Trauma und Bindung in der Kindheit - Lilith König - E-Book

Trauma und Bindung in der Kindheit E-Book

Lilith König

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Beschreibung

Das Thema Trauma ist nicht auf die klinisch-therapeutische Praxis begrenzt, sondern genauso relevant für Fachkräfte in frühpädagogischen Kontexten. Als bedeutsame Bezugspersonen übernehmen sie in Betreuungs- und Kindertageseinrichtungen wichtige Fürsorgeaufgaben und sind im Umgang mit seelisch verletzten Kindern besonders herausgefordert. Das Buch vermittelt eine handlungsorientierte Verstehens- und Zugangsweise zu dem Phänomen Trauma und leitet aus der Bindungstheorie konkrete Überlegungen und Strategien für die frühpädagogische Praxis ab. Dabei wird ein Ressourcen orientierter Ansatz verfolgt, der die Perspektive und das individuelle Erleben von Kindern in den Mittelpunkt stellt.

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Die Autorin

Dr. Dipl.-Psych. Lilith König ist Professorin für Sonderpädagogische Psychologie/Frühförderung an der PH Ludwigsburg und Systemische Therapeutin (SG).

Lilith König

Trauma und Bindung in der Kindheit

Grundwissen für Fachkräfte der frühen Bildung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033531-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033532-5

epub:   ISBN 978-3-17-033533-2

mobi:   ISBN 978-3-17-033534-9

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Einleitung

Aufbau des Buches

1 Bindung als psychologisches Konstrukt

1.1 Bindung und Beziehung

1.2 Bindung als Verhaltenssystem

1.2.1 Das Bindungsverhaltenssystem

1.2.2 Das Explorationssystem

1.2.3 Das Fürsorgesystem

1.3 Das Feinfühligkeitskonstrukt

1.3.1 Zugänglichkeit, Kooperation und Akzeptanz

1.4 Gefühlswärme und Bindungssicherheit

1.5 Kultur und Kontext

1.6 Bindung im Kontext anderer psychischer Grundbedürfnisse

1.7 Bindung und Umgang mit emotionalen Belastungen

1.7.1 Individuelle Unterschiede im Umgang mit Belastungen

1.7.2 Bindungsstrategien bei Kindern – Beobachtungen in der »Fremden Situation«

1.8 Bindungsstrategien im Kontext unterschiedlicher Fürsorgebedingungen

1.8.1 Bindungsstrategien als Anpassung an günstige Kontextbedingungen

1.8.2 Bindungsstrategien als Anpassung an ungünstige Kontextbedingungen

1.9 Das innere Arbeitsmodell der Bindung

1.9.1 Der mentale Status von Eltern in Bezug auf Bindung

1.10 Veränderungen im Entwicklungsprozess

2 Das Phänomen Trauma

2.1 Traumatische Ereignisse und (Gewalt-)Erfahrungen als Teil des Traumageschehens

2.1.1 Systematisierung von Bedingungen traumatischer Erfahrungen

2.2 Trauma bezogene neuropsychologische Prozesse und Dissoziation

2.2.1 Gedächtnis und unterschiedliche Funktionsmodi

2.2.2 Dissoziation als Notfallschaltung des Gehirns

2.2.3 Dissoziation und unkontrollierbare Traumareaktionen

2.3 Dissoziative Symptomatik und das Konzept der »Posttraumatischen Belastungsstörung«

2.4 Trauma als sequenzieller Prozess

2.4.1 Erweiterung des Konzeptes der sequentiellen Traumatisierung

2.5 Zusammenschau und Schlussfolgerungen

3 Trauma und Bindung in der frühen Kindheit

3.1 Bindungsdesorganisation

3.1.1 Bindungsdesorganisation im Kleinkindalter

3.1.2 Annahmen zur Entstehung von Bindungsdesorganisation in verschiedenen Fürsorgekontexten

3.2 Traumatische Bindungserfahrungen

3.2.1 Traumatische Trennungen von oder Verlust der Bindungsperson

3.2.2 Indirekte Traumatisierung im Kontext der Bindungsbeziehung

3.2.3 Direkte Traumatisierung durch Bindungspersonen

3.3 Traumaverarbeitung und Bindungserfahrungen

3.4 Bindungsstörungen in Abgrenzung zur Desorganisation

4 Qualitätsmerkmale einer Trauma sensiblen frühen Bildung

4.1 Die pädagogische Beziehung als Halt gebende Beziehung

4.1.1 Die Bedeutung der kindlichen Bindungsrepräsentationen für den Aufbau und die Gestaltung der pädagogischen Beziehung

4.2 Die Qualität der Fachkraft-Kind-Interaktion in Prozessen der frühen Bildung

4.2.1 Trauma bezogene Interaktionsqualität und Bindungsbedürfnisse

4.2.2 Trauma bezogene Interaktionsqualität und Autonomiebedürfnisse

4.3 Übergänge, Veränderungen und Trauma bedingte Trennungsängste

4.4 Der gute Grund, der den Unterschied macht

4.4.1 Im Verhalten die Sinnhaftigkeit finden statt Probleme im Kind zu suchen

4.4.2 Trauma sensibler Umgang mit Dissoziation

5 Pädagogische Haltung und Trauma sensibler Umgang mit Kindern

5.1 Trauma und das Konzept der Salutogenese

5.1.1 Trauma als Verletzung des Kohärenzgefühls

5.2 Grundhaltungen traumapädagogischer Konzepte

5.3 Pädagogik der Selbstbemächtigung

5.4 Umgang mit akuten Traumareaktionen in der Kindertageseinrichtung

5.5 Partizipation als heilsam wirkende Ressource

5.5.1 Handlungsebenen der Partizipation

5.5.2 Partizipation und das Recht auf freie Meinungsäußerung

Literatur

Einleitung

 

 

 

Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, das heißt aber nicht, dass jedes Kind die gleichen Chancen hat, dieses Recht auch in angemessener Form in Anspruch nehmen zu können. Es gibt viele Gründe und Barrieren, die ein Kind daran hindern. In der frühen Kindheit geschieht das nicht selten, weil seine Kommunikationssignale und sein Verhalten nicht verstanden werden oder die Motive und Intentionen dahinter falsch gedeutet werden. Für Kinder, die von Traumatisierung betroffen sind, gilt dies in besonderer Weise – auch jenseits des Kleinkindalters. Sie haben Unberechenbarkeit und Kontrollverlust erlebt und sind deshalb latent immer in Alarmbereitschaft, um drohende Gefahren im Vorfeld zu erkennen. Sie fallen manchmal auf, weil sie vermeintlich provozieren, sich verstörend verhalten oder ihre unvermittelten emotionalen Ausbrüche und Grenzüberschreitungen willkürlich erscheinen. Oder sie sind gar nicht sichtbar, was fast noch schlimmer ist, weil so die Wahrscheinlichkeit noch größer ist, dass niemand auf ihr Leid und ihre Nöte aufmerksam wird.

Traumatische Erfahrungen wie Unfälle, Vernachlässigung, sexualisierte Gewalt, Kriegs- und Fluchterfahrung hinterlassen oftmals keine äußeren Spuren, und die unspezifischen Symptome, die darauf hinweisen könnten, sind ohne die individuellen lebensgeschichtlichen Hintergründe nicht zu verstehen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass durch den Anstieg der Anzahl geflüchteter Familien, der 2015 in Deutschland auf dem Höhepunkt war, viele pädagogische Fachkräfte im Bereich der frühen Bildung in besonderer Weise auf das Thema Trauma aufmerksam wurden. Es liegt nahe, dass Kinder mit Fluchterfahrungen erschreckende Erfahrungen gemacht haben, allerdings sind nicht alle Geflüchteten von Traumatisierung betroffen, und umgekehrt leiden auch Kinder unter seelischen Verletzungen, deren Lebenskontext dies nicht unbedingt vermuten lässt. Auch wenn das Thema Trauma immer noch eher mit geflüchteten Kindern assoziiert wird, wie auch die Publikationen im KiTa-Bereich zeigen, hat dies doch zu einer zunehmenden Sensibilisierung geführt, die andere lebensgeschichtlichen Belastungen miteinschließt. Das ist ein erster wichtiger Schritt, damit das Bewusstsein wächst, dass traumatische Erfahrungen nicht ohne weiteres im offensichtlichen Verhalten erkennbar sind und seelisch verletzte Kinder Trauma sensible Lern- und Beziehungsangebote brauchen, die ausreichend Halt und die notwendige Sicherheit gewährleisten.

Traumatische Erfahrungen verletzen die Grundbedürfnisse und können die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern weitreichend beeinflussen, sie wirken allerdings nicht linear-kausal und müssen immer in Zusammenhang mit den Bindungsbeziehungen eines Kindes, aber auch mit anderen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie sowie den Kontextbedingungen im nahen und weiteren sozialen Umfeld betrachtet werden. Daraus ergeben sich für pädagogische Fachkräfte, als bedeutsame Bezugspersonen, besondere Aufgaben und Anforderungen: Unter anderem sich Wissen darüber anzueignen, wie traumatische Erfahrungen im Gehirn wirken und wie sich diese (dissoziativen) Prozesse im Verhalten von Kindern zeigen können. Auf dieser Basis und mit den entsprechenden anwendungsbezogenen Kenntnissen und Kompetenzen können Fachkräfte neue Handlungsräume erschließen, die seelisch verletzte Kinder unterstützen, und in der Kindertageseinrichtung dazu beitragen, dass ein soweit als möglich sicherer Ort entsteht.

Eine bindungsorientierte Herangehensweise, die Halt gebende Beziehungsangebote und empathische, feinfühlige Begegnungen ermöglicht, ist in jedem Fall unverzichtbar. Dies impliziert auch, (ver)störende Verhaltensweisen in ihrer Funktion zu verstehen und sie als Überlebensleistung zu würdigen. Einfache pädagogische Handlungskonzepte lassen sich daraus nicht ableiten – gerade auch dann, wenn in Rechnung gestellt wird, dass es meistens an zeitlichen Ressourcen, räumlichen Bedingungen und Unterstützung durch spezielle Fachkräfte mangelt. Aber schon mit einer verstehenden und zugewandten Grundhaltung und einem Trauma sensiblen Umgang ist sehr viel erreicht, wenn dadurch die Grundbedürfnisse von Kindern (an)erkannt werden und jedes Kind sich mit allen seinen Verhaltensweisen, Gedanken, Fragen und Gefühlen willkommen weiß.

In diesem Buch steht die Bedeutung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Kindern im Vorschulalter im Kontext der familiären und außerfamiliären sozialen Umwelt im Mittelpunkt. Dabei wird ein ressourcenorientierter Ansatz verfolgt, der die wesentlichen Grundbedürfnisse in den Blick nimmt und vor diesem Hintergrund die individuellen Verhaltensweisen von Kindern als Anpassung an unterschiedliche Anforderungen und Lebenswirklichkeiten würdigt. Die daraus abgeleiteten Qualitätsmerkmale, die für einen Trauma sensiblen Umgang mit Kindern in der frühen Bildung relevant sind, fokussieren die Fachkraft-Kind-Interaktion. Sie sind an einem responsiven und achtsamen Fürsorgeverhalten orientiert, das alle Bedürfnisbereiche einschließt und die besondere Situation von seelisch verletzten Kindern berücksichtigt. Die dargelegten bindungstheoretischen und psychotraumatologischen Grundlagen basieren auf dem aktuellen Diskussions- und Forschungsstand. Sie werden teilweise ausführlicher ausgearbeitet, wenn sie für das vorliegende Thema besonders wichtig sind und die Komplexität dies verlangt, und teilweise komprimiert dargeboten, wenn es um Themen geht, die nicht unberücksichtigt bleiben sollen, aber eine eingehendere Auseinandersetzung den Rahmen sprengt und auf die weiterführende Literatur verwiesen werden muss. Die Auswahl der herangezogenen traumapädagogischen Konzepte ist daran orientiert, dass sie auf den Bereich der frühen Bildung übertragbar sind, der in der einschlägigen traumapädagogischen Literatur bisher noch wenig berücksichtigt wird.

Aufbau des Buches

Im ersten Kapitel (Kap. 1) werden die wesentlichen bindungstheoretischen Grundlagen zusammengefasst, die für Trauma sensibles pädagogisches Handeln relevant sind. Dies impliziert auch eine präzise Definition der Konstrukte, die teilweise schon auf der begrifflichen Ebene zu Missverständnissen führen können, wenn beispielsweise Bindung mit Beziehung gleichgesetzt wird. Das Bedürfnis nach emotionaler Nähe und Verbundenheit ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und wird in unterschiedlichen Formen sozialer Beziehungen deutlich, ist aber nicht mit dem für Säuglinge und Kleinkinder überlebensnotwendigen Bindungsbedürfnis gleichzusetzten. Eine Bindungsbeziehung baut ein Kind nur zu wenigen vertrauten Bezugspersonen auf (meistens zu Mutter und Vater), während es temporär auch Bindungsverhalten gegenüber anderen wichtigen Bezugspersonen zeigen kann, die ersatzweise die Funktion einer Bindungsperson übernehmen. Die Qualität der Bindung, das heißt, ob sie als sicher oder unsicher einzuschätzen ist, lässt sich deshalb nicht über die Stärke der emotionalen Verbundenheit bestimmen. Alle Kinder lieben ihre Eltern, auch die Kinder, deren Bindungsbedürfnisse nicht angemessen erfüllt werden. Selbst Misshandlungen heben diese emotionale Verbundenheit nicht auf, die das betroffene Kind zu einer Bindungsperson aufgebaut hat. Die zentrale Funktion des Bindungssystems ist die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Sicherheit und emotionaler Stabilität, die beim Kleinkind die körperliche Nähe zu einer vertrauten Bezugsperson voraussetzt. Die Bindungsqualität bezieht sich deshalb auf die individuellen Verhaltensvarianten im Kontext der Bindungsbeziehung und nicht auf die Beziehung selbst. Sie resultieren aus wiederholten Interaktionserfahrungen, die das Kind als inneres Arbeitsmodell von sich selbst mit seiner Bindungsperson konstruiert. Diese Arbeitsmodelle (Bindungsrepräsentationen) beeinflussen, ob und wie bedrohlich Situationen erlebt bzw. eingeschätzt werden, wie groß das Vertrauen in die eigenen und in soziale Ressourcen ist und welche Ressourcen infolgedessen mobilisiert werden. Wie gut ein Kind in der Lage ist, vorhandene Ressourcen zu nutzen, wird aber auch durch die aktuellen Kontextbedingungen beeinflusst, sodass Bindungsrepräsentationen dynamisch zu betrachten sind und durch neue Erfahrungen modifiziert werden. Hier liegt auch die Schnittstelle zum Thema Trauma. Psychosoziale Stressoren entstehen in Abhängigkeit von Bewertungsprozessen und den antizipierten Bewältigungsmöglichkeiten, die in engem Zusammenhang mit den Bindungsrepräsentationen stehen. Bindungsrepräsentationen spiegeln aber nicht nur die bisherigen Erfahrungen wider, sondern sind zukunftsorientiert und können auch bei inkohärenten Lebenserzählungen Erwartungen und Potenziale enthalten, die Anhaltspunkte für alternative Konstruktionen bieten.

Kapitel zwei (Kap. 2) widmet sich dem vielschichtigen Phänomen Trauma, das sich weder als Einzelereignis noch als Summe von Symptomen beschreiben lässt. Die Gleichsetzung der psychiatrischen Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS) mit Trauma ist ein weitverbreitetes Missverständnis und schon insofern eine sehr verkürzte Sichtweise, da nicht wenige Kinder trotz traumatisierenden Erfahrungen keine PTB-Symptome zeigen. Darüber hinaus stellt sich prinzipiell die Frage, wie sinnvoll es ist, die Folgen überwältigender Lebenserfahrungen als Krankheitskategorie aufzufassen.

Traumatische Erfahrungen sind mit dem Erleben verbunden, in einer existenziellen Notlage sich weder selbst schützen zu können noch von anderen geschützt zu werden – also mit Ohnmacht und völligem Kontrollverlust. Solche Erfahrungen überfordern die Anpassungsstrategien eines Menschen, wodurch es zu einer Abspaltung von Gefühlen und Empfindungen (Dissoziation) kommen kann, um das Unfassbare überleben zu können. Welche Folgen sich dadurch ergeben, hängt davon ab, wie das Erlebte in der posttraumatischen Phase integriert werden kann. Diesbezüglich sind Kinder besonders vulnerabel, weil sie viel umfassender auf die Fürsorge im nahen wie im weiteren sozialen Umfeld angewiesen sind. Ob traumatische Erfahrungen zu posttraumatischen Belastungsreaktionen führen, hängt deshalb maßgeblich vom Fürsorgekontext ab. Dies wird gut nachvollziehbar am Modell der sequentiellen Traumatisierung (Keilson, 1979), das Trauma als Prozess und Abfolge von traumatischen Sequenzen konzipiert und ohne die Zuschreibung einer Pathologie auskommt. Zusammen mit den Konzepten der Bindungstheorie lässt sich daraus eine Sichtweise ableiten, die Trauma intrapsychisch als Verletzung der Grundbedürfnisse (nach Bindung, Autonomie und Kompetenz) auffasst und die Verarbeitung und Integration traumatischer Erfahrungen im sozialen Umfeld verortet. Dies verändert auch die Sichtweise in der Auseinandersetzung über Trauma im pädagogischen Kontext. Pädagogische Fachkräfte sind demnach nicht nur mit den Auswirkungen überwältigender Erfahrungen von Kindern konfrontiert, sondern gestalten den traumatischen Prozess insofern mit, da sie einen nicht unerheblichen Anteil an der Fürsorge der ihnen anvertrauten Kinder haben.

Die Verknüpfung und komplexe Wechselwirkung zwischen Trauma und Bindung wird in Kapitel drei (Kap. 3) ausführlich behandelt, in dem auch Missverständnisse über das Konstrukt der Bindungsdesorganisation aufgeklärt werden. Die Bindungsdesorganisation kann zwar ein Hinweis auf potentiell traumatische Erfahrungen sein, sie kann aber auch auf anderen Erfahrungen beruhen, die es einem Kind (vorübergehend) nicht ermöglichen, eine organisierte Bindungsstrategie aufrechtzuhalten. Der Zusammenbruch einer Bindungsstrategie muss in jedem Fall von den sogenannten Bindungsstörungen abgegrenzt werden, die als psychiatrische Diagnosen konzeptuell einen anderen Hintergrund haben und auch anwendungsbezogen ganz anders zu diskutieren sind. Ansonsten geht es in diesem Kapitel um die Frage, welchen Einfluss traumatische Erfahrungen auf die Bindungsentwicklung haben können, aber auch umgekehrt, wie die Bindungserfahrungen und die daraus resultierende inneren Arbeitsmodelle eines Kindes die Verarbeitung und Integration traumatischer Erfahrungen beeinflussen. Traumatische Erfahrungen, die durch die Bindungspersonen selbst verursacht sind wie Vernachlässigung, Misshandlungen und/oder sexualisierte Gewalt sind dabei gesondert zu analysieren und haben nochmals ganz andere Konsequenzen.

Mit Kapitel vier (Kap. 4) beginnt der anwendungsbezogene Teil des Buches, in dem der Frage nachgegangen wird, wie pädagogische Fachkräfte Kinder angemessen begleiten und unterstützen können. Dazu werden zunächst die bindungsbezogenen Qualitätsmerkmale der Fachkraft-Kind-Interaktion behandelt, die für einen Trauma sensiblen Umgang mit Kindern von fundamentaler Bedeutung sind. Sie beziehen sich auf die Alltagsorganisation in der Betreuungs- bzw. Kindertageseinrichtung, die Co-Regulation in Überforderungssituationen von Kindern und die Unterstützung des Lernens. Ausgangspunkt ist die Bedeutung und Gestaltung der pädagogischen Beziehung in ihrer Halt gebenden Funktion. Sie sollte im günstigen Fall bindungsähnliche Qualitäten aufweisen und muss sich an den Kriterien der Feinfühligkeit messen lassen. Übergängen, die allgemein für Kinder eine große Herausforderung darstellen, kommt im Bezug auf einen Trauma sensiblen Umgang mit Kindern eine besondere Bedeutung zu. Sie können auch in relativ stressarmen Alltagssituationen leicht Traumareaktionen auslösen. Bei allem darf der Blick für die Ressourcen nicht verloren gehen, die auch in scheinbar dysfunktionalen Verhaltensweisen zu finden sind, wenn die verschlüsselten Botschaften verstanden werden. Dazu sind systemische und lösungsorientierte Ansätze sehr hilfreich. Ressourcenorientierung bedeutet nicht, alles »schön zu reden«, sondern zeichnet sich durch Wertschätzung dessen aus, was ist und auf das zu schauen, was ein Kind kann, interessiert und gern macht.

Wertschätzung als grundlegende Haltung Trauma sensibler pädagogischer Arbeit ist auch Thema im fünften Kapitel (Kap. 5), das den Perspektivwechsel von der Pathogenese zu den protektiven Faktoren und Ressourcen des salutogenetischen Ansatzes als Ausgangpunkt hat. Damit geht ein interaktioneller Gesundheitsbegriff einher, der die psychische und soziale Dimension gleichbedeutend neben die somatische stellt und zeigt, dass sich achtsames pädagogisches Handeln nicht allein auf die Verletzlichkeit von Kindern bezieht, sondern auch die alltägliche Orientierung an dem individuellen Potential jedes Kindes einschließt. Die Möglichkeit, traumatische Erfahrungen zu überleben und zu bewältigen, wird aus dieser Sicht mit einem hohen Kohärenzgefühl in Zusammenhang gebracht, das sich dadurch zeigt, dass ein Großteil der Erfahrungen und Lebensereignisse verstehbar ist, individuelle Herausforderungen handhabbar sind und das eigene Leben als bedeutsam erlebt wird. Vor diesem Hintergrund werden die Grundhaltungen Trauma sensibler pädagogischer Arbeit entfaltet, die auch das traumapädagogische Konzept der Selbstbemächtigung begründen, das vor allem auf Selbstverstehen, Selbstregulation und Selbstwirksamkeitserfahrungen zielt. Unter anderem geht es darum, zusammen mit dem Kind Strategien zu entwickeln, die ihm helfen, dissoziative Prozesse möglichst zu verhindern oder zu minimieren bzw. sich in kritischen Momenten zu reorganisieren und stabilisieren. Dabei können auch transparente und klare Zeit- und Raumstrukturen sowie ein ritualisierter Ablauf beruhigend wirken, wenn damit tatsächlich die Funktion erfüllt wird, Unsicherheit und Ängste zu reduzieren und Beziehungen zu ermöglichen. Insgesamt geht es darum, Strukturen und Ansätze zu realisieren, die jedem Kind, seinem Entwicklungsstand entsprechend, höchstmögliche Partizipation ermöglichen. Dazu zu gehören und geschätzt zu werden sowie selbst entscheiden und etwas bewirken zu können gilt neben dem Erleben von Schutz und Sicherheit als grundlegend für die Gesundheit und das emotionale Wohlbefinden.

1          Bindung als psychologisches Konstrukt

 

 

 

Das Bedürfnis nach emotionaler Nähe und Verbundenheit ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und wird in unterschiedlichen Formen sozialer Beziehungen deutlich. In diesem Grundbedürfnis wurzelt auch das Bindungsbedürfnis, das vor allem für Säuglinge und Kleinkinder überlebensnotwendig ist.

Bindungsbedürfnisse im Sinne der Bindungstheorie sind aber nicht mit dem übergreifenden Bedürfnis nach sozialer Einbindung und dem Bedürfnis nach Liebe und Wärme gleichzusetzen. Insofern sind liebevolle nahe Beziehungen auch von Bindungsbeziehungen zu unterscheiden. Im Englischen wird dieser Unterschied auch sprachlich markiert: So steht »affiliation« allgemein für emotionale Verbundenheit, während »attachment« die Bindung bezeichnet, die ein Kind mindestens zu einer spezifischen Bezugsperson aufbaut. Als Bindungspersonen kommen die Personen in Frage, die für die Versorgung des Kindes zuständig sind und ihm bei der Regulierung emotionaler Belastungen beistehen. Eine Bindungsbeziehung baut ein Kind demnach nur zu wenigen vertrauten Bezugspersonen auf – meistens zu Mutter und Vater.

Bindungsverhalten, das vor allem als Herstellen von Nähe gekennzeichnet ist, basiert auf einem biologisch begründeten Verhaltenssystem und lässt sich kulturübergreifend beobachten, wenn ein Kind emotional überlastet ist. Bindungsverhalten hat die Funktion, Sicherheit (wieder-)herzustellen, indem das Kind seine Bindungsperson zum Schutz und zur Regulation seiner Gefühle nutzt.

Eltern1 werden demnach nicht dadurch zu Bindungspersonen, dass sie ihr Kind lieben bzw. ihr Kind sie liebt, sondern durch ihre Fürsorge bezogen auf die Grundbedürfnisse des Kindes. Die Interaktionen zwischen Eltern und Kind sind aber nicht nur bindungsbezogen zu betrachten, sondern das Interaktionsverhalten muss je nach Kontext (Belastungs- oder Spielsituation) und Funktion (Emotionsregulation oder Exploration) differenziert werden.

Dies ist besonders für die Einschätzung der Bindungsqualität notwendig, die nicht mit Liebe verwechselt werden darf. Die Bindungsqualität bezieht sich auf das individuelle Bindungsverhalten des Kindes, das in Abhängigkeit von den Fürsorgeerfahrungen und Kontextbedingungen variieren kann, und nicht auf sein Interaktionsverhalten im Allgemeinen. Gerade in außerfamiliären Kontexten, wenn Fachkräfte der frühen Bildung ersatzweise die Funktion einer Bindungsperson übernehmen, ist die Differenzierung zwischen dem Verhalten eines Kindes in alltäglichen stressarmen Situationen und seinem Bindungsverhalten sehr wichtig.

In diesem Kapitel werden die wesentlichen Grundlagen der Bindungstheorie dargestellt, die für Trauma sensibles pädagogisches Handel relevant sind. Dabei wird ein Ressourcen orientierter Ansatz vertreten, der vor allem den Zusammenhang zwischen Bindungserfahrungen und anderen wesentlichen Grundbedürfnissen in den Mittelpunkt stellt und die individuellen Bindungsvarianten als Anpassung an unterschiedliche Anforderungen und Lebenswirklichkeiten würdigt. Zunächst wird das Bindungskonstrukt definiert und Bindung hinsichtlich ihrer Funktion und auf der Basis des Zusammenspiels spezifischer Verhaltenssysteme analysiert (Kap. 1.1–1.2). Das Feinfühligkeitskonzept wird ausführlich behandelt, da es für die Zusammenarbeit mit Eltern sehr wichtig ist und sich als Orientierungsrahmen für einen Trauma sensiblen Umgang mit Kindern in außerfamiliären Kontexten sehr gut eignet (Kap. 1.3.). Das in der Bindungsforschung eher selten beachtete Konzept des Sicherheits- und Wärmesystems wird kurz erläutert und seine Bedeutung im Hinblick auf die Abgrenzung von Bindung und Beziehung herausgestellt, was besonders für den pädagogischen Kontext sehr wichtig und auch mit Blick auf kontextuelle und kulturelle Einflüsse zu beleuchten ist (Kap. 1.4–1.5). Die Bedeutung der Bindung für ein Kind, aber auch für Erwachsene, kann nur in der Zusammenschau mit anderen psychischen Grundbedürfnissen erfasst werden und ist vor dem Hintergrund, dass traumatisierende Erfahrungen eine fundamentale Verletzung der Grundbedürfnisse darstellen, für die Auseinandersetzung mit Trauma und Bindung unerlässlich (Kap. 1.6). Da bei einer Trauma sensiblen Pädagogik die emotionale Stabilisierung im Mittelpunkt steht, sind auch die verschiedenen organisierten Bindungsstrategien eingehender zu erörtern. Ausgehend von der Frage, was im Sinne der Bindungstheorie mit »sicher« versus »unsicher« gemeint ist, werden die verschiedenen Bindungsverhaltensmuster hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Aufmerksamkeitsorientierung und Emotionsregulierung erörtert und ihre adaptive Funktion im Bezug auf den jeweiligen Fürsorgekontext dargestellt (Kap. 1.7–1.8). In diesem Zusammenhang sind auch das Konzept der inneren Arbeitsmodelle und der damit zusammenhängenden Abwehrprozesse von zentraler Bedeutung (Kap. 1.9). Es veranschaulicht innerpsychische Vorgänge wie Gedächtnisprozesse, Verhaltenssteuerung und Belastungsreaktionen, die für die Konstruktion der eigenen Bindungsgeschichte und die daraus resultierenden Vorstellungen vom Selbst mit der Bindungsperson maßgeblich sind (Bindungsrepräsentationen). Hierin liegt auch der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie frühe Erfahrungen das Erleben und Verhalten in neuen Entwicklungskontexten beeinflussen und welche Veränderungen sich im Verlauf der Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter ergeben (Kap. 1.10).

1.1       Bindung und Beziehung

In den meisten Definitionen wird Bindung als emotionales Band beschrieben, das sich Zeit und Raum übergreifend zwischen zwei Personen, insbesondere zwischen dem Kleinkind und seiner primären Fürsorgeperson, entwickelt. Die Bezeichnung emotionales Band wird allerdings häufig im Sinne von Liebe missverstanden, was damit nicht gemeint ist. Um zu verstehen, was im Kontext der Bindungsbeziehung mit emotionalem Band gemeint ist, ist es hilfreich, nochmals auf die oben erwähnte Differenzierung im Englischen zurückzugreifen. Analog zur Differenzierung von »attachment« und »affiliation« gibt es die Bezeichnungen »attachment bond« und »affectional bond«. »Attachment bond« wird ausschließlich für die Bindungsbeziehung verwendet, wohingegen »affectional bond« die emotionale Verbundenheit in anderen nahen Beziehungen bezeichnet (s. z. B. Ainsworth, 1989, S. 711). Im Deutschen gibt es keine entsprechende sprachliche Unterscheidung. Emotionales Band kann als Kennzeichen einer Bindungsbeziehung verstanden werden, aber auch für emotionale Verbundenheit in einer vertrauten und sehr nahen Beziehung stehen. Viele Missverständnisse, die gerade in der Praxis auftreten, entstehen durch eine einseitige Fokussierung auf die emotionale Verbundenheit, die zwar auch für die meisten Bindungsbeziehungen charakteristisch ist, aber eben nicht das Spezifische ausmacht, was eine Bindungsbeziehung von anderen nahen und vertrauten Beziehungen abhebt. Im Weiteren wird deshalb der Ausdruck »emotionales Band« verwendet, wenn es um die Bindungsbeziehung geht, und gefühlsmäßige oder emotionale Verbundenheit, um enge nahe Beziehungen zu umbeschreiben. Der zentrale Unterschied zwischen beidem liegt darin, dass das »emotionale Band« (»attachment bond«) ein überdauerndes, weitgehend stabiles Merkmal einer Person ist, nämlich das der bindungssuchenden Person bzw. des Kindes (Bowlby, 2008, S. 22). Die gefühlsmäßige Verbundenheit (»affectional bond«) ist dagegen ein Beziehungsmerkmal und kann je nach Art der Beziehung variieren.

Wie in der Abbildung 1.1 zu erkennen ist, ist emotionale Verbundenheit ein wechselseitiges Beziehungsmerkmal, das heißt zwei Personen (auch Kind und Bindungsperson) können sich mehr oder weniger nah sein, was durch die Art des Aufeinander-Bezogen-Seins bestimmt wird und sich zudem über die Zeit verändern kann. Das »emotionale Band« dagegen wird nur vom Kind bezogen auf die Bindungsperson aufgebaut und nicht umgekehrt auch von der Bindungsperson. Das »emotionale Band« ist also ein Personenmerkmal, das stabil, aber nicht qualifizierbar ist.

Die Qualität der Bindung bezieht sich deshalb weder auf das »emotionale Band« noch auf die Intensität der emotionalen Verbundenheit, sondern auf das Bindungsverhalten und damit einhergehende psychische Prozesse (Main, 2016). Die gängigen Bezeichnungen gute, schlechte, starke oder schwache Bindung sind deshalb bindungstheoretisch unangebracht.

Abb. 1.1: Bindung als emotionales Band (attachment bond) und spezifisches Personenmerkmal (hier des Kindes) versus emotionale Verbundenheit (affectional bond) als Merkmal einer nahen Beziehung

Qualitative Unterschiede sind nur auf der Ebene des Bindungsverhaltens möglich, wobei auch hier Begriffe wie gut und schlecht unpassend sind, weil damit verschiedene Strategien der Emotionsregulation gemeint sind (Kap. 1.7). Insofern ist es auch missverständlich, eine Bindung als gestört zu bezeichnen, allenfalls (in sehr seltenen Fällen) kann davon ausgegangen werden, dass ein Kind zu keiner Person eine Bindungsbeziehung entwickeln konnte, was dann der psychiatrischen Diagnose »Bindungsstörung« entsprechen würde.

Das »emotionale Band« ist die Voraussetzung dafür, dass Bindungsverhalten gegenüber einer bestimmten Person gezeigt wird. Es entsteht durch die biologisch angelegte Bindungsbereitschaft bzw. das überlebensnotwendige Bedürfnis des Kindes, Nähe zu einer (vermeintlich) kompetenteren Person zu suchen, um Sicherheit und Beistand zu erlangen (Bowlby, 2008, S. 22). Eine Bindungsbeziehung ist deshalb durch eine unumkehrbare Rollenverteilung gekennzeichnet, die der Bindungsperson die Aufgabe zuschreibt, als »sichere Basis« und »sicherer Hafen« zur Verfügung zu stehen. Hat ein Kind eine Bindung bzw. »ein emotionales Band« aufgebaut, ist damit die Person festgelegt, auf die sich sein Bindungsverhalten richtet. Der Bindungsaufbau ist nicht als prägungsartiger Vorgang zu verstehen. Wann er genau beginnt, ist nicht bestimmbar. Bowlby (1969/1982) sprach deshalb von einer Vorbindungsphase in den ersten drei Monaten nach der Geburt, den Zeitpunkt der »eindeutigen Bindung« z. B. zur Mutter setzte er ab ca. sechs Monaten an, während klar identifizierbare Bindungsverhaltensmuster gegen Ende des ersten Lebensjahres beobachtet werden können. Die (wechselseitige) gefühlsmäßige Verbundenheit kann dagegen von Anfang an, also bevor der Bindungsaufbau beginnt, sehr stark sein und die Mutter-Kind-Interaktion positiv beeinflussen.

Die gefühlsmäßige Verbundenheit ist nicht für den Bindungsaufbau entscheidend! Eine Bindungsperson muss sich nicht zwingend gefühlsmäßig mit dem Kind verbunden fühlen, und ein Kind baut zu seinen Eltern auch dann ein »emotionales Band« auf, wenn sie es misshandeln.

Dass es immer wieder zu einer Vermischung von Bindung und Beziehung kommt, ist wahrscheinlich dadurch bedingt, dass die Eltern-Kind-Beziehung in der Regel auch eine Bindungsbeziehung ist: Eltern und Kind lieben sich, sind gefühlsmäßig eng miteinander verbunden, Mutter wie Vater sind die relevanten Bindungspersonen, und das Kind baut zu jedem der beiden ein »emotionales Band« auf. Die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und die Bindungsqualität bedingen sich dadurch wechselseitig, da in einer liebevollen Mutter- oder Vater-Kind-Beziehung die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass auch die Bindungsbedürfnisse angemessen erfüllt werden. Allerdings ist Liebe nicht zwingend notwendig, um einem Kind Schutz zu bieten, und umgekehrt führt Liebe nicht automatisch dazu, dass ein Kind die nötige Sicherheit erhält.

Bindungs- und Beziehungsaspekte müssen sorgfältig auseinandergehalten werden. Entsprechend ist auch das Interaktionsverhalten unterschiedlich zu interpretieren. In vielen Alltagssituationen, in denen ein Kind emotional stabil ist (was jenseits des Säuglingsalters und wenn nicht andere Belastungsfaktoren dazukommen, die meiste Zeit am Tag der Fall sein sollte), wird die Eltern-Kind-Interaktion (auch) durch andere Faktoren beeinflusst. Wenn Kinder in solchen Situationen Nähe suchen, z. B. um mit der Mutter zu kuscheln, ist das ein Zeichen ihrer emotionalen Verbundenheit und sagt etwas über ihre Beziehungsqualität aus. Die Bindungsqualität lässt sich daraus nicht ableiten. Auch Kinder, deren Bindungsbedürfnisse nicht adäquat beantwortet werden, kuscheln mit ihren Eltern, suchen ihre Nähe und können Freude in der Interaktion mit ihnen erleben. Umgekehrt kann sich ein sehr autoritäres direktives Erziehungsverhalten z. B. in Form von Machtkämpfen, negativ auf der Beziehungsebene auswirken, schließt aber nicht aus, dass die entsprechende Bindungsperson in Bindungssituationen dem Kind adäquaten Schutz und Sicherheit bietet.

Der wechselseitige Einfluss von Beziehungs- und Bindungsaspekten erschwert es, Bindung und Beziehung getrennt zu betrachten. Aber nur so sind Effekte von Erziehungsverhalten, der Einfluss kultureller Wertvorstellungen und kontextbedingte Wirkfaktoren zu erkennen und der besondere Beitrag der Bindung in diesem komplexen Bedingungsgefüge zu verstehen. Einschätzungen zur Bindungsqualität sind deshalb auch nicht auf der Grundlage alltäglicher Interaktionsbeobachtungen möglich, sondern erfordern die Analyse von Situationen, in denen das Bindungssystem des Kindes aktiviert ist, oder Verfahren, die durch spezifische Methoden Rückschlüsse auf die mental repräsentierten Bindungserfahrungen zulassen.

1.2       Bindung als Verhaltenssystem

Die Bindungstheorie basiert auf der Annahme biologisch begründeter Verhaltenssysteme, denen ein wesentlicher Stellenwert für die Überlebenschancen zugesprochen wird. Mit dem Begriff Verhaltenssystem werden Regulationsmechanismen beschrieben, die dazu dienen, einen bestimmten Zustand aufrecht zu halten bzw. (wieder) herzustellen. Verhaltenssysteme können entsprechend ihrer Funktionsweise in einfache und zielkorrigierende Systeme unterteilt werden. Bei einfachen Systemen erfolgt die Zielerreichung ohne systematische Anpassung des Verhaltens, bei zielkorrigierenden Systemen wird das Verhalten je nach Kontext systematisch angepasst. So erfolgt z. B. die Aufmerksamkeitssuche als integrierter Bestandteil von Bindungsverhalten von Geburt an zielkorrigiert, damit die Kommunikationssignale des Kindes wahrgenommen werden. Dagegen sind Signal- und Annäherungsverhalten anfangs noch nicht zielkorrigiert. Sie erfolgen nach Bedarf, passen sich jedoch (noch) nicht an die Umweltbedingungen und soziale Reaktionen an. Ein Säugling signalisiert Unwohlsein durch Schreien, das Schreien hört auf, wenn er sich wieder wohlfühlt, z. B. weil die Mutter ihn auf den Arm nimmt oder füttert. Mit der Zeit lernt das Kind sein Verhalten anzupassen und schreit z. B. lauter, wenn die Mutter weiter weg ist, oder bewegt sich schneller auf sie zu. Zum Teil sind Verhaltensweisen vorprogrammiert, werden aber immer durch Interaktionserfahrungen mit der (sozialen) Umwelt modifiziert und durch interne (z. B. Emotionen, mentale Repräsentationen) und externe Informationen (Kontext) gesteuert. Schon das Kleinkind präferiert das Verhalten, das im jeweiligen Kontext am nützlichsten ist, und kann im Laufe der Entwicklung mit entsprechender sozialer Unterstützung auf immer ausdifferenziertere Verhaltensvarianten zurückgreifen.

Der konzeptionelle Rahmen der Bindungstheorie, wie ihn Bowlby (2006b, S. 44–47) in seinem dritten Band prägnant zusammengefasst hat, stellt das Bindungssystem in den Mittelpunkt, von dem aus er Bezüge zu anderen Verhaltenssystemen herstellte. Zwei Verhaltensklassen und ihre wechselseitige Funktion im Kontext der Fürsorge waren für Bowlby von besonderer Bedeutung, nämlich das Erkundungs- (Explorations-) sowie das Bindungsverhalten. Vor diesem Hintergrund entwickelte er die Bindungstheorie, in der Fürsorge durch zwei Aufgaben gekennzeichnet ist: Eine »sichere Basis« für die Exploration bereitzustellen, wenn das Kind in einem emotionalen ausgeglichenen Zustand ist und auf »Entdeckungsreisen« geht, und jederzeit als »sicherer Hafen« zur Verfügung zu stehen, wenn das Kind emotional überlastet ist und (emotionale) Nähe und Sicherheit braucht, um sich wieder zu stabilisieren (Feeny & Woodhouse, 2016).

1.2.1     Das Bindungsverhaltenssystem

Als Bindungsverhalten gilt jegliches Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, (emotionale) Nähe zu einer bevorzugten Person herzustellen oder aufrechtzuhalten. Damit Bindungsverhalten initiiert oder intensiviert wird, muss das Bindungsverhaltenssystem aktiviert sein. Entweder durch interne Bedingungen wie Müdigkeit, Schmerzen und/oder externe Bedingungen wie Standort bzw. Zugänglichkeit der Bindungsperson sowie andere alarmierende äußere Bedingungen und Ereignisse. Fühlt sich ein Kind in irgendeiner Weise bedroht und/oder kann es emotionale Belastungen nicht (mehr) allein regulieren, wird über die Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems Bindungsverhalten ausgelöst.

Im Säuglings- und Kleinkindalter ist Bindungsverhalten vor allem in Form von Signalverhalten, wie Vokalisieren, Weinen und Schreien, oder in Form von Annährungsverhalten, wie Anklammern, Festhalten und Nachlaufen, zu beobachten. Mit zunehmendem Spracherwerb kann Bindungsverhalten auch durch Verbalisieren von Gefühlen ausgedrückt werden. Es gibt aber keine Verhaltensweisen, die per se als Bindungsverhalten definierbar sind. Ob ein Verhalten als Bindungsverhalten anzusehen ist, lässt sich nur daraus schließen, welche Funktion das Verhalten im jeweiligen Kontext hat. Ein Kind kann auch ohne Bindungsbedürfnisse Nähe suchen, um mit der Mutter zu spielen oder bei ihr auf dem Schoß sitzen. Umgekehrt kann das Bindungssystem aktiv sein, ohne dass das Kind offensichtliches Annäherungsverhalten zeigt. Welches Verhalten gezeigt wird bzw. wie Bedürfnisse kommuniziert werden, hängt von den Erfahrungen im sozialen Kontext ab und zudem vom aktuellen Entwicklungsstand bzw. kann auch durch Behinderung2 modifiziert sein.

Bindungsverhalten kann also in unterschiedlicher Weise gezeigt werden, hat aber immer das primäre Ziel, Schutz und Sicherheit sowie Unterstützung bei der Regulation von Emotionen zu erlangen.

Die Funktionsweise des Bindungsverhaltenssystems lässt sich mit einem voreingestellten Regelkreissystem vergleichen, das einem situations- und entwicklungsangemessenen Sollwert an Kontakt und Nähe folgt. So wird kontinuierlich kontrolliert, ob die Bindungsperson in Relation zu den Anforderungen der aktuellen Situation ausreichend zugänglich und responsiv ist. Wird dieser Sollwert unterschritten, wird das Bindungssystem aktiviert und Bindungsverhalten ausgelöst, während Explorationsverhalten unterbrochen oder gehemmt wird. Nähert sich z. B. ein Hund einem Kind, das im Sandkasten spielt, während seine Mutter auf einer Bank sitzt, wird es sehr schnell sein Spiel unterbrechen und in irgendeiner Form die Nähe zur Mutter suchen, sei es, dass es weint und die Arme ausstreckt, damit sie zu ihm kommt, oder dadurch, dass es sich selbst zu ihr hinbewegt. Ist die nötige Nähe für das Kind hergestellt und die Gefahr beseitigt (der Hund verjagt oder das Kind mit ihm vertraut geworden), wird das Bindungssystem deaktiviert, und das Kind kann sein Spiel fortsetzten.

Bindungsverhalten wird also ausgelöst, wenn ein Kind sich emotional in einem Erregungszustand befindet, der das Kind überfordert. Das Kind ist dann nicht mehr in seinem Ressourcenbereich (Hantke & Görges, 2012) und zur Wiederherstellung emotionaler Stabilität auf soziale Unterstützung angewiesen ist. Bei Kleinkindern kann dies schon in einer fremden Umgebung oder bedingt durch die Anwesenheit fremder Personen geschehen, bei kurzfristigen Trennungen von der Bindungsperson ist es fast immer der Fall. Sind die kognitiven Fähigkeiten des Kindes entsprechend fortgeschritten und ist das Kind dadurch mehr und mehr in der Lage, sich in die mentalen Prozesse anderer bzw. der Eltern hineinzuversetzen, entwickelt sich zwischen Kind und Bindungsperson eine sogenannte zielkorrigierte Partnerschaft. Das Kind kann dann elterliches Verhalten in einem Raum-Zeit-Kontinuum vorhersagen und sich in ihre Handlungsplanung hineinversetzen. Die Verhaltensorganisation innerhalb der Bindungsbeziehung kann nun immer aktiver vom Kind mitgestaltet werden. Bindungsverhalten zielt dann nicht mehr nur darauf ab, das Bedürfnis nach Sicherheit und den Unterstützungsbedarf zu kommunizieren, sondern auch die Pläne der Bindungspersonen durch wechselseitige Aushandlungen zu beeinflussen bzw. dadurch zu einer Kompromisslösung zu kommen.

1.2.2     Das Explorationssystem

Das Explorationsverhalten basiert auf Neugier und dem Drang, Wissen über die Umwelt zu erlangen und sich als selbstwirksam zu erleben. Es umfasst Verhaltensweisen, die vor allem dazu dienen, Informationen über die Umwelt zu gewinnen und Wissen zu erweitern.

Bowlby schrieb diesem System ebenfalls größte Wichtigkeit für das Überleben zu. Wie schon deutlich wurde, konzipierte Bowlby das Explorationssystem antithetisch zum Bindungsverhaltenssystem, da Explorationsverhalten nur bei geringem Sicherheitsbedarf und weitgehender emotionaler Stabilität erfolgt und eine Deaktivierung des Bindungsverhaltens voraussetzt. In Situationen emotionaler Ausgeglichenheit oder wenn ein Kind sich schon ohne externe Unterstützung selbst regulieren kann, ist das Bindungssystem nicht aktiv. Das Kind befindet sich dann in seinem Ressourcenbereich und kann explorieren bzw. spielen. Im Ressourcenbereich ist das Bindungssystem allerdings nicht vollständig ausgeschaltet, sondern sozusagen im Standby-Modus und latent bereit, Alarm auszulösen. So hat das Kind die Möglichkeit, sich in ein Spiel zu vertiefen oder aufmerksam und konzentriert Neues zu explorieren. Es wird aber immer mal wieder durch Schauen, Horchen oder Blickkontakt überwachen, ob die Bindungsperson potenziell zugänglich bzw. verfügbar ist. Bei Kleinkindern ist dies gut zu beobachten, wenn sie sich intensiv mit etwas beschäftigen oder in ein interessantes Spiel vertieft sind und nur sporadisch ihren Blick zur Mutter schweifen lassen. Solange sie aus Sicht des Kindes als Bindungsperson zugänglich bleibt, kann sie sich anderen Tätigkeiten widmen, vorausgesetzt es sind keine Tätigkeiten, die sie völlig absorbieren. Sobald die Mutter aber etwas tut, was ihre Aufmerksamkeit völlig vereinnahmt, z. B. lesen, wird das Kind seine Exploration unterbrechen und aktiv Kontakt suchen, indem es die Mutter ruft oder sich zu ihr hinbewegt, um sie am Lesen zu hindern. Dies darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Kind sich nicht allein beschäftigen kann oder »nur« Aufmerksamkeit will. Bindungsverhalten zeigt ein Kind nicht, um Aufmerksamkeit zu erhalten, sondern um die Bindungsperson darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich (psychisch) zu weit entfernt hat, und das beunruhigt ein Kleinkind. Es kann aber auch sein, dass ein Kind sich von sich aus zu weit wegbewegt, weil sein Erkundungsverhalten durch Reize ausgelöst wird, die noch zu neu bzw. zu komplex sind, und vom Kind mögliche Gefahren nicht richtig eingeschätzt werden können. Hier kann entweder die Bindungsperson durch entsprechende Unterstützung Gefahren abwenden, sodass das Bindungssystem des Kindes deaktiviert bleiben und das Kind weiter explorieren kann. Oder der erhöhte Sicherheitsbedarf wird durch Bindungsverhalten reguliert, das Kind bricht seine »Entdeckungsreise« ab und kommuniziert in irgendeiner Form die Notwendigkeit, beschützt und/oder emotional beruhigt zu werden.

Bindungs- und Explorationssystem stehen also in einem fortwährenden Wechsel zueinander und entsprechend wechselt auch die Funktion der Bindungsperson (Abb. 1.2). Benötigt das Kind Unterstützung, um wieder in seinen Ressourcenbereich zurückzukommen, braucht es die Bindungsperson als »sicheren Hafen«. Die Rolle der Bindungsperson muss dann immer aktiv unterstützend sein. Ist das Kind in einem entspannten Zustand und erkundet neugierig die Umwelt, wird die Bindungsperson zur »sicheren Basis«, wenn sie aus Sicht des Kindes verlässlich bereit steht und jederzeit zugänglich bleibt.

Abb. 1.2: Bindung, Exploration und komplementäre Fürsorge («sichere Basis/sicherer Hafen«)

1.2.3     Das Fürsorgesystem

Die Funktion des Bindungs- und Explorationssystems kann nur durch komplementäres Fürsorgeverhalten erfüllt werden, das nach Bowlby (1988) ebenfalls durch ein biologisch verankertes Verhaltenssystem organisiert wird. Das Fürsorgesystem ist darauf ausgerichtet, auf die Kommunikationssignale des Kindes mit angemessenen Verhaltensweisen zu reagieren, und wird durch verschiedene Faktoren gesteuert. Dazu gehören vorprogrammierte Verhaltensmuster, die durch das Verhalten bzw. den wahrgenommenen Zustand des Kindes ausgelöst werden, und Kontextbedingungen, die das Kind in irgendeiner Form bedrohen oder gefährden. Das Fürsorgesystem kann aber auch unabhängig vom Verhalten des Kindes aktiviert werden, wenn die Fürsorgeperson einen entsprechenden Bedarf für das Kind antizipiert. Internal wird Fürsorgeverhalten durch den aktuellen (emotionalen) Zustand der Fürsorgeperson beeinflusst und durch die verinnerlichten Vorstellungen (inneres Arbeitsmodell) von Fürsorge gesteuert, in die neben den aktuellen Erfahrungen mit dem Kind auch die eigenen früheren Bindungserfahrungen einfließen (Bell & Richard, 2000).

In der Säuglingszeit überwiegen intuitive Verhaltensweisen (Papoušek & Papoušek, 1987), sie entstehen spontan in der Interaktion mit dem Kind und werden im Laufe der weiteren Entwicklung durch Verhalten abgelöst, das Eltern im wechselseitigen Interaktions- und Anpassungsprozess mit dem Kind lernen. Bindungsbedürfnisse spielen von Geburt an eine zentrale Rolle, auch wenn sich die Präferenz für eine bestimmte Bindungsperson und Strategien der Verhaltens- und Emotionsregulation erst im Laufe des ersten Lebensjahres herausbilden und stabilisieren. Fürsorge schließt die Unterstützung des Explorationsverhaltens ein, wenn auch in anderer Form, was in Bowlbys Vorstellung von Fürsorge bzw. Elternschaft sehr gut auf den Punkt gebracht wird (1988, S. 11, paraphrasiert):

»Demnach besteht die Aufgabe von Eltern darin, einem Kind als sichere Basis zur Verfügung zu stehen, von der aus es die Welt erkunden kann, aber zu denen es auch zurückkehren kann (sicherer Hafen). Wesentlich ist dabei, dass ein Kind die Gewissheit hat, jederzeit mit seinen Bedürfnissen willkommen zu sein, akzeptiert und verstanden zu werden. Dies schließt die körperliche wie auch die emotionale Versorgung und Unterstützung genauso ein wie das Autonomiebestreben und Förderung der Exploration. Von den Eltern ist deshalb in erster Linie gefordert, dass sie zugänglich und reaktionsbereit sind, wenn sie gebraucht werden, aber auch dass sie das Explorationsverhalten des Kindes unterstützen, indem sie es ermutigen und nur dann aktiv eingreifen, wenn es nötig ist, um den Aufbau von neuem Wissen zu fördern, ohne das Kind zu dirigieren.«

Elterliche Fürsorge orientiert sich also immer am Kind und seinen Bedürfnissen im jeweiligen Kontext (Belastungs- oder Erkundungssituation) und kann in dieser Doppelfunktion auch als »Kreis der Sicherheit« veranschaulicht werden, wie die folgende Abbildung 1.3 in Anlehnung an Marvin et al. (2002) illustriert.

Die abgebildeten Hände symbolisieren die Bindungsperson/Elternfigur, die sozusagen die Lebenswelt des Kindes in den Händen hält, wobei die eine Hand die »sichere Basis« symbolisiert, die dem Kind das nötige Vertrauen gibt, sich wegbewegen sowie explorieren zu können, und die andere Hand den »sichereren Hafen« abbildet, zu dem das Kind jederzeit zurückkehren kann, um unterstützt, getröstet und beruhigt zu werden.

Fürsorge erfordert von Eltern also nicht nur ein breites Verhaltensrepertoire, sondern auch die Fähigkeit, sich flexibel auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzustellen und zu lernen, wann und welche (aktive) Unterstützung nötig ist und wie das Vertrauen des Kindes in die eigenen Fähigkeiten gestärkt werden kann.

Die inhaltliche Ausgestaltung des Fürsorgeverhaltens wurde vor allem von Mary Ainsworth und Kolleginnen (Ainsworth et al., 1971) vorangetrieben und bietet mit dem empirisch sehr gut erforschten Feinfühligkeitskonzept einen sehr hilfreichen Ansatz für die Praxis, der nicht nur Bindungsbedürfnisse einbezieht, sondern genauso auf das Explorationsverhalten bzw. die Autonomiebedürfnisse des Kindes anwendbar ist.

Abb. 1.3: Der »Kreis der Sicherheit« als Fürsorgemodell (in Anlehnung an Marvin et al. 2002)

1.3       Das Feinfühligkeitskonstrukt

Feinfühligkeit wird als Fähigkeit definiert, die Kommunikationssignale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren sowie prompt und angemessen darauf zu reagieren (Ainsworth et al., 1974). Damit sind unterschiedliche Anforderungen und Voraussetzungen verbunden, die genannten Feinfühligkeitsparameter variieren aber auch in Abhängigkeit vom Alter bzw. Entwicklungsstand des Kindes, was im Weiteren eingehend erläutert wird:

Die Wahrnehmung der Kommunikationssignale des Kindes setzt vonseiten der Eltern eine hohe Aufmerksamkeit und eine niedrigschwellige Empfänglichkeit voraus – besonders im Säuglingsalter oder wenn das Kind, in seinen Kommunikationsmöglichkeiten (noch) eingeschränkt ist und dadurch seine Signale nicht eindeutig erkennbar sind. Wenn Kinder sich auch verbal mitteilen können, kann dies die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse erleichtern, allerdings ist ein Kind dann auch zunehmend in der Lage, die mentalen Zustände anderer (hier der Eltern) einzubeziehen, sodass seine expliziten Äußerungen durch sozial erwünschtes Verhalten verzerrt sein können. Aber selbst bei (scheinbar) eindeutigen Signalen oder Willensbekundungen des Kindes sind Missverständnisse möglich, wenn bestimmte Vorstellungen oder das eigene Befinden der Eltern sie in ihrer Wahrnehmung beeinflussen. Es kann auch mitunter schwierig sein, differenzierend wahrzunehmen, ob das Verhalten des Kindes Alarm signalisiert oder Wünsche lautstark äußert. Ist ein Kind sehr erregt und schreit, kann es Bindungsbedürfnisse signalisieren, aber genauso Protest ausdrücken, weil sein Explorationsbedürfnis nicht beachtet wird bzw. ihm der Freiraum für selbstaktives Handeln fehlt. Es genügt dann nicht, das Verhalten des Kindes wahrzunehmen, es muss zugleich der Kontext, in dem das Verhalten gezeigt wird, wahrgenommen werden. An dieser Stelle ist der Übergang zum richtigen Verstehen der Kommunikationssignale fließend, da Wahrnehmung und Interpretation sich wechselseitig beeinflussen und beides einem konstruktiven Prozess unterliegt, der von Erwartungen und (kulturellen) Einstellungen mitbestimmt wird.

Die richtige Interpretation