Ethik folgt im vierten Teil nämlich sogleich eine Untersuchung »von menschlicher Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte«, die darlegt, wie wir mit den Emotionen umgehen sollen und wie ein korrekter Umgang uns zu einem glücklichen Leben verhilft. Man könnte hier von einem rationalistisch-therapeutischen Zugang zu den Emotionen sprechen: Erst wenn wir eine Einsicht in die Genese und Struktur der Emotionen gewinnen, können wir sinnvoll mit ihnen umgehen, erst dann sind wir ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert, und erst dann können wir sie so einsetzen, dass sie uns zu guten Handlungen motivieren.[54]

Dieses spezifisch handlungstheoretische Interesse zielt auf die bereits genannte Spannung ab, durch die sich Emotionen auszeichnen. Einerseits sind sie Zustände oder Prozesse, die in uns durch die Einwirkung äußerer Gegenstände hervorgerufen werden und die in uns entstehen, ob wir dies wollen oder nicht, und die uns spontan zu bestimmten Handlungen veranlassen. Wenn etwa auf einer Wanderung plötzlich eine Schlange vor uns auftaucht und in uns spontan Vorstellungen von einem gefährlichen Tier hervorruft, können wir gar nicht anders, als in Furcht zu geraten und wegzurennen oder eine andere Fluchthandlung auszuführen. Und wenn wir vom Tod eines nahestehenden Freundes erfahren, werden wir unweigerlich von großer Traurigkeit befallen und zu entsprechenden Handlungen veranlasst. Emotionen sind Zustände, die wir im wörtlichen Sinn erleiden und häufig nicht steuern. Doch wenn wir dann auf der Wanderung das Tier genau anschauen und feststellen, dass es sich nur um eine harmlose Blindschleiche handelt, können wir unsere Furcht abbauen oder sogar ganz zum Verschwinden bringen und ergreifen nicht die Flucht. Und wenn wir überlegen, dass der Freund endlich von einer langen, schweren Krankheit erlöst worden ist, können wir die Traurigkeit abschwächen, vielleicht sogar in eine Form der Erleichterung überführen. Emotionen erweisen sich dann als Zustände, die wir sehr wohl steuern und manchmal sogar ganz tilgen können. Wie ist das möglich? Wie können Emotionen Zustände oder Prozesse sein, die wir passiv erleiden, aber auch aktiv steuern können? Und warum sind wir ihnen einerseits so ausgeliefert, dass sie unsere Handlungen vollkommen bestimmen, können sie andererseits aber auch – bildlich gesprochen – selber in die Hand nehmen und mit ihnen Handlungen auslösen? Wie kann es sogar sein, dass wir sie gezielt einsetzen, um gute Handlungen auszulösen und schlechte zu vermeiden?

Alle diese Fragen beschäftigten die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren, und zwar unabhängig davon, ob sie nun mit einer aristotelischen, einer dualistischen, einer monistischen oder – wie im Falle Montaignes – mit einer skeptischen Einstellung Emotionen analysierten. Ihr Interesse galt dem Problem, wie wir derart auf die natürlich verursachten Emotionen Einfluss nehmen können, dass wir angemessene Emotionen gewinnen, die uns zum richtigen Handeln motivieren. Oder verkürzt ausgedrückt: Sie wollten wissen, wie eine Transformation der Emotionen möglich ist. Damit trat natürlich eine Reihe von Fragen zur Rationalität von Emotionen in den Vordergrund: Sind Emotionen sinnliche Zustände, die wir durch rationale Überlegungen und willentliche Entscheidungen irgendwie in den Griff bekommen und verändern können? Oder sind sie sogar selber rationale Zustände, die wir nur in geeigneter Weise mit anderen derartigen Zuständen verknüpfen müssen? Wodurch zeichnet sich ihre Rationalität aus? Und wie ist es dann möglich, dass es trotzdem einige Emotionen gibt, die sich nicht rational kontrollieren lassen? Gibt es neben den rationalen Emotionen auch irrationale oder gar arationale?

Diese Fragen lassen sich natürlich nur sinnvoll beantworten, wenn einigermaßen klar ist, was unter rationalen Zuständen und einer Kontrollierbarkeit zu verstehen ist. Wenn etwa Thomas von Aquin behauptet, dass Emotionen als Zustände oder Prozesse des sinnlichen Seelenteils durch den rationalen Seelenteil gelenkt werden können,[55] muss erst gefragt werden, wie sich die Seelenteile zueinander verhalten und wie eine Lenkung erfolgen kann. Wenn Duns Scotus die These vertritt, wir könnten durch einen freien Willensakt bestehende Emotionen verändern oder neue hervorbringen,[56] gilt es zu fragen, wie der Wille denn wirken soll und welche Art von Freiheit hier vorliegt. Und wenn Descartes sogar betont, wir hätten eine »absolute Macht« über unsere Emotionen,[57] stellt sich ebenfalls die Frage, worin diese Macht besteht und wie sie ausgeübt werden kann. Kurzum, sobald von einer Veränderbarkeit oder gar Kontrollierbarkeit der Emotionen die Rede ist, muss geklärt werden, welche psychischen Instanzen jeweils eine Veränderung vornehmen sollen und welche Art von Veränderung überhaupt möglich ist. Dies führt natürlich wieder zu den metaphysischen Modellen zurück, mit denen die einzelnen Autoren operieren. Erst wenn ein ganzes Körper-Geist-Modell in den Blick genommen wird, lässt sich verstehen, wie die jeweiligen Kontrollmechanismen erklärt werden. Und erst wenn beim Übergang von einem Autor zu einem anderen die Veränderung des ganzen Modells beachtet wird, wird auch einsichtig, warum die Kontrollmechanismen jeweils anders erklärt werden.

Daher sollen die beiden genannten Transformationen in enger Verbindung untersucht werden: Ein genauer Blick auf die Transformation der metaphysischen Modelle soll zeigen, wie sich dadurch der theoretische Rahmen veränderte, in dem eine mögliche Transformation der Emotionen erklärt wurde. In den folgenden Kapiteln soll diese zweifache Transformation anhand konkreter Beispiele analysiert werden. Dabei können aus der Fülle von Autoren und Texten selbstverständlich nur einige wenige herausgegriffen werden. Das Ziel besteht nicht darin, einen möglichst umfassenden Überblick zu geben.[58]