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Aus kritischer Lektüre zentraler Werke der philosophischen Anthropologie und auf der Grundlage einer Ontologie des Lebendigen entwickelt diese Arbeit eine allgemeine Ontologie der Kunst. Sie destilliert aus dem Begriff des Lebendigen die Bedingungen der Möglichkeit der Lockerung der Fesseln des Seins durch Sprache und Kultur, die Möglichkeit transzendierenden Tuns des Menschen in der Immanenz des Daseins und exemplifiziert dies an der poetologischen Denkfigur des impulso rítmico des spanischen Dichters Antonio Gamoneda. Sie bestimmt den Rhythmus als bewegte Bewegung und Impuls der werdenden Form in der Erscheinung der Welt im Spiegel der Seele in dichterischer Sprache und behauptet in ihren Textanalysen die epistemologische Qualität und ontologische Dignität der dichterischen Rede Antonio Gamonedas.
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Seitenzahl: 729
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Manfred Bös
Transzendierende Immanenz
Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
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ISBN 978-3-8233-8340-6 (Print)
ISBN 978-3-8233-0201-8 (ePub)
1928 veröffentlichte der Münchner Philosoph Max Scheler ein Bändchen mit dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos1. Diese kleine Schrift wurde zur Geburtsurkunde der modernen philosophischen Anthropologie, obwohl auch noch im selben Jahr die weitaus umfassendere Arbeit Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie2 Helmut Plessners erschien. Hinsichtlich der Koinzidenz beider Publikationen bzw. der Originalität der dort ausgeführten Ideen gab es zwischen beiden Autoren noch Jahre später Verstimmungen. Zwölf Jahre danach erschien Arnold Gehlens zentrales Werk zur philosophischen Anthropologie Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt3, womit drei wesentliche Veröffentlichungen zur philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts benannt wären. In dem philosophierenden Arzt Paul Alsberg hatten sie einen Vorgänger, der mit seinem Werk Das Menschheitsrätsel4 1922 zum ersten Mal in neuer stringenter Manier die Heraufkunft des Menschen aus der Natur systematisch darzustellen suchte; desgleichen in dem Biologen Jakob Johann Baron von Uexküll, dem Begründer der Biosemiotik und dem Schöpfer des Begriffs der Umwelt, sowie dem niederländischen Mediziner und Anatom Louis Bolk oder dem Biologen und Anthropologen Frederik Jakobus Johannes Buytendijk. Auch der sich mit Fragen prähistorischer Anthropologie befassende Bonner Physiologe Max Verworn sowie viele andere Natur- wie Geisteswissenschaftler gehören zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu der Gruppe von Forschern, welche über ihr Fachgebiet hinaus sich die Frage nach dem Menschen und dem Menschlichen stellten.
Neben den gerade genannten Autoren gehören zum Kern der damaligen philosophisch-anthropologischen Forschung die Arbeit Einführung in die Philosophische Anthropologie5 des 1944 im Konzentrationslager Oranienburg gestorbenen Philosophen Paul L. Landsberg, dessen Schrift Die Erfahrung des Todes6 ihn zu einem einflussreichen Vordenker des französischen Personalismus machte, die ob der damaligen politischen Umstände zuerst 1935 in Spanien (Übersetzung von Eugenio Imaz) dann in französischer Fassung und erst 1937 in deutscher Sprache in Luzern erscheinen konnte. Auch der Philosoph Erich Rothacker gehört dazu, der mit seiner Veröffentlichung Probleme der Kulturanthropologie7 von 1942 sowie seinen Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie von 1966 zum Mitbegründer der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie wurde.
Selbstredend stehen die hier genannten Autoren nicht exklusiv für das Denken über den Menschen, welches als zentrales Substrat des westlichen philosophischen Denkens seit den Vorsokratikern über Protagoras, die athenischen Klassiker Platon und Aristoteles, über die lateinischen Denker zur conditio humana zu Montaigne, Pascal, den Aufklärern, Voltaire etc. sowie Herder und Kant und weiter hinüber bis zum monumentalen postum veröffentlichten Werk Hans Blumenbergs, Die Beschreibung des Menschen8, 2006 reicht.
Scheler, Plessner und Gehlen scheinen mir jedoch einen bedeutenden Einschnitt in dieser langen Tradition zu markieren, da sie den Versuch unternehmen, den Menschen auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in kosmologischer Perspektive neu zu bestimmen. Wesentliche Begriffe dieser Autoren scheinen bis heute fundamentale Gültigkeit zu besitzen und bei kritischer Revision dieser den Versuch wert, sie auf ein ästhetisches Fühlen und Denken zu beziehen. Eine derart aufgefasste philosophische Anthropologie reiht sich in das Denken der Aufklärung ein. Denn es stellt sich als Wagnis dar, das, was den Menschen wesentlich ausmacht, im Zusammenhang mit dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos sowie jenen Lebewesen – den Tieren, mithin den Pflanzen – zu beschreiben, mit denen er die Erde teilt. Dabei stellt sich zugleich die Aufgabe, in dieser Weltimmanenz einen Zeichenbegriff zu erarbeiten, welcher ästhetisch ausgebeutet und philologisch auf die Dichtung Antonio Gamonedas angewandt, grundlegende Aussagen erwarten lässt, zumal das Werk Antonio Gamonedas dem Versuch eines Denkens der Immanenz entspricht (siehe in Esta luz9, S. 28 und 72), der Mensch in seiner Existenz als zentrales Thema seiner Dichtung verstanden werden kann.
Die Sichtung der Quellen in der Einleitung breitet das denkerische Panorama der philosophischen Anthropologie jener Zeit in zentralen Schriften aus und versucht die grundlegenden Denkmuster der Autoren darzustellen. Es folgen Überlegungen zu einer Ontologie der Kunst, die Verortung der grundlegenden Begriffe von Bewegung, Rhythmus und Maß im Menschen und mit einem Entwurf zum Zeichenbegriff der Eintritt in die Welt der Dichtung Antonio Gamonedas selbst.
Lebendige Natur ereignet sich dort, wo ein Organismus ausdrücklich wird. Ausdrücklich werden ist ein Prinzip des Lebendigen. Eine der Manifestationen der Natur ist das Organische, und im Organischen wird sie sich selbst ausdrücklich. Indem der Organismus ausdrücklich wird, manifestiert er sich als Pflanze, Tier oder sich selbst ausdrücklich auch als Mensch.
Die Kunst exponiert und potenziert dieses dem Lebendigen innewohnende Prinzip der Ausdrücklichkeit. Die Künste sind Ausdruck im emphatischen Sinne. Sie Überhöhen das Prinzip des Ausdrucks in ihren spezifischen äußeren, d.h. objektiven Manifestationen, insbesondere in den Schönen Künsten, doch nicht nur in diesen. Kunst und Leben sind daher keine Gegensätze, sondern eins. Kunst findet statt im Ausdrücklichwerden des Ausdrucks. In ihr wird sich der Mensch in hervorragender Weise seiner selbst gegenwärtig und vermittels ihrer schafft er sich – ein Wesen der Natur – sein Sein.
Kunst ist die absichtsvoll nach außen gewendete Natur des lebendigen Wesens Mensch, die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks im emphatischen Sinne.
Die Form der Ausdrücklichkeit des Lebewesens Mensch heißt transzendierende Immanenz. Transzendierende Immanenz antwortet auf die Alsbergische Frage nach dem Ort des Menschen im Linnéschen System der zoologischen Taxonomie, in dem der Mensch seinen biologischen Platz überschreitet, ohne diesen je verlassen zu können. Sie ist die Antwort auf die Frage nach der Heraufkunft des Menschen als Meister der Negation und Asket, wie Scheler ihn denkt, oder nach der Plessnerschen Dynamik des in der gegensinnigen Grenzvermittlung hervortreibenden Ausdrucks dessen, was schließlich in das sich selbst gegenwärtige Lebewesen Mensch mündet, oder aber wie in einem systemischem Denken als Zusammenhang von sich gegenseitig fordernden Bedingungen à la Arnold Gehlen. Bei ihm bindet sich Erinnerung an Motorik, und Motorik lässt den in Selbststellung stehenden Menschen sich selbst und anderen in Haltung, Handlung und Ausdruck gegenwärtig sein.
Transzendierende Immanenz entspricht der Organisation des lebendigen Individuums Mensch, da es sich in seinem Körper verwirklicht, indem er der Forderung entspricht zu bleiben, „was er ist, und überzugehen in das, was er nicht ist und was er ist.“1
Transzendierende Immanenz ist der Ursprung für die Plastizität des Sinnlichen und Bedingung der Möglichkeit für die Gegenwart des Geistes.
Transzendierende Immanenz ist der Ursprungsort selbsterlebter lebendiger Bewegung und Rhythmus ihr Impuls im Werden.
Transzendierende Immanenz entspricht der Schwellnatur des Akustischen2, das dem Hören, Atmen und der Artikulation zugrunde liegt.
Transzendierende Immanenz ist jene Form von Ausdruck, Haltung und Handlung die, der Gruppe anheim gegeben, von jedem Einzelnen dieser gespiegelt und wiederholt in Tanz, Schrift und Zeichen verwandelt, zur Bedeutung sich verfestigt und es dem Menschen – sich selbst ausdrücklich geworden – erlaubt, aus dem autistischen Schoß der Natur sich zu sich selbst hin aufzuschwingen.
Denkbarkeit also einer sich selbst fordernden Dynamik aus immanenter Struktur heißt die Aufgabe, der sich diese Studie widmet.
Sie besteht demzufolge darin, dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas einen ontologischen Ort aufzuspannen, den es bewohnt und schafft zugleich. Ausgehend also von einer Ontologie des Lebendigen heißt es, eine Ontologie der Kunst am Leitfaden der Begriffe von Bewegung in all ihren Erscheinungsformen von Bewegtheit, Bewegtsein zur Selbstbewegung in Ortsbewegung, Handlung und Haltung sowie in ihrer Spezifizität als Metrum, Zeichen, Rhythmus und Maß zu entwickeln und den gamonedaeischen Logos so im Sein zu verfugen.
Diese Arbeit ist keine kritische, auch wenn krinein und legein (teilen und sammeln) darin wesentliche Bewegungen darstellen – rhythmisch wie denkerisch. Es handelt sich letztlich um den Versuch einer Ästhetik auf biokinetischer Grundlage, weder zynisch noch komisch, verzweifelt oder tragisch, euphorisch oder hochfahrend. Sie bewegt sich mittig, sucht die Balance, wenn auch nicht den Ausgleich.
Die Arbeit widmet sich der Entschlüsselung und Deutung von Dichtung nicht im Sinne einer Lektürekonstruktion, sondern sie versucht eine Freilegung der ontologischen Fundamente1 im dichterischen Denken Antonio Gamonedas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie. Dies führt auch zur Betrachtung der Bedeutung seines Denkens, da mit dem ontologischen Ort der dichterischen Rede auch dessen soziale und historische Relevanz erkennbar wird. Denn dieser ontologische Ort kennzeichnet den Platz des Dichterwortes im Gespräch der Gemeinschaft, und sei es auch nur, um diesen im gleichen Atemzug wieder zu bestreiten oder zu verschieben.
Das Zurückbeugen der Dichtung auf das Sein führt es an den Kreis menschlichen Tuns wie Rechnen, Messen, Zählen, Sagen, Tanzen, Malen oder Singen heran und lässt seine Bedeutung als eine der wesentlichen welterschließenden Aktivitäten des Menschen sichtbar werden. Darin liegt seine epistemologische Qualität und seine ontologische Dignität.
Der Gedanke Denken und Dichten gerade im Werk Antonio Gamonedas zusammenzubringen, kann sich auf seinen Arbeitsprozess berufen. Dieser orientiert sich am Palimpsest. Jeder Text, alt oder neu, kann zu jeder Zeit der Überarbeitung überantwortet werden. Die allgegenwärtige re-ecriture der Texte überschreibt den historischen Abstand in den Resonanzraum der beständig erneuerten Aktualität des Erinnerns. Denn die Erinnerung atmet mit dem Jetzt, während das Gedächtnis den Speicher des Vergangenen stellt. Damit erstarken die inneren symbolischen Verweisungen der Dichterrede und geben den Blick frei auf ein Sein, das sich nicht in Geschichten, sondern in der Darbietung einer Sonderwelt erschließt, der das Antlitz einer individuellen Existenz eignet. Dabei nimmt der Autor keine Transzendenz in Anspruch. Er hält sich streng in der Immanenz seines Seins als Bewohner dieser einen Welt2. Aus dieser Haltung der Immanenz nährt sich die Betrachtung der Sprache als Materie3, aus seinem dichterischen Tun das Transzendieren in und am Material.
Dementsprechend bieten die hier zugrunde gelegten Schriften der philosophischen Anthropologie ein passendes Rüstzeug, welches den Menschen aus der Immanenz seines Seins wie aus der Gemeinschaft der Lebewesen und ihrer Geschichte4 zu deuten versucht.
Die beharrliche Anpassung des einmal Niedergeschriebenen an die veränderten anatomischen und physiologischen Bedingungen des Körperleibes und der Bewegungen seines Atmens5, seines Taktes und Rhythmus zeugt von dessen zentraler Rolle für die Dichtung Antonio Gamonedas6. Es zeugt aber auch und vordem von der zentralen Rolle des Rhythmus selbst als einer geführten Bewegung in der Sprache hin zu einer Beschreibung der Welt im Spiegel der Seele7. Der Rhythmus als bewegte Bewegung und Impuls8 der werdenden Form der Erscheinung der Welt im Spiegel der Seele in Sprache teilt und versammelt (legein kai krinein) das Sein in ein Vorher und Nachher, ein Davor und Dahinter, ein Hier und Dort. Die Welt erscheint in der werdenden Form von Bewegung und Beharrung9. Der Rhythmus, indem er den Körperleib, den Beweger der Sprache bewegt, positioniert diesen gegenüber der Welt und die Welt ihm gegenüber. So ist der Rhythmus in der Dichtung Antonio Gamonedas gleichursprünglich, vorursprünglich gar mit dem Gedanken10, und also jener Impuls seines dichterischen Denkens, welches für die werdende Form seiner Sprache maßgeblich verantwortlich zeichnet.
Das pulsiv-musikalische Denken Antonio Gamonedas ist notwendiger Weise ein körpernahes Denken. Für die anthropologische Philosophie ist der Körper, insbesondere der Körperleib der Ort, an dem sich das Drama des menschlichen Lebens manifestiert. Daher kann die theoretische Angemessenheit philosophisch-anthropologischer Begriffe auf die dichterische Praxis unseres Autors behauptet werden.
Die philosophische Anthropologie eines Helmuth Plessners zum Beispiel entspricht dem Gedanken des Ausdrucks aus der Quelle des Körperleibes mit der Idee der exzentrischen Positionalität und der selbstvermerklichen Bewegung, der Manifestation des Geistes in Körperhaltung, Geste und Musik. Diese Auffassung sieht den Körperleib vermittelst der Bewegungsformen von Haltung, Handlung und Stellungnahme auch in die Welt hineingestellt. Denn die exzentrische Positionalität stellt eine Verortung des Körperleibes in sich selbst und der Welt gegenüber dar. In der Körperhaltung wird eine Stellungnahme zur Welt, eine Haltung, ein Gedanke erkennbar, die in einer Handlung oder Darstellung, in Tanz, Rede oder Musik münden mögen. In der selbstvermerklichen Bewegung schließlich erscheint die Bedingung der Möglichkeit des darstellenden, mithin symbolischen Verhaltens grundsätzlich gegeben11.
Hebt der Bürger der platonischen Stadt seinen Fuß zum Dithyrambus oder der Dichter Antonio Gamoneda seine Stimme im Fuß des Verses, so nehmen sie sich selbst gegenüber eine Stellung ein, werden sich, ihrem Milieu und der Welt gegenüber ausdrücklich. Darin finden Bewegung, und in der Folge geführte Bewegung und Rhythmus ihren ontologischen Anker und darin gründet ihre ontologische Dignität.
Nun mag der Autor Antonio Gamoneda die philosophische Anthropologie bedacht oder auch nicht bedacht haben. Die Tatsache jedoch, dass ein Werk existiert, dem der Autor sein Denken anvertraut und in dem die menschliche Existenz zentral, Transzendenz jedoch nur innerhalb dieser thematisiert ist, scheint mir eine hinreichende Ausgangsbasis für eine Untersuchung des Logos poietikos Antonio Gamondas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie darzustellen.
Wenn die Wahl der Ideen und Erklärungen sich als falsch herausstellen sollte, müssten sie widersprüchliche Ergebnisse zeitigen. Dies scheint mir jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Annahme einer Ideengemeinschaft zwischen philosophischer Anthropologie und dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas scheint sich zu bestätigen. Ausdruck dieser ist der Terminus der transzendierenden Immanenz. Transzendierende Immanenz ist der Begriff für einen Gedanken, der eine Dynamik zu beschreiben sucht, welche den Schritt aus einem Innen allein über dieses selbst hinaus entbirgt.
Damit diese Dynamis verstehbar werden kann, bedarf es der Annahme eines gliedrigen Ganzen, einer Komplexion – im Gegensatz zu einem Einfachen. Transzendierende Immanenz ist ein Geschehen der Komplexion, in dem unterschiedliche, einem Ganzen innewohnende Elemente über sich selbst hinaustreiben und die Natur des Ganzen vermittelst interner Prozesse verändern.
Transzendierende Immanenz bezeichnet also ein Geschehen kategorialer Überschreitung, ohne die rhetorischen Figuren der Metapher oder Metonymie einzubestellen.
Transzendierende Immanenz ist eine Form der Ausdrücklichkeit, und das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden ist die gemeinsame Form der Kunst und des lebendigen Seins. Dort, wo sich dieses Geschehen begibt, erscheint Sinn, und der Sinn eignet allein dem Denken und dem Sein, niemals dem Seienden an12.
auf den Zusammenhang einer Ontologie der Kunst auf Basis der philosophischen Anthropologie mit dem Logos poietikos Antonio Gamonedas und der transzendierenden Immanenz
Manifestiert sich in der ontisch gewordenen Grenze des Plessnerschen Modells des lebendigen Seins dessen Abstandnahme wie dessen Verschränkung mit dem „Umfeld“1, so konstituiert sich damit für den Menschen ein Ausdrucksverhältnis2 zur Welt. In der partiellen Ontologie des lebendigen Seins wird Ausdrücklichkeit damit notwendiger Weise zu seinem gleichursprünglichen Impuls.
Ausdrücklichkeit setzt Bewegung voraus, und lebendiges Sein zeichnet sich durch Selbstbewegung aus. In Stellungnahme, Haltung und Handlung verhält sich der Mensch zur Welt und zu sich selbst. Wenn Bewegung also der ontologische Anker lebendigen Seins in der Welt ist, wird Bewegung in der Hand des Menschen zur bewegten Bewegung und zum Mittel des Ausdrucks seines Seins.
Schon in der elementarsten Form geführter, also bewegter Bewegung ist diese zu sich selbst in ein Verhältnis gesetzt und in sich selbst ausdrücklich geworden3. Im artikulierten Laut, einer geführten, also bewegten Bewegung wird das Ausdrucksverhältnis des Menschen zur Welt in der Sprache ausdrücklich, und die Sprache zum Ausdruck der Ausdrucksbewegung, zur Expression in zweiter Potenz. Wird der Klang damit zum Laut und zum Zeichen (Artefakt), so ergreift das dichterische Denken Antonio Gamonedas dieses und bewegt es zu einer höheren Ausdrücklichkeit und zum Zeichen zweiter, mithin „dritter Ordnung und Potenz“4, indem es die artikulierte, geführte Bewegung des Zeichens (Artefakt) in ein weiteres Verhältnis zu sich selbst führt, und ihm damit eine erweiterte Ausdrücklichkeit zukommen lässt. Die Inanspruchnahme des sprachlichen Zeichens als ein komplexes Verhältnis von Sinnlichkeit und Sinn versetzt es in Bewegung und bringt seine Bedeutung zum Schweben.
Mit der geführten, bewegten Bewegung des Zeichens lockert die Dichtung Antonio Gamonedas das Sein im Rang der Sprache, und in dieser Lockerung entdeckt sich die transzendierende Bewegung in der Immanenz des Seins.
Der Logos poietikos Antonio Gamonedas bewegt die Schwere des Seins im Rang der Sprache und lässt so dessen abgewandte Seite erkennbar werden.
Wenn also Ausdrücklichkeit die Natur des Organischen und Selbstausdrücklichkeit die des Menschen ist, so ist transzendierende Immanenz der Name für den Logos poietikos Antonio Gamonedas, und wenn die Selbststellung des Menschen das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden fordert, so entspricht die Dichtung Antonio Gamonedas diesem mithin mit der Überschreitung der Genregrenzen. Die Überschreitung findet in der Rückbindung der dichterischen Rede auf die individuelle Existenz statt, welche die abseitige Seite des Seins verlautbar werden lässt.
Eine zusammenfassende Lektüre mit Resümee
Es un hombre …
Paul Alsberg zitiert Sophokles mit „Viele gibt es der Wunder – kein größeres als den Menschen“1. Das Erstaunen oder Sich-Wundern, das Thaumatzein, verwandelt diese Aussage in einen urphilosophischen Gedanken. Alsberg sucht dieses Rätsel aufzuklären. Doch ein „Wunder“ kann der Mensch nur sein, wenn er „ein Tier im Sinne eines Primus inter pares sei“2 wie Alsberg weiter ausführt. Denn als Geschöpf eines Gottes oder einer höheren Macht sei er schon erklärt und bedürfe keiner weiteren.
Welchen Namen aber trägt der Mensch als Primus inter pares, als Säugetier/ Primat? Wie also transzendiert der Mensch seine biologische Einordnung im linnéschen System? Wie stellt sich dieses Überschreiten der Immanenz dar? Ist mithin dies seine ihm ureigene Natur: der Mensch, das Lebewesen der transzendierenden Immanenz?
Unter den frühen Gedichten Antonio Gamonedas finden wir das folgende:
Es un hombre. Va solo por el campo.
Oye su corazón, cómo golpea,
y, de pronto, el hombre se detiene
y se pone a llorar sobre la tierra.
Juventud del dolor. Crece la savia
verde y amarga de la primavera.
Hacia el ocaso va. Un pájaro triste
canta entre las ramas negras.
Ya el hombre apenas llora. Se pregunta
por el sabor a muerto de su lengua.3
Einfache Sätze beschreiben eine einfache Szene. Ein Mensch wird benannt. Er geht allein übers Feld, ein alltägliches Geschehen. Im Gehen erfüllt der Mensch seine Bestimmung, denn als aufrechter Bipodes auf dem weiten Feld der Erde begann er seinen Stammbaum. Der aufrechte Gang ist für Hans Blumenberg das wesentliche Merkmal des Menschen und der Ausgang für seine Sonderstellung in der Welt4. Doch der nächste Satz führt uns in sein Inneres, zu seinem Herzen und sogleich stockt dieser menschliche Gang. Er bricht in Weinen aus, dort auf dem Acker. Das Weinen stellt nach Plessner gleichsam einen Zusammenbruch der menschlichen Konstitution dar: ein Ausgeliefertsein des Menschen an ein ihn überwältigendes Erlebnis – ein Privileg des Menschen vor allen anderen Lebewesen –, welches diesem die Herrschaft über seinen Körper verlieren lässt und ihn an das Würgende, Schluchzende des Weinens und somit an seine reinen Körperfunktionen ausliefert5. Der Leser weiß nichts über das Warum dieses Ausbruchs. Das Gedicht führt uns in den Umkreis des „homo absconditus“6. Die nächste Strophe führt den Leser zu einem Empfinden, welches der Grund des Weinens sein könnte, einem Schmerz, und weiter zu einer Erinnerung oder der Beobachtung einer Umgebung, welche eine Erinnerung entbirgt. Die Möglichkeit des Habens einer Umgebung ist ein Privileg des Menschen vor seinen Lebensgenossen, den Tieren, welche eine Umwelt besitzen, aber keine Umgebung, keinen Horizont. Und weiter zieht der Mensch gegen Westen, dem fernen Horizont des Sonnenuntergangs entgegen, dahin, wo der Tag endet. Schon dunkelt es, die Zweige zeichnen schwarze Linien, und ein Vogel lässt sich hören, ein Bewohner desselben Horizonts, derselben Erde wie der Mensch. Das Weinen erlischt und zurück bleibt die Frage des Menschen nach dem Wissen um seinen Tod, der sich als Geschmack nach dem Tod auf seiner Zunge niederschlägt. Das Wissen um seinen Tod zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus, wobei nach Landsberg sich hier schon ein modernes, existenzielles, Bewusstsein von Tod geltend macht und nicht eines, welches den weit überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte bestimmte, nämlich dem vom Tod als einer Verwandlung, entweder in ein anderes Lebewesen, in ein höheres Leben oder in die Rückkehr als anderer Mensch derselben Sippe oder Volkes7.
Diese Fingerübung zum Thema Mensch möchte vorläufig darauf aufmerksam machen, was aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie auf einen Text Antonio Gamonedas unmittelbar erkennbar werden kann.
Paul Alsberg fragt als Kantianer, wenn er fragt, „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“1. Allein mit dieser Frage bestimmt er den Horizont seiner Arbeit. Denn wie soll es möglich sein, dass ein Naturwesen Mensch „außerhalb und unabhängig von sinnlicher Erfahrung zu allgemeingültigen Urteilen über die Natur gelangen kann?“2 Und die Frage findet ihre Zuspitzung, bedenkt man gar, dass im Sinne Linnés „also das Tier den höheren Gattungsbegriff bezeichne, welcher den niederen Begriff des Menschen unter sich hält.“3 Kann sich der Mensch aus dieser Systematik heraus zu seinem heutigen Stand graduell entwickelt haben? Wäre etwa der Haeckelsche Pithekanthropus alalus4 ein möglicher Kandidat für den missing link einer natürlichen Schöpfungsgeschichte, und wie könnte diese aussehen? Alsberg stellt fest, dass kein naturwissenschaftlicher Forscher bis dato dem „genealogischen und dem biologischen Prinzip beim Menschen gerecht zu werden“5 vermochte und unterscheidet dabei die zooistischen von den anthropistischen Theorien. Also jene Ansichten, welche den Menschen allein aus dem zoon heraus entstehen lassen wollen von denjenigen, welche einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier postulieren. Fehlen jene darin, dass sie keine Antwort auf die Existenz eines spezifisch- oder prinzipiell-Menschlichen6 finden, stellt sich diesen die Frage ernstlich überhaupt nicht, und sie müssen, streng genommen, jeder genealogischen Ableitung entbehren. Damit jedoch löst sich die Frage nicht auf. Eine weitere Schwierigkeit der Lösung des Menschheitsrätsels erkennt Alsberg in dem Sachverhalt, dass die Tierpsychologie „mit Ausnahme des Begriffsvermögens alle anderen geistigen Formelemente auch beim Tiere nachgewiesen“7 habe, wodurch die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier noch feiner zu bestimmen sei. Er schließt sich jedoch auch nicht H. Spencers Lösung an, die ein „überorganisches Gesellschaftsprinzip“8 für die Entwicklung des Menschen verantwortlich machen möchte. Denn dieses Prinzip führt eine neue Entität in die Debatte ein und bedarf weiterer Erklärungen hinsichtlich des Verhältnisses von Gruppe und Individuum.
Alsbergs Dilemma stellt sich also folgendermaßen dar: Wie kann eine stringente Entwicklung des Menschen gedacht werden, die ihn mit all seinen Fähigkeiten als primus erklärlich werden lässt, ohne dass der naturwissenschaftliche Gattungsbegriff nach Linné gesprengt wird, und der Mensch ein Lebewesen unter anderen Lebewesen, als inter pares, bleibt? In seiner eigenen Frageversion schreibt er: „Was ist es mit dem Menschen, der aus dem Tiere hervorgegangen ist und offensichtlich doch kein Tier ist?“1, bei Erhalt einer gemeinsamen Substanz von Mensch und Tier die differentia specifica erklärlich werden zu lassen. Er löst diese Frage, indem er den Ursprung der Verschiedenheit in den Ursprung einer gemeinsamen Gattung zurückverlegt und Tier wie Mensch unterschiedlichen Entwicklungsprinzipien unterwirft. Er konstatiert, dass die menschliche Entwicklung „unter einem besonderen, einheitlichen Prinzip, welches in den beiden korrespondierenden Symptomen des körperlichen Rückganges und des technisch-geistigen Wachstums seinen greifbaren Ausdruck findet.“2 Er bestimmt dann weiterhin, dass die tierische Entwicklung auf den Körper, „die menschliche Entwicklung auf das künstliche Werkzeug gestellt“3 sei.
Das Entwicklungsprinzip des Tieres ist das Prinzip der Körperanpassung (Körperfortbildung), das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das Prinzip der Körperausschaltung vermittelst künstlicher Werkzeuge.4
Die Antwort des Tieres auf Anpassungszwänge der Umwelt ist die organische Anpassung, die Antwort des Menschen auf das Andrängen der Umwelt ist die Entwicklung entsprechender Werkzeuge bei grundsätzlicher Beibehaltung seiner physischen Verfassung. Somit ist die Entwicklung des Menschen keine Steigerung der tierischen, sondern ein echtes „Novum“5 und der Mensch vom Tiere als wesensverschieden6 bestimmt.
Alsberg versteht unter Organ „jedes anatomisch und funktionell zusammengehörige Teilgebilde des Körpers“7 und unter Werkzeug „ein jedes außerkörperliche (künstliche) Mittel, mit welchem eine Ausschaltung des Körpers bewirkt wird.“8 Diese Unterscheidung ermöglicht es ihm zwischen „Überorganischem“ und „Außerorganischem“9 zu unterscheiden und auch den Tieren Tradition im Sinne überorganischer Weitergabe von Verhalten zu konzedieren, ohne dass der Triebmotor des Entwicklungsprinzip des Menschen, die Körperausschaltung per Werkzeug, dabei in Anschlag gebracht werden muss.
In Anwendung seines Werkzeugbegriffs führt Alsberg stringent auch Sprache und Begriff, sowie weiterhin Moral und Ästhetik seinem Menschheitsprinzip der Körperausschaltung zu. Im Wort erkennt er das lautliche oder sprachliche Werkzeug10, dessen Stoff geistiger Natur ist und schließt:
Wie das stoffliche Werkzeug, so ist auch das Wort ein absolut selbständiges Gebilde, es führt ein Leben für sich und ist in seinem Dasein allein an den Gegenstand gebunden, als dessen Symbol es auftritt.11
Er präzisiert die Sprache als ein „außerkörperliches (künstliches) Werkzeug, mit welchem der Mensch die Ausschaltung seiner Sinnesorgane bewerkstelligt und damit das Prinzip der Körperausschaltung befolgt.“12
Als gegenstandsgebundenes Werkzeug, welches außerkörperliche Wahrnehmung vertritt, sei es ebenfalls ein Novum und keine Steigerung von Bisherigem13.
An dieser Stelle konstatiert er jedoch einen „Drang nach Vervollkommnung“14, den er der Technik wie der Sprache zuspricht. Allein die Einführung eines Telos, um Entwicklungen bei Technik und Sprache zu begründen, scheint mir eine überflüssige Zutat, finden wir doch schon beim täglichen Umgang und der Anwendung beider Arten genügend Motive, um diese entsprechend den Notwendigkeiten des Augenblicks weiter zu entwickeln. Hier reicht das Spektrum von zwingender Notwendigkeit bis zum Zufall. Ein wie auch immer geartetes inhärentes Telos dabei scheint mir deshalb entbehrlich.
Unter Anwendung der Reihe: „comparatio – abstractio – reflexio“1 erklärt Alsberg den Vorgang der Abstraktion mit der „Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Merkmal“2 und erreicht somit die Höhe des Begriffs, den er sogleich im Unterschied zum Wort, welches für ihn „Gegenstandssymbol“3 ist, als „Beziehungssymbol“4 bestimmt. Im Rückgriff auf Schopenhauer erklärt er die Tätigkeit des Verstandes als die Umwandlung der „Sinnesempfindungen in Wahrnehmungen und Vorstellungen“5, während die Vernunft „das Vermögen der Begriffe“6 darstellt. Mit Hilfe des Begriffs eröffneten sich dem Menschen ganz neue Perspektiven:
Er sieht nicht nur das Heute, sondern auch das Gestern und Morgen; nicht nur das Nahe, sondern auch das Ferne; nicht nur das Einzelne, sondern auch das Ganze in unserem Vorstellungsbereich und schafft auf diese Weise, einen neuen, in die Tiefe und Breite dringenden Lebenszusammenhang.7
Dann bestimmt er die „Besonnenheit“8 als das Werkzeug des Kulturmenschen, die „Wahrheitsidee“9 als dasjenige der Wissenschaft und die Idee „des Guten“10als das Werkzeug des Prinzips der Körperausschaltung. Das ästhetische Erlebnis ist für Alsberg subjektiver Art, welches die tätige Anwendung des Entwicklungsprinzips des Menschen, die Köperausschaltung, auf den Akt der Wahrnehmung des Schönen anwendet und somit die tierische Komponente der „begehrlichen Körperlichkeit“11 suspendiert. Auf diese Weise entsteht ein der Natur entzogener Raum, in welchem das Schöne erscheinen kann.
Wenn wir aber in der ästhetischen Betrachtung alle praktischen Lebenszusammenhänge durchschneiden, so heißt das nichts anderes als den Akt der „Körperausschaltung“ vollziehen. Das „Schöne“, das ästhetische Erlebnis, tritt „an Stelle“ der begehrlichen Körperlichkeit. So erweist sich auch die Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung.12
Die Körperausschaltung wird als ein Akt der Vernunft deklariert, da sie in „jedes Mal gleicher Art, durch eine gleiche Selbstobjektivierung vermittels abstrakter Ideen herbeigeführt“13 wird.
Das Tier, schreibt Alsberg, ermangelt der Ästhetik, weil es „im Zuge seines Entwicklungsprinzips, welches dauernde und intensive Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse und Geschehnisse der Umgebung gebietet“1, die oben genannten Lebenszusammenhänge nicht durchschneiden und sich nicht auf diese Art selbst verobjektivieren kann. Wir erkennen in dieser Beschreibung eine die gesamte Durchführung des Werkzeuggedankens sowie des Prinzips der Körperausschaltung zugrunde liegende Bedingung der dringenden Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt, welche ständig und ununterbrochen von ihnen geleistet werden muss. Allein dem Menschen ist es ob seiner Werkzeugtätigkeit vorbehalten, sich den Begehrlichkeiten der Natur entziehen zu können, und Zeit für die Betrachtung des Schönen zu gewinnen. Das Schöne findet nach Alsberg ein natürliches Arbeitsfeld in der Gattenwahl2. Und wie eine moralische Pflicht auf der „Körperaufopferung nach Maßgabe abstrakter Motive“3 bestehe, so bestehe eine ästhetische Pflicht in der Ausschaltung der körperlichen Begehrlichkeit und der Gattenwahl nach rein ästhetischen Gesichtspunkten nach Maßgabe eines Schönheitsideals vom menschlichen Körper und ist „im Rahmen des Menschenlebens eine naturhafte Aufgabe“4.
Danach wandelt auch in seinen ästhetischen Eingebungen der Mensch die vorgezeichneten Wege der Natur. Was das tierische Entwicklungsprinzip durch Instinkt erzwingt, das leistet das Menschheitsprinzip durch bewusste Ideale.5
Die Idee verkörpert den Werkzeuggedanken und stiftet die Einheit von Menschheitsprinzip und Kulturprinzip6. Damit ist auch die Aufgabe der Kultur bezeichnet. Sie besteht in der Pflege – cultura – der Entwicklung der entsprechenden Werkzeuge in Technik, Sprache und Vernunft. Dieser Art wird das Menschheitsprinzip zum sittlichen Prinzip, welches zum „Vollmenschentum“7, seinem Telos hinführt und in der „vollendeten Ablösung des Instinkts durch die Bewusstheit“8 mündet. Innerhalb dieser Entwicklung fallen der Ästhetik noch weitere Aufgaben zu, denn so, wie sie mit Hilfe des Schönheitsideals die „Naturzüchtung“ 9 zu leiten übernommen hat, gibt sie in der Erhaltung der Körperlichkeit auch die Richtung für Körperpflege und Kosmetik vor, und dies Alles im Dienste der „Selbstvollendung aller vom Menschheitsprinzip aufgreifbarer Anlagen im relativen Sinn einer höchstmöglichen Entfaltung“10. Metaphysisch interpretiert ist der Mensch für Alsberg „Sinn der Erde“11 und doch, so schließt er, ist „Kultur nichts anderes als zum Leben erstandenes Menschheitsprinzip“12 und zitiert Pindar mit: Werde, der du bist!
Der Geschlechtstrieb ist der Angriffspunkt für das Prinzip der Körperausschaltung, welche diesen Naturtrieb mittels der Idee des Schönen in die Form der Gattenwahl verwandelt. Der Geschlechtstrieb ist der natürliche Grund für die Erotik des Menschen, welche durch deren ideelle Ausgestaltung das Reich des Schönen eröffnet und entwickelt. Es ist das Reich der ästhetischen Freiheit, und es ist durch die es tragende Idee des Schönen bestimmt. Aus dieser Quelle stammen alle weiteren Schönheitsbereiche.
Die Kosmetik unterstreicht das Schönheitsideal und erweitert die Macht des Menschen über sich und seine Erotik. Das Unterstreichen von körperlichen Schönheitsmerkmalen lässt sich auf das Bild bzw. Abbild, die Plastik, die Sprache mit und ohne Gesang sowie auf Musik und Tanz – als idealtypische Verhältnisse und Bewegungen – übertragen. Auch körperliche Fitness und Körperpflege finden ihren Ursprung in der menschlichen Gattenwahl, des sie leitenden Ideals und dem in der Idee der Körperausschaltung impliziten Telos des Vollmenschentums. Die Fitness zeitigt bestimmte Körperformen und gibt diese der Idealisierung an die Hand. Des Weiteren lässt sich mittels ihrer eine ethologische Idee, wie die der griechischen Spiele in Olympia kultivieren. Sie führt dem Publikum das Ideal des Sportlers mit seinem Körperbau, aber auch mit seiner Askese und seinem agonalen Ethos vor, generiert Ordnung durch Gruppenbildung, unterscheidet Sieger und Verlierer, stiftet Friedenspflichten, einen Kalender unter den griechischen Stämmen und schafft nicht zuletzt Raum und Motiv für Ehrungen, Erzählung, Feste und Meinungsaustausch unter allen Teilnehmern. Die Körperpflege selbst stiftet ihre eigenen Ideale der Schönheit. Indem sie körperliches Wachstum und Erholung unterstützt, gehen aus ihr nicht nur Kenntnisse hervor, sondern auch Verhaltensweisen wie Ruhe, rekreative Bewegung, spezifische Diäten, Moden und Etikette und nicht zuletzt auch Attraktivität. Die Körperpflege erschafft ihre eigene Askese und ein ihr eigenes Ethos, die aus dem Schönheitsideal entstehen und sich in Kunst und Kultur wiederum manifestieren können.
Alsberg widmet in seiner Abhandlung dem Ästhetischen nur wenige Zeilen, man kann jedoch, ausgehend von den Stichworten Gattenwahl, Kosmetik und Körperpflege, die uns bekannten künstlerischen Genres angelegt erkennen, und stringent aus dem von Alsberg benannten Prinzip der Körperaussschaltung entwickeln.
Alsberg gelingt es, den Menschen als primus inter pares unter den Lebewesen zu bestimmen, ohne dabei die gemeinsame Substanz der Lebewesen aufzuheben. Der Mensch ist und bleibt ein Lebewesen unter Lebewesen, doch der Werkzeuggedanke und das Prinzip der Körperausschaltung überformen diese gemeinsame Substanz derart, dass der Mensch in ein Gegenüber zur Natur gerät. Unter den Lebewesen findet sich allein der Mensch in einer Position Welt und Natur gegenüber. Das Schöne gehört dabei wesentlich zu seinem Reich der Freiheit. Wie das Wahre und Gute ist – nach Alsberg – auch das Reich des Schönen Ausdruck jener einsamen Stellung des Menschen in der Welt, und es obliegt ihm, selbst das Rätsel dieser Sonderstellung mit der Entwicklung seiner Fähigkeiten einer Lösung zuzuführen. Das Telos dieser Entwicklung ist die Selbstwerdung des Menschen. Es ist der dynamische Substanzbegriff Alsbergs, welcher die Entwicklung des Dramas dieser Menschheitsaufgabe wie auch das daraus erwachsende geschichtliche Sein des Menschen ermöglicht.
Blicken wir von hier aus auf das eingangs zitierte Gedicht Es un hombre zurück, so können wir eine kurze Geschichte des Menschheitsrätsels erzählen: Ein Mann auf dem Weg durch seine Welt: Va solo por el campo. Im Oye su corazón, como golpea, erlebt er einen Akt der Selbstvergegenwärtigung. Sie überwältigt ihn und schlägt ihn nieder: el hombre se detiene/ y se pone a llorar sobre la tierra. In der Gegenwärtigkeit der Erinnerung an seine Jugend erwacht der Schmerz, Umwelt verwandelt sich in Umfeld und Umgebung: Crece la savia/ verde y armaga de la primavera. Der Mensch wird seiner Vergänglichkeit gewahr, doch er richtet sich wieder auf, frei dem Sonnenuntergang zu folgen: Hacia el ocaso va, und er zieht weiter seines Weges, einsam unter den Lebewesen: un pajaro triste/ canta entre las ramas negras. Er nimmt sein Sein an: Ya el hombre apenas llora, und er versetzt sich so in den Stand, danach fragen zu können: Se pregunta por el sabor a muerto de su lengua, und er beginnt auf diese Weise sich selbst zu ergreifen, getreu des schon erwähnten Pindarschen Mottos: Werde, der du bist!
Vorwärts im aufrechten Gang, seinen Schwerpunkt in sich selbst tragend wie seiner Geschichte innewerdend, ist der Alsbergische Mensch in Es un hombre allein unter den Lebewesen frei, nach seinen Grenzen zu streben.
Das Novum des Denkens, welches Max Scheler seit der Zeit seiner Köllner Vorlesungen von 1922 in der philosophischen Skizze Die Stellung des Menschen im Kosmos kundtun konnte und was ihn zu der Behauptung berechtigte, dass die „Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland“ 1 getreten seien, lag in der Heranziehung einer neuen Modellwissenschaft zum philosophischen Denken: der Biologie. In der Zeit einer Krisis des traditionellen Menschenbildes, innerhalb dessen er entweder als Abbild Gottes oder als selbstverständlicher Träger eines Logos bestimmt worden war, war es ob der neuzeitlichen Wissenschaften (wie der Evolutionstheorie, welche den Menschen als ein wohl komplexeres, gar als den Höhepunkt einer Entwicklung jedoch rein natürlicher Lebensformen auffasste) notwendig geworden, Traditionsstränge neu zu überprüfen. Hinzu kam die Tatsache, dass die verschiedenen Wissenschaften „gewaltige Schätze des Einzelwissens“2 vom Menschen erarbeitet hatten, so dass die Zeit reif schien, für den Menschen „eine neue Form seines Selbstbewusstseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln.“3
Demnach musste sich der Horizont der zentralen philosophischen Fragestellung verschieben – nach der ersten anthropologischen Wende durch Sokrates, jetzt eine zweite – und das Lebendige den paradigmatischen Rahmen dafür darstellen. Der Mensch musste nun als Forschungsgegenstand notwendig in den Fokus der philosophischen Untersuchungen einrücken, war er doch das einzige lebendige Wesen, dessen Innenleben, dessen „Fürsich- und Innesein“4, welches Scheler als „das psychische Urphänomen des Lebens“5 bestimmte, ihm selber einsichtig werden konnte. Konsequenterweise musste sich der Blick auf den Menschen grundsätzlich neu einstellen. Mit theologischen oder metaphysischen Kriterien allein konnte er nicht mehr zureichend beschrieben werden. Es bedurfte zusätzlicher, neuer Konzepte, die den im Aufschwung befindlichen Lebenswissenschaften wie der Biologie Jakob von Uexkülls entnommen werden konnten – wie z.B. der zentrale Begriff der Umwelt6. Damit rückte der Mensch in den Zusammenhang von Tier und Pflanze – seinen Mit-Lebewesen – ein, und es ergab sich zwingend die Frage der modernen Anthropologie nach der Sonderstellung des Menschen in dieser Welt: das Wort „Mensch in der Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern […] soll auch einen Inbegriff von Dingen bezeichnen, den man dem Begriffe des ‚Tieres überhaupt‘ aufs Schärfste entgegensetzt […]“.7
Scheler kontrastiert diesen emphatischen Menschenbegriff, den er den „Wesensbegriff“8 des Menschen nennt, mit einem „natursystematischen Begriff“9 und fragt:
Ob dieser zweite Begriff, der dem Menschen als solchem eine Sonderstellung gibt, die mit jeder anderen Sonderstellung einer lebendigen Spezies unvergleichbar ist, überhaupt zu Recht bestehe – das ist unser Thema.10
Das Verdienst Schelers war es also, als erster grundlegend neue Konzepte für diese neue Situation in das philosophische Denken eingeführt und die Fundamente dieses modernen Zweiges der Philosophie gelegt zu haben.
Die Fragen, welche Konsequenzen sich aus dieser anthropologischen Wende des Denkens für Ästhetik und Poetik ergeben, sollen hier behandelt werden.
Schnell beginnt Scheler in der Kosmosschrift mit der Rekonstruktion der lebendigen Welt, auf deren Stufenleiter er den Menschen an oberster Stelle einordnen wird. Die Grenze des Psychischen fällt für ihn mit der Grenze des Lebendigen zusammen1, und er bestimmt für diese neben anderen als dessen wesentliches Merkmal ein „Fürsich- und Innensein“2.
Es ist die psychische Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt – das psychische Urphänomen des Lebens.3
Dessen unterste Stufe bilde der „bewusstlose, empfindungs- und vorstellungslose ‚Gefühlsdrang‘.“4
Mit dem Kompositum Gefühlsdrang kennzeichnet Scheler im „Gefühl“5 das oben genannte Urphänomen des Lebens, jenes Fürsich- und Innensein, und begründet damit ein erstes Sich-gegeben-Sein des Lebendigen. Zugleich verweist jenes Fürsich- und Innensein auf ein Außen und stiftet im selben Atemzug das Gegenüber des Lebewesens seine Welt oder besser seine ihm zughörige Umwelt. Mit dem Rückgriff auf das Wort „Drang“ – in seiner Bestimmung aus dem 18. Jahrhundert als „innerer Trieb, geistiges Streben, Impuls“6 – verweist er auf einen makrokosmischen Vorgang, welcher sich als solcher eben auch im Lebendigen abbildet und abbilden müsse. Denn die Wesensstufen des Lebendigen befinden sich für den Metaphysiker Scheler eingebettet in ein Weltgeschehen, innerhalb dessen er dem Menschen als Summe des Lebendigen und des Geistes seine ihm spezifische Rolle zuweist. So fragt Scheler, nachdem er die Leiter des Lebendigen bis zum Menschen erklommen hat:
Ist das nicht, als gäbe es eine Stufenleiter, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner inne zu werden – um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen?7
Damit reserviert Scheler dem Menschen ein „ausgezeichnetes Verhältnis, das der Mensch als solcher zum Weltgrund besäße.“8 Dies ist durchaus als eine kritische Replik auf das Menschbild des homo faber aufzufassen. Er distanziert sich damit auch von einem Menschenbild, welches sich in mechanistischen Metaphern von Stoß und Zug erklärt, und zu deren Urvätern auch Descartes oder Kant gehören. Zugleich jedoch verschließt er sich einem Panpsychismus, da er die unbelebte Materie aus dieser Konzeption des Lebendigen verdammt.
Schelers metaphysische Weltkonzeption weist dem Menschen eine tragende Rolle zu. Denn dieser ist als Leben und Geist vereinendes Wesen mit seinem Zentrum der Person aktiver Träger der makrokosmischen Entwicklung, welche sich weder pantheistisch noch panentheistisch als creatio continua9 der Ens a se geschichtlich realisiert. Es ist der allseits bekannte Gedanke eines teleoklinen Weltgeschehens mit dem Menschen als Erfüllungsfigur. Die spezifische Konstruktion dieses Bildes verdankt sich dem metaphysischen Hintergrund, denn das „Sein der Substanz ist ewig; aber das Dasein Gottes als der Identität des Geistes und der Idee ist nur ein Werden“10. Ein Werden, welches durch den Menschen in der Rolle des Ausführenden eines göttlichen Willens – der sich im Geiste manifestiert – ausdrückt:
Der Substanzielle Weltgrund hat zwei Attribute: den Geist und das Leben. (Der Geist realisiert sich in forma von Person; das Leben in Form von Organismen). Sein «Werden» besteht in Vergeistigung des Lebens (Bewegung von oben nach unten) und Verlebendigung (Realisierung) des Geistes (Bewegung von unten nach oben). Der Wille Gottes ist nur das «non non fiat» – nicht das fiat. Darum ist 1. die geistige Gottheit nicht verantwortlich für die Welt. Denn ihre «Macht» war nur negativ; 2. ist das «aus Nichts» vermieden; denn der schöpferische Drang schafft das, was er schafft, aus sich selbst. Der Drang als das realisierende Prinzip ist an sich jenseits von Gut und Böse; gut-schlecht.11
Die Mechanik des „non fiat“ (hemmen) und des „non non fiat“ (enthemmen) findet sich in der Kosmosschrift als „Lenkung“ des metaphysischen Geschehens mittels des Geistes beschrieben12 und besteht in dem vom Geist und dessen Ideen geleiteten Willen, welcher sich den unerwünschten Triebregungen und Vorstellungen versagt und ideen- und wertangemessene Vorstellungen dem Trieb zur Realisierung vorsetzt. Der Geist realisiere sich in der vom Drang geschaffenen Welt und verlebendige sich, während auf der anderen Seite der an sich machtlose Geist die Energien aus dem Drang erhielte. Scheler schließt sich mit dieser metaphysischen Mechanik den Ideen Nicolai Hartmanns an, der „die höheren Seins- und Wertkategorien“ von Hause aus für die schwächeren erkläre13, und kehrt die traditionelle philosophische Anschauung zur Macht und Ohnmacht des Geistes um. Denn die aristotelische Tradition meinte im nous poietikos14 ein machtvolles metaphysisches Agens ausmachen zu können.
Die Verwirklichung des göttlichen Wesens selbst ist ohne das Mitwerden der Welt nicht möglich. Indem der [209] Drang – drängte, seinen unendlichen Reichtum an Richtungen in Phantasiebildern zu entladen, wäre doch ohne den Geist nur ein bestandloses Chaos entstanden. Er musste sich Ideen des Geistes und seinen Werten unterwerfen, die der Geist aus seinen unendlichen Möglichkeiten also auswählte, das ein bestandfähiges, ja ein sich Vervollkommnendes zustande kam. Auch die anorganische Welt enthält weder quantitative noch qualitative absolute Konstanten. Sie gleichen dem Chaos umso mehr, je älter die Stufe ist, auf der wir sie betrachten. Die Natur ist an zufälligem Sosein nur das Phantasiespiel der Gottheit als Drang – geleitet durch den Eros, der zu Gestalt und zu Schönheit richtet.15
Das göttliche Wesen realisiere sich in der Welt mittels des Geistes, dessen Träger, der Mensch, an den Ausführungen jenes Prozesses selbst direkt beteiligt sei. Dies sichere ihm eine Sonderstellung im geschichtlichen Werden der Welt zu, und diese Sonderstellung sei das Resultat der direkten Rückbindung des Menschen an einen „Weltgrund“16, – womit sich seine privilegierte Stellung unter den Lebewesen bestätigte. Es handelt sich bei der Schelerschen Konzeption um eine ausgearbeitete „Metaphysik des Menschen“17.
Ausdruck besteht bei Scheler in einer Regung, in einer allgemeinen Veränderung und letztlich in einer Bewegung, durch die sich etwas ausdrücklich zu werden anschickt und bemerkbar macht. Aus dem Gesamt der Eindrücke beginnen einzelne sich herauszulösen. Dabei muss deren Ausdrücklichkeit sich noch nicht wirklich im einzelnen kundtun, sondern kann von der Empfindung vorher schon angemahnt worden sein. Der Ausdruck gehe jedoch der Empfindung voraus, denn der Ausdruck sei ein „Urphänomen des Lebens“1 und aufs engste mit dem empfindungs- und vorstellungslosen Gefühlsdrang verbunden – der untersten Stufe des Lebens –, welcher alle seine Formen durchzieht. Schon im pflanzlichen Dasein gebe es ihn, und er drücke „eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm“2, aus.
Der Ausdruck scheint derart grundlegend für das gesamte Leben zu sein, dass es dem Menschen noch heute außerordentlich schwer fällt, die Ausdrucksqualitäten dessen, was er betrachtet, bewusst außen vorzulassen. Der nüchterne wissenschaftliche Blick auf die Naturphänomene ist eine Errungenschaft der Neuzeit, und das Erwachen des menschlichen Bewusstseins kennt in allen Kulturen die Projektion der Innenzustände des Lebewesens Mensch in seine Außenwelt, welche sich durch ihn begeistert und sich mit mythischen Wesen erfüllt zeigt.
Auch die Empfindung wächst bei Scheler aus der Bewegung. Sie ist erlittene Bewegung, und er definiert ihre allgemeinste Idee als „Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegung kraft dieser Rückmeldung.“3
Der Reflexbogen, den Scheler hier beschreibt, äußert sich in der auf die Empfindung folgende Bewegung, wobei in diesem höchst innigen Zusammenhang noch nicht entschieden ist, in wieweit die Bewegung eine geführte oder irgendeine allgemeine, unbestimmte Bewegung ist. Sicher bleibt jedoch, dass sie eine Folge der erlittenen Bewegung, also Empfindung, ist und sich als ein Tun des Lebewesens äußert. Dieses Tun wird alsdann wiederum empfunden. So schließt und öffnet sich zugleich ein Kreis der anlandenden Empfindung; einerlei, ob durch das Tun des Lebewesens selbst provoziert oder willkürlich erlitten. In seiner Konsequenz jedoch eröffnet sich dem Lebewesen ein Raum, ein Dazwischen, ein freier Raum, zwischen sich und Welt, eine kleinste Fraktur, welche es von der Welt scheidet und dieser gegenüberstellt. Empfindung ist in diesem Sinne eine Zustandsempfindung der Selbstbewegung. So verschieden Empfindung und Bewegung scheinen, erwachsen sie gleichursprünglich mit dem Leben.
Alle Kunst jedoch entsteht aus geführter Bewegung, aus tätigem Empfinden, einer sozusagen zweiten oder dritten Potenz der Empfindungsmöglichkeiten. Die Voraussetzung dafür finden wir mit Scheler bereits auf der untersten Stufe des Lebens, dem Gefühlsdrang. Selbst die einfachsten Empfindungen, seien nämlich „nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit.“4
Sie seien Ausdruck des Gefühlsdrangs, welcher über die Vermittlung seines Drängens auf Widerstand treffe. Dieses Widerstandserlebnis bestimmt Scheler als den Ursprung der Erfahrung von Wirklichkeit:
Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles Habens von «Realität», von «Wirklichkeit» ist, insbesondere auch der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorangängigen Eindrucks der Wirklichkeit.5
Produktiver Antrieb für die Möglichkeit von Vorstellungen im Innenleben des Lebewesens sei die „triebhafte Aufmerksamkeit“6. Sie sei gleichsam verantwortlich für die Schaffung der Anlage der vorstellenden Funktionen aus dem auf diese Weise aus der Widerständigkeit der Welt geschöpften Eindruck.
Die Realität ist in ihrer subjektiven Gegebenheit eine Erfahrung des ungeistigen, triebhaften Prinzips in uns: eine Erfahrung des einheitlichen, wie immer sich spezialisierenden Lebensdranges in uns. Und Realität ist als etwas Objektives und unserem Erfahren Transzendentes notwendig Gesetzheit durch das ursprünglich geistblinde dynamische Prinzip des Dranges – des anderen uns noch erkennbaren Prinzips des Urgrundes selbst.7
Was sich im Mikrokosmos Mensch abspielt, findet seine Parallele im Makrokosmos und vervollständigt so die metaphysische Konzeption des Schelerschen Welt- und Menschenbildes. Der schöpferische Drang als metaphysisches Prinzip und als Prinzip des Lebendigen erschaffe Realität. Dem Geist, dem zweiten Attribut des Urgrundes, fällt dann die Rolle zu, dem darunter sich befindenden Chaos seine ordnenden und zur Vergöttlichung der Welt führenden Werte anzubieten. Für die Erkenntnis bedeutet dies, dass Realsein kein Gegenstandssein ist, in welchem sich gleich ein wie auch immer geartetes Sosein der Dinge ausdrückt, sondern zuerst ein „vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dasselbe ist.“8
Desgleichen heißt dies, dass dieses Widerstandserlebnis eine Erfahrung des aktiven Selbst ist und mit den peripheren Sinneserlebnissen nicht verwechselt werden darf, denn „nicht Empfindungen widerstehen, sondern die Dinge selbst.“9 Die Betonung der Aktivität eines Selbst bei der Erfahrung der Realität überhaupt, lässt es als plausibel erscheinen, dass das Lebewesen Mensch, die Realität zuerst als Leibsein begreift, da für es gilt:
Das Realsein in der Sphäre «Leibsein» und in der Struktur des Urphänomens «Lebendigsein» ist dem Realsein in der Sphäre «Totsein» (= Mangel an Lebendigsein) so vorgegeben, dass primär und ceteris paribus alles in der Sphäre «Außenwelt» überhaupt Gegebene als leibhaft und lebendig gegeben ist – und dies solange als nicht spezifische ent-täuschende positive Erfahrungsinhalte einiges außenweltliche Sosein als nicht-leibhaft und -lebendig, sondern als körperhaft und tot (= ohne ein Für-sich-Sein und Innensein Seiendes) zu besonderem Aufweis bringen.10
Wenn dem Lebewesen Mensch die Welt zuerst all das ist, was es als lebendiges Wesen selbst ist, so entziffert sich ihm die Welt über das Rissig-Werden dieser vorerst natürlichen Haltung. Eine wesentliche Unterscheidung dabei ist die Erkenntnis eines Anderen des Lebens, des Unbelebten, des Toten oder nur Gegenständlichen. Dieser Vorgang illustriert, was man die Tendenz des Wahrnehmens nennen könnte:
Wahrnehmung – das ist ursprünglich nur der Begriff einer Richtung: der Richtung einer mehr negativ-kritischen als einer positiven Tätigkeit; nämlich Kritik und der Negation der ‚Tradition‘ kraft vergegenständlichender Erinnerung, der Kritik und Negation ferner der Fikta der Trieb- und Wunschphantasie auf Grund von Erfolg und Misserfolg des praktischen Verhaltens gegenüber den ‚zunächst‘ mit Wahrnehmungscharakter und Ding- und Bildcharakter gegebenen «fiktiven» Gegenständen. Ein Ende und ein Ziel also ist die Wahrnehmung – wahrlich nirgends der Anfang seelisch-geistiger Entwicklung.11
Der dissoziierende Vorgang bei der Entfaltung des Geschehens Wahrnehmung findet sich analog in der Abfolge der seelischen Wesensformen des Lebendigen wieder. War der „Gefühlsdrang“ noch weitgehend einheitlich und undifferenziert – das pflanzliche Leben ist fest mit dem Boden verwurzelt, ernährt sich aus dessen chemischer Analyse und differenziert grob wie zum Beispiel zwischen Licht und Dunkel –, so kennzeichnet Scheler die nächste Stufe des Lebendigen durch den Instinkt und bestimmt ihn als eine art-dienliche Zeitfigur1. Eine Erweiterung der Fähigkeiten des Lebendigen, derer die Pflanze in ihrer Verwurzeltheit nicht bedarf, da die Seinsveränderung des lebendigen Wesens im Hinblick auf den Ort durch Selbstbewegung ein Privileg der tierischen Lebensform ist.
In diesem Sinne nennen wir „instinktiv“ ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muss erstens sinnmäßig sein, d.h. so sein, dass es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger […] teleoklin ist. Und es muss zweitens nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen.2
Das Wort „sinngemäß“ im Zusammenhang mit dem Instinktiven verwundert, ist aber der Idee eines teleoklinen Ablaufs geschuldet, dem Zweck der Überlebenssicherung des Individuums durch von der Spezies aufgebaute und bereit gestellte komplexe Verhaltensweisen. An dieser Stelle erscheint zum ersten Mal die Bewegung als Ortsveränderung in den Formen von einem Zu-hin und Von-weg, von Angriff und Flucht, Attraktion und Repulsion. Der gewachsene Aktionskreis des tierischen Lebewesens spiegele sich in seiner Struktur als komplexerer Aufbau wider. Er bedinge ebensolche komplexere Abläufe im Lebewesen selbst. Zum ersten Mal in der Stufenabfolge des Lebendigen erscheint eine Gesamtheit von Tätigkeiten, welche Scheler in die Formulierung eines „festen, unveränderlichen Rhythmus“3 packt. Da es sich um eine mehrgliedrige Tätigkeit handelt, fügt er hinzu:
Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung – nach dem Prinzip, das Jennings das von „Versuch und Irrtum“ genannt hat – erworbenen, gleichfalls sinnvollen Bewegungen nicht.4
Scheler unterscheidet sie als angeborene und erbliche von den erworbenen Bewegungen. Der Instinkt sei in die Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert5 und im engsten Zusammenhang mit ihrer physiologischen Struktur tätig. Als ererbt bedinge er das, was ein Tier vorstellen, erinnern und empfinden könne. Der Instinkt umschließe alle diese Tätigkeiten des Tieres. Er sei in seiner arttypischen Anordnung wie eine Melodie6, welche wohl geübt und präzisiert werden könne, aber keine strukturelle Abwandlung erlaubte, ohne dass diese zu ihrer Desintegration führe. Zudem sei er zum einen unabhängig vom Individuum der Art und somit Allgemeingut, zum anderen unabhängig von der Anzahl der Versuche. Der Instinkt sei als Vermögen der Art eine von Beginn an vollständige, teleokline Figur, welche in ihrer Struktur immer gleich abläuft. Insofern gehört seine besondere Ausprägung zur Kennzeichnung der Art, welche in ihrer Umwelt mittels seiner agieren kann.
Der Instinkt ist die spezifische Figur eines Tuns und in seiner Mehrgliedrigkeit eine Rhythmusgestalt, welche als ein Urphänomen der Zeitgestaltung begriffen werden kann. Damit wäre der Instinkt ein erstes innerlich gegliedertes und gestaltetes Zeitfragment eines Lebewesens, ein festgelegter Rhythmus, ein erstes inneres Zeitmaß, eine erste innerliche Uhr des handelnden Lebens selbst. Als solcher zeugt er aber auch von der innigen Verbindung eines Lebewesens mit seiner Umwelt, und im Weiteren mit den makrokosmischen Vorgängen, welche die Wechsel in der Umwelt eines Lebewesens mitbedingen. Tatsächlich jedoch ist er Teil eines Gesamtvorgangs in der Natur und somit ein Bruchstück, welches als solches nicht selbst abstrahiert und als Zeitmesser verwendet werden könnte, aber als in einem Lebewesen angelegter Vorgang bestätigt er dessen Vermögen zu gegliederter und gestalteter Zeit.
So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sog. «Trieb»handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, dass sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z.B. die Sucht nach Rauschgift).7
Treten wir aus der Instinktschicht heraus und erklimmen die nächsthöhere Stufe des Lebendigen, so stoßen wir auf „jene Fähigkeit […] die wir als ‚assoziatives Gedächtnisʻ (Mneme) bezeichnen.“8 Doch bevor Teile assoziativ neu angeordnet werden können, bedürfe es eines aus dem „biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen“9 austreibenden Mechanismus der Dissoziation, welchen Scheler in der Großhirnrinde lokalisiert. Relative Einzelempfindungen und Einzelvorstellungen sowie einzelne Triebe treten aus dem im Instinkt noch gebundenen komplexen Verband der Regungen heraus. Es handelt sich um den Vorgang der „schöpferischen Dissoziation“10. Der Instinkt trete zurück, die Spuren, welche die Umwelt im Lebewesen hinterlässt, vertieften sich, würden plastischer und könnten, ja müssten neu geordnet werden. Dies geschehe durch das „gewohnheitsmäßige“11, Grundlage des assoziativen Gedächtnisses, welches sich über Probierbewegungen lebensdienliche Strategien aufbaue. Die Probierbewegungen führt Scheler auf einen „Wiederholungstrieb“12 zurück, so wie er die Gesetze der Assoziation auf die des Pawlowschen „«bedingten Reflexes»“13 zurückführt, deren psychische Seite sie darstellten. Die Assoziationsgesetze von „«Berührung und Ähnlichkeit»“14 konfigurieren oder rekonfigurieren die aus einem zerfallenen Gesamtkomplex von Vorstellungen einzelnen Teile. Wie schon vorher bei den Empfindungen gibt es auch hier für Scheler keine reinen Assoziationen, sondern die diese determinierenden Kräfte von Trieben, Bedürfnissen oder auch der Dressur15. Und wiederum bemüht er eine historische Parallele, indem er das assoziative Gedächtnis der Mythenkritik als ein Spätphänomen der Menschheitsentwicklung hinzufügt.
Die Prinzipien von Berührung und Ähnlichkeit