Trauma - Udo Baer - E-Book

Trauma E-Book

Udo Baer

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Beschreibung

Was traumatisierte Menschen und ihre Angehörigen wissen müssen

Wie entsteht ein Trauma und welche Folgen hat es? Kann es an Kinder und Enkel weitergegeben werden? Was ist eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)? Und wie kann man ein Trauma bewältigen?

Diese Fragen und viele mehr beschäftigen traumatisierte Menschen. Ähnlich geht es Helfenden und Angehörigen, die diese Menschen unterstützen wollen und sich fragen: Was brauchen sie? Wie kann ich ihnen helfen?

Dr. Udo Baer und Dr. Gabriele Frick-Baer arbeiten seit vielen Jahren mit traumatisierten Menschen in ihrer therapeutischen Praxis. In diesem Buch beantworten sie 99 Fragen, die ihnen im Laufe der Jahre rund um Traumata gestellt wurden. Sie vermitteln, wie Traumabewältigung und -begleitung gelingen kann. Dieses Buch hilft, das Unfassbare zu verstehen und zu überwinden.

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Seitenzahl: 287

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Trauma

Die 99 wichtigsten Fragen und Antworten aus der therapeutischen Praxis

Dr. Udo Baer, Dr. Gabriele Frick-Baer

1. Auflage 2023

2 Abbildungen

Vorwort

Den Anfang eines Buches, dessen Anliegen es ist, 99 Fragen rund um das Thema »Trauma« zu beantworten, mit einer Triggerwarnung zu versehen, ist wahrscheinlich unnötig – dennoch möchten wir sie in aller ernsthaften Zugewandtheit zu Ihnen, liebe Leser*innen, aussprechen. Wir versichern, dass wir versucht haben, neben der Fülle an Informationen die Betroffenheit der Menschen, die Traumata erlebt und an den offenen und versteckten seelischen Wunden gelitten haben oder leiden, in unsere Ausführungen einzubeziehen und ihr Beachtung zu schenken. So gut wir es vermögen.

Beispiele und Zitate, die vom Erleben und den Aussagen traumatisierter Menschen erzählen, haben wir manchmal zum besseren Verständnis eingefügt. Dabei haben wir uns bemüht, die Intimität dieser Personen zu wahren und ihre Würde weder durch eine Schilderung des Schreckens noch durch eine Banalisierung ihres Leides zu verletzen. Dass wir die Angaben zu ihrer Person anonymisiert und abgewandelt haben, versteht sich von selbst.

Seit fast 40 Jahren begegnen wir in unserer pädagogischen und therapeutischen Praxis traumatisierten Menschen und haben im Laufe der Jahrzehnte von jedem und jeder einzelnen von ihnen gelernt, was es heißt, an diesen Erfahrungen zu leiden UND Auswege und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die das physische und psychische Überleben sichern und die Sehnsucht nach einem guten Leben wachhalten. Ihre Kraft und Kreativität, die Gestaltung ihres Lebens (wieder) in die eigene Hand zu nehmen, hat unsere Hochachtung. Unser Anliegen mit diesem Buch ist es, zu ihrem Selbstverständnis beizutragen als einem Schritt auf diesem Weg, ebenso wie zum Wissen und zum Verständnis der Lebensumwelt traumatisierter Menschen. Dabei wenden wir uns auch an Angehörige und an all die anderen, die ein Interesse daran haben, Menschen, denen durch traumatisierende Taten Verletzungen zugefügt worden sind, auf ihrem Weg zu begleiten und sie dabei zu unterstützen, dass die zugefügten Wunden verheilen und vernarben können.

Da viele Menschen nach ihren traumatischen Erfahrungen und Ereignissen verstummt sind bzw. zum Verstummen gebracht worden sind, versuchen wir seit mehr als 20 Jahren, ihnen eine öffentliche Stimme zu geben, durch Schreiben, Vorträge, Fortbildungsangebote und Forschungsprojekte und -studien. Die Erste, die uns in Deutschland dankenswerterweise mit der Beschreibung von Traumafolgen nach sexueller Gewalt – und damit mit dem Begriff »Trauma« – vertraut gemacht hat, war Judith Herman. Sie hat für uns den Grundstein gelegt für die Sichtweise, die wir seither konsequent weiterverfolgt haben: die Perspektive auf das Erleben traumatisierter Menschen.

Unsere Parteilichkeit gilt den traumatisierten Menschen und allen, die mit ihnen leiden. In den letzten Jahren ist das Thema Trauma und Traumafolgen mehr in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Das ist gut so und wir danken allen, die dazu beitragen haben und sich weiterhin dafür einsetzen. Und es reicht noch nicht. Sexuelle Gewalt in Internaten und kirchlichen Institutionen, Traumatisierungen durch Flutkatastrophen und in Bundeswehreinsätzen sind nur die Spitze des Eisbergs. Wir wollen mit diesem Buch einen Beitrag leisten, Betroffene, Angehörige und alle interessierten Menschen zu unterstützen.

Ihre Dr. Gabriele Frick-Baer, Ihr Dr. Udo Baer

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Vorwort

Basiswissen

Trauma und Traumafolgen

1 Was ist ein Trauma?

Traumakriterium: Gefühl der existenziellen Bedrohung

Traumakriterium: Die Erfahrung lässt sich aktuell nicht bewältigen

Traumakriterium: Nachhaltige Folgen im Erleben und Leben

2 Was sind die Monster der Entwürdigung?

Das erste Monster der Entwürdigung ist die Gewalt

Das zweite Monster der Entwürdigung besteht in der Beschämung

Das dritte Monster der Entwürdigung zeigt sich in Erniedrigungen

Das vierte Monster der Entwürdigung ist die Leere

Als fünftes Monster der Entwürdigung kommen Atmosphären dazu

3 Welche unmittelbaren Reaktionen treten auf?

4 Welche anhaltenden Folgen sind möglich?

Weitere mögliche Traumafolgen

5 Was sind Besonderheiten bei sexualisierter Gewalt?

6 Was sind Besonderheiten bei Naturkatastrophen?

Besonderheiten bei Unfällen

7 Was sind Besonderheiten bei Cybermobbing und Stalking?

Cybermobbing kann traumatisierend wirken

Auch Stalking kann zu einer Traumatisierung führen

Hauptprobleme bei Cybermobbing

Weiterer Tipp für Menschen, die gestalkt werden

8 Was sind Besonderheiten bei Kriegserfahrungen?

Im Krieg herrschen kollektive Angst, Bedrohung und Lebensgefahr

Zerrissene Familien und beständige Sorge um fehlende Familienmitglieder

9 Ist ein Trauma eine Krankheit?

Zunächst zum Nein

Und nun zum Ja

10 Kann eine Krankheit ein Trauma verursachen?

11 Wie funktioniert das Traumagedächtnis?

Der Mandelkern übernimmt das »Kommando«

Einige weitere Besonderheiten kommen hinzu

Erinnerungen werden im Gehirn immer neu geschaffen

12 Was sind Trigger, Flashbacks und Bedeutungsüberhang?

Mit allgegenwärtigen Triggern umgehen lernen

Viele Opfer traumatisierender Ereignisse erleben Flashbacks

Das Erklärungsmodell des Bedeutungsüberhangs

Frühere Entwürdigungserfahrungen wirken über das Leibgedächtnis

13 Wie wirken Traumata auf das Zeiterleben?

Ein Trauma kann das subjektive Zeiterleben verändern

Zeitkollaps – man lebt subjektiv in zwei Zeiten

14 Wie wirken Traumata auf den Körper und das Körpererleben?

Erkrankungen als Folge traumatischer Erfahrungen

Schmerzen, Fibromyalgie

15 Was sind Retraumatisierung und Co-Traumatisierung?

Zeuge eines traumatischen Ereignisses zu sein, kann co-traumatisieren

Co-Traumatisierungen im Krieg

Co-Traumatisierungen in helfenden Berufen

16 Was ist eine Posttraumatische Belastungsstörung?

17 Was sind Komplextraumata?

18 Welche Folgen können Komplextraumata haben?

Was brauchen komplextraumatisierte Menschen?

19 Was sind Dissoziationen?

Unterschiedliche Formen der Dissoziationen

Zeitliche Dissoziationen

20 Welche weiteren Traumabegriffe sind gebräuchlich?

21 Wie geht Erste Hilfe bei Traumatisierungen?

Da sein und Beistand leisten

Unterstützen und Selbstbestimmung achten

Zeit geben und versuchen, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen

Co-traumatisierte Menschen brauchen ebenfalls Unterstützung

22 Was ist mit »Täterintrojekten« gemeint?

Trauma und Gefühle

23 Wie können Traumata Ängste beeinflussen?

Diffuse Ängste

24 Warum sind traumatisierte Menschen oft misstrauisch?

Die Traumafalle

Wann ist Misstrauen nötig?

Und wann kann man Vertrauen wagen?

»Was tue ich, wenn sich mein Misstrauen meldet?«

25 Welche Bedeutung und welche Folgen hat der Schrecken?

Erstarrung

Bilder eines Abgrunds

Was kann helfen?

Schöpferische Kraft als wirksame »Gegenkraft« nutzen

26 Wieso können Traumata Schamgefühle hervorrufen?

Beschämungen abwehren

27 Was machen Traumata mit dem Selbstwertgefühl?

28 Was hat es mit dem Gefühl, sich fremd zu sein, auf sich?

Darüber reden

In sich wohnen

29 Wie können Traumata Sehnsüchte verändern?

30 Wozu sind Trauergefühle gut?

Wie geht Loslassen?

Loslassen, damit es Raum für Neues gibt

31 Warum können Traumata Schuldgefühle hervorrufen?

Schuldgefühle ohne Schuld

Parteilichkeit für das Opfer

32 Was brauchen Gefühle der Hilflosigkeit?

Hilflosigkeit ruft nach Hilfe

Beziehungswirksamkeit erfahren

Hilflosigkeit ist Trigger und Flashback zugleich

33 Wie entstehen Gefühle der Wirkungslosigkeit?

34 Und was ist mit den aggressiven Gefühlen?

»Ich habe mir geschworen, nie so zu werden wie die«

35 Warum können Traumata zu Einsamkeitsgefühlen führen?

Sich mit der Seele zuwenden

36 Was machen Traumata mit den Beziehungsgefühlen?

Trauma und die Zeit danach

37 Was ist die »Zeit danach«?

38 Wie fühlen sich traumatisierte Menschen in der Zeit danach?

39 Welche Auswirkungen hat das?

40 Was brauchen betroffene Menschen in der Zeit danach?

41 Wann ist die »Zeit danach« zu Ende?

Spezifisches Wissen

Transgenerative Traumaweitergabe

42 Wie werden Traumata an die nächste Generation weitergegeben?

43 Welche emotionalen Folgen kann die Traumaweitergabe haben?

44 Welche Folgen für das Sozialverhalten können auftreten?

45 Was sind die typischen »vier Leerstellen«?

46 Was können Angehörige der nächsten Generationen für sich tun?

Auf die Suche gehen

Einen Schritt beiseitetreten

Sich Hilfe suchen

Die Suche nach der Meinhaftigkeit

47 Wie können traumatisierte Menschen die Traumaweitergabe stoppen?

48 Bedeutet Verständnis auch Verzeihung?

Trauma und seelische Erkrankungen

49 Wie hängen Traumata und Depressionen zusammen?

50 Wie hängen Traumata und Essstörungen zusammen?

Essstörungen als Versuch, die Kontrolle wiederzuerlangen

51 Wie hängen Traumata und Borderline zusammen?

52 Was ist mit Angststörungen und Panikattacken?

Panikattacken treten überfallartig auf

53 Was ist mit Anpassungsstörung gemeint?

»Störung« ist ein problematischer Begriff

Das individuelle Leiden sollte immer im Vordergrund stehen

Auch der Begriff »Anpassung« ist zwiespältig

Trauma und besondere Personengruppen

54 Was sind Traumabesonderheiten bei alten Menschen?

Wie ähneln sich Traumafolgen und Demenz?

Wie kann man unterstützen und helfen?

55 Was sind Traumabesonderheiten bei Kindern?

56 Gibt es geschlechtsspezifische Traumabesonderheiten?

Unterschiede bestehen im Umgang mit den Traumafolgen

57 Was sind Traumabesonderheiten bei Menschen mit Behinderungen?

Traumatisierung ist ein gravierendes Thema

Viele Folgeerscheinungen des Traumaerlebens ähneln Ausdrucksformen der Behinderung

Was hilft?

Trauma und geflüchtete Menschen

58 Wie zeigen sich Traumafolgen bei geflüchteten Menschen?

59 Wie verläuft der Traumaprozess bei geflüchteten Menschen?

60 Unterscheiden sich »Wirtschaftsflüchtlinge« und »politische Flüchtlinge«?

61 Was brauchen traumatisierte geflüchtete Menschen?

62 Was ist bei traumatisierten, geflüchteten Kindern zu beachten?

63 Was brauchen die Helfer*innen?

64 Welche Bedeutung haben kulturelle Unterschiede?

Angehörige traumatisierter Menschen

65 Wie mit der Hocherregung umgehen?

Alternativen zum Aushalten

66 Wie gelingt Kommunikation mit traumatisierten Partner*innen?

67 Was ist und wie hilft das »dreifache UND«?

68 Über die Wunde reden oder nicht?

Hilfen für traumatisierte Menschen

Einige traumatherapeutische Verfahren

69 Was ist und wie hilft Verhaltenstherapie (VT)?

70 Was ist und wie hilft Kreative Traumatherapie (KTT)?

Die KTT umfasst eine Fülle kreativer Zugänge

71 Was ist und wie hilft EMDR?

72 Was ist und wie hilft Gesprächstherapie (GT)?

73 Welche anderen traumatherapeutischen Ansätze gibt es?

74 Wie finde ich eine*n Therapeut*in?

75 Was ist und was bewirkt Debriefing?

76 Was ist und wie hilft Traumapädagogik?

Methoden der Traumapädagogik

Was hilft?

77 Wie hilft Parteilichkeit?

Es braucht auch gesellschaftliche Parteilichkeit

78 Was ist ein »Notfallkoffer«?

79 Wie wirken kreative Zugänge?

80 Wie kann man neue Beziehungserfahrungen machen?

81 Was bedeutet Achtsamkeit? Wann ist sie ein Segen?

82 Wird es wieder so wie vorher?

83 Was hilft gegen Dissoziationen?

84 Wie kann die Resilienz gestärkt werden?

Was sind die vier Resilienzfaktoren?

85 Wie kann ich mein soziales Netz stärken?

Das soziale Netz bildlich darstellen

Das soziale Netz bewerten und sortieren

Das soziale Netz erweitern

86 Wie hilft das große UND?

87 Was hilft bei Retraumatisierung?

88 Was hilft gegen Co-Traumatisierungen?

Erstens nützt es, den Abstand zu variieren

Zweitens hilft es, Schleusen zu schaffen

89 Was hilft gegen den Zeitkollaps?

90 Was tun gegen die Angst?

Sich weiten, sich Raum nehmen

Etwas festhalten, Rituale nutzen

Auch Symbole können helfen

91 Was ist »positive Rache«?

92 Was sind und wie helfen therapeutische Anklageschriften?

Die Täter*innen werden konkret benannt

Mittel zur Distanzierung und Bewältigung

Häufig erweitert sich der Kreis der »Angeklagten«

93 Wie geht Trösten?

Wie bin ich früher getröstet worden?

Wie wäre ich gerne getröstet worden?

94 Soll man nach der Wunde fragen?

95 Was ist ein »sicherer Ort«?

Jeder Mensch hat einen inneren, unzerstörbaren Kern

Auch Beziehungen können ein »sicherer Ort« sein

96 Wie kann ich mir verzeihen?

Schreiben Sie sich selbst einen Brief

Mit anderen Menschen darüber sprechen

Trauma und Würde

97 Was ist und was kann Selbstwürdigung bewirken?

1. Geben Sie sich die Erlaubnis zu klagen!

2. Üben Sie, konkret Nein zu sagen!

3. Wer gibt Ihnen Rückendeckung?

4. Unterstützung suchen beim Aufrichten!

5. Würdigen Sie Ihren inneren Kern!

6. Sie haben ein Recht darauf, dass es Ihnen gut geht!

7. Sich respektieren

98 Welche Würdigung brauchen traumatisierte Menschen?

Parteilichkeit

Enttabuisierung

Respekt vor der Intimität

Neue würdigende Beziehungserfahrungen

Unterstützung beim Aufrichten

Sicherer Boden

Einzigartigkeit würdigen

99 Was sind die Wunder des Überlebens?

Service

Quellenangaben und ausgewählte Literatur

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Basiswissen

Traumata sind so individuell wie die Menschen, die sie erleiden; dennoch gibt es Kriterien, mögliche Folgen und Gemeinsamkeiten im Erleben, die hier dargestellt werden.

Trauma und Traumafolgen

Ein Trauma ist eine Verletzung, die existentiell bedrohlich ist, die in der aktuellen Situation nicht zu bewältigen ist und die nachhaltige Folgen haben kann.

1 Was ist ein Trauma?

Das Wort Trauma stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt »Wunde«. In der Medizin werden in der Regel schwere körperliche Verletzungen mit nachhaltigen Folgen als Traumata bezeichnet. In diesem Text liegt der Schwerpunkt auf den seelischen und sozialen Wunden, die dem Menschen zugefügt wurden und sein Erleben und Leben nachhaltig beeinflussen. Wir wollen an dieser Stelle die Frage beantworten, wann solche Wunden ein Trauma sind.

Zunächst einmal: Nicht jede Wunde ist ein Trauma. Wer sich in den Finger schneidet, wer mehr oder minder verzweifelt nach seinem verlorenen Schlüssel sucht und vor seiner Wohnungstür steht oder wer vielleicht von anderen Menschen missverstanden oder ignoriert wird, kann weinen oder sich ärgern, in angstvolle Erregung geraten oder sich verletzt fühlen. Das kann Schmerzen hervorrufen und als Kränkung erlebt werden, muss aber noch keine Erfahrung sein, die mit dem Begriff »Trauma« angemessen bezeichnet wäre. Damit eine Wunde zu einem Trauma wird, bedarf es dreierlei Kriterien.

Traumakriterium: Gefühl der existenziellen Bedrohung

Erstens muss sich ein Mensch durch die Verletzung, die ihm zugefügt wird, existenziell bedroht fühlen. Es geht um Sein oder Nicht-Sein. Es geht um das grundlegende persönliche Selbstverständnis, die eigene Identität im körperlichen und seelischen Sinne. Wenn Menschen beschossen oder vergewaltigt werden, wenn sie aus ihrer Heimat vertrieben werden oder bei einem Unglück in Lebensgefahr geraten, ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen diese Erfahrungen als existenziell bedrohlich erleben. Die meisten Menschen, doch nicht alle. Denn immer spielt ein subjektiver Faktor, das subjektive Erleben des einzelnen Menschen und seine gegenwärtige Lebenssituation, dabei eine Rolle. Es geht nicht nur um das Ereignis, sondern darum, wie das Ereignis auf einen Menschen wirkt, wie sehr er sich existenziell in seiner Integrität und Identität bedroht fühlt.

Traumakriterium: Die Erfahrung lässt sich aktuell nicht bewältigen

Das zweite Kriterium – das sich ebenfalls durch seine Subjektivität auszeichnet – besteht darin, dass die erworbenen und gewohnten individuellen Fähigkeiten des betroffenen Menschen, die traumatische Erfahrung zu bewältigen, nicht ausreichen. Einige Beispiele dazu:

Ein*e Lokomotivführer*in in Deutschland lebt mit dem hohen Risiko, ein traumatisches Ereignis zu erleben. Er oder sie tötet, ohne es verhindern zu können, in seinem/ihrem Berufsleben im statistischen Durchschnitt 1,6 Menschen, die sich in selbstmörderischer Absicht auf die Gleise legen oder vor eine Lokomotive werfen. Manche der Lokführer*innen sind danach nie mehr in der Lage, Zug zu fahren oder eine Lokomotive zu steuern. Andere können dieses traumatische Ereignis abschütteln und bewältigen und nach kurzer Zeit wieder ihrem Beruf nachgehen. Wiederum andere wissen und spüren, dass sie therapeutische und andere Hilfe und Unterstützung brauchen, um diese Wunde psychisch zu überleben. Die Reaktion auf das gleiche Ereignis ist also unterschiedlich. Das »Wie« der Reaktion, ihr Ausmaß und ihre Heftigkeit, hat nichts mit gutem Willen oder Anstrengungen der betroffenen Menschen zu tun, sondern mit ihren Lebenserfahrungen und ihrer Lebensumwelt, mit den Bewältigungsstrategien, die sie entwickeln konnten, und ihrer Konstitution.

Ein Kind, das demütigende (sexuelle) Gewalt und perfide Erniedrigung erfährt und damit in seiner Identität und Unversehrtheit existenziell bedroht ist, wird diese traumatische Erfahrung nicht »bewältigen« können, ohne zutiefst verstört und seelisch überfordert zu sein. Gerade Kinder und Jugendliche reagieren generell besonders intensiv aufgrund ihrer Abhängigkeit von machtvollen Anderen und konnten ihre individuellen Bewältigungsstrategien noch wenig etablieren.

Manche Erfahrungen, die »auf den ersten Blick« und in der Beurteilung anderer nicht als Trauma bewertet werden, können dennoch subjektiv als Trauma erlebt werden. Der Verlust eines Arbeitsplatzes kann für manche Menschen verletzend sein, aber Kräfte freisetzen, sich eine bessere und andere Arbeit zu suchen. Andere Menschen sind froh, dass sie nach einer Kündigung eine Weile arbeitslos oder endlich den Chef oder die Chefin los sind, über die sie sich schon lange geärgert haben. Doch eine Kündigung und der Verlust des Arbeitsplatzes kann auch traumatisches Erleben hervorrufen: zum Beispiel dann, wenn die Arbeit für eine Person ihr »Ein und Alles« und zentraler Bestandteil ihrer Identität ist, also dessen, was sie in ihrer Selbstwahrnehmung als Mensch ausmacht. Wenn sie dann noch so tut, als ob alles in Ordnung und »wie immer« sei, und der Familie diesen Verlust verheimlicht, dann bedroht diese Selbstverleugnung diese Person existenziell. Denn ihre familiären und sozialen Beziehungen drohen darüber immer brüchiger zu werden und ihre Einsamkeit wird sowohl seelische als auch körperliche Folgen haben und sie krank machen. Die Chance liegt darin, dass sie irgendwann merkt, dass diese Bewältigungsstrategie sie immer weiter ins Unglück führt, und sie sich anderen Menschen anvertraut und sich ihrer Unterstützung versichert.

Auch hier wird deutlich, dass das subjektive Erleben, die Bedeutung, die einem Ereignis zugemessen wird, auch beeinflusst, wie ein betroffener Mensch es bewältigen kann. Noch einmal soll hier betont sein: Für den Umgang mit vielen Ereignissen können die individuelle Kraft der Menschen, ihre Resilienz und ihre Widerstandsfähigkeit noch so groß sein, sie können dennoch nicht zu ihrer Bewältigung ausreichen – sie wirken wie ein Trauma, wie eine existenzielle Bedrohung und rufen entsprechende Folgen hervor.

Traumakriterium: Nachhaltige Folgen im Erleben und Leben

Der dritte Faktor, der eine schmerzliche, verletzende Erfahrung zu einem Trauma werden lässt, besteht darin, dass ein traumatisches Ereignis nachhaltige Folgen im Erleben und im Leben eines Menschen hat. Bei vielen Menschen zeigen sich die Folgen sofort, bei anderen erst nach Wochen, Monaten oder Jahren.

Verzögerte Traumareaktion

Der achtjährige H. ist mit seiner Familie aus den nördlichen Gebieten des Irak geflüchtet. Als er mit seiner Familie in Österreich ankommt, sind zunächst einmal alle froh, die Flucht bewältigt zu haben. Nach einigen Aufenthalten in Flüchtlingslagern und vielen bürokratischen Erledigungen findet die Familie eine Wohnung, der Vater einen Arbeitsplatz, und H. kann in die Schule gehen. Dort lernt er die deutsche Sprache. Er hat vorher schon ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt und wird nun langsam sicherer in den Begegnungen mit der fremden Welt. Doch nach einigen Wochen beginnt er sich zurückzuziehen, wacht nachts weinend auf und fängt an einzunässen.

Viele Menschen, die traumatische Erfahrungen machen mussten, reagieren sofort darauf und es zeigen sich unterschiedliche Symptome (dazu später). Doch bei anderen verzögert sich die Reaktion. Sie sind oft erst innerlich erstarrt und versuchen, irgendwie zu funktionieren, um »durchzukommen«, um zu überleben. Dann brechen wie bei dem Kind die grauenvollen Erfahrungen erst zu einem späteren Zeitpunkt auf. Oft geschieht dies dann, wenn wieder ein halbwegs sicherer Boden unter den Füßen der Person oder der Familie besteht.

Ein Trauma ist eine Verletzung, die existentiell bedrohlich ist, die in der aktuellen Situation nicht zu bewältigen ist und die nachhaltige Folgen hat bzw. haben kann.

2 Was sind die Monster der Entwürdigung?

Würde ist keine Eigenschaft, die einem Menschen anhaftet durch seine Geburt, seine Leistung, Vermögen, Religionszugehörigkeit oder andere Faktoren. Die Würde des Menschen ist unteilbar und gilt für alle Menschen. Sie muss immer wieder neu geschaffen werden durch würdigende Erfahrungen.

Doch wir Menschen machen auch immer wieder Erfahrungen, die uns entwürdigen. Traumatische Erfahrungen sind eine solche Entwürdigung. Wir beschreiben die wichtigsten Entwürdigungserfahrungen, die für einen Menschen existenziell bedrohlichen, traumatisierenden Charakter haben können, mit dem Bild der »Fünf Monster der Entwürdigung«:

Das erste Monster der Entwürdigung ist die Gewalt

Wenn Menschen Gewalt erfahren, sind sie verletzt, erleben sie Schmerzen, körperliche wie seelische. Bei offenen Gewalterfahrungen wie Schlägen, sexualisierter Gewalt oder anderem ist dies offenkundig. Ebenso ist die stille Gewalt zu berücksichtigen, die Gewalt, die durch Blicke, zynische, niedermachende Worte, durch Jähzorn, Gesten oder andere Handlungen hervorgerufen wird. Auch diese Gewalt kann verletzen und traumatisches Erleben hervorrufen.

Das zweite Monster der Entwürdigung besteht in der Beschämung

Die »natürliche Scham« ist nützlich. Sie hilft uns Menschen, dass wir das, was uns kostbar ist, was zu unserer Intimität und zum engen Bereich unserer Persönlichkeit gehört, schützen.

Wenn wir davon etwas preisgeben, ist es uns peinlich. Wir schämen uns. Diese natürliche Scham ist der Wächter unserer Intimität. Sie ist uns eigen. Doch daneben gibt es die Beschämung, die sich zunächst einmal ähnlich wie die natürliche Scham anfühlt. Die Beschämung kommt nicht von innen, sondern von außen. Sie reißt die Intimität eines Menschen in die Öffentlichkeit. Sie entblößt Menschen und gibt sie abwertend preis. Bei sexueller bzw. sexualisierter Gewalt ist dies immer der Fall. Die intimen Schutzgrenzen der betroffenen Menschen werden miss- achtet und durchbrochen. Auch andere Beschämungen können entwürdigen.

Wiederholte Beschämungserfahrungen

Frau F. ist damit groß geworden, dass ihr immer vorgeworfen wurde, sie sei zu laut, zu dick, mal auch zu schlau. Oft hörte sie, sie sei zu empfindlich – immer war sie nicht richtig, immer war sie falsch. Als sie sich endlich »zu einem Niemand« gemacht hatte, wie sie es ausdrückte, zu einer Person, die so tat, als sei sie gar nicht da, erfuhr sie als junge Erwachsene massives, perfide-gewalttätiges Mobbing, das sie zutiefst verletzte und gegen das sie sich nicht wehren konnte. Denn diese sie in ihrem Erleben existenziell bedrohende Beschämungserfahrung fiel auf den Boden der vorherigen Beschämungserfahrungen und hatte entsprechende massive Folgen.

Das dritte Monster der Entwürdigung zeigt sich in Erniedrigungen

Wenn Menschen Gewalt erfahren, die traumatische Folgen haben, dann wird ihr Nein, ihr Stopp nicht gehört. Sie werden erniedrigt. Auch wenn sie existenziell beschämt werden, werden ihre Grenzen verletzt und sie fühlen sich nicht wert, geachtet zu werden.

Die Erniedrigung kann viele Gesichter haben. Immer verletzt sie die Würde eines Menschen, vor allem, wenn sie wiederholt und dauerhaft erfahren werden muss. Viele Menschen sind als Kinder und Jugendliche mit der erniedrigenden Gewissheit aufgewachsen, zu dumm, zu egoistisch, zu dick, zu dünn, zu empfindlich, zu rücksichtslos, zu wild, zu still, zu unattraktiv, zu hübsch, zu tollpatschig, auf jeden Fall etwas »zu …« zu sein. Diese erfahrenen Erniedrigungen setzen sich im Selbstbild eines Menschen oft fest und können vor allem dann, wenn sie sich im Lebensverlauf aktualisieren und wiederholen, dramatische Folgen für das Leben und Erleben eines Menschen haben.

Das vierte Monster der Entwürdigung ist die Leere

Damit meinen wir nicht das Bedürfnis nach Leere, das wir vielleicht zu Beginn eines Urlaubs oder am Wochenende verspüren, wenn wir uns danach sehnen, »ganz« abzuschalten. Wir meinen die Leere, wenn wir nicht gesehen und gehört werden, wenn unsere Hilfegesuche nicht erwidert werden, wenn wir »abgeschüttelt« oder zu einem Niemand gemacht werden, wenn wir mit dem, was wir von anderen Menschen wünschen und wollen, ins Leere gehen. Auch dann entsteht bei vielen betroffenen Menschen das Gefühl, es nicht wert zu sein, beachtet zu werden und auch ernst genommen zu werden. Diesem Monster der Entwürdigung begegnen viele Menschen in traumatischen und vor allem nach traumatischen Ereignissen (davon später mehr).

Als fünftes Monster der Entwürdigung kommen Atmosphären dazu

Giftige Atmosphären: Wer in einer Atmosphäre lebt, in der die einzelnen Menschen keine Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen, sondern immer alle anderen daran schuld sind, was passiert, dann macht dies klein und entwürdigt. Kinder zum Beispiel, die in ihrer Familie Gewalt und sexualisierte Gewalt erleben, werden oft für schuldig erklärt, weil sie böse oder verführerisch oder Ähnliches seien – sie bekommen nicht nur eine Schuld zugewiesen für die verbrecherischen Taten anderer, denen sie ohnmächtig ausgeliefert sind, sondern sind auch noch einer zerstörerischen Atmosphäre ausgesetzt, die sich als »normal« tarnt. Auch Atmosphären der Angst, der Verzweiflung, der Tabuisierungen, der Kälte können giftig sein und entsprechende Auswirkungen haben.

Die Monster der Entwürdigung müssen nicht zu traumatischen Erfahrungen führen, vor allem dann nicht, wenn sie nur einmalig auftreten und sie subjektiv nicht als schwerwiegend bewertet werden. Doch in vielen Situationen, in denen sie auftreten und ihre Wirkung zeigen, werden sie von vielen Menschen als traumatische Erfahrungen erlebt. Oft kommen diese Monster der Entwürdigung nicht allein daher, sondern werden miteinander kombiniert. Ihnen gemeinsam ist, dass der Wert eines Menschen missachtet wird. Das Wort Würde entstammt dem Wort »Wert«. Der Wert eines Menschen ist nicht objektiv vorhanden oder irgendwie messbar. Wir Menschen spüren unseren Wert, wenn wir von anderen Menschen gewürdigt werden und auch wenn wir andere würdigen. Wert und Würdigung gehören zusammen. Die Abwertung eines Menschen ist Entwürdigung. Traumatische Erfahrungen entwürdigen.

3 Welche unmittelbaren Reaktionen treten auf?

Prinzipiell stehen uns menschlichen Wesen vier unmittelbare Reaktionsmuster auf existenzielle Bedrohungen zur Verfügung. Traumaexpert*innen haben sie in den »Vier F« – fight, flight, freeze, fragment – kategorisiert bzw. zusammengefasst.

Das erste F: fight/kämpfen Wenn ein Mensch existenziell bedroht wird, zum Beispiel von einem »Säbelzahntiger« der heutigen Zeit, ist einer seiner unmittelbaren möglichen Impulse zu kämpfen. Die Erregung steigt, sein Blutdruck fördert die Durchblutung der Muskulatur und der lebenswichtigen Organe.

Das zweite F: flight/fliehen Ein zweiter möglicher Impuls besteht darin zu fliehen. Wenn man nicht gegen eine Bedrohung kämpfen kann, um das Überleben zu sichern, ist es sinnvoll und notwendig zu fliehen.

Das dritte F: freeze/erstarren, einfrieren Wenn Menschen eine bedrohliche Situation erleben, in der sie sich einer »höheren Gewalt« oder menschlichen Macht ohnmächtig ausgeliefert fühlen, ist ein häufiger Impuls zu erstarren. Wenn es ihnen weder möglich ist zu kämpfen noch zu fliehen, frieren die Menschen gleichsam ihre Lebendigkeit ein und erstarren.

Das vierte F: fragment/spalten Wenn Menschen einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind, die unaushaltbar ist, dann ist eine Bewältigungsstrategie des Organismus, diese zu überleben, das Bewusstsein zu fragmentieren, in verschiedene Teile zu spalten, abzuspalten und zu dissoziieren.

»Zuständig« für diese 4 F, diese spontanen und unbewussten Reaktionen, ist die Amygdala (Mandelkern), ein Areal des Gehirns, das einer Mandel ähnelt und deshalb danach benannt ist. Dieses System im Gehirn hat sich in den frühesten Zeiten der Menschheitsentwicklung ausgebildet, um das Überleben gegen die archaischen Bedrohungen durch Säbelzahntiger, wie gerne beispielhaft angeführt wird, zu sichern. Heute hat das Wissen um dieses System, auch in Verbindungen mit den anderen Systemen, besondere Bedeutung für das Verständnis menschlicher Reaktionen auf Bedrohungen und insbesondere auf traumatische und traumatisierende Erfahrungen. Die Amygdala ist im Gehirn dafür zuständig, Gefühle mit den Erfahrungen zu verknüpfen und vor allem alle Erfahrungen unmittelbar und unkontrollierbar auf existenzielle Bedrohungen zu überprüfen. Wenn ein Mensch schon einmal traumatische Erfahrungen gemacht hat, ist der Mandelkern besonders aktiv und im besonderen Maße wachsam.

Das Abspalten und Fragmentieren des Bewusstseins ist eine Notwehrmaßnahme genauso wie das Erstarren, wenn es weder möglich ist zu fliehen noch zu kämpfen. Erstickt der Impuls zu fliehen oder zu kämpfen in der Erfahrung der Wirkungslosigkeit und Ohnmacht, so wird auch diese Situation als unaushaltbar erlebt und die Menschen reagieren darauf mit Erstarrung oder Fragmentierung. Das ist nicht nur menschlich und verständlich, sondern auch ein notwendiger Schutz zum Bewältigen oder Überleben der traumatischen Situation, des traumatischen Schreckens. Schwerwiegende Folgen für das Erleben und Leben der Menschen haben diese unmittelbaren Reaktionsmuster auf traumatische Erfahrungen, wenn sie anhalten und zu dauerhaften Begleitern der betroffenen Menschen werden.

4 Welche anhaltenden Folgen sind möglich?

Die häufigste Folge nach einer traumatischen Erfahrung besteht darin, dass die betroffenen Menschen verstört sind oder von anderen als verstört erlebt werden. Manche sagen, sie seien völlig durcheinander oder stünden neben sich, sie seien »durch den Wind« oder »verpeilt« … Welches Wort man wählt, ist zweitrangig. Die existenzielle Bedrohung des Menschen durch ein traumatisches Ereignis wirft die betroffenen Menschen zunächst einmal aus der Bahn. Die Selbstverständlichkeit ist ebenso dahin wie die Selbstgewissheit des Denkens, Fühlens und Handelns. All das muss sich neu sortieren und vor allem einen neuen Boden finden. Und das braucht Zeit und Unterstützung.

Die nachhaltigen Folgen einer traumatischen Erfahrung können so unterschiedlich sein, wie es die Menschen sind. Analog zu den 4 F, wie wir sie in der vorherigen Frage-Antwort beschrieben haben, ergeben sich allerdings oft vier prinzipiell mögliche, anhaltende Muster, wie Menschen auf Situationen, die sie als bedrohlich erleben, reagieren. Ohne jetzt hier den Zusammenhang genauer erklären zu wollen – das tun wir in ▶ Frage-Antwort 11 –, zeigt sich bei einigen Opfern traumatisierender Bedrohung und Gewalt eine dauerhaft hohe Aggressionsbereitschaft, bei anderen eher die Tendenz, sich zurückzuziehen, bei wieder anderen wiederholt sich das leidvolle Erleben zu erstarren oder zu dissoziieren.

Dauerhaft hohe Aggressionsbereitschaft

Wenn ich mich überfordert fühle, zum Beispiel mit irgendetwas am Computer nicht zurechtkomme oder meinen Einkaufszettel nicht finde, dann bin ich so schnell sehr aufgeregt, dass ich leicht aggressiv werde. Das sagen mir zumindest meine Kinder. Ich könnte dann aus der Haut fahren und um mich schlagen und weiß gar nicht, warum. Denn der Anlass gibt das gar nicht her.

Rückzugstendenz

Ich habe mich danach lange nicht mehr aus dem Haus getraut, zumindest nicht allein. Jetzt ist das besser geworden, aber ich bin immer noch vorsichtig. Ich gucke immer, ob da jemand ist, der mir unheimlich vorkommt. Und ich versuche, mich zwischen Leuten zu halten oder gar nicht erst allein auf die Straße zu gehen.

Erstarrung

Eine Lehrerin berichtet von ihren Schülerinnen und Schülern: »Ich habe mehrere Kinder in der Klasse, die traumatisiert sind. Letztens gab es einen großen Knall. Ich weiß gar nicht, was da passiert war. Entweder ist eine große Platte heruntergefallen oder eine Tür hat geknallt. Es war jedenfalls im Klassenraum zu hören. Die Kinder, die aus dem Krieg geflohen waren, sind sofort erstarrt. Nein, zwei haben sich sofort unter dem Tisch versteckt und blickten so umher, als ob sie eigentlich auch von da fliehen wollten. Aber die anderen sind erstarrt. Sie saßen vollkommen regungslos wie eine Statue da, hatten einen ganz starren Blick ins Leere und haben nur noch so flach geatmet, dass ich bei ihrem Anblick ganz erschrocken bin.«

Dissoziation

Als ich als Kind vergewaltigt wurde, habe ich gedacht, das bin gar nicht ich. Ich habe gemeint, ich wäre die Fliege, die auf der Wand sitzt und sich das von außen anguckt. Das war nicht ich. Das konnte ich nicht gewesen sein, dem das passiert. Und heute noch passiert es mir, dass ich aus mir heraustrete.

Weitere mögliche Traumafolgen

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier noch einige weitere über die vier F hinausreichende Folgen erwähnt.

Träume und (innere) Bilder: Viele Menschen, die ein traumatisches Erlebnis erfahren mussten, träumen immer wieder auf ihre eigene Art und Weise, manchmal offen und manchmal »verschlüsselt« davon, am Abgrund zu stehen oder in ein schwarzes Loch zu fallen.

Traumatisierte Kinder malen ihre Bedrohungen und erlebten Abgründe häufig sehr real. Existenzielle Bedrohungen, die in Abbildungen, Träumen oder in inneren Bildern erscheinen, begleiten häufig den Wachzustand und können immer wieder aufploppen.

Träume von Katastrophen

Ein Mann erzählt: »Ich träume oft von Katastrophen. Mal bin ich in Stalingrad. Ein anderes Mal bin ich in der U-Bahn und neben mir sitzt – und das weiß ich ganz genau – ein Selbstmordattentäter. Dass ich da sehr unruhig schlafe und immer wieder aufwache, können Sie sich vorstellen. Und auch, dass mich diese Bilder und vor allem diese Stimmung den ganzen Tag begleiten.«

Dauererregung: Eine existenzielle Bedrohung zu erfahren, ist extrem aufregend. Diese Aufregung bleibt bei vielen Menschen auch in der Zeit nach dem traumatischen Ereignis bestehen. Das ist abhängig davon, ob und wie sie in dieser Zeit aufgefangen werden. Die Aufregung zeigt sich in einer anhaltenden Dauererregung oder darin, dass Erregungsschübe sehr schnell aufflammen und über den Anlass hinaus von den Menschen gleichsam Besitz ergreifen.

Schlafstörungen: Die hohe Erregung führt häufig zu Schlafstörungen. Manche Menschen können nicht einschlafen. Andere wachen nachts auf oder schrecken plötzlich im Schlaf empor.

Ängste: Die traumatisierende existenzielle Bedrohung macht Angst. Deshalb sind Ängste eine häufige Folge. Hinzu kommen ▶ andere Gefühle wie Schrecken, Misstrauen und mehr.

Verletztes Selbstwertgefühl: Eine traumatische Erfahrung schädigt und verletzt das Selbstwertgefühl. Sie ist entwürdigend für die betroffenen Menschen und hat nahezu immer Folgen für deren Selbstwertschätzung. Sie werden unsicherer und in ihren Meinungen und Haltungen zumindest unbeständig.

Minderwertigkeitsgefühl

Eine Frau erzählt: »Ich habe beruflich Erfolg und werde von meinen Kolleg*innen als kompetent und taff und sehr selbstbewusst angesehen. Und ich schaffe auch meinen Alltag gut. Doch oft wache ich frühmorgens gegen 4 oder 5 Uhr auf und denke, ich bin ein Fake. Ich tue nur so, als ob ich wer wäre. Da steckt doch gar nichts dahinter. Ich kann doch gar nichts. Und ich habe große Angst, dass die anderen dahinterkommen, dass ich eigentlich eine Mogelpackung bin. Und dann muss ich mir wieder klarmachen, dass das eben auch nicht stimmt. Aber dieses Minderwertigkeitsgefühl bringt mich manchmal echt zur Verzweiflung.«

Vermeidungsverhalten: Manche Menschen mit traumatischen Erfahrungen versuchen, alles zu vermeiden, was sie an die traumatisierende Situation erinnern könnte. Dieses Verhalten ist eine im Grunde verständliche und »gesunde« Konsequenz bzw. Bewältigungsstrategie, weil es schützt und ein Ausdruck von Vorsicht ist. Allerdings leiden die Menschen daran, dass der Schutz nie vollständig sein und sie sich nie in Sicherheit wiegen können, weil es schlichtweg unmöglich ist, allen eventuell bedrohlichen und verletzenden Situationen auszuweichen, wenn man am sozialen Leben noch teilhaben will. In jedem Fall schränken sich durch das Vermeidungsverhalten die Lebensmöglichkeiten je nach Ausmaß und Ausprägung mehr oder weniger ein und können bis zum vollständigen Rückzug und zur Vereinsamung führen.

Betäubtes Angstgefühl: Es gibt auch Opfer traumatisierender Gewalt, die das Gegenteil als Folge des Ereignisses leben: Sie begeben sich immer wieder unbewusst und ungewollt in gefahrvolle Situationen und spüren gar keine Angst und wiederholen damit scheinbar die bedrohliche Situation. Dies ist ein Ausdruck davon, dass die Angst als Gefühl der Vorsicht und Bremse so stark war, dass sie erstorben ist und betäubt wurde. Viele traumatisierte Menschen stürzt diese Verhaltensweise, wenn sie sie an sich beobachten, in Selbstzweifel und Verzweiflung. Deshalb ist es zum Selbstverständnis so wichtig, um diese Traumafolge zu wissen und Hilfe zu suchen, diese erstarrten Gefühle wiederzubeleben.

5 Was sind Besonderheiten bei sexualisierter Gewalt?

Erfahrungen sexueller Gewalt erschüttern die Menschen in ihrer Unversehrtheit und in ihrem Selbstverständnis. Ihr Nein wird nicht gehört, ihre Wehrhaftigkeit wird gebrochen oder ihre Wehrlosigkeit ausgebeutet. Sie werden von den Täter*innen nicht als Subjekt mit der jedem Menschen, jeder Person zustehenden Würde respektiert, sondern als ihnen zur Verfügung stehendes Objekt behandelt.

Bevor sich die Begriffe sexuelle oder sexualisierte Gewalt für diese Taten und Erfahrungen in der traumatherapeutischen Literatur und Praxis durchsetzten, wurden solche Erfahrungen als Missbrauch oder sexueller Missbrauch bezeichnet. Von dieser Formulierung ist man – wenn auch weitgehend noch nicht in der medialen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit – sinnvollerweise abgekommen, weil sie unterstellt, dass das »Gebrauchen« eines anderen Menschen wie das eines Werkzeuges zulässig sei. Die Begriffe »sexuelle« bzw. »sexualisierte Gewalt« betonen, dass diese Taten in erster Linie Gewalt sind. Sie sprechen das an und legen offen, was diesen Menschen gewaltsam angetan worden ist, und stellen damit die Macht- und Ohnmachtsverhältnisse klar. Sexuelle oder sexualisierte Gewalt ist – und da ist der Begriff des Missbrauchs angemessen – immer ein Machtmissbrauch, die Gewalt eines/einer Mächtigeren an einem ihm/ihr Ausgelieferten. Und sie ist ein Vertrauensmissbrauch, besonders folgenschwer dann, wenn die sexuelle Gewalt in der Familie oder anderen nahen Bezügen und Beziehungen stattgefunden hat oder stattfindet.