Transformationen - Jürgen Rüttgers - E-Book

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Jürgen Rüttgers

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Beschreibung

Derzeit herrscht eine dezidierte Krisenstimmung. Die vielen Erscheinungsformen der gegenwärtig viel besprochenen »Zeitenwende« überfordern die Menschen: Klimakrise und Energiewende, Kriege und Spannungen der Großmächte, Migration und der Zustand Europas. Jürgen Rütters, der ehemalige Ministerpräsident NRWs, plädiert dafür, die Grundsätze unser freiheitlichen Gesellschaft nicht über Bord zu werfen und in Angst zu erstarren. Vielmehr gilt es, die Zukunft aktiv zu gestalten und eine neue Wissensgesellschaft zu formen. Er ist sich sicher: Wir können die Transformationen unserer Zeit mit einer mutigen, europäischen Politik erfolgreich meistern.

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Jürgen Rüttgers

Transformationen

Wie sich Deutschland ändern muss, um die Zukunft erfolgreich zu meistern

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Frank Preuss

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timişoara

ISBN: 978-3-451-39646-5

ISBN E-Book: 978-3-451-83149-2

Inhalt

Vorwort

1. Transformationen – ein Überblick

Bedrohte Freiheit

Klimakrise, grenzenlos

Die Zeitenwende hat sich angekündigt

Die deutsche Einheit

Entgrenzungen unseres Lebens

Die Entfremdung von Politik

2. Globalisierung als System-Wettbewerb

Die erschütterte Weltfinanzordnung

Kampf um die Wirtschaftsordnung – auch in der CDU

Bei der SPD: Agenda 2010 und Hartz IV

Die „Groko“ – und was von Merkels Reformfreude blieb

Marktwirtschaft gegen Staatswirtschaft

Mazzucatos Staatswirtschaft – und was dagegen spricht

Globalisierung: Der Wandel zur Industrie 4.0

Technologische Innovation und inklusives Wachstum in Deutschland

Die Wiederentdeckung der sozialen Marktwirtschaft

3. Ohne schädliche Klimagase – geht das?

Klimawandel oder Klimakatastrophe – wo bleibt ein Gesamtkonzept?

Der größte Klimaerfolg: der Ausstieg aus der Steinkohle

Trotz Kohleausstieg: Wo bleibt die Strategie?

Realpolitik schützt vor Ökodiktatur

Nur Verzicht sichert Überleben?

Das Geschäftsmodell Deutschland im europäischen Energiemarkt

Dringend nötig: die wasserstoffbasierte Energieunion

Europa braucht eine Energieunion!

Next Generation Solutions: Ohne die Forschung der Industrie keine Wende

4. Digitalisierung und künstliche Intelligenz

Überwältigen Informationen die Weisheit?

Wie umgehen mit der Online-Welt?

Das Ziel: technologische Souveränität

Das langsame 200-Milliarden-Paket

Multimediale Dienste sind ohne Wertefundament erfolglos

5. Die neue Wissensgesellschaft

Die Zukunft als Raum der Freiheit

Die digitale Revolution

Schule und Lernen in der Wissensgesellschaft

Bildungspolitischen Dogmatismus beenden, neue Ideen fördern

Kein Kind ohne Mahlzeit, jedem Kind ein Instrument

Humboldts Universität ist tot

Die große Hochschulreform

Der Fortschrittsgeist muss weiterleben

6. Die Wiederbelebung der Volksparteien

Wie alles begann

1945: der Neuanfang

Die sozialliberale Koalition

Neue Parteienformationen

Auf der Suche nach der Zukunft der Volksparteien

Europa und die deutsche Einheit

Generationenwechsel

Merkels langer Weg

Merkels pragmatische Politik

SPD und Union: inhaltliche Reformen

Die ökosoziale Marktwirtschaft in der CDU

Vertrauen – neu erwerben

7. Die europäische Herausforderung

Europa – auferstanden aus Ruinen

Europa – ein Staatswesen

Für Deutschland: vier Lehren aus der Geschichte

Der große Diamant: unser Wertefundament

Europa besteht nur mit Einigkeit

Reformen für Europa: fünf Vorschläge

Visionäre Führung und Empathie

Nachgedanke

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort

„Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein.“

(Friedrich Schiller)

Wenn ich in den vergangenen Jahren über unsere Zukunft nachdachte, fiel mir immer wieder auf, wie häufig der Begriff „Transformation“ genutzt wurde. Ob die Pandemie und ihre Folgen, der Krieg gegen die Ukraine, Trumps Überfall auf den Washingtoner Kongress, die Zeitenwenden oder die schlechten Wahlergebnisse der demokratischen Parteien: „Transformation“ – alle großen Veränderungen wurden so markiert. Aber es ist ja auch wahr: Wir leben in schwierigen Zeiten großer Umwälzungen. Einige seien genannt:

Noch immer arbeitet in und an uns das Ende des Kalten Krieges, wie wir ihn bis 1989 kannten. Das ist schon mehr als 30 Jahre her, und wir erinnern uns, wie glücklich die Menschen nach Mauerfall und Wiedervereinigung waren. Heute wissen wir, dass nach friedlichen Revolutionen häufig ein „postrevolutionärer Folgekonflikt“1 entsteht – so geschah es auch hier.

Auch Putins unverantwortlicher Krieg gegen die Ukraine hat Transformation zur Folge. Er will die alte Sowjetunion wiederbeleben; die alten russischen Teilstaaten sollen dem Kreml neue Macht geben. Die westlichen Demokratien wehren sich, um ihren Frieden, ihre Freiheit, ihren Wohlstand zu verteidigen.

Aus diesen und auch aus anderen Gründen sind neue Strukturen im Westen erforderlich, ob es nun um neue Technologien, um militärische Wehrhaftigkeit, um gesellschaftlichen Fortschritt, neue Erfindungen oder Zukunftsfragen geht oder um die Neuformierung supranationaler Zusammenarbeit. Nicht alle Bürgerinnen und Bürger begrüßen solche fundamentalen Änderungen. Sie wollen das Gewohnte nicht aufgeben, und für nicht wenige geht es auch darum, ihre persönliche Macht in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verteidigen. Dann greifen sie zu Mitteln illiberaler Demokratien.

Aber: Große Veränderungen ermöglichen oder erfordern immer auch Chancen, einen Neuanfang, dessen Ordnung sich oft erst noch herausbilden muss.

Ungeordnet ist beispielsweise noch die Globalisierung unserer Lebenszusammenhänge. Die Weltwirtschaft befindet sich in stürmischer Transformation, es geht um „Marktwirtschaft statt Staatswirtschaft“, und wir wissen noch nicht, wie weit sich das im weltweiten Konsens regeln lässt.

Ganz offen ist auch die Frage, was die wachsenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz mit uns machen. Wir sagen: Diese Verfahren dürfen den Menschen nicht ersetzen, was offline gilt, muss auch online gelten. Aber werden wir das durchsetzen können?

Forschung und Entwicklung führen zu immer neuem Wissen. Wissen ist nicht alles; die Verabsolutierung des Wissens ist eine moderne Selbsttäuschung. Nützlich für eine humane Gesellschaft wird es nur, wenn es von (auch innerer) Bildung begleitet wird. Die Wissensgesellschaft setzt also Bildung voraus; Bildung ist damit die heute wichtigste soziale Frage – werden wir hier in der Breite der (Einwanderungs-)Gesellschaft erfolgreich sein?

Die Wissensgesellschaft muss deshalb durch eine neue Bildungspolitik exzellente Bedingungen für die schulische Erstausbildung schaffen. Die Ausbildung junger Menschen im Betrieb und den berufsbildenden Schulen in der Bundesrepublik ist – noch – europaweit und international vorbildlich, aber wir müssen daran arbeiten, die Ressourcen verbreitern, und es muss alles dafür getan werden, dass jeder Jugendliche einen Schulabschluss erwirbt.

Wir spüren auch einen Umbruch der Volksparteien. Volksparteien alter Prägung haben ihre alten Aufgaben verloren, die neuen Aufgaben aber nicht verstanden. Weil sie geglaubt haben, sie könnten mit einer „asymmetrischen Demobilisierung“ die Wahlen gewinnen, haben sie in großem Umfang ihre Mitglieder verloren, keine neuen Mitglieder gewonnen und keine neuen Inhalte erarbeitet. Nur wenn sie einen Neuanfang beginnen, haben sie eine Chance für ihre Zukunft.2

Und schließlich: Die Modernisierung der Europäischen Union. Den so attraktiven „European Way of Life“, der unser europäisches Leben prägt, gilt es zu verteidigen durch eine fortwährende Stärkung der Europäischen Union. Die Grundlage dieser Gemeinsamkeit war und ist die deutsch-französische Freundschaft, wie sie im Élysée-Vertrag und dem Vertrag von Aachen beschworen wurde. Frankreich und Deutschland tragen eine besondere Verantwortung für den europäischen Einigungsprozess. Sie sind der Kern der Europäischen Union, deren wichtigste Aufgabe es sein muss, eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu organisieren, in transatlantischer Kooperation mit den USA. Es gilt unverändert, was der französische Europapolitiker Jean Monnet schon am 5. August 1943 erklärte: „Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn der Wiederaufbau der Staaten auf der nationalen Souveränität beruht […] Die Länder Europas sind zu klein, um ihren Völkern den Wohlstand und die soziale Entwicklung zu sichern, die erforderlich sind. Die europäischen Staaten müssen eine Föderation bilden.“3

Dabei gilt: „Man kann europäischer Deutscher sein und gleichzeitig ein deutscher Europäer.“ Mit diesem Satz illustrierte Helmut Kohl immer wieder den Gedanken, dass ein deutsches Vaterland und eine europäische Identität sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Nation, Staat und Europa sind im 21. Jahrhundert nur noch als Demokratie denkbar. Nicht der Nationalstaat, also die Identität von Staat und Nation, ist das Modell der Zukunft. Vielmehr ist es die Demokratie in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa und seinen Mitgliedstaaten, die das Überleben der Nationen – auch Deutschlands – sichert.

Vor diesem Hintergrund muss jedes Land Europas und der EU entscheiden, ob es seine Zukunft im Vereinten Europa gestalten will.

Jürgen Rüttgers

1. Transformationen – ein Überblick

„Demokratische Ordnungen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie sind Fragen nach Sinn und Leistungsfähigkeit ausgesetzt. Demokratie heißt Wettbewerb um Ideen, Programme und Ziele. Deshalb wählen wir. Deutschland und Europa müssen mehr Demokratie wagen, um das Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Und das Erreichte darf nicht zwischen den Fingern zerrinnen. Deutschland und Europa haben viel zu verlieren.“

(Jürgen Rüttgers)1

Bedrohte Freiheit

Als der „Kalte Krieg“ des letzten Jahrhunderts mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems endete, war Deutschland 50 Jahre geteilt. Damals, 1989/1990, hatten sich die Menschen in Osteuropa ihre Freiheit errungen. In Polen streikte die Gewerkschaft Solidarność für Freiheit und Gerechtigkeit, ihre Mitglieder kämpften im Untergrund gegen die kommunistische Diktatur und waren darin erfolgreich. Auch die ungarische Regierung öffnete den „Eisernen Vorhang“. In der Tschechoslowakei stellte sich der Schriftsteller und Dissident Václav Havel an die Spitze der demokratischen Bewegung. Die Letten, Esten und Litauer zeigten ihren Freiheitswillen in einer großen Menschenkette, an der sich mehr als eine Million Menschen beteiligten.

In Ostdeutschland trugen die Menschen Kerzen durch ihre Städte. Die kommunistische DDR-Regierung wurde gleichsam durch ein Straßenplebiszit abgewählt, sie war nicht mehr in der Lage, den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer, die Deutschland teilten, mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Dies war „vielleicht […] die einzige erfolgreiche Volkserhebung der deutschen Geschichte“, schreibt Tony Judt.2

Die Idee der Freiheit hatte gesiegt. Diktaturen wandelten sich zu Demokratien, die auf den westlichen Grundwerten fußten und als Rechtsstaaten mit Gewaltenteilung sowie einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit Mitglied der Europäischen Union und der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft werden konnten. Dass diese große europäische Freiheitsrevolution mit dem Resultat der deutschen Wiedervereinigung friedlich stattfand und auch noch die Zustimmung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der alliierten Siegermächte gewann – das ist das eigentlich Wunderbare.

Aber das Glücksgefühl jener Jahre ist geschwunden. Heute haben viele Menschen Angst vor der Zukunft. Sie erleben, wie sich die alte Weltordnung auflöst und das hergebrachte Gleichgewicht der Mächte schwindet. Und keiner weiß, wie die neue Ordnung der Welt sortiert sein wird.

So wie Jürgen Osterhammel für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg festgestellt hat: „Gekämpft wurde nicht für eine Verfassung, sondern um Spielräume unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle innerhalb einer bestehenden Verfassung“3, so kennt auch die postkommunistische Gegenwart im demokratischen Teil Europas solche Debatten: „Der Westen hatte im Gefühl des Sieges über die sozialistischen Staaten geglaubt, weitermachen zu können wie gewohnt. Dabei verdrängte er, dass das neue, wiedervereinigte Europa ein neues Regulierungsparadigma brauchte, um die ‚kulturelle Krise des Hyperindividualismus‘ zu überwinden.“4

Man war in der Europäischen Union nach 1989 eben nicht an einem gemeinsamen Freiheitsverständnis angekommen. Aber: Statt eine gemeinsame Zukunft im vereinten Europa aufzubauen, differieren bis heute die Interpretationen dieser notwendigen Gemeinsamkeit erheblich: In Polen, Ungarn, Italien oder Frankreich finden nationalistische, abgrenzende Ideologien neue Anhänger. Das führt zur Stärkung populistischer Parteien, die auf der Basis eines neuen Nationalismus eine regelbasierte, multilaterale und föderalistische Politik ablehnen.

Hinzu kommt der durch den russischen Präsidenten Putin gegen die Ukraine begonnene grausame Krieg, der die westlichen Demokratien, die USA sowie Europa und Deutschland vor neue Herausforderungen stellt. Sie müssen sich nun nicht nur um intensivere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit bemühen, sondern ernsthaft auch an militärischer Kooperation arbeiten, wenn das westliche Freiheitsmodell Bestand haben soll.

Insofern stellt Russlands Krieg tatsächlich eine Zeitenwende dar. Sieben Jahrzehnte lang schien es so, als seien Konflikte diplomatisch einzuhegen. Tatsächlich gelang das auch, wenngleich es bis 1989 ein kalter Friede war, fußend auf gegenseitiger militärischer Bedrohung für den Fall einer Aggression. Der Zusammenbruch des Kommunismus nach 1989 vermittelte uns das Gefühl, auf militärische Rüstung käme es nun nicht mehr an. Der Gang der Geschichte, so schien es, gab uns Anlass für eine pazifistische Konstruktion des politischen Europas – Hoffnungen, die nun zerstört sind. Mühsam – und mit viel Geld – müssen wir (beim Militär oder auch der Energiepolitik) nachholen, was in dieser Zeit der Friedensseligkeit verpasst wurde. Und wir erkennen, dass der alte Satz: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg“, der vor 1989 die Wirklichkeit bestimmte, auch jetzt wieder die Lage beschreibt. Das treibt die Menschen um.

Klimakrise, grenzenlos

Gewiss markiert auch der Klimawandel eine solche Wendezeit. Jeder weiß, dass auch sein Leben betroffen sein wird. Der Temperaturanstieg macht Teile der Erde unbewohnbarer, als sie es schon sind. Er zerstört arktische Lebensräume, er verändert die Biologie der Meere. Er sorgt für Migrationsbewegungen, die weitere soziale Verwerfungen zur Folge haben werden, wenn sie nicht in weltweiter Anstrengung gesteuert werden können.

Der Versuch, den Klimaanstieg zu begrenzen, verändert zudem die energiepolitische Landschaft. Energieerzeugung mit klimaschädlichen Gasemissionen ist unerwünscht. Die Industriegesellschaft kann daher nur überleben, wenn sie sich auf knappere Energie einstellt und hier neue Wege geht. Aber es wird ihr schwer gemacht, diese neuen Pfade zu definieren. Zwar wird Kohle, Öl und Gas jede Zukunft abgesprochen, zugleich aber schaltet die Bundesregierung CO2-freie Kernkraft ab und subventioniert fossile klimaschädliche Energieträger weiterhin.

Gleichzeitig kommen die propagierten erneuerbaren Energien nur langsam voran – seinen „Doppelwumms“ hatte sich der Bundeskanzler wohl anders vorgestellt. Der verunsicherte Bürger greift derweil wieder zum Brennholz und wirft die Kachelöfen an. Das Ergebnis: 2022 ist in deutschen Wäldern so viel Holz zur Energiegewinnung geschlagen worden wie seit der Wiedervereinigung nicht: Die Menge stieg von 11,8 auf 13,8 Millionen Kubikmeter, das ist ein Plus von 17 Prozent.5

Zugleich laufen wir auf einen dramatischen Energiewandel zu. Marc Elsbergs Roman „Blackout“6 ist deshalb zum Bestseller geworden, weil das Horrorszenario, das er darin entwirft, in den Bereich des Realistischen gerückt ist, gelebte Angst. Tatsächlich können sich diese Blackouts künftig häufig ereignen. Es ist zu wenig Strom im Netz, Blackouts können eintreten, wenn die Versorgung über einen langen Zeitraum auszufallen droht. Beim Thriller „Blackout“ war dieser bewusst herbeigeführt – aus politischen Gründen.

In der Hauptschaltleitung Brauweiler geschah dies aber am 12. Juni 2019 tatsächlich – aus ungeklärten Gründen. Fachleute nennen einen solchen Großausfall „Brownout“. Damals gelang es einem jungen 27-jährigen Ingenieur, überall Strom zu kaufen, ohne Plan, ohne Erlaubnis, für viel Geld. Er rettete die Situation.

Das Dramatische aber ist: Der Energiemangel, auf den wir zulaufen, ist nicht etwa technisch schicksalhaft über uns gekommen. Vielmehr hat Deutschland die Versorgungssicherheit von Wohnungen, von Industrie, von Mittelstands- und Handwerksbetrieben, von Rechenanlagen, von Unternehmen der Lebensmittelproduktion aus politischen und ideologischen Gründen mit jeweils bewussten Entscheidungen aufgegeben. Fatal war die Konzentration auf Gaslieferungen aus Russland, auf Windräder und Photovoltaikanlagen, die nur phasenweise Strom liefern und schon einmal wegen einer Gewitterfront ausfallen. Unsere Energienot ist eine Kette politischer Fehlentscheidungen.

Die Zeitenwende hat sich angekündigt

Den Begriff der „Zeitenwende“ hat die Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP im Jahr 2022 populär gemacht. Kanzler Scholz fasste mit diesem Begriff, geboren aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch all die Veränderungen zusammen, die sich bereits in den letzten drei Jahrzehnten auftaten. Denn schon zur Jahrhundertwende war klar, welche Umbrüche und Herausforderungen bevorstehen:

Immer mehr Menschen suchen Antworten auf die neuen Herausforderungen im Rückzug auf Bekanntes und Überschaubares. Das Erstarken fundamentalistischer Strömungen hat hier seine Ursachen. Nicht ohne Grund stößt Samuel Huntingtons These vom Zusammenprall der Kulturen auf so große Resonanz.

Auch die Chancen der internationalen Information und Kommunikation, die faszinierende Entwicklung des Internets, werden überlagert von Gegenbewegungen und Gefährdungen. Clifford Stoll, der zu den Pionieren des Internets zählt, warnt heute vor der Gefahr der Entmenschlichung in einer Wüste von Datenmüll. Politischer Radikalismus, verschiedene Formen von Kriminalität und Pornografie haben in den Rechnernetzen eine neue Heimat gefunden. Auch eine neue gesellschaftliche Spaltung wird befürchtet: hier jene, die über Computerkompetenz verfügen, und dort solche, die als Computeranalphabeten ein neues Proletariat bilden: Angeschlossene und Ausgeschlossene.

Angekündigt hatte sich auch der fortwährende Konflikt zwischen Marktwirtschaft und Demokratie. Trotz der Auflösung des kriegerischen Gegensatzes von Kapitalismus und Kommunismus und der Entwicklung einer globalen Marktwirtschaft zeigt sich, dass Marktwirtschaft und Demokratie keineswegs natürliche Schwestern sind. Das eine (Marktwirtschaft) funktioniert ohne das andere (Demokratie) – das zeigt sich am deutlichsten am Beispiel asiatischer Länder, vor allem Chinas.

Seit Längerem schon stellen wir fest, dass durch die Globalisierung die politischen Systeme der Nationalstaaten unter erheblichen Anpassungs- und Legitimationsdruck geraten sind. Nationale Regelungsräume verlieren an Einfluss. Es verwundert nicht, dass die faktische Entwertung der Nation zu emotionalen Gegenreaktionen führt – zu neuem Nationalismus.

Auch die internationalen Finanzinstitutionen müssen – wir spüren es seit Langem – angepasst werden. Sie spiegeln die Realität der Globalisierung nicht mehr wider. Extreme Auswüchse von Finanzmarktspekulationen und Wettbewerbsverzerrungen erfordern neue internationale Spielregeln. Seit der Asienkrise und den Entwicklungen in Russland wird über dieses Thema wieder verstärkt nachgedacht. Für manchen ist jedoch die Forderung nach neuen Instanzen zur Reglementierung einer Weltgemeinschaft ein willkommener Vorwand, sich die Mühe der Erarbeitung freiheitlicher Konzepte zu ersparen und so von unzureichenden Antworten im eigenen Land abzulenken.

Und schließlich ist die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme eine weitere Unwägbarkeit, die sich durch den verschärften Wettbewerbsdruck mit neuer Dringlichkeit stellt. Nationalstaatliche Systeme sind diesem besonders ausgesetzt. Wenn sich die Art, wie Menschen arbeiten, verändert, dann geraten Systeme, die durch Arbeit finanziert werden, in große Schwierigkeiten. Wer sie als reine Kostenfaktoren ansieht, wird zu Sozialabbau neigen. Wer aber erkannt hat, dass ihr Funktionieren Voraussetzung für positive Veränderungen ist, wird sie in modifizierter Form zu retten versuchen.

Die deutsche Einheit

Zu den glücklichen Momenten der deutschen Geschichte gehört, dass Deutschland 1990 die Wiedervereinigung letztlich mit Zustimmung unserer europäischen Partner friedlich vollziehen konnte. Aber historische Wendungen sind oft das Ergebnis politischer Entscheidungen, die lange zurückliegen. So wäre ohne die Politik Konrad Adenauers, des ersten Kanzlers der Bundesrepublik, die deutsche Einheit nicht möglich geworden. Er verankerte Deutschland fest im Westen und damit in der neuen Demokratie Europas. Sein festes Ziel war eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, darauf waren seine politischen Entscheidungen gerichtet.

Helmut Kohl konnte in den Jahren des Mauerfalls und der Wiedervereinigung davon Gebrauch machen. Arnulf Baring lobt im Rückblick, „wie schnell 1989/90 Bundeskanzler Helmut Kohl die unerwartete Chance begriff, die sich uns bot. Er hat sie sofort beherzt und zugleich vorsichtig genutzt. Die Sozialdemokraten hingegen ließen eine große geschichtliche Chance vorübergehen, auf die sie doch mit der neuen Ostpolitik Willy Brandts nach 1969 ursprünglich selbst hingearbeitet hatten. Wie schon in der Gründungsphase der alten Bundesrepublik verkannten sie wieder die Zeichen der Zeit.“7

Frank Becker betont einen anderen Aspekt, der den Bürgern Wendemut und europäische Gesinnung abverlangt: „Damit schuf der Kanzler politische Fakten, die unmissverständlich klarmachten, dass Deutschland keine Hegemonie in Europa anstrebte, sondern in Europa aufgehen wollte – in einem Europa, das möglichst allen Staaten jene Freiheitsrechte gewährte, von denen die Deutschen 1989/1990 profitierten. Kohl war also ein ‚Kanzler der Einheit‘, sogar in einem doppelten Sinn. Er setzte sich für die Einheit Europas ebenso ein wie für die Einheit Deutschlands.“8

Viele Menschen fühlen sich angesichts dieser fundamentalen Veränderungen überfordert. Sie suchen nach Sicherheit und fordern die Rückkehr nationalstaatlicher Grenzen. Aber welchen Weg wir auch immer gehen: Von der Faszination „des normativen Projekts des Westens, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie“9 dürfen wir nicht ablassen. Das ist die Verpflichtung, die aus den Veränderungen des Jahres 1989 für uns erwächst.

Entgrenzungen unseres Lebens

„Entgrenzung“ ist nicht nur eine politische Beschreibung. Der Begriff beschreibt auch Veränderungen des Raumes, von globalen Zusammenhängen, von politischen, wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Grenzen. Und diese „Entgrenzungen“ beruhen heute (mehr als in obrigkeitsstaatlicher Vergangenheit) auf individuellen Entscheidungen.

Von solchen Entgrenzungen haben die Menschen viele erlebt. Es sind solche, die fremdbestimmt über sie gekommen sind, und andere, die Menschen autonom für sich vornehmen, die Spielräume ihrer Freiheit nutzend.

Am spürbarsten sind jene Entgrenzungen, die die Globalisierung mit sich bringt. Die Taktzahl des wirtschaftlichen Wettbewerbs hat sich beschleunigt. Denn es geraten unterschiedliche Wirtschaftssysteme mit unterschiedlichen Kostenvoraussetzungen miteinander in einen Wettbewerb um Märkte und Preise, der die Sicherung der von uns geschätzten sozialen Marktwirtschaft erschwert. Es wird schwieriger, ihr Versprechen von Wohlstand, Solidarität und Chancengleichheit einzulösen. Das macht Menschen Angst vor der Zukunft.

Natürlich führen solche Veränderungen immer auch zu erneuten ordnungspolitischen Debatten. Mehr denn je kommt es jedenfalls auf Wissen an, auf Bildung also und Forschung, auf die besseren Ideen. Wissen ist neben Arbeit, Boden und Kapital längst ein weiterer bedeutsamer Produktionsfaktor.

Zusammen ergibt das wieder Sinn. Globalisierung und Wissensgesellschaft können eine neue Wirtschaftsentwicklung entstehen lassen, die sich für alle Menschen positiv auswirkt und die auch unser sozialpolitisches Versprechen sichern kann – wenn wir mithalten. Denn das Tempo der Wissensvermehrung ist gewaltig. Alle fünf bis sieben Jahre verdoppelt sich das weltweit verfügbare Wissen. Die Zahl der Computer mit Internetzugang steigt jährlich um etwa vier Prozent. Die Zahl der Internetnutzer steigt rasant: Im April 2022 nutzten 63 Prozent der Weltbevölkerung das Internet, 1995 waren das noch weniger als ein Prozent.

Mag die Mehrheit der Menschen der Richtung einer politischen Entwicklung aber auch zustimmen (wie das bei der deutschen Einheit war), so suchen viele Zeitgenossen doch verstärkt nach Überschaubarkeit. Sie wollen zurück in eine „gute alte Zeit“, die es jedoch nie gab.

Die Summe aller heute erlebten „Entgrenzungen“ hat erhebliche psychologische Folgen. Politische Verantwortung kann daher nicht mehr allein bedeuten, das allgemeine Leben einer Gemeinschaft zu organisieren – Nahrung, Wohnung, Bildung, Sicherheit. Politik muss mehr denn je individualwohlorientiert und daher überaus kommunikativ sein, sie muss einen demokratischen Diskurs organisieren, der über Verlautbarungen im Internet hinausgeht, um eine valide öffentliche Meinung entstehen zu lassen. Umfassender als bisher muss man berücksichtigen, dass die Entscheidungen, die die Gremien einer repräsentativen Demokratie treffen, auf individuelle Empfindlichkeiten und Reaktionen stoßen. Das macht eine proaktive Kommunikation notwendig.

Die Entfremdung von Politik

Auch die Veränderungen der Parteienlandschaft sind Zeichen einer Transformation. Früher verfügten wenige Parteien über jeweils relativ große Stimmanteile, sie durften sich zu Recht als Volksparteien verstehen. Das hat sich geändert: Kleine Interessengruppen nähren eigene Parteien; die Zahl der Stammwähler nimmt von Wahl zu Wahl ab; in Deutschland gibt es auch keine die Parteien tragenden Milieus mehr.

Die Macht, die die Parteien einmal hatten, ist stark reduziert, ihre feste Basis geschwunden. Die Arbeiter wählen nicht mehr selbstverständlich die SPD, der Mittelstand und das Handwerk sowie die Beamten nicht mehr automatisch die CDU, die Unternehmer nicht mehr FDP, die „Ossis“ nicht mehr Linkspartei. Die AfD wird nicht nur von Rechtsradikalen und Querdenkern gewählt, sondern vor allem von Protestwählern. Die Grünen haben ein städtisches Milieu entwickelt, das jetzt dazu führt, dass sie in einem großstädtischen Umfeld neben Listenmandaten auch Direktmandate erringen können. In Kommunalwahlen stellen die Grünen inzwischen auch Oberbürgermeister/-innen.

Der Anteil der Nichtwähler ist problematisch hoch. 2021 hat sich fast ein Viertel der Wahlberechtigten nicht an der Bundestagswahl beteiligt.10 Viele Bürgerinnen und Bürger wenden sich „mit Grauen ab von einer Politik, die sie als Spektakel empfinden. In der Berliner Arena, so scheint es manchmal, führt eine Laienschar ein Stück auf, wie es die Brüder Grimm nicht phantastischer hätten ersinnen können. Das Märchen von einer Regierung, die auszog, das Fürchten zu lernen. Zum Fürchten sind die jüngsten Urteile der Bevölkerung über den Zustand von Staat und Politik. Die Entfremdung wächst und wird endemisch.“11

Über diese Umwege politischer Überforderung produziert die Politik selbst jenen Verdruss und jene Vertrauenskrisen, denen sie zunehmend zum Opfer fallen könnte. Sie sind die selbst aufgestellte Falle der Diskrepanz von Allmachtsofferten und Einlösungskompetenz.

61 Prozent der repräsentativ Befragten sind überzeugt, dass „keine Partei“ mit den Problemen in Deutschland fertigwerde, nur ein Drittel glaubt, dass die vier relevanten koalitionsfähigen politischen Parteien dazu in der Lage seien. Auch vertrauten aktuell nur noch 30 Prozent der Deutschen den Parteien, nur noch 29 Prozent der Bundesbürger denken, ihr Staat sei kompetent und handlungsfähig.12

Es fehlt also nicht nur an Vertrauen in die Transformationskompetenz, sondern auch an Führung, die solches Vertrauen wiederherstellt.

2. Globalisierung als System-Wettbewerb

„Ein eventuell besseres wirtschaftliches Modell muss heute wohl mehr als sonst von einer tieferen existentiellen und sittlichen Veränderung der Gesellschaft ausgehen. […] Es ist also nicht so, dass die Einführung eines besseren Systems automatisch ein besseres Leben garantiert, sondern eher umgekehrt – nur durch ein besseres Leben kann man wohl auch ein besseres System aufbauen.“

(Václav Havel)

Die erschütterte Weltfinanzordnung

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts brach eine weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise aus. Die Welt stand am Abgrund. Mit dem Konkurs der amerikanischen Bank Lehman Brothers und der Verstaatlichung großer Unternehmen begann eine neue Form von Staatswirtschaft. Aus Angst vor einer Rezession und hoher Arbeitslosigkeit wurden weltweit bis dato unvorstellbar hohe Rettungssubventionen verteilt.

Als am 16. September 2008 die globalen Geldmärkte einfroren, begann „die erste Krise eines globalen Zeitalters“.1 Es war ein „ernüchterndes historisches Fazit. Innerhalb von nur fünf Jahren hatten sowohl die außen- als auch die wirtschaftspolitische Elite der Vereinigten Staaten, des mächtigsten Staats der Welt, ein demütigendes Scheitern erlebt.“2

Aber es blieb nicht bei einem amerikanischen Problem. Zwar lag dort die Verantwortung, aber gleichzeitig implodierte auch die Londoner City. In vielen anderen Staaten, insbesondere in den EU-Staaten, ergaben die Haushalts- und die Handelsdefizite die gleichen Probleme. Es wurde nun schwieriger, Geld von ausländischen Geldgebern zu bekommen. Die „twin deficits“ folgten unterschiedlichen Drehbüchern und erlebten unterschiedliche Entscheidungen. In der Eurozone drehte sich, beobachtete Adam Tooze, alles „in erster Linie um die Politik und die Verfassung der Eurozone“.3 Dennoch versuchte Ben Bernanke als Präsident der FED, „jener Clique aus Banken, ihren Aktionären und den dreist absahnenden Führungsleuten Kredite in Höhe von Billionen Dollar zur Verfügung zu stellen […] Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ging mindestens die Hälfte der zur Verfügung gestellten Hilfsmittel, obwohl die Federal Reserve eine nationale Zentralbank ist, an Banken, die ihren Sitz nicht in den Vereinigten Staaten, sondern überwiegend in Europa haben.“4

Seit 2009 ist die amerikanische Wirtschaft kontinuierlich gewachsen. „Im Gegensatz dazu trieben die Verantwortlichen der Eurozone durch mutwillige Entscheidungen Millionen Bürger in eine mit den 1930er-Jahren vergleichbare Depression. Das war eine der schwersten selbst verschuldeten wirtschaftspolitischen Katastrophen der Geschichte. Dass ausgerechnet das winzige Griechenland mit einer Volkswirtschaft, die 1 bis 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU ausmacht, zum Dreh- und Angelpunkt für diese Katastrophe gemacht werden sollte, lässt die europäische Geschichte zu einer bitteren Karikatur erstarren.“5

Obwohl der deutschen Bundeskanzlerin auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene eine gemeinsame Politik der Stabilisierung immer wieder empfohlen wurde, weigerten sich deutsche und andere europäische Politiker, denjenigen Mitgliedstaaten finanzielle Hilfe anzubieten, die kurz vor dem Staatsbankrott standen. Erst Anfang Mai 2010 änderte die deutsche Bundesregierung ihre Meinung und schloss sich dem amerikanischen Drängen an. Fortan galt die CDU als „Umfallerpartei“, wenngleich die Hilfe für Griechenland unausweichlich war. „Um zu verhindern, dass Griechenland ‚ein weiterer Lehman‘ wurde, mobilisierten die Amerikaner den IWF, das sinnbildliche Geschöpf des klassischen Globalismus der Nachkriegszeit, um das Europa des 21. Jahrhunderts zu retten. […] Erst im Juli 2012 stabilisierte sich Europa.“6 Die Krise hatte viele Folgen – eine davon war, dass die CDU-geführte NRW-Landesregierung die Landtagswahl am 9. Mai 2010 verlor.

Kampf um die Wirtschaftsordnung – auch in der CDU

Die Finanzkrise verstärkte die Debatten um unsere Wirtschaftsordnung, die schon länger liefen. Schon mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Sozialismus hatte sich vielerorts eine ungeregelte Marktwirtschaft durchgesetzt, die diese Debatten provozierte. Mit den „Chicago Boys“, die Anhänger des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Ministerpräsidentin Margaret Thatcher waren, entwickelte sich eine neue Form des Liberalismus. Die in Deutschland fälschlicherweise „Neoliberalismus“ genannte Form der Marktwirtschaft konnte sich weitgehend durchsetzen. „Ihr Argument gegen die Soziale Marktwirtschaft war: Der Markt allein ist schon sozial. Wenn der See steigt, dann haben alle im Boot etwas davon.“7

Diese Theorie vom „Washington Consensus“8, dessen Credo staatliche Sparsamkeit, Liberalisierung der Handelspolitik, Deregulierung von Märkten und Privatisierung war, wurde vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in einer großen Zahl von Volkswirtschaften durchgesetzt.

Auch in Deutschland gab es eine intensive Debatte in allen Parteien des Bundestages über die Zukunft des Wirtschafts- und Sozialsystems in einer globalen Wirtschaft. In der unter dem Begriff „Neoliberalismus“ geführten Diskussion wurde behauptet, dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar sei. Wie stark aber sollte der Staat eingreifen in die finanzielle Absicherung der Lebensrisiken: Alter, Invalidität, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Armut und zumeist auch Arbeitslosigkeit?

Die CDU führte diese Diskussion um den Grad der Freiheit in der sozialen Marktwirtschaft ebenfalls. Unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog wurde mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel ein neues Wirtschafts- und Sozialprogramm entworfen. Nach einer Reihe von Regionalkonferenzen wurde es auf dem Leipziger Parteitag am 1.12.2003 beschlossen.9 Der veranlasste „politische Druck auf die Sozialpolitik, der sich innerhalb der Union deutlich bemerkbar machte, verstärkte sich in den folgenden Jahren durch Vorgaben der Europäischen Union […] Hinzu kamen zu diesem Zeitpunkt noch unklare finanzielle Folgen im Rahmen der Deutschen Einheit, […] [und] der gesamtdeutschen Krise von 1993–1996.“10

Da war es schwer, den bisherigen expansiven Kurs der Sozialpolitik zu halten, der seine deutlichste Ausformung in der 1995 eingeführten Pflegeversicherung fand, die Norbert Blüm initiiert hatte. Sie beförderte die Sozialleistungsquote, also die Summe aller Sozialleistungen in Prozent des BIP, von 27,6 Prozent im Jahre 1995 auf 28,8 Prozent im Jahr darauf, 1991 (dem ersten Jahr des gesamtdeutschen Budgets) waren es noch 24,9 Prozent gewesen.11 Als dann die rot-grüne Koalition diese Quote ab 1998 weiter nach oben trieb, wuchs der Druck auf Angela Merkel, eine sparsamere Sozialpolitik zum Markenzeichen der CDU auf der Suche nach einem validen Oppositionskern zu machen. Die alte sozialpolitische Garde war abgetreten, der Wirtschaftsflügel der CDU unter Friedrich Merz führte diese Debatten nun an. So kam es zum Leipziger Parteitag 2003, der eine polarisierte Debatte über den zukünftigen sozialpolitischen Kurs der Union auslöste.

Ihr kam entgegen, dass die Herzog-Kommission eine maßgebliche Ursache für die deutsche Wachstumsschwäche in den hohen Sozialversicherungsbeiträgen sah. Im Ergebnis sprach sich die CDU in Leipzig (wenn auch gegen harte innerparteiliche Widerstände) für ein Prämiensystem in der Gesundheitsversicherung aus, um damit die unternehmerischen Wachstumskräfte zu stärken. Das war ein Systemwechsel, weg von der rein beitragsbezogenen Solidarversicherung, ein – wie die Kanzlerin es ausdrückte – „Befreiungsschlag zur Senkung der Arbeitskosten“. Aber „dieser Befreiungsschlag wurde vor allem von den Vertretern des christlich-sozialen Flügels, allen voran Norbert Blüm, als Verabschiedung aus der Solidarität begriffen“.12

Und da in Leipzig zugleich auch die Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik flexibilisiert werden sollte, um Wachstum zu fördern und Arbeitslosigkeit abzubauen, „sprachen viele von der Freidemokratisierung der Union“.13

Den neuen Beschlüssen der CDU war jedoch kein langes politisches Leben beschieden. Das Wahlergebnis 2005 war für die CDU so knapp, „dass die CDU fortan marktradikalen Reformen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Stattdessen setzte sie nunmehr wieder auf Reformen innerhalb des Systems.“14

Bei der SPD: Agenda 2010 und Hartz IV

Auch die SPD hatte eine Debatte hinter sich über die Frage, wie man die sozialpolitischen Leistungen an die Möglichkeiten anpassen konnte. Ergebnis waren die „Agenda 2010“ und die „Hartz-IV-Gesetze“. Deren Positionen waren vom damaligen Kanzleramtsminister Bodo Hombach entwickelt worden, zunächst 1999 mit dem „Schröder/Blair-Papier“, mit dem eine unter Europas Sozialdemokraten abgestimmte angebotsorientierte Sozialpolitik „von links“ abgesteckt werden sollte. Gerhard Schröder konnte diese Gesetze 2003 nur mit großem persönlichen Einsatz im Bundestag durchsetzen. Es ging ihm um eine „aktivierende Wirtschafts- und Sozialpolitik“, die Sozialleistungsempfänger stärker motivieren sollte, sich selbst um Arbeit zu bemühen.

Die Agenda 2010 enthielt eine Vielzahl von Vorschlägen, um das finanziell angeschlagene Sozialsystem zu sanieren. Die Absenkung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von 32 auf zwölf Monate beziehungsweise 18 Monate bei über 50-Jährigen, eine Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, die unter dem Begriff Hartz IV bekannt wurde, sowie eine Auflösung der sogenannten Deutschland AG, einer Vernetzung der deutschen Großunternehmen durch persönliche Verflechtungen auf Vorstands- und Aufsichtsratsebene, stellten eine tiefgreifende Reform des Sozialsystems dar. Die eigentumsrechtliche Verflechtung der deutschen Großindustrie wurde – unterstützt von erheblichen Steuervorteilen – beendet.

Die entsprechenden Maßnahmen trafen auf Zustimmung der Union, wenngleich Angela Merkel 2003 bei den Reformen aufgrund der Beschlüsse des Leipziger Parteitages auch noch schärfer hätte einschneiden wollen.15

Die „Groko“ – und was von Merkels Reformfreude blieb

Von dieser Reformfreude Merkels blieb freilich nicht viel. 2005 hatte die nordrhein-westfälische CDU einen bedeutenden Wahlsieg gegen die SPD errungen, was auch zur Auflösung des Bundestages und Neuwahlen führte. Angela Merkel gelang ein knapper Wahlsieg, so konnte sie in einer Koalition mit der SPD Bundeskanzlerin werden. Von Merkels sozialpolitischen Vorstellungen waren die Sozialdemokraten freilich nicht begeistert, die SPD „mochte die ‚Liberalisierung-Agenda‘ nicht mittragen und setzte sich sogar für eine Rücknahme vieler Reformen ein, die sie selbst unter Gerhard Schröder beschlossen hatte. Einzige Ausnahme blieb die Erhöhung des Renteneintrittsalters, für die sich vor allem der sozialdemokratische Sozialminister Franz Müntefering eingesetzt hatte und die gegen erheblichen Widerstand der eigenen Partei verwirklicht wurde.“16

Immerhin gelang es der SPD, die Reformen der Agenda als ursächlich für die im internationalen Vergleich schnelle und positive Überwindung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Weltfinanzkrise in Deutschland darzustellen. Die Verluste in der Wählerschaft konnte sie trotzdem nicht mehr wettmachen.17

Als stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender plädierte ich damals für den „Blick zurück nach vorn“. Denn der Erfolg der Marktwirtschaft hängt wesentlich von der Existenz einer geistig-moralischen Rahmenordnung ab, für die der freie Markt gesichert ist. Sozial bedeutet nicht, dass der Staat jederzeit Subventionen und Staatsprogramme verteilt. Vielmehr kommt es darauf an, für die nötige Balance zwischen Freiheit, Deregulierung und Wettbewerb auf der einen Seite und soziale Absicherung und Gerechtigkeit auf der anderen Seite zu sorgen.18

Volker Kronenberg hat meine Position damals so beschrieben: „Gerät die ordnungspolitische Balance […] in Gefahr, beispielsweise im Zuge des Leipziger Parteitages der CDU, als seine Partei die ‚argumentationsfaul‘ […] als ‚alternativlos‘ präsentierte Agenda-Politik von Gerhard Schröder durch noch weitreichendere Reformbeschlüsse überbieten wollte, zog [er] die Reißleine: Er warnt vor ‚Lebenslügen‘ seiner Partei, begründet, warum Marktwirtschaft sozial bleiben muss, und kämpft innerparteilich für eine Korrektur des einseitigen Reformkurses von Leipzig, indem er in Dresden einen Parteitagsbeschluss erwirkt, der auf eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmer zielt […] nicht zufällig unterstützt vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Stoiber.“19 In Leipzig bekam ich damals das schlechteste Wahlergebnis, in Dresden war ich der Gewinner. In Hannover war die CDU bei der Verabschiedung eines Grundsatzprogrammes wieder als „die Volkspartei der Mitte“ positioniert, sozialpolitisch, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch.

Marktwirtschaft gegen Staatswirtschaft

Zu den Leitentscheidungen eines jeden Staates gehört die Grundfrage, wie das Verhältnis von Markt und Staat balanciert sein soll. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde diese Debatte mit Verve geführt. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft war da eine wesentliche Grundlage für den Erfolg des Wiederaufbaus: nämlich traditionelle, liberale Ordnungsvorstellungen zu überwinden und die Funktion des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs wiederherzustellen.

Alfred Müller-Armack nahm bei der Erörterung des Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft auf die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik Bezug. Außerdem wurden die Arbeiten von Wissenschaftlern wie Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zugrunde gelegt. Und so konnten Konrad Adenauer und Ludwig Erhard nach der gewonnenen ersten Bundestagswahl am 20.9.1949 im Bundestag feststellen: „In der Frage ‚Planwirtschaft‘ oder ‚Soziale Marktwirtschaft‘ hat das deutsche Volk sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgesprochen.“20

Das hatte gute Gründe. Sie liegen in den sieben Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Das ist der Wettbewerb als Regelungs- und Preisfindungsmechanismus, weil er wirksamer und gerechter als staatliche Ge- und Verbote ist (Wettbewerbsprinzip). Eigenverantwortung soll belohnt und nicht bestraft werden (Anreizprinzip). Leistung muss sich lohnen (Leistungsprinzip). Den Schwachen, die sich selbst nicht helfen können, soll geholfen werden (Solidarprinzip). Investitionen in die Zukunft sind für die Allgemeinheit wichtiger, statt nur den Konsum zu fördern (Investitionsprinzip). Niemand darf diskriminiert und in seinen Lebenschancen behindert werden (Fairnessprinzip). Nachhaltiges Wirtschaften ist wichtiger für das Überleben der Menschheit als kurzfristiger Profit (Nachhaltigkeitsprinzip).21 Das hat das Nachkriegsdeutschland demokratisch stabilisiert.

Anderswo ist es nicht so gut verlaufen. Polen, Tschechien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien, die Mitglieder der NATO und nur teilweise Mitglieder der Europäischen Union geworden sind, kämpften in postsozialistischen Zeiten mit starken Problemen. „Noch in den 1990er Jahren [wurde] eine zunächst solide erscheinende Demokratie von führenden Eliten torpediert. […] Nur in wenigen Transformationsstaaten hat sich eine stabile Demokratie entwickelt, und die Entwicklungen in Ungarn und Polen haben gezeigt, wie rasch demokratische Institutionen erodieren können, wenn die regierenden Eliten sie angreifen. Auch in Slowenien und Tschechien gibt es durchaus Anzeichen für den Bedeutungszuwachs nepotistischer und/oder populistischer Eliten. Der allgemeine Trend geht in Richtung eines ‚antidemocratic turn‘ – nicht nur in Mitteleuropa. Auch in Russland und Belarus haben Repression und Willkürherrschaft in den vergangenen Jahren nochmals deutlich zugenommen. […] In den autokratischen und re-autokratisierten Staaten verläuft die Wirtschaftsentwicklung insgesamt flacher und auf niedrigerem Niveau als in den konsolidierten Demokratien.“22

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen den neuen EU-Mitgliedstaaten sowie Russland hat sich signifikant auseinanderentwickelt. Während beispielsweise Estland und Russland 1993 auf gleichem Niveau waren, liegt das BIP in Estland heute um 50 Prozent höher als das russische. Infolge des von Putin begonnenen Ukrainekrieges wird sich die Schere weiter öffnen.

Natürlich hat dieser Wohlstandserfolg marktwirtschaftlich organisierter Staaten mit Systemfragen zu tun. Deshalb birgt auch die Globalisierung große Chancen, wenn sie ordnungspolitisch richtig organisiert wird. Das aber ist nicht für jeden sofort offensichtlich. Denn für viele ist das Wort „Globalisierung“ zur Chiffre für Zukunftsängste geworden. Sie beobachten, dass Globalisierung auch Abwanderung von Forschung und Produktion (und damit von Arbeitsplätzen) ins Ausland bedeuten kann, dass auch Kapital und Investitionen exportgefährdet sind.

Auch kann die Freude über die Wiedervereinigung von Europa und Deutschland und die damit verbundene „große europäische Freiheitsrevolution“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb und außerhalb Europas neue politische, ökonomische und gesellschaftliche Krisen entstanden sind, die zu erheblichen Belastungen führten und sich nicht allein durch eine freiheitliche Ordnungspolitik auflösen. Für die Demokratien ist deshalb wichtig, die Werte von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft immer wieder offensiv darzustellen.

Mazzucatos Staatswirtschaft – und was dagegen spricht

Seit einiger Zeit wirbt die Ökonomin Mariana Mazzucato weltweit dafür, die marktwirtschaftlichen Systeme künftig einer stärkeren staatlichen Steuerung zu unterwerfen. Mazzucato, die zu den einflussreichsten Ökonominnen unserer Zeit gehört, ist insoweit eine geistige Erbin von John Maynard Keynes, von dem der Satz stammt: „Nicht das ist wichtig für den Staat, dass er die gleichen Dinge etwas besser oder etwas schlechter ausführt, die heute bereits von Einzelpersonen getan werden, sondern dass er Dinge tut, die heute überhaupt nicht getan werden.“23

Sie will, dass der Staat „die Richtung vorgeben“ soll, die Ideen aber sollen „von unten heraufsprudeln“.24