Trauma und interkulturelle Gestalttherapie - Colette Jansen Estermann - E-Book

Trauma und interkulturelle Gestalttherapie E-Book

Colette Jansen Estermann

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Beschreibung

"Die vorliegende Publikation ist ein Anstoß zur interkulturellen Sensibilisierung der Psychotherapie insgesamt, vor allem aber der Gestalttherapie und des Umgangs mit traumatischen Erfahrungen. Zudem gehört sie unbedingt zum Hintergrundwissen von EntwicklungshelferInnen und Einsatzleistenden, um die Menschen und deren Verhalten in einem Kontext von Armut und Mängeln besser verstehen zu können. Schließlich ist zu hoffen, dass mit diesem Buch auch im deutschsprachigen Raum eine Diskussion zur interkulturellen Transformation der Gestalttherapie in Gang kommt." (Willi Butollo, Ludwig-Maximilian-Universität München) "Die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellem wie kollektivem psychischem Leiden ... genuin gestalttherapeutisch." (Peter Schulthess, EAGT) "Ich bin zutiefst beeindruckt von diesem unübertreffbaren vielfältigen Werk. Es ist eine faszinierende Studie, eine exzellent wissenschaftliche, profunde, bewundernswerte Arbeit. Im Zentrum ihrer wissenschaftlichen gestalttherapeutischen Arbeit und Forschung stehen die Ursachen und Quellen der kollektiven und transgenerationellen Traumatisierung: durch Armut, Entbehrung, Ausbeutung, Diskriminierung und durch die Erfahrung der strukturellen Gewalt. > Sie analysiert ganz präzise die Entstehungsbedingungen und die Verarbeitungen der Traumatisierungen durch geschichtliche, gesellschaftliche und kulturelle Fakten Boliviens. Die Autorin hat eine ganz umfassende empirische Forschung über Studierenden von drei Universitäten durchgeführt. Es wurden vielfältige komplexe Fragebögen verwendet und es wurden intensive Interviews geführt über die Inhalte der Traumatiserung, die Stärke und Häufigkeit der Traumatisierungserfahrungen, der Selbstsicht und Sicht der anderen, die internen, externen unbd soziokulturellen Ressourcen, die Copingstrategien und die post-traumatische Reifung. Absolut anregend sind die qualitativen Darstellungen der Hauptergebnisse der Interviews zur Traumatisierung - man liest diese Darstellungen mit der allergrössten Spannung! Ganz genau werden die Ergebnisse im Kontext der Theorien der strukturellen Gewalt, der einfachen, komplexen und strukturellen psychotramatische Belastungsstörungen, der heilsamen Wirkung von gestaltpsychotherapeutischen Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen und der Interkulturalität der Gestalt-Psychotherapie diskutiert. Ich bewundere dieses Werk." (Prof. Dr. Dr. Ina Rösing, Institut für Transkulturelle Forschung Ulm)

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COLETTE JANSEN ESTERMANN

TRAUMA UND INTERKULTURELLE GESTALTTHERAPIE

IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) sowie dem Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz) herausgegeben. Die Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch unter Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der beiden Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Die Autorin

Colette Jansen Estermann, Dr. phil. in Psychologie; in den Niederlanden geboren, drei erwachsene Kinder; von 2004 bis 2012 als Gestalttherapeutin in eigener Praxis, Ausbildnerin und Professorin an verschiedenen Universitäten in La Paz/ Bolivien tätig. Sie ist Mitbegründerin der »Bolivianischen Stiftung für Gestalt-Psychotherapie« (FBPG), Autorin mehrerer Publikationen zu Gestalttherapie, Trauma-Arbeit und Interkulturalität; seit 2013 arbeitet sie als Psychotherapeutin ASP in Luzern / CH.

Colette Jansen Estermann

TRAUMA UND INTERKULTURELLE GESTALTTHERAPIE

Traumatischen Erfahrungen mit eigenen Ressourcen begegnen

Mit einem Vorwort von Willi Butollo

– EHP 2014 –

© 2014 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbachwww.ehp-koeln.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Umschlagentwurf: Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes (Ausschnitt) von Susie Kate (›Melodie‹) –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

ISBN 978-3-89797-906-2 (Print)

ISBN 978-3-89797-572-9 (EPub)

ISBN 978-3-89797-573-6 (PDF)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Geleitwort von Willi Butollo

Ein Wort des Dankes

1.       EINFÜHRUNG

1.1     Motivation

1.2     Die Geschichte Boliviens

1.3     Das Umfeld Boliviens

1.4     Interkulturalität

2.       DATEN

2.1     Allgemeine Daten zu den Teilnehmern

2.2     Inventar traumatischer Ereignisse

2.3     Prävalenz des Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndroms

2.4     Das Bild von sich und den anderen

2.5     Prävalenz dissoziativer Momente

2.6     Inventar der Ressourcen

2.7     Vorhandene Copingstrategien

2.8     Inventar der Post-Traumatischen Reifung

2.9     Resultate der Varianzanalyse

3.       LEBENSGESCHICHTEN

3.1     » Wenn man etwas geschenkt bekommt, soll man auch immer etwas zurückgeben.«

3.2     » Warum verschluckt die Erde mich nicht?«

3.3     » Ich habe mich immer gefragt, ob ich verrückt sei.«

3.4     » Soll dieses Gespräch vielleicht das Verborgene an die Oberfläche bringen?«

3.5     » Stabilität bedeutet für mich Sicherheit durch ausreichende Einkünfte.«

3.6     » Eines Tages möchte ich einen Beruf haben, damit niemand mich auslachen wird.«

3.7     » Als ich damals als Kind Hunger hatte, sagte meine Mutter zu mir: ›Bete‹, und nachher gab es Brot«

3.8      »Mein Vater, Großvater und meine Onkel sagten mir: ›Geh und schau vor dich und hinter dich und auf die Seite.««

3.9      »Alles was geschieht, geschieht aus irgendeinem Grund, sowohl das Gute wie das Schlechte.«

3.10   »Hoffentlich verzeiht meine Mutter eines Tages auch sich selbst.«

3.11   »Die schwierigen Momente haben einen besseren Menschen aus mir gemacht.«

3.12   »Nachher hat uns nichts mehr überraschen können.«

3.13   »In meinem Geist versuche ich zu fliehen, das mache ich oft und das hilft mir.«

3.14   »Ich war mir nicht bewusst, dass ich so viele traumatische Erfahrungen erlebt hatte.«

3.15   »Muss ein Trauma immer eine schlechte Erfahrung sein?«

3.16   »Ich musste mein Studium unterbrechen, was mir schwer fiel, aber mein Neffe brauchte mich und meine Liebe.«

4.       THEORIEBILDUNG

4.1     Ein Klima struktureller Gewalt

4.2     Das psychotraumatische Belastungssyndrom

4.2.1  Die Wichtigkeit einer Selbstdiagnose

4.2.2  Das Einfache PTBS

4.2.3  Das Komplexe PTBS

4.2.4  Das Strukturelle PTBS

4.3     Gut Leben: ›Vivir Bien‹, ›Suma Qamaña‹, ›Allin Kawsay‹

4.3.1  Gesundheit versus Krankheit

4.3.2  Die Chance posttraumatischer Reifung

4.3.3  Fließende Kraftquellen

4.4     Eine therapeutische Antwort auf die bolivianische Situation

4.4.1  Transgenerationelle kollektive Traumatisierung

4.4.2  Die heilsame Wirkung gestalttherapeutischer Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen

ANHANG

Landkarte Boliviens

Die Original-Fragebögen

Anmerkungen

Literatur

Den Vergessenen dieser Erde

Vorwort des Herausgebers

Bereits in einem früheren Band der IGW-Publikationen in der EHP hat Colette Jansen Estermann in eindrücklicher Weise über ihre gestalttherapeutische Arbeit in Bolivien berichtet (Anger/Schulthess 2008). Sie zeigte dort in einer Fallstudie auf, wie Armut die Quelle von Traumatisierung sein kann bzw. dass strukturelle Gewalt in einem Land zu Traumatisierung und traumatisierendem Gewaltverhalten führen kann. Die Bereitschaft, die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellem wie kollektivem psychischem Leiden zu reflektieren, beeindruckte mich schon damals und ist meines Erachtens genuin gestalttherapeutisch (vgl. Schulthess/Anger 2009). Wenn man Psychotherapie nicht bloß als Verfahren zur Symptomreduktion versteht, sondern als Verfahren, dass den Erkenntnisansatz verfolgt, dass psychisches Leiden nicht einfach anlagebedingt »aus den Genen« entsteht, sondern immer auch als ein Produkt sozialer Interaktion unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen ist, kommt man nicht umhin, die historische und aktuelle gesellschaftliche Situation in einer Kultur (auch der eigenen, nicht nur in fremden Kulturen) mitzureflektieren und zu beachten.

Die Autorin dieses Bandes geht diesen Weg sehr konsequent. Sie reflektiert die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Fakten Boliviens, um als Therapeutin besser zu verstehen, was sie im Hier-und-Jetzt in diesem Land für psychische Leidenszustände antrifft. Als Gastdozent im Rahmen der im Aufbau begriffenen Gestalttherapieausbildungsprogramme in La Paz hatte ich die letzten drei Jahre zwei Mal Gelegenheit, mir selbst ein Bild über die gesellschaftliche Realität und die subjektiven Leiden, insbesondere auch der indigenen Bevölkerung, zu machen. Die Verbindung von Reisen und Lehren in Form von therapeutischer Arbeit erlaubte einen guten Einblick auch in das Thema dieses Buches. Es ist offensichtlich, dass viele Menschen durch Gewalt und Entbehrung traumatisiert sind. Als PsychotherapeutIn kommt man nicht umhin, sich mit den Entstehungsbedingungen zu befassen und die stützenden Ressourcen zu entdecken und weiter auszubauen, um in solchen Verhältnissen nicht zu verelenden, sondern die Kraft zum Wachsen und Reifen zu fördern, auch wenn »Heilen« in der Traumatherapie ein schwieriges Ziel ist.

Das Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten Kapitel erfolgt eine Einstimmung in die Geschichte und Kultur Boliviens. Im zweiten Teil wird eine wissenschaftliche Erhebung an Studierenden an vier Universitäten zur Verbreitung und Art der auffindbaren Traumatisierungen in übersichtlicher Form wiedergegeben. Im dritten Teil folgt eine Sammlung von Fallgeschichten, die das empirisch gefundene Datenmaterial anschaulich illustrieren. Im vierten Teil schließlich erfolgt eine theoretische Einbettung und Diskussion der vorangegangenen Teile, welche ihrerseits zu weiterer Theoriebildung anregt.

Es ist in der gestalttherapeutischen Literatur selten, dass empirische Forschungsmethoden angewendet werden, persönliche Falldarstellungen vermittelt sowie eine reflektierende Einbettung in die gestalttherapeutische Theorie und Praxis unter Einbezug des aktuellen Wissensstands der Traumatherapie sowie soziologischer und politischer Aspekte publiziert werden. Der Autorin ist diese Verbindung in ganz besonderer Form gelungen.

Im Sinne eines Beitrags zu einer interkulturellen Gestalttherapie zeigt sie auch, wie gestalttherapeutisches Herangehen, Verstehen und Handeln recht gut zur andinen Lebenshaltung und Erkenntnisweise passt. Dies ist eine Einschätzung, die ich aus meiner (noch bescheidenen) Lehrtätigkeit in dieser Kultur teilen kann. Oft haben europäische GestalttherapeutInnen wenig im Bewusstsein, wie sehr sich die Gestalttherapie gerade in Lateinamerika verbreitet hat und ein anerkanntes Therapieverfahren darstellt im Unterschied zu manchen europäischen Ländern. Das weist auf eine hohe Kompatibilität hin.

Dass Gestalttherapie sich so weit verbreiten konnte, nicht nur in den westlich geprägten Kontinenten wie Europa, Amerika und Australien, sondern auch und ganz besonders in Lateinamerika, Osteuropa und Asien, darf nicht einfach als neuer westlich-angelsächsisch geprägter Kolonialismus taxiert werden. Die Verbreitung hat wohl genuin mit der gestalttherapeutischen Haltung und ihrem wertschätzenden, phänomenologischen und beziehungsorientierten menschlichen Zugang zu anderen Kulturen zu tun. Die Autorin zeigt in diesem Band Parallelen zwischen gestalttherapeutischer Haltung und Erkenntnistheorie mit denjenigen der andinen Kultur auf. Als Reihenherausgeber, der zudem selbst in verschiedenen Kulturen lehrt, fühle ich mich, auch aufgrund der Erfahrungen so vieler in unterschiedlichen Kulturen lehrenden GestalttherapeutInnen (gerade an den drei Schwesterinstituten, die diese Reihe gemeinsam herausgeben), dazu angeregt, dieses Thema weiterzuführen – zum Beispiel in einem weiteren Band mit transkulturellen Überlegungen.

Peter Schulthess, Zürich im Winter 2013

Geleitwort

Ist die Gestaltpsychotherapie, die bekanntlich in abendländischen Kulturräumen (Europa, Südafrika, USA) entstanden ist, in der Lage, auch in anderen kulturellen Kontexten Fuß zu fassen und sich auf den Grundlagen der einheimischen Wissenstraditionen und Weisheiten weiterzuentwickeln? Dieser Frage, die in letzter Zeit auch hinsichtlich der ostasiatischen und osteuropäischen kulturellen Kontexte vertieft wird, geht die vorliegende Arbeit am Beispiel Boliviens nach. Die Autorin Colette Jansen Estermann, die selbst über sechzehn Jahre in den Anden gelebt hat und die andinen Weisheitstraditionen und Kulturformen aus nächster Nähe kennt, ist der festen Überzeugung, dass der Gestaltansatz gerade für die andine Kultur und deren philosophischen Hintergrund eine ausgezeichnete Form der Psychotherapie ist, da sie holistisch ausgerichtet und nicht logozentrisch verfasst ist.

In Trauma und interkulturelle Gestalttherapie versucht die Autorin auf der Grundlage eines breit angelegten Forschungsprojekts zu zeigen, dass nicht nur die Erfahrung und Art von Traumata, sondern auch deren Verarbeitung kulturell bedingt sind. Die vor allem im abendländischen Kulturraum der sogenannten »Ersten Welt« erarbeiteten Diagnostikverfahren und Symptomatiken vermögen einem völlig anderen kulturellen und sozialen Kontext, wie es der bolivianische eben ist, nicht gerecht zu werden. Deshalb braucht es der Autorin zufolge eine kreative interkulturelle Theoriebildung, wofür sie im vorliegenden Buch die ersten Grundlagen und Perspektiven aufzeigt.

Unter den wichtigsten Befunden zeigt die Autorin auf, dass in einem sogenannten »Entwicklungsland« nicht nur von individuellen und einmaligen traumatischen Erfahrungen die Rede ist, sondern von kollektiven und transgenerationalen Tiefenschichten, die sich aus der gewaltsamen Unterdrückungsgeschichte des Landes erklären lassen. Deshalb führt sie neben dem in der Standardliteratur anerkannten »Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndrom (PTBS)« das inzwischen auch schon viel diskutierte »Komplexe PTBS«, vor allem aber neu auch das »Strukturelle PTBS« ein, das sich beim Umgang mit traumatischen Erfahrungen in Kontexten von extremer Armut, Ungerechtigkeit und Unsicherheit als sehr hilfreich erwiesen hat.

Es ist zu beachten, dass die Autorin konsequent vom »Psychotraumatischem Belastungssyndrom« und nicht etwa von »Posttraumatischer Belastungsstörung« spricht, weil letzteres ein Werturteil beinhaltet, das in einem bestimmten Kulturraum beheimatet ist, und man zudem davon ausgeht, dass die traumatische Erfahrung selbst zu einem Abschluss gekommen ist. Dies ist aber in einem Kontext wie dem bolivianischen nicht der Fall. Außerdem betont sie – aufgrund der kollektiven Traumatisierung des bolivianischen Volkes – den Wert der Eigendiagnostik.

Als weitere kreative Neuerung gilt der Rückgriff auf den vor allem in den Sozialwissenschaften beheimateten Begriff der »strukturellen Gewalt«, der für den Umgang mit traumatisierten Menschen in Bolivien, wie auch in anderen Ländern der sogenannten »Dritten Welt«, von großem theoretischem und praktischem Nutzen ist. Daraus ergeben sich nicht nur interkulturelle, sondern auch sozio-politische Konsequenzen, da die Armut als Form der »strukturellen Gewalt« für kollektive und Generationen übergreifende Traumatisierung von Menschen verantwortlich ist. Zudem zeigt die Autorin auf, dass es einen Umgang mit den Ressourcen und Coping-Strategien gibt, der kulturspezifisch ist und deshalb in einem nicht-abendländischen Kontext einen anderen Stellenwert hat.

Die vorliegende Publikation, die auf der von Colette Jansen Estermann im Jahre 2009 eingereichten Dissertation basiert, ist ein Anstoß zur interkulturellen Sensibilisierung der Psychotherapie insgesamt, vor allem aber der Gestalttherapie und des Umgangs mit traumatischen Erfahrungen. Zudem gehört sie unbedingt zum Hintergrundwissen von EntwicklungshelferInnen und Einsatzleistenden, um die Menschen und deren Verhalten in einem Kontext von Armut und Mängeln besser verstehen zu können. Schließlich ist zu hoffen, dass mit diesem Buch auch im deutschsprachigen Raum eine Diskussion zur interkulturellen Transformation der Gestalttherapie in Gang kommt.

Prof. Dr. Willi Butollo, Ludwig-Maximilian-Universität München

Ein Wort des Dankes

An dieser Stelle denke ich mit Liebe und Dankbarkeit an meinen Mann Josef und meine Kinder Sarah, Rafael und Christian, die mir eine Kraftquelle sind.

Zudem gilt mein Dank meinen ehemaligen Studenten und Studentinnen, die zur ersten Generation von Gestalttherapeuten in Bolivien gehören, da ich nicht nur sehr viel von mir gegeben, sondern auch reichlich viel von ihnen bekommen habe: Ingrid, Jorge, Luis, Danny, Karen, Elías, Roberto, Shirley, Miguel Ángel, Lino, Gloria, Vicky, Jenny, Fabiola, Claudia, Daisy, Germán und Karina.

Schließlich möchte ich mich beim Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg, namentlich bei Werner Gill, für die akademische Unterstützung und bei allen Gestalt-Dozenten und Dozentinnen für ihre Intensivkurse in La Paz bedanken. Ganz besonders möchte ich Peter Schulthess erwähnen, der mein Manuskript gegengelesen hat.

Dieses Buch ist aus tiefer Verbundenheit mit dem bolivianischen Volk entstanden.

1. EINFÜHRUNG

1.1  Motivation

Das vorliegende Buch besteht aus einem Versuch, mitten im Prozess einen Moment anzuhalten, um aus einer gewissen Distanz zu beschreiben, was ich wahrnehme und spüre. Ich werde einzelne Bilder, Gefühle, Erlebnisse und Begegnungen aus meinem Erfahrungsschatz hervorholen, nochmals genau betrachten und dann wieder aufheben. Das Schreiben macht mir Spaß, es ist ein Stück Verarbeitung und meine Art, einer stellvertretenden Traumatisierung vorzubeugen. Zudem gehe ich davon aus, dass meine Befunde den Lesern und Leserinnen1 nützlich sein werden. Es ist mir wichtig, dass die Menschen in Bolivien von den Menschen am anderen Ende der Welt nicht vergessen und in ihrer Andersartigkeit verstanden werden. Dieses Buch ist einerseits das Ergebnis eines Forschungsprojektes zum Thema »Traumatische Erfahrungen und eigene Ressourcen jugendlicher Studierender in den Städten La Paz und El Alto in Bolivien«, das 2009 in eine Dissertation mündete und bereits auf Spanisch herausgegeben wurde (Jansen Estermann 2010). Andererseits beinhaltet es eine Zusammenfassung meiner persönlichen und beruflichen Erfahrungen als Gestaltpsychotherapeutin und Ausbildnerin während einer Zeitspanne von 15 Jahren in Lateinamerika.

Was mich damals bewegt hat, zuerst nach Peru und später nach Bolivien auszureisen, vermag ich nicht eindeutig zu erkennen. Im Nachhinein denke ich mir, dass der Stachel der Ungerechtigkeit und der Hang zum Abenteuer eine gewisse Triebfeder waren. Im Laufe der Zeit kam noch dazu, dass ich mich in Lateinamerika wie ein Fisch im Wasser fühle. Dies hat mit der zwischenmenschlichen Kommunikation zu tun, der Herzlichkeit und Körpernähe. Ich habe niemals erwartet, dass ich in La Paz ein Forschungsprojekt vorantreiben, den Doktor machen, einen Studiengang in ›Psicoterapia Gestáltica‹ aufbauen und eine Stiftung für Gestalttherapie gründen würde. Da kann ich nur staunen und es erfüllt mich eine große Dankbarkeit. Ich gehe davon aus, dass ich im richtigen Augenblick am richtigen Ort war – Kairos. Es waren aber die Menschen in La Paz, die positiv auf mein Angebot reagiert haben. Gemeinsam konnten wir in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen dies alles erreichen. So haben sich die vereinzelten Puzzleteile des Lebens zu einem wunderbaren Netzgewebe gefügt. Dennoch möchte ich nicht verschweigen, dass die Entscheidung, trotz aller Fremdheit und Frustration über längere Zeit vor Ort weiterzumachen, auch sehr viel Kraft und Ausdauer gefordert hat.

Dieser langjährige Aufenthalt in einem fremden Kulturkreis hat mir aber die einmalige Chance gegeben, meinen unbewussten ›Introjekten‹ auf die Spur zu kommen. Mit diesem gestalttherapeutischen Begriff meine ich meine verschluckten, verinnerlichten Modelle oder anders gesagt, die Regeln, Normen, Vorgaben, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze in unserer (europäischen) Umwelt (Hartmann-Kottek 2004: 266). Dieser allmähliche Bewusstwerdungsprozess, bei dem ich am eigenen Leibe erfahren musste, dass meine Selbstverständlichkeiten nur manchmal unter ganz bestimmten Umständen gegeben sind, war mühsam und schmerzhaft. So wird ›Freundschaft‹ oder ›Sicherheit‹ im bolivianischen Umfeld anders erlebt, als ich sie vorher gewohnt war. Das Lebensgefühl in Bolivien und die Bedeutung vieler Ausdrücke unterscheiden sich erheblich von denen in Deutschland, Holland oder der Schweiz. Die vorherrschenden Gewohnheiten in Bolivien sind nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders. Gleichzeitig hat die Relativierung und sogar Zerstörung meiner Introjekte sehr befreiend auf mich gewirkt und schließlich zu mehr bewusster Selbstbestimmung geführt.

Der horizontale Dialog nach dem Ich-Du-Prinzip von Martin Buber stellt für mich in diesem interkulturellen Kontext nach wie vor eine spannende Herausforderung dar. Denn erstens sind die Verhältnisse unvorstellbar schräg. Während ich z. B. zu jeder Zeit nach Europa zurückkehren könnte, kann mein Gegenüber höchstens ein Touristenvisum beantragen, vielleicht bekommt er jedoch nicht einmal das. Zweitens bin ich nicht nur in meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin, sondern auch als weißhäutige ausländische Frau in Bolivien eine ständige Projektionsfläche. Ob es zutrifft oder nicht: Ich werde hier aufgrund des in den Fernsehserien vermittelten Bildes einer Gringa als reiche, gut geschulte und privilegierte, gleichzeitig naive und sexuell freizügige Person gesehen, die leicht übers Ohr zu hauen ist, zu einem gewissen Vorschussvertrauen oder zu beruflichem Neid Anlass gibt. Drittens passieren immer wieder kleine, ungewollte und gegenseitige Verletzungen im Kontakt. So war die Frage einer unbekannten Person bei einem Fest, wann ich denn wieder fortgehe, wahrscheinlich gar nicht verletzend gemeint, da es in La Paz wegen der zahlreichen Botschaften und NGOs (Non-governamental organizations) von ausländischem Personal wimmelt, das etwa alle drei Jahre ausgewechselt wird.

Obwohl Gestalttherapeuten als Kontaktspezialisten gelten, hinterfrage ich regelmäßig mich und meine berufliche Wirksamkeit in einer Umgebung, die mir wohl immer fremd bleiben wird. Es gibt solche eigenartigen Gewohnheiten und Ausdrücke, die ich auch nach anderthalb Jahrzehnten in Lateinamerika noch nicht ganz verstehe. Zudem gelingt es den Menschen hier ziemlich oft, mich zu überraschen. Folglich gehe ich möglichst offen auf sie ein, hake immer wieder bei einem Wort oder einer Geste nach und bin ständig darauf bedacht, sie nicht zu vereinnahmen. Im Grunde genommen habe ich gerade als europäische Gestalttherapeutin in Bolivien eine spezifische Rolle und Aufgabe. Indem ich nämlich den Menschen zuhöre, ohne mir ein Urteil anzumaßen, ihnen mit tiefem Respekt begegne und mich auf die gleiche Ebene stelle, gebe ich ihnen gleichsam zurück, was die Conquistadores ihnen – neben dem Gold und Silber – weggenommen haben: das Vertrauen in sich selbst, in die eigene Kraft und besondere Fähigkeiten.

1.2  Die Geschichte Boliviens

Das Leben in Bolivien sieht anders aus als das in Europa, es spielt sich unter anderen Bedingungen und Umständen ab. Mir scheint es notwendig, den Kontext gleich am Anfang dieses Buches zu schildern, weil eine Figur ohne klaren Hintergrund nicht deutlich wahrgenommen werden kann – eine Erkenntnis, die aus der Gestaltpsychologie stammt. Ein echtes Verständnis der Resultate des Forschungsprojektes und meiner persönlichen bzw. beruflichen Erfahrungen in Bolivien ist nur aufgrund eines Wissens um dessen Geschichte und aktuelle Gesellschaft möglich. Zahllose Gegebenheiten, heftige Emotionsausbrüche, extreme Meinungen und Konflikte in der Gegenwart,2 die in den Augen eines Außenstehenden völlig unverständlich und irrational erscheinen, lassen sich größtenteils aus der Vergangenheit und dem zeitgenössischen sozio-politischen und wirtschaftlichen Kontext erklären.

Interessanterweise haben die bolivianischen Schulkinder ein Pflichtfach, das inhaltlich unter anderem aus dem Studium der Französischen Revolution besteht, während die Kinder in Europa in der Schule doch eher selten etwas über die Zeit der Militärdiktatur in Bolivien erfahren. Die heutige Regierung hat sich erst neulich zum Ziel gesetzt, das Erziehungswesen und überhaupt die öffentlichen Einrichtungen zu »entkolonialisieren«, wie sie selbst diesen politischen Schritt bezeichnet. In diesem Sinne war ich erstaunt, als ein Mitglied der Forschungsequipe,3 das ich beauftragt hatte, die Geschichte und aktuelle Lage seines Landes zu resümieren, mir eine trockene Abhandlung aufeinander folgender Epochen überreichte. Aus irgendwelchen Gründen hatte er keine einzige der haarsträubenden geschichtlichen Ungerechtigkeiten erwähnt und keinen einzigen der unpatriotischen Präsidenten beim Namen genannt. Wollte er nach einer nicht existierenden Objektivität vorgehen, sich gegenüber den Herrschenden seiner Heimat loyal zeigen oder sich nicht emotional aufwühlen lassen? Hatte er eine Lücke in seinem Geschichtsverständnis oder ausgerechnet diese Fakten einfach ›vergessen‹?

Ich bin mir durchaus bewusst, dass die folgende Darstellung der Geschichte und aktuellen Lage Boliviens subjektiv ist. Selbstverständlich habe ich mich an die Fakten gehalten, wobei ich nicht auf alle Einzelheiten eingehen konnte, sondern besondere Geschehnisse und Sachverhalte herausgenommen habe. Bei dieser Schilderung des Hintergrundes geht es mir darum, in erster Linie einen kurzen historischen Überblick, in zweiter Linie aber auch die jeweilige kollektive Bedeutung und inhärente Gefühlsladung zu vermitteln.

Die Geschichte Boliviens ist von Jahrhunderten langer blutiger Gewalt gekennzeichnet: von der Eroberung durch die Inkas und der darauf folgenden Conquista durch die Spanier, dem kolonialen System, dem Unabhängigkeits- (1809-1825) und Bürgerkrieg (1899), der Revolution von 1952 mit anschließender Agrarreform und vielen Verstaatlichungen, den verschiedenen Militärdiktaturen zwischen 1964 und 1982 mit ihren Staatsstreichen und Massakern bis hin zur Wiederherstellung der Demokratie, den soziokulturellen Aufständen wegen einer unvorstellbaren Hyperinflation, den erzwungenen Umsiedlungen von Minenarbeitern und den rigorosen Privatisierungen mit großer Arbeitslosigkeit.

Die ursprüngliche Bevölkerung wurde seit 1535, der Ankunft von Diego de Almagro in Nuevo Toledo (dem heutigen Bolivien), mit den traumatischen Ereignissen der Conquista konfrontiert. Im Verlaufe der Zeit wurde sie dann in Indígenas (einheimische Urbevölkerung), Criollos (Spanier, die in der Kolonie geboren sind) und Mestizos (Mischlinge) aufgeteilt. In der Vergangenheit standen die Einheimischen immer wieder den Mischlingen und Weißen gegenüber; die Bauern, Minenarbeiter und Gewerkschafter immer wieder den Soldaten und Polizisten, die auf der Seite der herrschenden Klasse standen. Die Bevölkerung wurde andauernd fremdbestimmt, sie wurde missioniert, unterdrückt und ausgebeutet.

Ein Beispiel früher institutionalisierter Ausbeutung der Bevölkerung war die Mita, was auf Ketschua »Arbeitsschicht, Arbeitszeit, Jahreszeit« bedeutet. Sie wurde zur Inkazeit als System der Tributleistung durch Arbeit eingeführt. Die Mitayuq oder Fronarbeiter bekamen keinen Lohn, sondern wurden vom Inka-Staat lediglich verpflegt. Dieser öffentliche Frondienst wurde allerdings später von den Spaniern in verschärfter Form fortgeführt. Diese zwangen nämlich einen erheblichen Teil der indigenen Bevölkerung aus den Dörfern zur Mita. Obwohl das System formal streng reguliert war, beuteten die Spanier die Arbeitskräfte aufs Schärfste aus, insbesondere in den Bergwerken. Das goldene Zeitalter in Europa war nur durch den Raubbau der europäischen Mächte möglich, und die industrielle Revolution im Abendland wurde vor allem auf diese Weise finanziert.

Die Spanier schickten vor allem zahllose indigene Dorfbewohner nach Potosí, einem aufstrebenden Minendorf auf etwa 4.000 Metern Höhe, und zwar ins Innere des Cerro Rico (»Reicher Berg«), auf Ketschua Sumaq Urqu, mit den größten Silbervorkommen der spanischen Kolonialzeit. Die Stadt Potosí hatte damals (17. Jahrhundert) gleichviel Einwohner wie London und übertraf europäische Städte wie Madrid, Paris oder Berlin. Hunderttausende von Zwangsarbeitern, die vielfach nicht einmal aus dem andinen Hochland stammten und trotz der dünnen Luft zu Höchstleistungen unter riskanten Bedingungen angetrieben wurden, kamen dort ums Leben. Wie hoch die menschlichen Opfer tatsächlich waren, ist wissenschaftlich umstritten. Im Jahre 1719 raffte der Typhus allein in Potosí in zehn Monaten 22.000 Menschen dahin. Nach dem Forscher Dobyns starben in den ersten 130 Jahren nach der Ankunft Kolumbus’ etwa 95 Prozent der gesamten indigenen Bevölkerung Amerikas aufgrund des Genozids, unbekannter Seuchen und Erschöpfung (Dobyns 1983). Obwohl in Bolivien genaue Angaben fehlen, haben die Menschen dieses kollektive traumatische Geschehen in Form eines packenden Bildes in Erinnerung. Man erzählt sich hier nämlich, dass man mit dem gesamten Silber, das während der Kolonialzeit aus dem Cerro Rico zutage gefördert wurde, eine Brücke über den Atlantischen Ozean von Bolivien nach Spanien bzw. eine ebenso lange Brücke aus den Gebeinen der Toten, die in den Minen des Berges umgekommen sind, bauen könnte. Dieses Bild mag sehr dramatisch anmuten, dennoch trifft es annähernd die historischen Tatsachen.

In den Kriegen gegen Chile (1879-1883) und Paraguay (1932-1935) sowie in den Grenzverhandlungen mit Argentinien, Brasilien und Peru war Bolivien immer wieder der Verlierer.4 Innerhalb eines Jahrhunderts hat das Land über die Hälfte seines Grundgebietes – zum Teil reich an Salpeter, Kupfer und Kautschuk – an die umliegenden Staaten abtreten müssen. Zahlenmäßig verlor Bolivien seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1825 1.265.188 Quadratkilometer, sodass das nationale Territorium heute noch 1.098.581 Quadratkilometer beträgt. Der sogenannte Pazifikkrieg (1879) mit Chile ist im Bewusstsein der Menschen noch immer verankert, da den Kindern im Geschichtsunterricht beigebracht wird, Chile als Erzfeind zu betrachten und den verloren gegangenen Meereszugang von Chile zurückzufordern. Hinsichtlich des sogenannten Chacokrieges (1932-1936) erinnern sich viele Bolivianer daran, wie ihre Großväter oder Großonkel von dieser Hölle erzählt haben. Dieser für ganz Amerika größte und blutigste Krieg des 20. Jahrhunderts fand in einer Steppen- und Sumpflandschaft statt. Während der Grabenkämpfe kamen auf bolivianischer Seite etwa 55.000 und auf paraguayischer Seite 40.000 Soldaten durch Kugeln, Malaria oder Wassermangel ums Leben.5 Paraguay verdoppelte sein Staatsgebiet, aber die vermuteten Bodenschätze stellten sich als fiktiv heraus. Die Hoffnung Boliviens, via Río Paraguay einen Zugang zum Atlantik zu ergattern, nachdem es den Zugang zum Pazifik verloren hatte, erfüllte sich so nicht.

Zudem wurde die bolivianische Bevölkerung regelmäßig von der eigenen Regierung – das heißt von Vater Staat – verraten, weil diese den nationalen Interessen zuwider einen Kurs persönlicher Bereicherung und des Ausverkaufs der Bodenschätze fuhr. Bei den Grenzverhandlungen mit den Nachbarländern Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Peru zog Bolivien immer den Kürzeren; entweder aus Eigennutz der Verhandelnden, Inkompetenz oder Identifikation mit dem ausländischen Gewinner. Im Standardwerk der Geschichte Boliviens6 werden die Präsidenten Achá, Melgarejo, Morales und Daza, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Land regierten, als »jähzornig, griesgrämig und wenig vorbereitet« (Mesa 2003: 417) beschrieben. In Bezug auf Mariano Malgarejo (1820–1871) wird ein klares Urteil gefällt: »Aber in Wirklichkeit war die Akzeptanz dieser neuen Grenzlinie und die Aufteilung der Reichtümer, welche eine Übergabe der Gewinne aus Mejillones an Chile und an reiche ausländische Geschäftsleute bedeutete, ein unverzeihlicher Fehler der Regierung von Melgarejo.« (Mesa 2003: 431). Im Volksmund wird oft – ohne jeglichen erkennbaren Gefühlsausdruck – erzählt, wie dieser unpatriotische Präsident den enormen Landesteil Acre im Tausch gegen ein weißes Pferd Brasilien geschenkt hat.7

Wenn man sich in die Geschichte Boliviens vertieft, bekommt man leicht ein Gefühl der Unwirklichkeit. Mir persönlich fällt es jedenfalls schwer, die unglaubliche Ungerechtigkeit und Brutalität und die schroffen Gegensätze ernst zu nehmen. Es ist aber noch schwieriger, zu diesen Fakten Stellung zu nehmen, die Wut, Ohnmacht und Fassungslosigkeit auslösen. So gab es z. B. den Präsidenten Gualberto Villarroel López, der während seiner Amtszeit von 1943 bis 1946 einerseits gewisse Sympathien für den Nazi-Faschismus hegte und andererseits weitreichende Reformen durchführte, wie etwa die staatliche Anerkennung der Gewerkschaften. Im Jahre 1946 wurde er von regierungsfeindlichen Massen, die den Palacio Quemado (»Verbrannter Palast«, die Bezeichnung für das Regierungsgebäude in La Paz) stürmten, ermordet. Seine Leiche wurde von einem Balkon geworfen und an einem Laternenpfahl gegenüber des Palasts aufgehängt. Seitdem wird Villarroel als el presidente colgado (»der aufgehängte Präsident«) von der Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung als Märtyrer und Held angesehen.

Eine andere historische Merkwürdigkeit ist die Existenz enormer Latifundien, mit anderen Worten Ländereien unbeschränkter Größe im Besitz einer einzigen Person. Der Großgrundbesitz wurde zwar mit der Agrarreform von 1953 offiziell abgeschafft; inoffiziell gibt es jedoch noch immer Besitztümer mit 50.000 bis 100.000 Hektar Land, vorwiegend im östlichen Tiefland Boliviens. Angesichts der etwa 650.000 Familien mit kleinsten Parzellen, die weniger als einen Dollar pro Tag einbringen,8 ist diese Situation innerhalb ein und desselben Landes kaum vorstellbar.

Die demokratische Staatsordnung ist in Bolivien verhältnismäßig jung. Die Zeit der Militärputsche und Diktaturen ist im Gedächtnis der über 30 Jahre alten Bolivianer noch immer in Form bestimmter Einzelheiten und Bilder anwesend. Die jüngere Generation weiß durch Hörensagen davon. Regelmäßig wird auch wieder der Ruf nach einer solch starken Hand laut. Die Generäle Barrientos, Torres, Bánzer, Natush Busch und García Meza kreierten durch systematische Verfolgungen und Verdächtigungen in den Sechziger- und Siebziger-Jahren des 20. Jahrhunderts ein Klima der Angst. Dabei ist zu bedenken, dass der von ihnen ausgelöste Terror nicht nur die politisch Inhaftierten, Gefolterten, Verschwundenen und Ermordeten selbst, sondern auch ihre Familien, Kumpanen und Nachkommen betraf. Während in Europa ausführlich über das Schicksal der Verschwundenen in Chile und Argentinien berichtet wurde, scheinen die Informationen über die Tragik der von der bolivianischen Diktatur Verfolgten irgendwie untergegangen zu sein.

René Barrientos Ortuño, der von 1964 bis 1969 das Land regierte, paktierte mit den Bauern und legte sich mit den Minenarbeitern an. Mithilfe der CIA wurde unter seinem Oberkommando Ernesto Che Guevara ermordet und der Guerilla eine vernichtende Niederlage zugefügt. Die Zahl der Opfer seiner Diktatur war besonders hoch; nach Amnesty International wurden nur allein zwischen 1966 und 1968 etwa 3.000 bis 8.000 Menschen durch die Todesschwadronen ermordet. Übrigens kam Barrientos selbst im Alter von 50 Jahren unter seltsamen Umständen bei einem Helikopterunfall ums Leben.

Hugo Bánzer Suárez, der einer deutschen Familie entstammte, war von 1971 bis 1978 der militärische Diktator Boliviens und von 1997 bis 2002 dessen (demokratisch gewählter) Präsident. Während der Militärdiktatur unterdrückte er jede Form von Opposition und verbot später sogar alle politischen Aktivitäten. Dieser Diktator scheute sich keineswegs, brutale Gewalt einzusetzen, wobei er vor allem gegen die politischen Parteien – sogar seine eigene – und Gewerkschaften vorging. Er bekam die Unterstützung der USA, und in Einklang mit deren Außenpolitik versuchte er, den Koka-Anbau in Bolivien9 auszumerzen, sodass vielen Kokabauern ihre Existenzgrundlage entzogen wurde.

Luis García Meza Tejada war ein weiterer berüchtigter Diktator der Republik Bolivien. 1980 putschte er sich mit Unterstützung des argentinischen Geheimdienstes an die Macht und errichtete ein grausames Schreckensregime. In den 13 Monaten seiner Herrschaft wurde die Bevölkerung massiv unterdrückt und mehrere Tausende von Menschen wurden von der bolivianischen Armee getötet. Das bekannteste Opfer war der prominente Abgeordnete Marcelo Quiroga Santa Cruz, welcher kurze Zeit nach dem Putsch auf nie geklärte Weise verschwand. Quiroga war Chefankläger und Initiator des Prozesses gegen den ehemaligen Diktator Bánzer wegen Verletzung der Menschenrechte und Misswirtschaft. Das Regime García Mezas war tief in den Drogenhandel verstrickt und wurde von den Drogenkartellen mitfinanziert. Zudem war es korrupt, unterschlug die Tagebücher des Che Guevara und andere Wertsachen, und verkaufte sie gegen einen guten Preis. 1981 trat Präsident García Meza unter starkem internationalem Druck – namentlich der Reagan-Administration – zurück. Nach seinem Rücktritt verließ er das Land und floh nach Brasilien, von wo er aber später ausgeliefert wurde. Wegen ernsthafter Verstöße gegen die Menschenrechte wurde er zu einer 30-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Diese Strafe sitzt er auch tatsächlich ab (eine löbliche Ausnahme im bolivianischen Kontext), obwohl er zurzeit in einem Krankenhaus liegt.

Die seit 1982 schnell wechselnden demokratischen Regierungen konnten die wirtschaftlichen Probleme – einerseits ein Erbe der Militärdiktaturen und andererseits wegen dringlicher Forderungen der internationalen Banken, die Zinsen der Auslandsschuld zu zahlen – nur mühsam meistern. In den ersten Monaten des Jahres 1985 wurde die höchste Inflationsrate weltweit erreicht, nämlich 27.000 Prozent. Für die Bevölkerung war diese Entwertung ihres (Spar-) Geldes ein Schock, den man sich in Europa wohl kaum vorzustellen vermag und die nur mit dem Crash von 1927 zu vergleichen ist. Zudem wurde mithilfe nordamerikanischer Truppen einmal mehr versucht, den Anbau von Koka und den Handel von Pasta Básica (Grundlage für Kokain) zu unterbinden, was auf großen Widerstand stieß und nur teilweise gelang.

1993 kam der Bergbauunternehmer Sánchez de Lozada an die Macht, während ein Aymara-Führer Vize-Präsident wurde. Im Vergleich zu den anderen schwer verschuldeten Ländern wurden in Bolivien die strengsten wirtschaftlichen Reformmaßnahmen überhaupt durchgeführt. Dieser neoliberale Kurs beinhaltete den Verkauf mehrerer Staatsbetriebe, eine rigorose Reduktion der Staatsausgaben im Erziehungswesen und Sozialbereich sowie die Schließung vieler Minen. Obwohl die Inflation auf 6,5 Prozent zurückgebracht werden konnte, musste die Bevölkerung große soziale Opfer bringen. Folglich wurde 1997 der Ex-Diktator General Bánzer zum Präsidenten gewählt. Während seiner Periode gab es verschiedene Regierungskrisen und einen Riesenskandal, weil die Korruption und Ineffizienz der Regierung an die Öffentlichkeit gelangte. Bánzer verhängte den Belagerungszustand, konnte aber den gewalttätigen Aufstand wegen der extremen Armut der indigenen Bauern nicht verhindern. Im Jahr 2000 machte das Land eine schwere soziale Krise durch; Streiks, Straßensperren und Zusammenstöße der Indígenas (Einheimischen), Gewerkschaften und Kokabauern mit den Streitkräften waren an der Tagesordnung.

2002 gewann »Goni«, wie Gonzalo Sánchez de Lozada genannt wird, in einer zweiten Runde gegen Evo Morales die Wahlen und wurde zum zweiten Mal Präsident Boliviens (nach 1993-1997). Folglich hatte Bolivien wiederum eine Figur als Präsidenten, der wegen seines jahrelangen Aufenthaltes in den USA besser Englisch als Spanisch sprach und das größte Privatunternehmen Boliviens zur Förderung und Kommerzialisierung von Mineralien des Altiplano (Andenhochland) errichtet hatte. Im Februar 2003 beschloss seine Regierung, eine Einkommenssteuer zu erheben, um das enorme Fiskaldefizit abzuarbeiten und den Forderungen des Internationalen Währungsfonds nachzukommen. Diese unbeliebte Maßnahme führte zu einem Generalstreik und einer Meuterei der Polizei, worauf die bewaffneten Streitkräfte in La Paz eingriffen, was zu mehr als 20 Toten führte. Im Oktober desselben Jahres gab es Gerüchte bezüglich eines Plans, bolivianisches Erdgas über chilenische Häfen in die USA, nach Mexiko und Chile zu exportieren. Aus Protest mobilisierten sich verschiedene soziale Bewegungen des Altiplano und El Alto. Die Regierung versuchte diesen Aufstand mithilfe des Militärs gewaltsam zu unterdrücken, dabei kamen 65 Menschen ums Leben und Hunderte wurden verwundet. Darauf gingen auch Sektoren der Mittelschicht von La Paz auf die Straße und forderten den Rücktritt von Goni. Dieser floh mit Milliardenbeträgen aus der Staatskasse in die USA, wo er noch immer als anerkannter »Flüchtling« lebt. Bolivien hat zwar ein Gesuch um seine Auslieferung gestellt, dieses wurde aber in mehreren Instanzen abgelehnt.

Sein Nachfolger war der Vize-Präsident Carlos Mesa, der ein Kabinett mit Politikern bildete, die keiner Partei angehörten, und der dem Volk ein Referendum hinsichtlich des Gasexportes und der Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorkommen versprach. Er bekam aber nahezu keine politische Unterstützung, und unter dem Druck schwerer sozialer Unruhen trat er nach etwa zwei Jahren zurück. Das Präsidentenamt wurde dann völlig unerwartet dem Vorsitzenden des Höheren Gerichtshofes, Eduardo Rodríguez Veltze, übergeben. Dieser bildete lediglich eine Übergangsregierung unter Einberufung allgemeiner Präsidentschaftswahlen im Dezember 2005.

Seit Januar 2006 ist Evo Morales Ayma der erste Präsident indigener Abstammung eines Landes, dessen Bevölkerung zu 62 Prozent aus Indigenas besteht. Zudem ist er der zweite Präsident der Republik Bolivien, der mit einem absoluten Stimmenmehr von 54 Prozent im ersten Wahlgang gewählt wurde. Er ist auf dem Land aufgewachsen, vier seiner sechs Geschwister sind als Kind gestorben, seine Schulbildung ist sehr rudimentär. Er war lange Zeit Gewerkschaftsführer der Kokabauern. Einige volksnahe Maßnahmen während seiner bisherigen Amtszeit bestanden in der Herabsetzung des eigenen Gehaltes und anderer Regierungsfunktionäre, der jährliche Bonus für alle Kinder der Grundschule und ein monatlicher Bonus für schwangere Frauen und solche mit kleinen Kindern sowie eine Grundrente für Betagte. Außerdem gab es mithilfe von Venezuela und Kuba eine Alphabetisierungskampagne. Mit einem Dekret wurden die Erdöl- und Erdgasvorkommen verstaatlicht, während die internationalen Konzerne nun dem bolivianischen Staat etwa dreimal so viel Steuern wie vorher abtreten müssen, wobei diese allerdings in Bolivien nach wie vor ein rentables Geschäft machen.

Mit einem Referendum wurde am 25. Januar 2009 die neue Staatsverfassung, welche die demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung (Asamblea Constituyente) während neun Monate inmitten großer Spannungen und Krawallen ausgearbeitet hatte, mit 61 Prozent der Stimmen angenommen. Außerdem wurde bei dieser Gelegenheit der maximal erlaubte Grundbesitz pro Person auf 5.000 Hektaren festgelegt. Dieses Gesetz hat jedoch keine rückwirkende Kraft. In der neuen Staatsverfassung sind neben dem Castellano (lateinamerikanisches Spanisch) 36 verschiedene einheimische Sprachen in dem Mehrvölkerstaat (Estado Plurinacional) offiziell anerkannt. Neuerdings gibt es eine autonome Verwaltung auf vier verschiedenen Ebenen: der Departemente, Regionen, Gemeinden und ursprünglichen Gemeinschaften der Indígena. Alle natürlichen Rohstoffvorkommen gehen in die Hände des Staates über; die Erdöl- und Erdgasvorräte sowie deren Gewinne werden vom Staat verwaltet. Die römisch katholische Kirche hat ihren privilegierten Status verloren, da bewusst die Trennung von Staat und Kirche eingeführt wurde (Säkularstaat). Aufgrund dieser neuen Staatsverfassung spricht Evo Morales von einer Refundación del País (Neugründung des Landes). Eine heftige Reaktion der Opposition seitens der Großgrundbesitzer aus Santa Cruz im Osten des Landes, der Unternehmer und anderer konservativer Kräfte, die um ihre Privilegien bangen, konnte wohl nicht ausbleiben. Da sie auch im Besitz der meisten Radio- und Fernsehsender und zudem fast aller Zeitungsverlage sind, ist die öffentlich zugängliche Information stark gefärbt und regierungskritisch. Gemäß der neuen Staatsverfassung hat es in Dezember 2009 (vorgezogene) Präsidentschaftswahlen gegeben, welche die Opposition aus Mangel eines fähigen Kandidaten auf später verschieben wollte. Wiederum hat Evo Morales Ayma mit einem bedeutendem Mehr an Stimmen gewonnen, sodass er als Präsident und der Soziologe und Mathematiker Álvaro García Linera als Vizepräsident nach wie vor mit ihrer Partei MAS (Movimiento al Socialismo) die heutige Regierung bilden und die Geschicke des Landes lenken.

Zurzeit, d. h. Ende 2013, sitzen Staatspräsident Evo Morales Ayma und sein Vize Álvaro García Linera fest im Sattel; sie bereiten sich sogar bereits auf die Neuwahlen im nächsten Jahr vor. Die Frage um Legitimität oder Verfassungswidrigkeit ihrer Kandidatur für eine weitere fünfjährige Amtsperiode hängt von einer – zwiespältigen – Interpretation der neuen Staatsverfassung ab und spaltet im Moment das Volk. Im Laufe der Zeit hat die Regierung es fertig gebracht, den Spieß umzudrehen und jede Kritik in den Medien zu unterdrücken, ganz nach dem Motto: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. Die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, zwischen offiziellem Diskurs und konkreten Entscheiden treten immer klarer hervor. Dabei geht es vor allem um die Frage, wo man ansetzen soll, um die Entwicklung eines armen, abhängigen Landes mit vielen Rohstoffen aber ohne Eigenkapital anzukurbeln. So verspricht sich die Regierung sehr viel von dem durch Brasilien finanzierten Bau einer Straße mitten durch den Nationalpark Isiboro Securé (TIPNIS). Sie will das bisher kaum zugängliche Gebiet dem wirtschaftlichen Wachstum erschließen, in Tat und Wahrheit aber dem Anbau von Koka-Plantagen Tür und Tor öffnen. Nationale und internationale Umweltgruppierungen wehren sich heftig und versuchen, die dort vorkommende, vielfältige Pflanzen- und Tierwelt zu schützen. Die ansässige indigene Bevölkerung wird manipuliert und ist schlecht informiert, während die Entscheidungen weit weg in La Paz gefällt werden. Ein anderer Widerspruch betrifft den Diskurs über die Pachamama (Mutter Erde) einerseits und die Erdölbohrungen im Urwald des Madidi-Nationalparks andererseits. Schließlich gibt es noch ein weiteres Phänomen, das zu Beunruhigung Anlass gibt. Die zahlreichen neuen, bis zu 40-stöckigen Bauten in La Paz weisen auf Geldwäsche von Narcodolares (Geld aus dem Drogengeschäft) hin, obwohl niemand genau Bescheid weiß. Anscheinend floriert das Drogengeschäft, das wiederum die allgemeine Kriminalität fördert. Die meisten Menschen haben einmal mehr das Vertrauen verloren, die Regierung könne ihnen eine bessere Zukunft verschaffen, aber die Hoffnung auf ein besseres Leben bleibt lebendig.

1.3  Das Umfeld Boliviens

Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Umweltbedingungen üben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Menschen aus. In Bolivien lässt sich eine Parallele zwischen der Landschaft einerseits und dem Klima andererseits ziehen, denn beide Elemente weisen extreme Unterschiede auf. Die Landschaft Boliviens besteht aus über 6.000 Meter hohen Bergen, abgrundtiefen Schluchten, einer äußerst kargen Hochebene, trockener Wüste und enormen Salzseen, grünen Tälern, breiten Flüssen und tropischen Wäldern. Es fehlt dem Land nur das Meer, aber die bemerkenswerte Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren ist geblieben. Es gibt von April bis September eine trockene, kalte oder sogar eiskalte Jahreszeit und von Oktober bis März eine wärmere oder sehr heiße Regenzeit. Die großen Temperaturschwankungen – Unterschiede von bis zu 20 Grad Celsius innerhalb eines Tages – verursachen viele Krankheiten der Atemwege. Die vier Jahreszeiten, auf die man sich in Europa gut vorbereiten kann, durchlebt man hier ohne Zentralheizung an einem einzigen Tag. Jedes Jahr aufs Neue gibt es in bestimmten Landesteilen zu viel Regen, während es in anderen Teilen zu wenig regnet. Sowohl die regelmäßigen Dürreperioden als auch die Überschwemmungen sind fatal, sie fordern jährlich mehrere Menschenleben.10 Wird die Ernte dieser Regionen vernichtet, sterben außerdem Tausende von Kühen, Schafen oder Lamas, und die Preise der Nahrungsmittel schnellen prompt in die Höhe.

Im Grunde genommen hat Bolivien vor allem Eco-Touristen sehr viel zu bieten; dennoch läuft die Touristenindustrie wegen der schlecht ausgebauten Infrastruktur und der allgemeinen sozialen Unsicherheit nicht an. Obwohl dem Land die enormen Gold-, Silber- und Zinnvorräte geraubt worden sind, verfügt es noch immer über reiche Bodenschätze. Erst neulich ist das Interesse am Abbau von Eisenerz und Lithium erwacht. Das Land hat jedoch nicht die nötigen finanziellen Mittel, um zu investieren und diese Bodenschätze selbst zu verarbeiten. Es exportiert seine Rohstoffe für einen niedrigen Preis und muss die industrialisierten Produkte gegen einen hohen Preis importieren, sodass die Bilanz schlussendlich einen negativen Saldo aufweist. Folglich fehlt es der Staatskasse an Geld, um das mangelhafte Gesundheits- und Erziehungswesen zu verbessern, das bestehende Straßennetz auszubauen, die miserablen Gehälter11 zu erhöhen und eine einigermaßen humane Arbeitslosenunterstützung, Alters-12 und Krankenfürsorge einzuführen. Der Umstand, dass die Einkünfte trotz mehrerer Jobs und der Solidarität innerhalb der Großfamilie niedrig sind, die Ausgaben jedoch bei Krankheit oder Bildungsvorhaben unheimlich schnell anwachsen können, erklärt zu einem Teil die Korruption und Vetternwirtschaft sowie die Gefühle ständiger Sorge und Frustration. In diesem Umfeld sind Ferien oder Freizeitaktivitäten ein Luxus, den sich nur wenige Menschen leisten können.

Bolivien ist ein Land, wo einerseits alles kopiert wird – von CDs, DVDs, Markenartikeln, Büchern bis hin zu Abschlussarbeiten –, aber andererseits eine außerordentliche kreative Begabung zum Überleben an den Tag gelegt wird. Es beherbergt zahlreiche Gegensätze und Widersprüche, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Dabei scheinen die äußeren Extreme einer inneren Radikalität ausgesprochener Meinungen und angestrebter Ideale zu entsprechen. So führen die bestehenden Feindbilder bzgl. Rasse, sozialer Klasse und regionalen Zugehörigkeit immer wieder zu heftigen Konflikten. Diese heterogene Gesellschaft rollt von der einen Krise in die nächste und bewegt sich ständig am Rand des Abgrundes. Man hat sich daran gewöhnt. Periodisch wird von einem drohenden Bürgerkrieg oder Militärputsch geredet, es hängt eine latente Todesdrohung in der Luft. Dennoch werden die Jahrestage der Heiligen und die Hochzeiten groß gefeiert.

Nach dem CIA World Factbook hatte Bolivien am 31. Dezember 2007 eine Auslandsschuld von 3.800.000.000 US-Dollar. Die Tilgung dieser Auslandsschuld samt deren Zinsen stellt jedes Jahr den größten Ausgabeposten der Staatskasse dar. In einem Zeitungsartikel in El Deber vom 28. Januar 2007 enthüllte Präsident Evo Morales, dass jeder Bolivianer momentan dank des Schuldenerlasses nur noch 250 Dollar schulde. Diese ›Schuld‹ erzeugt ein Ausgeliefert-Sein und eine Abhängigkeit vom Ausland, den Großbanken und transnationalen Unternehmen und bildet damit sowohl ein ökonomisches wie auch psychologisches Problem. In dieser Situation sind es die ausländischen Regierungen, Institutionen und Konzerne, die schlussendlich über ein Projekt oder einen Kredit entscheiden, woran sie ganz bestimmte Bedingungen knüpfen. Obwohl man in der Theorie keinen Paternalismus oder Erpressung betreiben möchte, stößt man in der Praxis immer wieder auf solche Dynamiken. Schließlich wollen die ausländischen Mächte nicht nur ›gut‹ sein, sondern vertreten auch ihre eigenen Interessen und setzen diese durch. Dabei sitzen die Bolivianer am kürzeren Hebel: Sie müssen nehmen, was sie bekommen können und noch dazu »Danke« sagen.

In der bolivianischen Gesellschaft existiert eine starke Tendenz, die jeweilige Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozialen Gemeinschaft deutlich hervorzuheben und sich somit von den übrigen Gemeinschaften abzugrenzen. Im gleichen Sinne wird an jeder Schule und Universität das Gemeinschafts- und Identitätsgefühl der Studenten geweckt, z. B. mittels eigener Tanzgruppen, die an öffentlichen Anlässen teilnehmen, oder bestimmter Feindbilder in Bezug auf die anderen. Dieses segmentierte Gesellschaftssystem schafft zwar eine gewisse Ordnung im Chaos und somit eine gewisse Sicherheit, leistet aber auch den Vorurteilen und einem latenten Rassismus Vorschub. Diese Segmentierung scheint als Introjektion innerlich verankert zu sein. Wenn man z. B. arm ist, so meint man, lebenslang arm zu bleiben und bleiben zu müssen.

1.4  Interkulturalität

In Europa bekommt das Thema der Interkulturalität neuerdings große Aufmerksamkeit, was wahrscheinlich auf die Reisefreudigkeit und Migration unserer globalisierten Welt zurückzuführen ist. Hoffentlich ist sie jedoch mehr als eine Modeerscheinung. Vergleichsweise redet man in Bolivien, vor allem seit der Errichtung des ›plurinationalen‹ Staates, von dem Reichtum der Mannigfaltigkeit (la riqueza de la diversidad). Da es zahllose unterschiedliche Kulturen gibt, die ich nicht hierarchisch als mächtiger oder wichtiger aufgliedern möchte, ziehe ich den Begriff der ›Inter-Kulturalität‹ vor. Das bedeutet konkret, dass ich mich ›zwischen den Kulturen‹ sehe. Ich identifiziere mich mit meiner holländischen Herkunft, die in der westeuropäischen Kultur verwurzelt ist, und trete in einen respektvollen Dialog mit der lateinamerikanischen – insbesondere der bolivianischen, und noch genauer der andinen13 – Kultur. Wenn wir uns ernsthaft auf diesen horizontalen Dialog einlassen, beeinflussen wir uns gegenseitig und sind nach der Begegnung nicht mehr diejenigen, die wir vorher waren.

Das Führen eines solchen Dialoges ist aber keineswegs problemlos, erzeugt vielfach Missverständnisse, Frustrationen, Irritationen und Ohnmacht. Denn manchmal gelingt es trotz größter Anstrengung nicht, den interkulturellen Graben der Andersartigkeit zu überbrücken. Mir erscheint es wie ein Ausdruck der Arroganz zu meinen, nach einem Aufenthalt von sechs Monaten in dem Land kenne man seine Kultur und verstehe die Menschen. Vor allem in den Supervisionsstunden mit kürzlich eingereisten Fachpersonen aus Europa, die intensiv auf ihre Zeit in Bolivien vorbereitet wurden, sind die Anpassungsschwierigkeiten, die keineswegs unterschätzt werden dürfen, ein Thema. Es kommt mir oft vor, als hätten sie in den Vorbereitungskursen zwar von der Andersartigkeit ›gehört‹, sie aber trotzdem nicht ›verstanden‹, weil ihnen noch die Erfahrung gefehlt hat. Anscheinend muss Interkulturalität erlebt werden, um verstehen zu können, was ich meine. Es braucht ein großes Maß an Flexibilität und Vertrauen, um die verunsichernde Anfangszeit in einem fremden Land auszuhalten. Im Grunde genommen begegnet man in dieser schwierigen Etappe nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst. Anschließend braucht es viele Jahre, um einige Sachen verstehen zu lernen und in anderen Sachen fremd zu bleiben.