Transkulturelle Altenpflege - Ulrike Lenthe - E-Book

Transkulturelle Altenpflege E-Book

Ulrike Lenthe

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Beschreibung

Die steigende Anzahl pflegebedürftiger älterer Menschen aus anderen Kulturkreisen stellt neue Anforderungen an die professionelle Altenpflege. Die existenziellen Bedürfnisse der Menschen sind zwar in allen Kulturen annähernd gleich, unterscheiden sich jedoch in ihrer kulturellen und religiösen Akzentuierung. Diese kulturelle Vielfalt bedeutet für die Transkulturelle Altenpflege eine konsequente Orientierung an dem zu pflegenden alten Menschen, seinen Bedürfnissen und seiner Biografie. Dabei steht nicht das Trennende im Zentrum, sondern das allen Kulturen grenzüberschreitend Gemeinsame und Verbindende. Ein Buch für alle Personen, die im Pflegealltag mit älteren, fremdsprachigen KlientInnen in Kontakt kommen.

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Ulrike Lenthe

Transkulturelle Altenpflege

Ulrike Lenthe, MAS, DGKP; akad. gepr. Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, akad. gepr. Krankenhausmanagerin, Absolventin des European Health Leadership Programme am King’s Fund Management College, London. Auslandspraktika in Dänemark, England, Italien, im Nahen Osten, Südafrika und Ostasien. Pflegedirektorin des Alten- und Pflegeheimes Marienheim-Betriebsgesellschaft mbH, Bruck/Leitha. Seminare und Vortragstätigkeit in der Fort- und Weiterbildung für Pflege- und Sozialberufe in den Bereichen transkulturelle Pflege und Pflege von Menschen mit Demenz.

Bei allen personenbezogenen Bezeichnungen gilt die gewählte Form für beide Geschlechter. Wird die feminine Form verwendet, so ist dies ausdrücklich gewollt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorin oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

1. Auflage 2019

Copyright © 2019 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Universitätsverlag, 1050 Wien, Österreich

Umschlagbild: Galushko Sergey, shutterstock.com

Lektorat: Sabine Schlüter, Wien

Satz: Wandl Multimedia

Druck: finidr

Printed in the E.U.

ISBN 978-3-7089-1491-6

e-ISBN 978-3-99030-760-1

Jeden drückt wohl menschlich Leiden, der noch auf der Erde weilt,Wenn das Leben lang sich dehnte, eh der Mensch sein Ziel erreicht.

Aischylos, „Die Perser“, 472 v. Chr.

Über dieses Buch

Die Pflege und Betreuung von älteren Menschen mit Migrationshintergrund ist für die professionelle Altenpflege ein bekannter Faktor: Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Österreich gekommenen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten haben ein Alter erreicht, in dem Pflegebedürftigkeit zum Thema geworden ist. Diese älteren Migranten verbringen ihren Lebensabend in Österreich, sind vielfach österreichische Staatsbürger geworden, und die Praxis zeigt, dass Klienten mit Migrationshintergrund in der institutionellen Altenpflege längst keine Einzelfälle mehr sind. Die vage Befürchtung, dabei mit fremdartigen kulturellen und religiösen Verhaltensweisen konfrontiert zu werden, kann bereits im Vorfeld dazu führen, dass ältere pflegebedürftige Migranten im Altenheim als Problemgruppe angesehen werden. Das trifft allerdings nach meiner praktischen Erfahrung keinesfalls zu. Um Grenzen zwischen Kulturen transparent zu machen bzw. zu überwinden, bedarf es ganz einfach auf beiden Seiten einer Einstellung von Verständnis und Toleranz – sowohl bei den Klienten und ihren Angehörigen als auch bei den Pflegepersonen: nämlich die Sichtweise des anderen zu akzeptieren und zu respektieren.

Im Grunde münden alle Bedürfnisse stets in den Wunsch nach größtmöglicher individueller Pflege. So wird auch der Wunsch, kulturelle oder religiöse Gewohnheiten zu berücksichtigen, nicht nur von Klienten mit Migrationshintergrund geäußert, sondern ebenso von einheimischen Klienten. Kulturelle Vielfalt in der Altenpflege ist schon längst nichts Neues. Denn bereits seit vielen Jahren werden einheimische Klienten von Pflegepersonen mit Migrationshintergrund und nichtdeutscher Muttersprache professionell gepflegt. Auch bedarf kulturelle Vielfalt keiner großen Distanzen, regional bedingte kulturelle Unterschiede finden sich auch bei einheimischen Klienten.

Bei öffentlichen Diskussionen zum Thema Pflege von älteren Migranten taucht allerdings immer wieder die Forderung nach ethnienspezifischen Alten- und Pflegeheimen auf. Das ist jedoch weder flächendeckend möglich, noch ist es sozialpolitisch sinnvoll, Menschen nach einem jahrzehntelangen Integrationsprozess im Alter wieder zu separieren. Transkulturelle Altenpflege erfordert nicht, für ältere pflegebedürftige Migranten eine spezifische Pflege zu konstruieren, da die professionelle personenzentrierte Pflege selbstverständlich auch eine auf die Bedürfnisse von Migranten angepasste Pflege miteinschließt.

Die ältere Migrantengeneration ist eine heterogene und überaus vielschichtige Bevölkerungsgruppe. Sämtlichen Angehörigen dieser Gruppe ist jedoch eines gemeinsam: Ältere Migranten haben dieselben Bedürfnisse, Erwartungshaltungen und Alltagsbefindlichkeiten wie auch alle anderen älteren und alten Menschen einer Gesellschaft. In ihrem Falle kommen allerdings noch wesentliche lebensgeschichtliche Faktoren hinzu. Das reicht von ihrer Migrationsgeschichte über die Prägungen durch Religion und Alltagskultur ihres Herkunftslandes bis hin zu ihrem Ausdrucksvermögen in der Sprache des Aufnahmelandes.

In der transkulturellen Altenpflege ist es für die Pflegepersonen daher von grundlegender Bedeutung, sich bereits zu Beginn der pflegerischen Beziehung einen ersten Überblick über die lebensgeschichtliche Faktenlage des Klienten zu verschaffen. Wie dies durch das methodisch geführte Erstgespräch und eine kontinuierliche Biografiearbeit erreicht werden kann, will ich hier mit aufzeigen. Was Klienten bewegt, ihre Migrationsmotive, über welche Ressourcen sie verfügen, wo ihre Grenzen liegen, somit ihre vorhersehbaren normativen Verhaltensweisen und inwiefern diese für die Pflege von Bedeutung sind, wird anhand von kultur- und sozialanthropologischem Datenmaterial aufgezeigt und mit praktischen Beispielen aus der Altenpflege aktuell dargestellt. Ein eigenes Kapitel ist der transkulturellen Altenpflege von Klienten mit Demenz gewidmet. Da für die ältere Migrantengeneration in erster Linie die Offenbarungsreligionen relevant sind, habe ich in diesem Buch auch nur auf Christentum, Islam und Judentum Bezug genommen.

Das Wissen um kulturelle Rituale und Tabus, verbunden mit Ritualen der Wertschätzung, hat sich meiner Erfahrung nach gleich zu Beginn jeder Pflegebeziehung immer wieder als „Türöffner“ bewährt.

Transkulturelle Altenpflege erhebt keinesfalls den Anspruch, alle soziokulturellen oder religiösen Bedürfnisse und Wünsche von Klienten erfüllen zu können, einerlei, ob es sich dabei um Klienten mit Migrationshintergrund handelt oder um einheimische. Mit diesem Buch will ich aufzeigen, welche Grenzen dabei bestehen und wie die Vielfalt von Menschen aus sehr unterschiedlichen Alltagskulturen und Lebenswelten in der transkulturellen Altenpflege erfolgreich zur Synthese geführt und integriert werden kann.

Wien, im Juni 2018

Ulrike Lenthe

Inhaltsverzeichnis

1Transkulturelle Altenpflege – das Gebot der Stunde

1.1Kulturelle Vielfalt in der Altenpflege

1.2Lebensweltorientierung in der Altenpflege

1.3Das Konzept der Transkulturalität

1.4Transkulturelle Kompetenz in der Altenpflege

2Konturen von älteren Menschen mit Migrationshintergrund

2.1Politische Hintergründe zur Flüchtlingsmigration

2.2Arbeitsmigration durch Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte

2.3Ethnische, sprachliche und religiöse Hintergründe

2.4Aspekte der soziokulturellen Integration

3Religiöse Identitäten in der transkulturellen Altenpflege

3.1Christentum

3.2Islam

3.3Judentum

4Das Erstgespräch als vertrauensbildende Maßnahme

4.1Rituale der Wertschätzung

4.2Small Talk – eine positive Atmosphäre schaffen

4.3Pflegerelevante Informationen erfragen

4.4Die Pflege vereinbaren

5Biografiearbeit – der Schlüssel zum gegenseitigen Verstehen

5.1Die Biografie – mehr als ein Lebenslauf

5.2Die Lebensgeschichte als Hintergrund für die Pflege

5.3Lebensgeschichtliche Erfahrungen älterer Menschen mit Migrationshintergrund

5.4Biografiearbeit – Achtsamkeit und Empathie als Grundvoraussetzungen

6Soziale Beziehungen erhalten und neue gestalten

6.1Angehörige als zentrale Bezugspersonen

6.2Ethnische und religiöse Netzwerke erhalten

6.3Feste gemeinsam feiern

6.4Die soziale Integration fördern

7Anforderungen an die Pflege bei Klienten mit Migrationshintergrund

7.1Die Verständigung sicherstellen

7.2Den Glauben als Bestandteil des Alltags leben können

7.3Ernährungsgewohnheiten und religiöse Vorschriften beachten

7.4Besonderheiten der Körperpflege und der Bekleidung berücksichtigen

8Schmerzbewältigung aus transkultureller Sicht

8.1Der Schmerz als Phänomen des Alters

8.2Die willentliche Schmerzbewältigung

8.3Die familiäre Schmerzbewältigung

8.4Die religiöse Schmerzbewältigung

9Die Demenz in der eigenen Kultur leben können

9.1Demenz – eine Betrachtungsweise

9.2Kulturspezifische Konzepte von Demenz

9.3Pflegerelevante Aspekte bei Migranten mit Demenz

10Religiöse Begleitung am Lebensende

10.1Christentum: Auferstehung und ewiges Leben im Reiche Gottes

10.2Islam: Der Tod als Brücke in den Paradiesgarten

10.3Judentum: Der Tod gehört zum Leben wie die Nacht zum Tag

10.4Sterbehilfe aus religiöser und rechtlicher Sicht

Literaturverzeichnis

Transkulturelle Altenpflege – das Gebot der Stunde

Jede individuelle Ansicht eröffneteine einzigartige Perspektive auf eine größere Realität.Wenn ich die Welt „mit Ihren Augen“ sehe,und Sie die Welt „mit meinen Augen“ sehen,werden wir beide etwas erkennen,was wir allein niemals entdeckt hätten.

Peter Senge

Bis vor wenigen Jahren hat sich noch niemand Gedanken darüber gemacht, dass Menschen mit Migrationshintergund einmal ein hochaktuelles Thema für die Altenpflege sein könnten. Zum einen gab es noch kaum Menschen mit Migrationshintergrund im pflegebedürftigen Alter, zum anderen bestand sowohl von gesellschaftspolitischer Seite als auch von den Migranten selbst die Annahme, dass sie nach der beruflichen Phase wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren würden, um dort ihren Lebensabend zu genießen. Auch setzten viele Migranten im Alter auf die Familie, wie sie es aus ihrer Heimat gewohnt sind. Wie allerdings die demografische Entwicklung zeigt, sind viele Migranten entgegen ihren Rückkehrabsichten geblieben und nicht nur alt, sondern auch pflegebedürftig geworden. Selbst wenn ältere Migranten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung institutionelle Pflegeleistungen noch unterdurchschnittlich in Anspruch nehmen, wird sich dies in naher Zukunft ändern. Das gilt nicht nur aufgrund der sich wandelnden demografischen Strukturen, sondern auch, weil die für ältere Migranten bislang bereitgestellten familiären Unterstützungspotenziale, bedingt durch veränderte soziale Normen, Lebensstile und Lebensentwürfe der nachfolgenden Generationen, nicht mehr im heutigen Umfang zur Verfügung stehen werden. Die meisten Kinder und Enkelkinder sind berufstätig und haben für die Pflege keine Zeit; zudem braucht es für viele Betreuungsaufgaben in zunehmendem Alter auch professionelle Unterstützung. Aus allen diesen Gründen ist mit einem Anstieg des Bedarfs an transkultureller Altenpflege zu rechnen.

1.1Kulturelle Vielfalt in der Altenpflege

Kulturelle Vielfalt in der Altenpflege ist nicht nur ein Schlagwort, sondern auch zunehmend ein Abbild der aktuellen Realität, da sowohl Pflegepersonen als auch Klienten vielfach aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen stammen. So pflegen etwa slowakisch-, ungarisch- oder polnischstämmige Pflegepersonen nicht nur einheimische Klienten, sondern auch Klienten mit einem türkischen oder serbischen Migrationshintergrund; auch treffen christliche Pflegepersonen auf muslimische Klienten und ebenso umgekehrt.

Die Heterogenität der Klienten sowie jene der Pflegepersonen bezieht sich dabei nicht nur auf die nationale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Religion, Sprache, Bildung, Traditionen und Gewohnheiten, sondern umfasst auch weltanschauliche, philosophische oder ethnische Komponenten. Ebenso wenig beschränkt sich die kulturelle Vielfalt nur auf Menschen mit Migrationshintergrund, denn wie die Praxis zeigt, braucht es für die kulturelle Vielfalt in der Altenpflege keine großen Distanzen. Es ist trügerisch, zu glauben, kulturelle Unterschiede gäbe es nur zwischen In- und Ausländern, obgleich ferne Länder und fremde Religionen meist dennoch eine gewichtigere Rolle spielen. Kulturelle, religiöse und sprachliche Unterschiede gibt es auch innerhalb von nationalen Grenzen, da räumliche und soziale Mobilität insgesamt variable Orientierungen hervorbringen können. Wie sehr dabei scheinbar Vertrautes zu Unsicherheit führen kann, zeigt folgendes Beispiel:

Vor einigen Jahren fragte ich eine aus Apetlon (burgenländische Gemeinde im Osten des Neusiedler Sees) stammende Klienten: „Frau H., wollen Sie Marmelade auf das Brot?“ Die Antwort darauf war: „Wos?“ Obwohl ich wusste, dass die Klientin nicht schwerhörig war, fragte ich sie ein zweites Mal, und ihre Antwort war wieder: „Wos?“ Ein sich in unmittelbarer Nähe aufhaltender Pfleger erklärte mir dann, dass die Klientin „Obaleounarisch“ (Apetlonerisch) spricht, und auf Apetlonerisch heißt Marmelade „Lekwa“.

Obwohl in Österreich Deutsch gesprochen wird, gibt es in manchen Regionen stark ausgeprägte Dialekte und Akzente, sodass auch die Verständigung auf Deutsch nicht immer einfach ist. So etwa, wenn ein niederösterreichischer Klient eine aus Vorarlberg stammende Pflegeperson fragt, was es heute zum Essen gäbe, und darauf die Antwort erhält: „Hüt gits Schübling“ („Heute gibt es Knackwürste“).

Die kulturelle Vielfalt innerhalb von nationalen Grenzen zeigt sich aber nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch an vielen anderen Faktoren. So können die Unterschiede zwischen einem zu pflegenden Lehrer und einem zu pflegenden Bauern aus ein und demselben Land größer sein als zwischen einem einheimischen Arbeiter und einem aus Ex-Jugoslawien. Auch finden sich sogar unterschiedliche religiöse Praktiken bei Menschen desselben Glaubens. Nicht jeder österreichische Katholik betet regelmäßig den Rosenkranz, isst am Freitag fleischlos und geht jeden Sonntag in die Heilige Messe. Viele richten sich nach keinem Fastengebot, besuchen den Gottesdienst nur unregelmäßig oder gar nicht und bezeichnen sich dennoch als Katholiken.

Dieselben Phänomene sind aber auch bei Klienten mit Migrationshintergrund zu finden. So spricht etwa nicht jeder türkischstämmige Klient Türkisch und nicht jeder aus Ex-Jugoslawien stammende Serbokroatisch. Ebenso gelten nicht für jeden Muslim alle fünf Säulen des Islam oder das Verbot des Konsums von Schweinefleisch. Darüber hinaus kann aufgrund biografischer Ähnlichkeiten ein österreichischer Klient mit einem Klienten mit Migrationshintergrund mehr Gemeinsamkeiten haben als mit einem anderen einheimischen.

Diese Beispiele beleuchten die kulturelle Vielfalt unter den pflegebedürftigen Menschen, auf deren spezifische Bedürfnisse eine professionelle Pflege einzugehen hat. Unabhängig davon, ob es sich etwa um einen einheimischen Christen, Juden, Atheisten, Vegetarier oder um einen Klienten mit Migrationshintergrund handelt: Sie alle haben den gleichen Anspruch auf transkulturelle Pflege.

1.2Lebensweltorientierung in der Altenpflege

Lebensweltorientierung in der Altenpflege bedeutet, dem auf Pflege angewiesenen alten Menschen ein möglichst hohes Maß seiner bisherigen Lebensqualität zu erhalten und die Verbindung zu seinem bisherigen Leben nicht abreißen zu lassen.

Lebensweltorientierte Pflege hat somit ihren Ausgangspunkt im Alltag und richtet ihren Fokus darauf, dem alten pflegebedürftigen Menschen ein Höchstmaß an individueller Normalität zu erhalten. Im Vordergrund steht nicht bzw. nicht allein das Ziel, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens die Gesundheit wiederherzustellen bzw. zu erhalten, denn dieses Ziel kann oftmals nicht erreicht werden. Vorrangig ist vielmehr, den auf Pflege angewiesenen alten Menschen zu fördern und zu unterstützen, um ihm bei Behinderung oder Krankheit die bestmögliche Selbstständigkeit sowie in allen abhängigen Lebenssituationen die größtmögliche Selbstbestimmung zu erhalten. Dabei ist stets die Prämisse „so viel Normalität und Eigenverantwortung wie möglich und so viel Pflege wie nötig“ zu berücksichtigen. Auch wenn es sich bei den Klienten der Altenpflege in der Regel um eine besonders vulnerable Gruppe handelt, kann man davon ausgehen, dass es sich nicht zwangsläufig um kranke, sondern vor allem um pflegebedürftige Menschen handelt. Wenngleich die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen im Alter zunimmt, ist Altsein an sich noch keine Krankheit.

Während in der Akutpflege die Klienten das Krankenhaus meist nach kurzer Zeit wieder verlassen, erstreckt sich die Altenpflege häufig über viele Monate oder Jahre, in den meisten Fällen bis hin zum Lebensende. Demzufolge sind auch die Begleitung von Sterbenden und der würdevolle Umgang mit Verstorbenen ein wesentlicher Bestandteil der Altenpflege. Unabhängig davon, ob die Pflege im häuslichen Umfeld oder im Altenheim stattfindet, kommt es aufgrund der langfristigen Betreuung zwischen Klienten und Pflegepersonen zu nachhaltigen Gemeinschaften, die einer ständigen Balance zwischen persönlichen und professionellen Beziehungen bedürfen.

Die drei zentralen Leitideen der lebensweltorientierten Pflege sind laut Kämmer: Vertrautheit, Autonomie und Partizipation (vgl. Kämmer, 2015, S. 42 f.). Die sich unmittelbar aus diesen zugrunde liegenden Leitideen ergebenden Kernstrategien zielen dabei auf

•die Herstellung von Vertrautheit durch eine offene Biografieorientierung, eine individuelle, anregungsorientierte Tagesgestaltung sowie durch die Integration der Angehörigen;

•die Sicherung der Autonomie durch eine positive Beziehungsgestaltung, eine selbstständigkeitsorientierte Kommunikation und eine fördernde Pflege;

•das Fördern von Partizipation durch diskrete Pflege und Begleitung, soziale Teilhabe und aktive Beteiligung, Aufrechterhalten individueller Normalität und vertrauter Alltagsabläufe sowie durch ein therapeutisches Bündnis (Pflege, sozialer Dienst und Hauswirtschaft) als Grundlage der Lebensgestaltung.

Die Lebensweltorientierung hat in der Altenpflege insofern eine besondere Relevanz, da sie dem alten pflegebedürftigen Menschen ein Höchstmaß an Normalität erhält und somit einen Zugewinn an Lebensqualität bedeutet.

1.3Das Konzept der Transkulturalität

Kulturen sind heutzutage nicht mehr homogen, sondern miteinander verflochten und zeichnen sich durch Vernetzungen aus, in denen spezifische Lebensformen nicht an den Grenzen der Nationalkulturen enden. Nach Takeda sind „Im Zuge der Globalisierung und Migration […] die modernen Kulturen nach innen hin pluralisiert, nach außen hin frei und offen, in ständiger Bewegung und endlosem Austausch. Eine rigorose Trennung zwischen Eigenem und Fremdem besteht nicht mehr, sondern man findet Eigenes in Fremdem und Fremdes in Eigenem wieder“ (Takeda, 2012, S. 56).

Kulturelle Identität kann daher nicht mehr unreflektiert mit nationaler Identität gleichgesetzt werden, da die kulturelle Formation eines Menschen nicht mehr zwingend mit seiner Nationalität oder Staatszugehörigkeit zu tun hat. Zeitgenössische Identitäten vereinen zunehmend mehr Elemente verschiedener kultureller Hintergründe in sich. Dies gilt nicht etwa nur für Migranten, sondern in der globalisierten Welt zunehmend für jedermann, somit auch für Klienten und Pflegepersonen in der Altenpflege: Identitäten, die sich nicht im Spannungsfeld zwischen den Kulturen bewegen, sondern jenseits von Eigenkultur und Fremdkultur denken und durch verschiedene Kulturen hindurch leben, prägen zunehmend den pflegerischen Alltag.

Das für die Begriffsbedeutung von „transkulturell“ maßgebliche lateinische Verhältniswort trans meint „über (etwas) hinweg bzw. jenseits (von etwas)“ (vgl. Heinichen, 1881, S. 888). Das Wort trans bringt schon selbst die über Grenzen hinwegschreitende, über das Kulturelle hinausgehende Dimension zum Ausdruck.

Das Konzept der Transkulturalität betrachtet Kultur nicht als statischen Zustand oder als Norm, sondern als einen sich stetig verändernden Prozess. Der kulturelle Prozess wird dabei als eine flexible individuelle Verdichtung aus biografischen, soziografischen und ökologischen Faktoren angesehen. Individuelle Werteordnungen, Traditionen, unterschiedliche Lebenswelten werden in die Betrachtung des menschlichen Handelns und Verstehens einbezogen. Transkulturalität ist ein verstehendes Konzept, das über das bloß Kulturelle hinausgeht und den Blick auf Gemeinsamkeiten statt auf Unterschiede richtet, ohne jedoch die Unterschiede zu negieren bzw. zu verleugnen. Die transkulturelle Altenpflege stellt daher nicht das Trennende ins Zentrum, sondern das allen Kulturen grenzüberschreitend Gemeinsame und Verbindende. Wie bereits aufgezeigt, dringt Transkulturalität nicht nur auf der gesellschaftlichen Makroebene, sondern ebenso auch auf der individuellen Mikroebene vor. Viele Menschen sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Dies trifft auch in der Altenpflege zu: Denn sowohl Klienten als auch Pflegepersonen sind zunehmend in sich transkulturell. Das machen u. a. die beiden nachfolgenden Beispiele deutlich:

Herr Dr. Z., ein 87-jähriger Klient, wurde in Liberec (Tschechien) geboren. Als im Mai 1945 die Sowjetarmee vorrückte und die dort ansässige deutschsprachige Bevölkerung enteignet und vertrieben wurde, flüchteten Herr Dr. Z. und seine ältere Schwester mit ihrer Mutter zu Verwandten nach Österreich. Gleich im Herbst 1945 setzte er seine Schullaufbahn in einem katholischen Stiftsgymnasium fort. Nach der Matura studierte er Welthandel und promovierte zum Doktor der Handelswissenschaften. Seine Berufslaufbahn begann er in einem internationalen Konzern, der ihn als Projektmanager in den Libanon entsandte. Dort lernte er seine Frau Fariza kennen. Da es im Islam verboten ist, dass eine muslimische Frau einen nichtmuslimischen Mann heiratet, musste Herr Dr. Z. zum Islam konvertieren.

Die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin Zoryana G. wurde in der Nähe von Charkiw (Ukraine) geboren. Neben ihrer Muttersprache Russisch spricht sie Ukrainisch und Deutsch. Bevor sie der Liebe wegen nach Österreich gekommen ist, hat sie bereits in der Ukraine monatelang Deutsch gelernt. Da sie im ukrainischen Alltag ausschließlich kyrillisch schrieb, musste sie auch ihre Kenntnisse des lateinischen Alphabets, das sie bereits im Englischunterricht gelernt hatte, auffrischen. Und nachdem Zoryana G. russisch-orthodoxe Christin ist, ihr Mann und seine Familie aber römisch-katholische Christen sind, kommt sie in den Genuss, Weihnachten gleich zweimal zu feiern: nämlich am 24. Dezember und am 6. Jänner.

Nach dem Konzept der Transkulturalität werden nicht Fremde aus einer anderen Kultur gepflegt, sondern Menschen mit individuellen körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Schwächen, Überzeugungen und Erfahrungen. Jeder Mensch hat dabei Bedürfnisse und Verhaltensmechanismen, die durch die eigene Kultur geprägt sind. Auch wenn diese über die kulturell-religiösen Grenzen hinweg variieren, sind nicht selten die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien im Wesentlichen die gleichen. Wie nachfolgendes Beispiel zeigt, sind anscheinend als fremd wahrgenommene Bedürfnisse und Verhaltensweisen häufig nur scheinbar fremd: Oft sind sie bloß nicht mehr bekannt bzw. in Vergessenheit geraten.

Das Tragen eines Kopftuches ist nicht nur für eine Muslima oder eine Jüdin, sondern auch für eine Christin ein Ausdruck von Frömmigkeit sowie ein Zeichen ihres Glaubens. So ist das Kopftuchgebot für Muslimas Bestandteil der islamischen Ethik und ein Gebot der islamischen Morallehre. Entsprechend dem Koran können die Haare einer Frau beim anderen Geschlecht eine gewisse Begierde erregen und müssen daher verhüllt werden (Sure 24:31; 33:55, 59). Das Tragen eines Kopftuchs ist für eine Muslima daher kein Zeichen von Unterdrückung, sondern dient vielmehr dem Schutz ihrer Würde und Ehre.

Traditionsgemäß bedecken jüdische Frauen ihr Haar entweder mit einem Kopftuch (jidd. Tichl) oder einer Perücke (jidd. Scheitl). Im Gegensatz zum Islam gilt die Kopfbedeckung hier nicht unbedingt als Symbol von weiblicher Sittsamkeit, sondern als Hinweis darauf, dass eine Frau verheiratet ist und ihr Leben nach den Gesetzen der Tora führt. Die biblische Grundlage dafür liegt in der ersten Begegnung zwischen Rebekka und Isaak: Als Rebekka zum ersten Mal ihren zukünftigen Mann Isaak erblickte, nahm sie den Schleier und verhüllte sich (1 Mo 24:64-65).

Bis spät in das 19. Jahrhundert hinein war es auch für christliche Frauen selbstverständlich, ihr Haupt mit einem Schleier, einem Kopftuch, einer Haube oder einem Hut zu bedecken. Sie erfüllten damit ein Gebot des Apostels Paulus, der die Frauen aufgefordert hatte, „um der Engel willen“ beim Gebet ihr Haupt zu bedecken (1 Ko 11:5-13). Heute sind es Ordensfrauen, die in frommer Pflichterfüllung den Schleier tragen und damit symbolisch zum Ausdruck bringen, dass sie an Gott gebunden sind. Allerdings trifft man in der Altenpflege noch immer auf Klientinnen, die ein Kopftuch tragen, und dies sowohl im Alltag als auch beim sonntäglichen Kirchbesuch. Was heute für viele Tradition ist, entstammt ursprünglich dem christlichen Glauben. Wie sehr sich die religiöse Kopfbedeckung in unserem Alltag eingefunden hat, unabhängig davon, ob man gläubig oder Atheist ist, zeigt das Beispiel des Brautschleiers.

1.4Transkulturelle Kompetenz in der Altenpflege

Um die unterschiedlichen kulturell spezifischen Bedürfnisse und Wünsche der pflegebedürftigen Klienten zu erkennen und auf sie eingehen zu können, ist transkulturelle Kompetenz erforderlich. Damit bezeichne ich die Fähigkeit, kulturelle Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Empfinden, Denken, Entscheiden und Handeln bei sich selbst und bei anderen zu erkennen und zu respektieren sowie in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren.

Nach Uzarewicz (vgl. 2003, S. 32 f.) ist transkulturelle Kompetenz eine erweiterte Form der sozialen Kompetenz und Teil des professionellen Handelns. Transkulturelle Kompetenz ist demnach auch Teil der professionellen Pflege und stellt nicht „Kulturen“ ins Zentrum, sondern die Interaktion zwischen Pflegepersonen und Klienten mit unterschiedlichen kulturellen Bedürfnissen. Transkulturelle Kompetenz soll verhindern, dass Klienten auf ihren jeweiligen kulturellen Kontext reduziert werden, indem etwa christlichen Pflegebedürftigen an Freitagen unreflektiert Fisch serviert wird, muslimische Pflegebedürftige hartnäckig auf die Verrichtung ihrer Pflichtgebete aufmerksam gemacht werden oder jüdischen Pflegebedürftigen die Menora auf den Tisch gestellt wird, ohne dass sie den Wunsch danach geäußert haben.

Auch ist transkulturelle Kompetenz kein statischer Zustand, sondern ein lebenslanger, offener Prozess. Der Erwerb transkultureller Kompetenz erfordert lebenslanges Lernen und ist Bestandteil einer fortdauernden Persönlichkeitsentwicklung. Ausgangspunkt für die Entwicklung von transkultureller Kompetenz ist eine grundsätzlich positive Haltung und Einstellung gegenüber interkulturellen Situationen sowie Offenheit für kulturelle Vielfalt und ein neugieriger, unvoreingenommener Umgang mit Menschen aus fremden Kulturen.

Transkulturelle Kompetenz erfordert unter anderem folgende Schlüsselqualifikationen:

•Die Bereitschaft zur Selbstreflexion: Dies bedeutet zum einen, die eigene kulturelle, religiöse oder ethnozentrische Weltsicht nicht absolut zu setzen, sondern sie zu relativieren. Zum anderen bedeutet es, sich der kulturspezifischen Weltsicht der Klienten bewusst zu werden und diese wertneutral zu akzeptieren. Die Selbstreflexion kann zu einer affektiven Neubewertung der fremden Denk- und Verhaltensweisen führen. Das Neue kann emotional angenommen, die Ablehnung bzw. Angst vor dem Fremden kann reduziert, Vorurteile können verhindert werden. Nicht zuletzt führt Selbstreflexion auch zur Veränderung eigener kultureller Muster.

•Die Bereitschaft, sich Wissen