Transkulturelle Pflegepraxis - Ulrike Lenthe - E-Book

Transkulturelle Pflegepraxis E-Book

Ulrike Lenthe

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Beschreibung

Migration stellt auch die Gesundheits- und Krankenpflege vor große Herausforderungen. Die Anzahl pflegebedürftiger Klienten mit unterschiedlicher kultureller, religiöser und ethnischer Prägung steigt. Ihre Bedürfnisse nicht zu erkennen, kann eine effiziente und effektive Pflege gefährden. Pflegende sind daher gefordert, mögliche Missverständnisse im Rahmen eines transkulturellen Pflege-Assessments zu erheben, Pflegehandlungen und Pflegetechniken mit dem Klienten abzusprechen und im Einklang mit dessen kulturellen und religiösen Empfindungen umzusetzen. Der anwendungsorientierte Wegweiser „Transkulturelle Pflegepraxis“ zeigt auf, wie transkulturelle Pflege angelegt und im Alltag erfolgreich realisiert werden kann.

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Ulrike Lenthe Transkulturelle Pflegepraxis

Ulrike Lenthe

Transkulturelle Pflegepraxis

Bedürfnisse erheben – erwägen – erfüllen

Ulrike Lenthe,

MAS, DGKS; akad. gepr. Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, akad. gepr. Krankenhausmanagerin, Absolventin des European Health Leadership Programme am King’s Fund Management College, London. Auslandspraktika in Dänemark, England, Italien, im Nahen Osten, Südafrika und Ostasien. Pflegedirektorin des Alten- und Pflegeheimes Marienheim-Betriebsges. m. b. H, Bruck/Leitha. Seminare und Vortragstätigkeit in der Fort- und Weiterbildung für Pflege- und Sozialberufe in den Bereichen transkulturelle Pflege und Pflege dementierender Klienten.

Bei allen personenbezogenen Bezeichnungen gilt die gewählte Form für beide Geschlechter. Wird die feminine Form verwendet, so ist dies ausdrücklich gewollt.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfaltiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Copyright © 2016 Facultas Verlags- und Buchhandels AG facultas Universitätsverlag, 1050 Wien, ÖsterreichAlle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.Umschlagbild: © KittyKat, www.fotolia.de Lektorat: Sabine Schlüter, Wien Satz: Florian Spielauer, Wien Druck: finidr, Tschechien Printed in the E. U.ISBN 978-3-7089-1390-2 print ISBN 978-3-99030-688-8 epub

Wer sich selbst und andre kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Johann Wolfgang von Goethe

Über dieses Buch

Dieses Buch handelt von der Praxis der transkulturellen Pflege und somit vom Alltag der Pflegepersonen bei der Interaktion mit Menschen aus anderen Kulturen. Es zeigt anhand von zahlreichen Beispielen auf, wo im täglichen Umgang mit Klienten aus fremden Kulturen Anlässe für Missverständnisse bestehen und bietet praxisbezogene Lösungsansätze zu ihrer Vermeidung.

Die transkulturelle Pflege beansprucht keineswegs, sämtliche pflegerelevanten Bedürfnisse der Alltagskultur von Migranten erfüllen zu können. Vielmehr sollen Klienten mit Migrationshintergrund bestmöglich in die Regelversorgung eingegliedert und dabei ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse angemessen berücksichtigt werden. Damit beschäftigt sich Kapitel 1.

Wie man die Bedürfnisse, Probleme und Ressourcen gemeinsam mit dem Klienten optimal erheben und auf dieser Basis eine individuelle Pflegeplanung erstellen kann, habe ich in Kapitel 2 dargestellt. Zugleich zeige ich dabei Wege auf, wie eine vertrauensvolle Beziehung als Grundlage für den Pflegeprozess aufgebaut werden kann.

Pflegepersonen müssen zumindest ansatzweise wissen, woher ihr Klient stammt, warum er sein Heimatland verlassen hat und welchen rechtlichen Status er besitzt. In Kapitel 3 gehe ich daher ausführlich auf migrationsgeschichtliche Aspekte ein.

Die multikulturelle Vielfalt der unterschiedlichen Alltagskulturen ist weitgehend durch die jeweilige Religion bestimmt. Die Pflegepersonen brauchen daher Grundkenntnisse über die Religion ihrer Klienten, um erheben zu können, welche religiöse Erwartungshaltung der jeweilige Klient in Bezug auf die Pflege mitbringt. Dazu habe ich die Grundlagen der fünf Weltreligionen sowie mögliche religiöse Bedürfnisse in Kapitel 4 dargestellt.

In der pflegerischen Praxis stellt die Kommunikation mit Klienten aus anderen Kulturen eine besondere Herausforderung dar: wie Sprachbarrieren überwunden, wie Missverständnisse in der nonverbalen Kommunikation vermieden werden können, die Bedeutung von Nähe und Distanz sowie der Umgang mit Zeit sind oft gestellte Fragen, auf die in Kapitel 5 praxisbezogen eingegangen wird.

In diesem Buch wird auch über Tabugrenzen gesprochen – also darüber, worüber man in unterschiedlichen Kulturen „nicht spricht“ und was man „nicht tut“ (Kapitel 6). Ebenso ist die Familienorganisation des Klienten ein wesentlicher Aspekt für eine erfolgreiche Pflege. Er wird umso bedeutender, je mehr sich die Familienstrukturen von unserem kulturellen Muster unterscheiden. Wie diesen Tatsachen im Sinne einer erfolgreichen Pflege begegnet werden kann, stelle ich in Kapitel 7 ausführlich dar.

Pflege bedeutet nicht überall auf der Welt für alle Klienten und Pflegende das Gleiche. Informationen darüber, wie unterschiedlich Pflege vom Standpunkt anderer Kulturen aus gesehen werden kann, zeige ich in Kapitel 8, „Pflegekultur“, auf.

Vielfach bestehen auch Auffassungsunterschiede über Ursachen und Entstehung von Krankheiten, über die Wirksamkeit von Behandlungsmethoden sowie über Gesundheitsvorsorge. Auf diese Ursachen und was sie für die transkulturelle Pflegepraxis bedeuten, gehe ich in Kapitel 9 ein.

Als irritierend kann auch die unterschiedliche Art der Schmerzäußerung und -bewältigung empfunden werden. Wie man andere, bisher nicht bekannte Formen der Schmerzäußerung und -bewältigung im Pflegealltag erkennen und damit Fehleinschätzungen vermeiden kann, wird in Kapitel 10 beschrieben.

Die aktuelle Flüchtlingssituation stellt auch die Pflege vor besondere Herausforderungen. Daher bringe ich im Anhang aktuelle Daten und Zahlen sowie Antwort auf Fragen wie: Woher stammen die meisten Flüchtlinge? – Welche Sprachen sprechen sie? – Welche religiösen und ethnischen Hintergründe haben Flüchtlinge?

Als pflegerelevantes Nachschlagewerk zeigt dieses Buch die wesentlichen Unterschiede zwischen der eigenen Alltagskultur und fremden Kulturen auf und beschreibt sie. Anhand von Beispielen wird dargestellt, wie sich diese kulturbedingten Verschiedenheiten erfolgreich in die tägliche Praxis integrieren lassen.

„Transkulturelle Pflegepraxis“ ist damit ein anwendungsorientierter Wegweiser für die transkulturelle Pflege von Klienten aus fremden Kulturen.

Ulrike Lenthe Wien, im Februar 2016

In dieses Buch habe ich einige Texte aus meinem Werk „Transkulturelle Pflege. Kulturspezifische Faktoren erkennen – verstehen – integrieren“ (Facultas, 2. Auflage 2016) aufgenommen.

Inhaltsverzeichnis

1

Transkulturelle Pflege

1.1

Was ist transkulturelle Pflege?

1.2

Transkulturelle Kompetenz und ihre Bausteine

2

Kulturspezifische Bedürfnisse erheben – erwägen – erfülle

2.1

Eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen

2.2

Die Verständigung sicherstellen

2.3

Die transkulturelle Pflegeanamnese

2.4

Die Pflege vereinbaren

3

Migration

3.1

Gründe für Migration

3.2

Migration in Österreich

3.3

Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund

3.4

Migration und Akkulturation

3.5

Migration und Gesundheit

4

Religionen

4.1

Christentum

4.2

Islam

4.3

Hinduismus

4.4

Buddhismus

4.5

Judentum

5

Kommunikation

5.1

Sprachbarrieren durch Anderssprachigkeit

5.2

Überwindung von Sprachbarrieren

5.3

Missverständnisse in der nonverbalen Kommunikation

5.4

Nähe und Distanz

5.5

Umgang mit der Zeit

6

Tabus

6.1

Kommunikationstabu: „Darüber spricht man nicht“

6.2

Handlungstabu: „Das tut man nicht“

7

Familienorganisation

7.1

Die Bedeutung der Familie

7.2

Die Rolle von Mann und Frau in der Familie

7.3

Das Familienoberhaupt als Entscheidungsträger

7.4

Schamgefühl, Gesichtsverlust und Familienehre

7.5

Familienaktivitäten am Krankenbett des Klienten

8

Pflegekultur

8.1

Wenn Pflegepersonen anders gesehen werden

8.2

Wenn Pflege Familienangelegenheit ist

8.3

Wenn Pflege als wohlwollende Bevormundung angesehen wird

9

Gesundheits- und Krankheitskonzepte

9.1

Gesundheitskonzepte

9.2

Religiöse Krankheitskonzepte

9.3

Magisch-mystische Krankheitskonzepte

9.4

Mechanisch-somatische Krankheitskonzepte

9.5

Volksmedizinische Krankheitskonzepte

10

Schmerz

10.1

Kulturspezifische Schmerzäußerung

10.2

Kulturabhängige Schmerzbeschreibung

10.3

Kulturrelevante Aspekte der Schmerzbewältigung

Flüchtlinge – im Fokus der transkulturellen Pflege

Woher stammen die Flüchtlinge?

Wer sind die Flüchtlinge?

Welche Sprachen sprechen die Flüchtlinge?

Welche Schulbildung bieten die Herkunftsländer?

Welche religiösen und ethnischen Hintergründe haben Flüchtlinge?

Wie ist der Gesundheitszustand der Flüchtlinge?

Literaturverzeichnis

1 Transkulturelle Pflege

Jeder Mensch ist einzigartig und unverwechselbar und geprägt von seinem soziokulturellen Kontext. Dieser Vielfalt von Identitäten begegnen wir tagtäglich in unserem unmittelbaren Umfeld und noch offensichtlicher bei der Pflege von Menschen aus fremden Kulturen.

Da Pflege in hohem Maße durch die wechselseitige Abhängigkeit und das Zusammenwirken von Klienten und Pflegepersonen gekennzeichnet ist, ergeben sich in einer durch Migration geprägten Gesellschaft besondere Herausforderungen für die Pflegepersonen. Neben fachlicher Kompetenz bilden wechselseitige Wertschätzung und die Akzeptanz kultureller Unterschiedlichkeit zentrale Voraussetzungen für die Entwicklung einer effektiven und effizienten Pflege. Es müssen angemessene Lösungen für die beiderseitige Akzeptanz der Andersartigkeit entwickelt werden; kulturelle Unterschiede müssen nicht nur identifiziert, sondern auch mit wechselseitiger Wertschätzung betrachtet werden, um somit potenzielle Konflikte konstruktiv lösen zu können. Dies bedeutet mehr als die in der Pflege vielfach sozialisierte individuelle Zuwendung. Es erfordert die Entwicklung eines systematischen Verständnisses von Personen unterschiedlicher kultureller Identitäten und dessen Integration in die Pflegeplanung sowie die Umsetzung in den Pflegeprozess: Es erfordert transkulturelle Pflege.

1.1 Was ist transkulturelle Pflege?

Der Begriff „transkulturelle Pflege“ geht auf die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Madeleine M. Leininger zurück. Sie war die erste, die Pflege in einen kulturellen Rahmen gestellt, ein konzeptionelles Modell zur transkulturellen Pflege entwickelt hat und damit zur Begründerin der transkulturellen Pflege geworden ist. Nach Leininger ist es für eine individuell abgestimmte professionelle Pflege unabdingbar, den kulturellen Hintergrund eines Menschen in Bezug auf Pflege zu kennen bzw. dafür offen zu sein und solche Erkenntnisse in Form von transkultureller Pflege auch umzusetzen (vgl. Lenthe 2016, S. 148 f).

Transkulturelle Pflege kann somit als Herausforderung und Bereicherung angesehen werden. Die Herausforderung der transkulturellen Pflege besteht dabei in der Fähigkeit, die kulturspezifischen Bedürfnisse der Klienten zu erheben, zu erwägen und sie in geeigneter Weise zu erfüllen, um dadurch für Klienten mit anderen kulturellen, religiösen und ethnischen Hintergründen eine effiziente und effektive Pflege bereitstellen zu können. Die Bereicherung durch transkulturelle Pflege ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und der eigenen soziokulturellen Prägung sowie aus dem Überdenken der eigenen Vorstellung von Pflege, Gesundheit und Krankheit. Darüber hinaus führt das Kennenlernen des Selbstverständnisses des anderen nicht nur zur Berichtigung unserer Missverständnisse, sondern auch zur Anreicherung unseres eigenen Selbstverständnisses mit neuen Erkenntnissen.

Ziel der transkulturellen Pflege ist es, eine kulturkongruente Pflege zu bieten, die sich auf den Klienten positiv auswirkt, weil sie für ihn angemessen und sinnvoll ist.

Transkulturelle Pflege ist darauf ausgerichtet, zusätzlich zur individuellen Lebensbiografie des Klienten insbesondere

kulturelle Unterschiede zu erkennen und zu berücksichtigen;

religiöse Werte und Praktiken zu achten und zu beachten;

kulturelle Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten sowie Widersprüche und Unterschiede herauszufinden, um Ansatzpunkte für eine gemeinsame Handlungsstrategie zu entwickeln;

die eigenen Grenzen zu reflektieren und zu respektieren und diejenigen des Klienten akzeptierend wahrzunehmen;

mögliche kulturell beeinflusste Denkformen, emotionale Reaktionen und Handlungsmuster zu erkennen;

die Bedeutung von Gesundheit, Krankheit und Therapieformen in fremden Kulturen zu respektieren und zu akzeptieren;

die sozialen Folgen von Erkrankungen in fremden Kulturen zu verstehen und beratend zur Seite zu stehen;

die Besonderheiten anderer Kulturen als solche wahrzunehmen, sie im Kulturvergleich als gleichwertig zu erkennen und – ohne die eigene Kultur dabei hintanzustellen – empathisch-dialogisch und integrativ handlungsfähig zu sein.

Keinesfalls geht transkulturelle Pflege davon aus, sämtliche pflegerelevanten kulturellen bzw. religiösen Bedürfnisse von Migranten erfüllen zu können. Vielmehr sollen Klienten mit Migrationshintergrund bestmöglich in das bestehende Pflegesystem eingegliedert und ihre Bedürfnisse dabei angemessen berücksichtigt werden.

Pflege ist vor allem dann und von sich aus transkulturell, wenn sie sich an den existenziellen Bedürfnissen des Menschen orientiert. Denn diese Bedürfnisse sind für alle Menschen aller Zeiten und aller Kulturen dieselben. Bloß ihre Reihung, Gewichtung und Bedeutung wird aufgrund kulturbedingter Auffassungsunterschiede oft unterschiedlich sein. So mag zwar ein Buddhist den Tod nicht fürchten, da er in ihm den Durchgang in eine neue, womöglich bessere Wiedergeburt sieht; dennoch wird er pflegerisch-therapeutische Maßnahmen zur Erhaltung seines Lebens in der Regel nicht zurückweisen. Transkulturelle Pflege ist demnach kulturübergreifend und bedeutet Pflege über die Grenzen von kultureller Verschiedenartigkeit hinweg: somit Pflege an sich als die reine Idee in ihrer kulturunabhängigen Form. Transkulturelle Pflege kann daher als allgemeingültiges ideelles Prinzip verstanden werden.

1.2 Transkulturelle Kompetenz und ihre Bausteine

Grundvoraussetzung der transkulturellen Pflege ist die Entwicklung von transkultureller Kompetenz. Damit bezeichne ich die Fähigkeit, kulturelle Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Empfinden, Denken, Entscheiden und Handeln bei sich selbst und bei anderen zu erkennen und zu respektieren sowie in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren.

Transkulturelle Kompetenz ist kein statischer Zustand, sondern ein lebenslanger, offener Prozess. Der Erwerb transkultureller Kompetenz erfordert lebenslanges Lernen und ist Bestandteil einer fortdauernden Persönlichkeitsentwicklung.

Der Prozess des Erwerbs transkultureller Kompetenz wird meist durch eine konkrete Erfahrung initiiert wie bei der Pflege von Klienten oder in der Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Kulturen, aber auch im privaten Bereich, z. B. bei interkulturellen Partner- oder Freundschaften. Dabei können Begegnungen mit einzelnen Vertretern einer bestimmten Kultur zwar Einzelkenntnisse vermitteln, den Betreffenden aber noch nicht zum Experten für diese Kultur machen. Denn transkulturelle Kompetenz beruht keinesfalls auf gelegentlich erworbenen Detailkenntnissen (etwa: „Ein Muslim isst kein Schweinefleisch“). Einzelkenntnisse allein können leicht zum Nährboden von Vorurteilen und Stereotypen werden.

Ausgangspunkt für die Entwicklung von transkultureller Kompetenz ist eine grundsätzlich positive Haltung und Einstellung gegenüber interkulturellen Situationen sowie Offenheit für kulturelle Vielfalt und ein neugieriger, unvoreingenommener Umgang mit Menschen aus fremden Kulturen.

Transkulturelle Kompetenz verlangt vor allem ein interaktives Verhalten, das den anderen als individuellen Partner respektiert, und erfordert unter anderem folgende Schlüsselqualifikationen:

Die Bereitschaft zur

Selbstreflexion

: Dies bedeutet zum einen, die eigene kulturelle, religiöse oder ethnozentrische Weltsicht nicht als absolut zu setzen, sondern zu relativieren. Zum anderen bedeutet es, sich der kulturspezifischen Weltsicht der Klienten bewusst zu werden und diese wertneutral zu akzeptieren. Die Selbstreflexion kann zu einer affektiven Neubewertung der fremden Denk- und Verhaltensweisen führen. Das Neue kann emotional angenommen, die Ablehnung bzw. Angst vor dem Fremden kann reduziert, Vorurteile können verhindert werden. Nicht zuletzt führt die Selbstreflexion auch zur Veränderung eigener kultureller Muster.

Die Bereitschaft, sich

Wissen

über die eigene und über fremde Kulturen und Religionen anzueignen: Da kulturelles Wissen potenziell unendlich ist, geht es dabei vor allem um allgemeines Wissen über das Herkunftsland der Migranten bzw. der Interaktionspartner sowie um kulturtheoretisches Wissen über Religionen als wesentlicher Bestandteil von Kulturen, um Kenntnisse über Wertesysteme, soziale Beziehungen und Rollenbilder, Verhaltensmuster und Kommunikationsregeln sowie über Gesundheits- und Krankheitskonzepte. Mit diesem Wissen wird jede weitere interkulturelle Begegnung ein höheres Maß an Selbstreflexivität aufweisen: Die Pflegeperson weiß, warum sich ein Klient so verhält, so denkt oder so fühlt.

Empathie:

Damit meine ich die Fähigkeit, die Gefühle, die Befindlichkeiten und Denkweisen des fremdkulturellen Klienten zu respektieren, um so sein daraus resultierendes Handeln zu verstehen, auch wenn ich es nicht notwendigerweise teile. Es ist unverzichtbar, sich dem Anderen und Fremden aufgeschlossen und interessiert zuzuwenden, auf Befremdliches nicht mit Zurückweisung oder vorschnellen Korrekturversuchen zu reagieren, sondern auch das Anderssein zu akzeptieren und zuzulassen. Wesentlich ist auch, die Gedanken und Gefühle des anderen so weit wie möglich zu erkennen und zu verstehen und aus dessen Sichtweise und Perspektive heraus zu interpretieren. Dazu gehört aber auch die Einsicht, dass wir nicht alles verstehen können und dass andere anders sind. Empathie und Verstehen sind somit elementare Voraussetzungen für transkulturelle Kompetenz.

Ambiguitätstoleranz:

Dies bedeutet die Fähigkeit, ungewohnte Bedürfnisse zu respektieren, Widersprüchlichkeiten zu verkraften und nicht zuletzt in angespannten Situationen die Übersicht zu behalten und professionell agieren zu können.

In der interkulturellen Pflegesituation beinhaltet transkulturelle Kompetenz vor allem die Fähigkeit, kulturelle Überschneidungssituationen so zu gestalten, dass sich Migranten und Pflegepersonen, unabhängig von ihrem kulturellen Kontext, offen austauschen können und dass beide Partner versuchen, die Betrachtungsweise des anderen zu verstehen. Anders ist nicht besser, anders ist nicht schlechter, anders ist erst einmal nur anders!

2 Kulturspezifische Bedürfnisse erheben – erwägen – erfüllen

Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse.Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig;sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig.Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen.

Johann Wolfgang von Goethe

Um eine effektive und effiziente kulturkongruente Pflege zu gewährleisten, ist es erforderlich, die unterschiedlichen kulturellen Bedürfnisse und Traditionen des Klienten in die Pflegeplanung einzubinden und das Pflegeangebot von vornherein transkulturell auszurichten. Wie bereits erwähnt, sind Klienten, die aus fremden Kulturen kommen, in derselben professionellen Art und Weise zu pflegen wie Klienten, die aus der eigenen, vertrauten Kultur stammen. Gemeinsam mit dem Klienten werden in der Pflegeanamnese dessen Bedürfnisse, Probleme und Ressourcen erhoben und wird auf Basis dieser Datensammlung eine individuelle Pflegeplanung erstellt. Dabei ist es bei Klienten aus fremden Kulturen – im Gegensatz zu jenen aus der eigenen Kultur – wahrscheinlich, dass sowohl Klienten als auch Pflegepersonen auf „erwartungswidrige“ Verhaltensweisen oder Gewohnheiten treffen, also auf solche, die ihnen fremd sind oder die gar als unangemessen erscheinen. Oftmals haben die Klienten einen langen, von Leid geprägten Weg und viele Enttäuschungen hinter sich. Vorsichtig wägen sie deshalb ab, wem sie ihr Vertrauen schenken, wem sie sich anvertrauen können. Daher ist es insbesondere für die transkulturelle Pflege wesentlich, eine tragfähige Pflegebeziehung aufzubauen: denn der Umfang, in dem sich der Klient aktiv am Pflegeprozess beteiligt, hängt weitgehend von der Qualität der Beziehung zwischen Klient und Pflegeperson ab.

2.1 Eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen

Interkulturelle Begegnungen sind besonders im Anfangsstadium durch ein hohes Maß an Verunsicherung und Orientierungsverlust belastet. Daher ist vor allem die Form der Wertschätzung, die dem Klienten bei der ersten Begegnung entgegengebracht wird, wesentlich für den Aufbau und die Qualität der Beziehung. Gerade zu Beginn des Kontaktes ist es wichtig, dem Klienten empathisch und reflektiv zuzuhören, Interesse an seiner Lebenswelt zu zeigen und Fragen respektvoll und höflich zu stellen. Insbesondere Klienten, die durch Erlebnisse in ihrem Heimatland und auf der Flucht traumatisiert wurden, brauchen anerkennende Zuwendung, einfühlsame Anteilnahme und wertschätzendes Verständnis. Oft ist es für diese Klienten auch neu, dass jemand echtes Interesse zeigt und sich ihnen zuwendet. Auch ist es in vielen Kulturen nicht üblich, mit fremden Personen über persönliche Angelegenheiten zu reden. Daher ist es möglich, dass sie mit Verschlossenheit und Misstrauen oder freundlich, aber distanziert reagieren.

Dies muss vor allem beim Erstgespräch berücksichtigt werden. Keinesfalls sollen beim Erstgespräch Themen angesprochen werden, die in anderen Kulturen gesellschaftlich unerwünscht oder tabu sind. Auch wenn es mehr Zeitaufwand erfordert, soll das Erstgespräch vor allem dem Beziehungsaufbau dienen. Es geht insbesondere darum, zum Klienten – und, falls anwesend, auch zu seinen Familienangehörigen – in offener und entspannter Haltung eine Vertrauensbasis herzustellen.

Manchmal sind es schon Kleinigkeiten, die helfen, Vertrauen herzustellen. So hat sich vor allem beim Erstkontakt die Frage, wie der Name des Klienten in der Muttersprache ausgesprochen wird, oder die Frage nach dem Befinden seiner Familienangehörigen, als vertrauensbildend erwiesen. Vor allem Klienten aus kollektivistischen Kulturen (siehe dazu Kap. 7.1) sind es gewohnt, dass – noch bevor andere Anliegen angesprochen werden – man sich ausführlich nach der Familie erkundigt. Personen, die schnell zur Sache kommen und direkt kommunizieren, werden oft als unhöflich und taktlos erlebt, da Klienten aus diesen Kulturen selbst wichtige Informationen aus Höflichkeit oder um nicht das Gesicht zu verlieren häufig indirekt mitteilen. Ebenso kann es aus diesen Gründen dazu kommen, dass der Klient nicht die Wahrheit sagt. Das bedeutet aber nicht, dass er unmoralisch handelt. In anderen Kulturen haben Unwahrheit oder Lüge einen anderen Stellenwert: Höflichkeit oder Gesichtswahrung wird in gewissen Situationen höher bewertet als Ehrlichkeit.

In solchen Situationen ist es besonders wichtig, vorurteilsfrei nachzufragen, um an die Grundwerte zu gelangen, die dieses Verhalten widerspiegeln.

Positive Voraussetzungen für den Aufbau einer vertrauensbildenden Beziehung sind daher nicht nur eine von Empathie und Wertschätzung getragene Kommunikation, sondern auch Aufmerksamkeit in Bezug auf kulturelle Eigenheiten und kulturelles Wissen, um kulturelle Gegebenheiten wertfrei einschätzen zu können.

2.2 Die Verständigung sicherstellen

Um die Bedürfnisse des zu pflegenden Klienten zu ermitteln und sich der Zustimmung oder Ablehnung von Pflegemaßnahmen zu versichern, ist die Pflegeperson auf konkrete und differenzierte Angaben des Klienten angewiesen. Dabei ist bei fremdsprachigen Klienten nicht nur darauf zu achten, ob der Betreffende Sinn und Zweck der von der Pflegeperson gestellten Fragen verstanden hat, sondern auch, ob er die deutsche Sprache so weit beherrscht, dass er seine Bedürfnisse artikulieren kann. Wenn sich die Pflegeperson nicht sicher ist, ob der Klient dem Gespräch sprachlich folgen konnte, ist es empfehlenswert, ihn um ein Feedback zu bitten.