Trauer und Trauerbewältigung - Hansjörg Znoj - E-Book

Trauer und Trauerbewältigung E-Book

Hansjörg Znoj

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Beschreibung

Die Psychologie der Trauer hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Erkenntnisse erbracht und vermeintliches Wissen als Meinung entlarvt, das wenig mit der Wirklichkeit, viel aber mit Vorstellungen und kulturellen Überlieferungen zu tun hat. Das Buch behandelt große Themen wie die allgemeine Trauer oder die psychologische Therapie komplizierter oder anhaltender Trauer. Der Autor berücksichtigt die möglichen langfristigen Folgen eines Verlustes und zeigt differentialdiagnostisch auf, welche Störungen mit Trauer komorbid sein können. Die Neuauflage berücksichtigt die aktuellen Ergebnisse der Forschung, insbesondere bezüglich der Diagnose "Anhaltende Trauerstörung" und der Therapie chronischer Trauer.

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Inhalt

Cover

Titelei - Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und

Einleitung

Aufbau des Buches

1. Vorlesung Begriffsklärung

Gefühlsäußerungen

Emotionale, kognitive und physiologische Reaktionen

Trauer wird als Schmerz erlebt

Kognitiv: Schuld und Sühne

Modelle der Trauer

Psychodynamische Modelle (Phasenmodelle)

Bindungstheorie

Biologische Perspektive

Das Stressmodell

Das Copingmodell

2. Vorlesung Wer trauert wie, weshalb, worum?

Mythen bezüglich der Trauer

Mythos Nr. 1: Nach einem Verlust folgt unvermeidlich eine hohe emotionale Belastung und eine Depression.

Mythos Nr. 2: Das Erleben intensiver emotionaler Belastung stellt eine notwendige Voraussetzung für den Heilungsprozess dar.

Mythos Nr. 3: Ein Verlust muss durchgearbeitet werden; die mit dem Verlust einhergehenden Veränderungen müssen emotional konfrontiert werden.

Mythos Nr. 4: Nach erfolgter »Trauerarbeit« kommt es zu einer bleibenden Verbesserung des Zustandes und zu einer vollständigen Erholung des psychischen Befindens.

Mythos Nr. 5: Als Ergebnis erfolgreicher Trauerarbeit kann der Verlust nicht nur akzeptiert werden, sondern er bekommt auch eine Bedeutung für das eigene Leben.

Weitere Vorstellungen betreffen die Dauer der Trauer und das Verhalten gegenüber Trauergefühlen.

Wer trauert?

Zur Dauer der Trauer

3. Vorlesung Trauer als Problem

Trauer als Problem

Einfache vs. komplizierte Trauerreaktion: Trauer kann als »Modell« eines psychischen Traumas begriffen werden.

Diagnostik der komplizierten Trauer

Differenzialdiagnostische Aspekte

Ist die Diagnose komplizierte oder anhaltende Trauerreaktion gerechtfertigt?

4. Vorlesung Zur Wirksamkeit therapeutischer Vorgehensweisen

Therapie der (komplizierten oder anhaltenden) Trauerreaktion

Vorläufiges Fazit für die Praxis

Suchen (kompliziert) Trauernde psychotherapeutische Hilfe?

5. Vorlesung Techniken, Fallkonzeption und Fazit

Therapeutische Modelle und Herangehensweisen

Therapieplanung und Fallkonzeption

Fallbeispiel: Trauer um den verstorbenen Mann

Fallkonzeption von Frau F.

Therapieplanung

Das kognitiv-verhaltenstherapeutische Prozessmodell

Aktivierende Techniken zur Exposition

Die Bearbeitung kognitiver Elemente

Schlussgedanken

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik

Herausgegeben von Michael Ermann und Dorothea Huber

Michael Ermann, Prof. Dr. med. habil., ist Psychoanalytiker in Berlin und em. Professor für Psychotherapie und Psychosomatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dorothea Huber, Professor Dr. med. Dr. phil., war bis 2018 Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der München Klinik. Sie ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität, IPU Berlin, und in der wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen tätig.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/lindauer-beitraege

Der Autor

Hansjörg Znoj, Prof. em. Dr., war bis 2021 Mitdirektor am Institut für Psychologie und Leiter der Abteilung Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin an der Universität Bern.

Hansjörg Znoj

Trauer und Trauerbewältigung

Psychologische Konzepte im Wandel

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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2., aktualisierte Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-038370-8

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-038371-5epub:ISBN 978-3-17-038372-2

Einleitung

Oftmals empfinden selbst »gestandene« Therapeuten eine Scheu, sich mit Trauer und Trauerprozessen auseinanderzusetzen. Diese Scheu, um nicht zu sagen Angst, hat viele Gründe, nicht zuletzt gesellschaftlich-kulturelle. Ist es nicht so, dass wir als Teil dieser Gesellschaft das Thema »Sterben, Tod, Verlassenwerden« nur ungern an uns heranlassen, weil wir damit Leiden und Hilflosigkeit verbinden? Gerade als Helfer sehen wir uns aufgerufen, Veränderungen zu erzielen, Hoffnung zu wecken, Wachstum zu fördern. Dem Tod und der Endgültigkeit gegenüber fühlen wir uns aber genauso machtlos und hilflos ausgesetzt wie unser Patient. Zudem ist Trauer eine universale Erfahrung nach einem endgültigen Verlust und fällt nicht in die Kategorie »gestörtes Verhalten«. Damit ist die Zuständigkeit verschwommen; gerne delegieren wir sie weiter. Zum Beispiel an Personen, die sich beruflich damit auseinandersetzen müssen wie Bestattungsunternehmen oder an die Kirche, weil diese sich aus Tradition mit dem Sterben und Tod beschäftigt und einen Trost spenden kann, über den wir Psychotherapeuten nicht verfügen. Wir arbeiten ja nicht mit dem Glauben, sondern mit zumeist wissenschaftlich abgesicherten Methoden, und wir wollen und können uns auch nicht auf die Frage einlassen, was nach dem Tod geschieht. Für uns ist der Tod endgültig, auch wenn wir selbst vielleicht insgeheim an ein Weiterleben nach dem Tod glauben mögen. Aber das ist privat und hat mit Psychotherapie nichts zu tun, wenn es auch immer wieder Bestrebungen gibt, diese »jenseitige« Dimension zu psychologisieren.1 Trauer hat auch deshalb wenig »Sexappeal«, weil dem Trauernden mit dem Tod des geliebten Menschen Zukunft und Hoffnung stirbt. Wer sich aber mit Trauer länger auseinandersetzt, wird ein faszinierendes Gebiet vorfinden, ein riesiges Spektrum von möglichen Verhaltensweisen. Die Psychologie der Trauer hat in den vergangenen Jahren eine Menge an Erkenntnissen zutage gefördert und gleichzeitig vermeintliches Wissen als das entlarvt, was es ist: als Meinung über einen Gegenstand, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, aber mit Vorstellungen, kulturellen Überlieferungen und anekdotischen Beschreibungen eng verbunden ist.

Die Vorlesungsreihe – gehalten im Frühjahr 2008 in Lindau – gab mir die Gelegenheit, mich einem ausgesprochenen Fachpublikum zu stellen und zu versuchen, diesem mein erarbeitetes empirisches Wissen zu vermitteln; Wissen aus Forschungsprojekten, das in vielen Publikationen in den letzten Jahren zunehmend Eingang findet und sogar eigene wissenschaftliche Zeitschriften hervorgebracht hat. Diese Erkenntnisse sind notwendig, damit hilfesuchende Personen fachlich eine adäquate Behandlung erhalten können und Institutionen, die mit dem Thema oft konfrontiert werden, die dafür notwendigen Informationen bekommen. Es war und ist mir wichtig, dass dieses empirisch begründete Wissen rezipiert wird. Nicht weil ich Therapeuten grundsätzlich nicht zutraue, sich ein eigenes Urteil zu bilden, sondern weil ich immer wieder die Erfahrung mache, dass dieses Wissen in der Psychotherapieausbildung ein stiefmütterliches Dasein genießt, unter anderem aus Gründen, die ich weiter oben erwähnt habe, zum anderen aber auch deshalb, weil es für den Zustand, den wir als »Trauer« bezeichnen, kaum eine als nennenswert zu bezeichnende Diagnostik gibt. Dies hat sich in der Zwischenzeit geändert. Im DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der APA (American Psychiatric Association) gibt es neu die Forschungsdiagnose »Störung durch anhaltende komplexe Trauerreaktion« und auch im ICD-11 der WHO wird die Diagnose »Anhaltende Trauerstörung« eingeführt. Die Diagnose ist aber nicht unumstritten. Kriterien, wann die Trauer zum Problem wird und wann Trauernden professionelle Hilfe angeboten werden soll, wurden in den letzten Jahren seit der ersten Auflage dieses Buches untersucht und es existieren Manuale für das therapeutische Vorgehen. Die Abgrenzung zur »normalen« Trauer ist aber immer noch schwierig und oft ist eine anhaltende Trauer von anderen gleichzeitig auftretenden psychischen Problemen begleitet. Neben der Trauer beinhaltet der Titel der Vorlesungsreihe auch den Begriff der Melancholie. Das Wort selbst leitet sich vom griechischen Begriff »Melancholia« (»schwarze Galle«) ab und bezeichnet einen seelischen Zustand von Schwermut oder Traurigkeit, der in der Regel auf keinen bestimmten Auslöser oder Anlass zurückgeht. Umgangssprachlich ist die Melancholie nicht nur negativ besetzt; sie wird in Philosophie, Medizin, Psychologie, Theologie und Kunst unterschiedlich behandelt und bewertet. In Bezug auf das Krankheitsbild wurde der Begriff Melancholie des 20. Jahrhunderts weitgehend durch den der Depression ersetzt. Die Unterschiede zwischen Trauer und Melancholie wurden bereits von Freud (1917) betont; allerdings möchte ich in diesem Band nicht nur auf die Unterschiede von Trauer zur Depression eingehen, sondern die Differentialdiagnostik allgemeiner behandeln und v. a. auf die Frage eingehen, welche Folgen der Verlust eines geliebten Menschen langfristig haben kann.

Aufbau des Buches

Der Aufbau des Buchs folgt weitgehend der Gliederung und damit den einzelnen Tagen der Vorlesungsreihe, die vom Montag bis zum Freitag gehalten wurde. Die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf, widmen sich aber auch immer einzelnen großen Themen, wie etwa der allgemeinen Trauer in der Vorlesung am ersten Tag oder der eigentlichen Therapie von anhaltender oder auch komplizierter Trauer in der letzten Vorlesung am fünften Tag. Die einzelnen Themen können jedoch ebenfalls für sich allein gelesen werden. Einigen Lesern werden die Kapitel zu den Studienergebnissen vielleicht weniger interessant oder zu technisch erscheinen; diese Teile dürfen ohne Schaden für das Verständnis übersprungen werden.

An dieser Stelle möchte ich nochmals den Veranstaltern dieses bedeutenden jährlichen Anlasses und auch dem Herausgeber dieser Reihe für die Gelegenheit danken, meine Gedanken zur Trauer so ausführlich darstellen zu dürfen. Mein Dank gilt auch zahlreichen Mitarbeitern, die mir erst ermöglicht haben, selbst Studien zu diesem wichtigen Thema durchführen zu können, und die mir durch ihren Einsatz geholfen haben, viele Zusammenhänge zu klären; Fakten und Zusammenhänge, die hoffentlich jetzt auch anderen Menschen, Trauernden und nicht aktuell Trauernden vermittelt werden können.

Bern, im Juni 2022 Hansjörg Znoj

Endnoten

1 z. B. Pargament, 1997

1. VorlesungBegriffsklärung

Was ist eigentlich Trauer, was verstehen wir darunter? Zunächst einmal scheint es klar zu sein: Wir sind traurig, weil wir einen geliebten Menschen verloren haben, weil wir ein Ziel nicht erreichen konnten oder weil uns der Grund unseres Daseins abhanden gekommen ist. Trauer ist mit ganz bestimmten Gefühlslagen assoziiert, mit Weinen und dem seelischen Zustand der Verzweiflung. Trauer ist auch universal, sie ist allen Völkern als Zustand bekannt – nicht zuletzt bestätigen dies Untersuchungen, die vor Jahren von Klaus Scherer und Mitarbeitern2 in Indonesien (Papua Neuguinea) durchgeführt wurden und die kulturrelativistische Auffassung widerlegt haben, dass die Interpretation von emotionalem Ausdruck rein kulturell überliefert ist. Lachen und Weinen stellen, wie die Ärgerreaktion auch, grundlegende und genetisch weitgehend festgelegte Kommunikationsmuster dar, wie sie nicht nur der Mensch kennt, sondern wie sie auch vielen sozialen Tieren zu eigen sind; dies stellte schon Darwin3 in seinem Buch »Expression of the Emotions in Man and Animal« fest. Doch würde eine Abhandlung der Trauer zu kurz greifen, würde nur der Ausdruck von Trauer und Verlust beschrieben werden. Der Zustand der Trauer umfasst mehr. Er beschränkt sich nicht nur auf den Einzelnen, sondern umschreibt auch den Zustand ganzer sozialer Verbände und größerer Gemeinschaften. In Trauer zu sein bedeutet nicht nur und ausschließlich, dass wir uns in einem besonderen emotionalen Zustand befinden, sondern dieser Umstand zieht auch besondere Organisationsformen des sozialen Zusammenseins nach sich. In der Trauer um einen geliebten oder besonders wichtigen Vertreter eines sozialen Gemeinwesens versuchen sich die Mitglieder gegenseitig zu versichern, dass sie stark genug sind, das Leben ohne diese Person zu bewältigen. Auch geht es darum, dem verstorbenen Menschen die entsprechende Ehre zu erweisen und ihm oder ihr – dem jeweiligen Status entsprechend – ein Denkmal zu setzen. Mit entsprechenden Ritualen bemühen sich die Menschen, das kollektive Gedächtnis an die verstorbene Person zu erhalten und gleichzeitig ihr eigenes Leben nach dem verstorbenen Menschen auszurichten und an ihm zu messen. Dies geschieht in unterschiedlichen Kulturen auf ganz verschiedene Art und Weise. Kulturanthroposophen haben solche Rituale beschrieben;4 generell lässt sich kulturanthropologisch die Trauerreaktion in vier Rubriken einteilen: 1) die soziale Bedeutung des Todes; 2) die Beziehung zwischen der verstorbenen Person und den Überlebenden; 3) die Bedeutung der Art und Weise, wie es zum Tod gekommen ist und 4) die Beschaffenheit des sozialen Netzes, welches den Trauernden zur Verfügung steht. Es lässt sich nun zeigen, dass Trauerformen innerhalb dieser großen Rubriken sehr unterschiedlich ausfallen können und wir keinesfalls von denselben individuellen Erfahrungen sprechen können, wenn zum Beispiel ein Seemann in einem irischen Fischerdorf in der Blüte seiner Jahre sein nasses Grab findet oder wenn in den Bergen in Peru ein »cargo de las animas« zu Ehren eines verstorbenen Elternteils stattfindet. In kleinen, fragilen Gesellschaften kann der Tod eines wichtigen Mitglieds eine Krise auslösen, weil das Überleben der Gruppe insgesamt bedroht ist; in stabilen und mächtigen Gemeinschaften sind es manchmal nur die emotional direkt Betroffenen, die durch den Verlust in eine persönliche Krise geraten. Es steht außer Frage, dass die Erfahrungen von Verlust mit zunehmendem Alter vertraut sind, und es sind nicht nur die endgültigen Verluste durch den Tod von Angehörigen und Freunden, sondern auch Trennungen und die manchmal notwendige Aufgabe von Lebenszielen, die diese Erfahrung prägen.

Wie kann es aber sein, dass eine universale Erfahrung des Menschen, die sogar ein eigenes emotionales Ausdrucksverhalten kennt, so unterschiedliche Rituale und Formen annimmt? Die Ureinwohner von Nevada, die Hopi, trauern offiziell drei Tage, verbrennen dann die Hinterlassenschaft der verstorbenen Person und nehmen in der Folge ihr Leben in der Gemeinschaft wieder auf; in Indonesien, bei den Batak, werden umgekehrt die Ahnen schon in hohem Alter geehrt und mit einem Fest von den Angehörigen verabschiedet. Dasselbe wiederholt sich, in verkleinertem Maßstab, wenn der Angehörige stirbt und viele Jahre danach nochmals eine Versammlung der Kerngemeinschaft stattfindet, um den Ahnen zu ehren. Es existieren Formen, bei denen die Überlebenden mit den Ahnen koexistieren, sie um Rat und Hilfe fragen, und es gibt Kulturen, in welchen solche Ahnenkulte als morbid und unpassend empfunden werden. In sogenannten aufgeklärten, westlichen Kulturen existieren viele Trauerformen nebeneinander, und es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, welcher Umgang »gesund« oder eben »nicht normal« ist. Nicht einmal die Dauer der Trauerreaktion unterliegt einheitlich einem Konsens; es gibt Hinweise dafür, dass diese individuell teilweise sehr viel länger dauert, als dies in weiten Teilen der Gesellschaft als »normal« betrachtet wird.

Gefühlsäußerungen

Der Verlust einer geliebten Person (eines geliebten Objektes) wird emotional erlebt; das Weinen als typische Reaktion auf Verlust wurde empirisch als häufigste Reaktion gefunden5. Aber Weinen und Traurig-Sein ist bei weitem nicht die einzige emotionale Reaktion. Häufig sehen wir Angst, Ärger und Wut. Nicht selten ist jemand in Trauer gar nicht fähig, sich emotional auszudrücken oder Gefühle zu erleben: Die trauernde Person fühlt sich abgeschnitten von der Welt, hat keinen Zugang mehr zu sich selbst (oder anderen) oder ist emotional überschwemmt, so dass es zu keiner klaren Gefühlsäußerung kommt. Es gibt in unserer Gesellschaft geschlechtsspezifische Vorschriften, wie und wann Gefühle ausgedrückt werden können. Diese von Ekman6 als »display rules« bezeichneten Regeln kommen in der Trauer besonders zur Geltung. Männer in der westlichen Gesellschaft dürfen ihre Gefühle nicht so stark ausdrücken wie Frauen, obwohl diese Regel in letzter Zeit eher wieder abgeschwächt wird; Gefühle können, wenn sie von Männern geäußert werden, besonders appellativ wirken, gerade weil sie selten öffentlich kundgetan werden7. Damit sind auch manipulative Strategien angesprochen. Gefühle werden reguliert, um bestimmte zwischenmenschliche Ziele zu erreichen. Diese manipulative Seite der Gefühlsregulation kommt im Werbeverhalten oder in Situationen vor, in denen andere getäuscht werden müssen, etwa beim Kartenspiel oder bei Geschäftsabschlüssen.

Abb. 1:In der blauen Periode (1901 – 1905) verarbeitet Pablo Picasso seine Einsamkeit, zu der Zeit als er in Paris lebt. Sein Bild mit dem Namen »Femme aux bras croisés« ist aus Richardson: A Life of Picasso, 1881 – 1906, Vol. 1, New York, 1991, S. 217, entnommen (© Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2023).

Trauer kann – wie andere Gefühlszustände – vorgetäuscht bzw. vorgespielt werden, sei es um damit gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft eine besondere Rolle einzunehmen, sei es um besonders viel Unterstützung zu erhalten. Andererseits wird die Trauer oder vielleicht besser der Zustand der Melancholie als schöpferische Quelle betrachtet. Picasso beispielsweise war besessen von der Idee, dass Kunst aus Trauer und Verzweiflung entsteht, Traurigkeit in sich zu Meditation führt und die Trauer die Basis zum Leben darstellt.8 Abbildung 1 gibt ein Bild der »blauen Phase« wieder.

Emotionale, kognitive und physiologische Reaktionen

Trauer wird als Schmerz erlebt

Um die Trauer zu verstehen, hilft es, diejenigen Menschen zu befragen, die akut unter den massivsten Verlusten leiden, die überhaupt vorstellbar sind. Ein eigenes Kind zu verlieren, ein Kind, das man herbeigesehnt hat, dessen allmähliche Menschwerdung man gespannt und mit Vorfreude verfolgt hat, dessen Geburt man erlitten und erduldet hat, mit dessen erstem Lachen man zum glückseligsten Menschen auf Erden wurde, dieses Kind zu verlieren durch Krankheit, Unfall oder gar durch einen Suizid ist wohl eines der schwersten Schicksale, die man überhaupt ertragen kann. Die Worte, die verwaiste Eltern finden, sind denn auch geprägt von einer tiefen Erschütterung. Einige dieser Aussagen sind hier festgehalten:

»Ein Teil in mir ist gestorben. Ich werde den Verlust das ganze Leben mit mir herumtragen.«;»Für mich ist es, als hätte man mir ein Stück aus meinem Herzen herausgerissen.«;»Andere (Bekannte) bekamen Kinder, und ich brachte es nicht einmal fertig, in einen Kinderwagen zu schauen.«;»Es ist Wahnsinn.«;»Ich habe viel weniger Vertrauen in die Menschheit.«; »Ich bin enttäuscht von mir, habe Schuldgefühle.«;»Erlebe vor allem Hass und keinen Glauben«;»Ich war erleichtert, als A. starb. Ich habe gewusst, dass sie bei Gott in guten Händen ist.«;»Trauer, Wut und Zorn auf mich, die Ärzte und alle Beteiligten, dass ihm nicht mehr geholfen werden kann – in der ersten Zeit fiel ich total aus dem gewohnten Rhythmus heraus – Erleichterung, dass seine Qualen, Schmerzen und Leiden ein Ende haben.«.

Diese Aussagen stammen aus einer Untersuchung, die ich vor einiger Zeit gemeinsam mit Studierenden durchgeführt habe. Die befragten Eltern waren auch Jahre nach dem Verlust noch tief geprägt von dieser Erfahrung; auf einzelne Ergebnisse der Untersuchung werde ich später zurückkommen, hier möchte ich aber auf diese Aussagen eingehen, weil sie erstens typisch sind und weil sie zweitens die Erfahrung der Trauer in ihrer Körperlichkeit erfahrbar machen. Ja, Trauer wird als Schmerz erlebt. Als eine seelisch-körperliche Traumatisierung,