Traumakinder - Jens-Michael Wüstel - E-Book

Traumakinder E-Book

Jens-Michael Wüstel

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Beschreibung

Albträume, Bindungsängste oder Erschöpfungsgefühle - jeder Dritte leidet heute unter einer seelischen Erkrankung. Was nur wenige wissen: Ursache können die unverarbeiteten Kriegserlebnisse unserer Eltern und Großeltern sein. Anhand von wissenschaftlich fundierten Fallgeschichten zeigt Arzt und Therapeut Jens-Michael Wüstel, wie wir unser Erinnerungserbe als Aufgabe verstehen und Schuldverstrickungen innerlich auflösen. Denn wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

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Über dieses Buch

Albträume, Bindungsängste oder Erschöpfungsgefühle – jeder Dritte leidet heute unter einer seelischen Erkrankung. Was nur wenige wissen: Ursache können die unverarbeiteten Kriegserlebnisse unserer Eltern und Großeltern sein. Anhand von wissenschaftlich fundierten Fallgeschichten zeigt der Psychotherapeut Jens-Michael Wüstel, wie wir unser Erinnerungserbe als Aufgabe verstehen und Schuldverstrickungen innerlich auflösen. Denn wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Über den Autor

Jens-Michael Wüstel ist Facharzt und ausgebildeter Psychotherapeut. In seiner Praxis in Hamburg behandelt er seit vielen Jahren Menschen, die wegen Angststörungen, Schlafproblemen oder Bindungsängsten zu ihm kommen. Immer wieder stellte sich dabei heraus, dass die psychischen Probleme Folge eines familiären Kriegstrauma sind. In seinem Buch hat er seine Erfahrungen zu dem Thema erstmals zusammengestellt und durch psychologische, neurowissenschaftliche und biologische Erkenntnisse fundiert.

JENS-MICHAEL WÜSTEL

Traumakinder

WARUM DER KRIEGIMMER NOCH IN UNSEREN SEELEN WIRKT

Für Marie-Madeleine und Joshua Maria

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Ehrenwirth in der Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

Unter Verwendung von Motiven von © getty-images: Henrik Sorensen | Image Source | Horace Abrahams

eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-4016-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

INHALT

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Widmung

Impressum

Das unsichtbare Band zwischen den Generationen

Eine Entdeckungsreise ins Ich

1. WAS HABE ICH MIT DEM KRIEG ZU TUN?

Hundert Millionen Schicksale – eine Geschichte

Chaos in der Seele

Verbliebene Seelentrümmer

Bis ins dritte und vierte Glied – der vererbte Schmerz

Das Mutterbild – gestern und heute

Das Gleichnis vom verlorenen Vater

Opfer, Täter, Retter, Zeugen

Erste Ahnungen – bin ich betroffen?

PORTRÄT:

Auch Clowns dürfen weinen

2. WAS IST EIN TRAUMA?

Wie entstehen unsere Gefühle?

Trauma-Erfahrung – wenn uns etwas zutiefst verletzt

Alarmreaktion – weglaufen oder zuschlagen?

Trauma-Folgen – sprachlos? Gefühllos? Körperlos?

Ungebunden unverbindlich – die bindungsgestörte Generation

PORTRÄT:

Die zerbrechlichen Illusionen der Trinker

3. GEFÜHLE: WAS PASSIERT MIT MIR?

Sie hießen Berl, Bertha und Werner – die Schuld

So ein Gefühl im Bauch – die Angst

Ich könnte alles zerschlagen – die Wut

Tiefer Schmerz – die Trauer

Harte Herzen – die (fehlende) Liebe

Ich bin mir manchmal selbst fremd – die Dissoziation

Ich bin doch sonst nichts wert – der Leistungszwang

Leben ohne Gefühle – die Leere

Ich bin (nicht) stolz auf dich – die (fehlende) Initiation

PORTRÄT:

Krisen als Wendepunkte

4. WEGE ZURÜCK ZU MIR

Aus mir schöpfen – neue Kraftquellen finden

Die Befreiung der Gefühle – Wege aus der Seelenstille

Unser Herz befreien – die Kunst des Weinens

Das stille Sehnen – die Kraft der Liebe

Die dunkle Seite – ich verzeihe mir selbst

Heilende Bilder – die Kraft der Imagination

Der Mensch ist, wie er spricht – die Magie der Sprache

Spurensuche – meine Geschichte gehört mir

Scheitern ist eine Option

Verstehen, vergeben, vergessen?

PORTRÄT:

Die ewige Suche der Heimatlosen

5. SELBSTHILFE FÜR DIE SEELE

20 Minuten – weil ich es mir wert bin

Grün, gelb, rot – Ampel und Drehzahlmesser

Zehntausend Mal am Tag – atme dich frei

Duft-Trigger – mit Wohlgerüchen in der Gegenwart

Zeit überlisten – langsam schneller ans Ziel

Fokus-Anker – das Wichtige erkennen

»Ja, aber…« – Widersprüche zulassen

Endlich angekommen – der sichere Ort

Auf sich selbst achten – das innere Kind

Königin und König – nutze deinen Hofstaat

Epilog

 ∙ 

Danksagung

 ∙ 

Literatur

DAS UNSICHTBARE BAND ZWISCHEN DEN GENERATIONEN

Marlenes Großmutter starb, wie sie gelebt hatte: leise und unauffällig, aber nicht unscheinbar. Zwischen ihr und ihrer Enkelin gab es ein unsichtbares Band. Eine Seelenverwandtschaft. Etwas, das Marlene bei ihren Eltern nie gefunden hatte. Oma Helga war der stille Steuermann ihrer Familie. Trotz aller Zwistigkeiten und Schicksalsschläge wies sie ihr immer wieder den sicheren Hafen. Dabei war sie zwar stets präsent, aber nie im Vordergrund. Sie, Jahrgang 1929, hatte ihren älteren Bruder in den letzten Kriegstagen verloren. Ihr Vater galt bis 1950 als vermisst, und ihre Mutter glitt in depressive Verzweiflung und war unfähig, die Familie durch das Chaos der ersten Jahre nach dem Krieg zu führen. So musste Helga – wie viele Kriegskinder und Jugendliche jener Zeit – viel zu schnell erwachsen werden. Die Versorgung der jüngeren Geschwister und der Mutter ließen keinen Raum für jugendliche Träume. Und sie stellte sich dieser Aufgabe.

Marlene hat ihre Großmutter nie klagen hören. Keine Worte der Verbitterung. Bis ins hohe Alter nahm sie Herausforderungen an, sah ihre Aufgabe darin, »das zu tun, was getan werden muss«. So ihre Worte. Es gelang ihr das seltene Kunststück, dies ohne Härte gegen sich oder andere umzusetzen. Ihr Bruder hatte von ihr einmal gesagt: »Sie ist ein stolzes norddeutsches Kaltblut. Sie zieht die Landmaschine. Runde um Runde. Tag für Tag. Bis die Arbeit getan ist. Und dabei hat sie das Herz am rechten Fleck.«

Marlene fand das Tagebuch bei den Aufräumarbeiten in Helgas Wohnung. Eigentlich hatte sie nicht helfen wollen. Nicht helfen können, wie sie sagt. Ihr Schmerz, ihre Trauer waren zu groß, um ein paar Tage nach dem Tod der Oma zu entrümpeln. Es kam ihr vor, als werfe man alles, was ein Leben ausmacht, einfach auf den Müll. Ihr Vater war da anders. Sie wusste das und wollte ihn eigentlich nicht sehen. Für ihn spielte Geld eine große Rolle, und selbstverständlich wollte er »zum Ende des Monats fertig sein«. Eine Miete gespart. Also schnell noch die eigene Mutter entrümpeln. So kam es Marlene jedenfalls vor.

Das Tagebuch war verpackt wie ein Geschenk, darauf stand in zittriger, alter Schrift »Für Marlene«. Es dauerte ein wenig, bis sie den Text flüssig lesen konnte. Es waren die Aufzeichnungen der jungen Helga. Später, als Erwachsene, hatte sie nicht mehr so oft geschrieben. Aber die wichtigsten Stationen ihres Lebens, ihre Eindrücke und Empfindungen hatte sie weiterhin in diesem schlichten Buch mit verschlissenem Pappdeckel festgehalten. Für Marlene war es das »schönste Geschenk, das sie mir machen konnte«, wie sie später einmal sagte. Die junge Frau von heute fand sich in den Beschreibungen und Gefühlen der Frau von damals wieder. Sorgen und Ängste. Wünsche und Hoffnungen. Die Art, mit Enttäuschungen umzugehen. Die stille Freude über Gelungenes. »Es war, als fände ich für alles eine Erklärung.«

Die erstaunlichste Entdeckung machte Marlene jedoch gleich zu Beginn der Aufzeichnungen. Ihre Großmutter schilderte die grauenvollen Erlebnisse der Bombennächte. Alarm. Luftschutzkeller. Warten. Entwarnung. Manchmal tagelang hintereinander. Die Mutter, Marlenes Urgroßmutter, war damals schon »zittrig gewesen«, wie Helga schrieb. So hatte die Fünfzehnjährige das Heft in die Hand nehmen müssen. Und dann geschah es. Das Haus der Familie wurde zerstört, die Familie war im Keller für mehr als einen Tag verschüttet. Bange Stunden des Wartens. Angst vor dem qualvollen Erstickungstod. Hoffen auf Rettung. Und in diesen Stunden empfand Helga erstmals ihren Kopfschmerz. Es begann mit einem Rauschen im Ohr. Dann Herzrasen und Übelkeit. Und schließlich unerträgliche Kopfschmerzen. »Es war, als ob es meiner Angst im Kopf zu eng war«, schrieb sie. »Sie wollte raus und hämmerte gegen den Schädel.« Und dieser Schmerz kam immer wieder. Mal öfter, mal seltener. Fast siebzig Jahre lang. Und Helga sprach nie davon. Sie wusste, dass sie die Angst nie wieder loswerden würde.

Marlene war sprachlos. Ihre Großmutter beschrieb genau jenen Kopfschmerz, unter dem sie selbst seit ihrer Pubertät litt. Ein- bis zweimal im Monat. Manchmal nur kurz, manchmal für Stunden oder Tage. »Chronisches Kopfschmerzsyndrom mit Migräne und Spannungsanteilen«, so lautete die Diagnose der Ärzte. Sie hatte nichts von den Schmerzen der Oma gewusst. War es Zufall? Oder hatte sie den Schmerz geerbt?

EINE ENTDECKUNGSREISE INS ICH

Wir werden sie nicht mehr fragen können. Die Mehrzahl der Angehörigen der Kriegsgeneration ist heute mindestens neunzig Jahre alt. Nur wenige dieser Menschen werden in der Lage sein, noch zu berichten, was sie erlebt und empfunden haben in der Zeit um 1945. Und wir würden es ihnen auch nicht zumuten wollen, sich den Erinnerungen in vollem Ausmaß nochmals zu stellen. So bleibt nur die indirekte Annäherung an dieses Thema.

Nun mag man einwenden: Warum sollen wir uns überhaupt noch mit dieser leidvollen Zeit beschäftigen? Können wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen? Die Antwort lautet: Nein, wir können nicht. Denn die Ereignisse von damals wirken in vielen Kriegskindern und Kriegsenkeln fort. Die Vergangenheit wirkt noch heute, sie ruht eben nicht. Viele von uns tragen ein schweres Erbe in sich. Und dabei ist besonders tragisch, dass die meisten davon nichts wissen. Unklare Gefühlszustände, Ahnungen, Albträume, Ängste, innere Leere und Erschöpfungsgefühle sind die seelischen Plagen unserer Zeit, deren Ursachen die unverarbeiteten Nöte unserer Eltern und Großeltern sein können. Wie können wir uns ihnen annähern, sie verstehen und – hoffentlich – doch noch verarbeiten?

Es heißt: Wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Zu Recht kann man hier einwenden, dass uns jedes Ereignis verändert. So wird sich nie ein Geschehen exakt wiederholen können. Dennoch macht es einen großen Unterschied, ob wir uns den Gefühlen stellen, sie verarbeiten. Oder ob wir sie leugnen und verdrängen. Nur im ersten Fall können wir im besten Sinne unsere Lehre aus der Geschichte ziehen. Dabei entsteht Geschichte immer durch Geschichten. Auch die große Weltgeschichte ist letztlich die Aneinanderreihung von Milliarden kleiner Einzelgeschichten. Jeder kann versuchen, die eigene Geschichte kennenzulernen. Auch heute noch werden Familiengeschichten erzählt, Erinnerungen – vielleicht nur bruchstückhaft – wachgehalten. Mancher mag der Meinung sein, dies sei wenig wissenschaftlich. Erzählungen sind immer subjektiv gefärbt, Passendes wird ausgeschmückt, Unpassendes weggelassen. Kommt man so der Wahrheit auf die Spur? Nun, Wahrheit an sich ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Nur der Erzähler kennt eine Wahrheit, nämlich seine eigene. Der Zuhörer formt über Bewertungen und Urteile bereits eine zweite, wieder sehr subjektive Wahrheit. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, auf die Zwischentöne zu achten. Wie reagiere ich als Zuhörer? Was lösen die Geschichten in mir aus? Welche Gefühle werden in mir wach? Wir haben so die Möglichkeit, unser Erleben und Verhalten intuitiv besser zu verstehen, ohne unbedingt alle Fakten kennen zu müssen. Indem wir Gefühlsarbeit leisten, können wir uns vom Verstand ein Stück weit lösen.

Wir werden sie also doch noch fragen können, unsere Mütter, Großmütter, Urgroßmütter. Unsere Väter, Großväter und Urgroßväter. Denn deren Nöte und Ängste, ihre Kraft und ihr Wille, ihre – noch so tief verschüttete – Liebe wirken als Gefühlserbe in uns weiter. Wir tragen als Nachkommen dieses Erbe der Erinnerung. Um mit Gefühlen umzugehen, um sie deuten und annehmen zu können, brauchen wir keine exakten biografischen Daten. Wir müssen nicht wissen, wann genau eine Flucht stattfand, wann die Bomben fielen oder ob es tatsächlich zu einer Vergewaltigung kam. Vielmehr müssen wir für diese Generation eine Integrationsarbeit leisten, die sie selbst damals nicht bewältigen konnte. Unklare, nebulöse Gefühle und Seins-Zustände müssen benannt und verstanden werden. Sie sind wie freie Seelenanteile, die kein Zuhause gefunden haben. Sie flattern als Geister – und manchmal als Dämonen – in unserem Unterbewusstsein umher. Und rauben uns unseren inneren Frieden. Dabei dürfen wir sie nicht bekämpfen, denn das wäre ein Kampf mit dem eigenen Schatten. Vielmehr sollte man sich ihnen behutsam nähern. Verstehen, zulassen, integrieren. So entsteht innerer Frieden. So können wir uns einlassen auf die Gegenwart und die Vergangenheit tatsächlich ruhen lassen.

Dieses Buch möchte Ihnen helfen, sich dem zunächst unüberschaubar wirkenden Thema anzunähern. Gehen wir gemeinsam auf eine Reise, die uns der Geschichte – und unserer ganz eigenen persönlichen Geschichte – näher bringt. Vielleicht vermuten Sie traumatische Anteile in sich selbst. Oder Sie kennen Menschen, denen Sie Ihre Hilfe anbieten wollen. In jedem Fall ist hier ein tieferes Verständnis wichtig. Sie erfahren, wie Sie klären, ob Sie (oder Angehörige) Kriegskind oder Kriegsenkel sind und ob die Trauma-Folgen in Ihnen weiterwirken. Und wie Sie mit diesen Folgen umgehen können. Was Sie konkret tun können, um die vererbten Gefühle und Muster ablegen zu können. Das – teils unbewusste – Erinnerungserbe ist Herausforderung und Chance zugleich. Wir stellen uns dem bisher Unbekannten und lernen mit dem umzugehen, was uns begegnet. Was könnte das sein? Die Erklärung für immer wiederkehrende Ahnungen? Für unseren Umgang mit Problemen? Für unsere Erwartungen an andere Menschen? Für immer wiederkehrende Konflikte? Für die Partnerwahl oder Nicht-Wahl? Für dieses unheimliche Gefühl der Leere? Für Aktivitätsdrang oder Leistungsdruck? Jeder mag darauf eine eigene Antwort finden. So wird unser Erinnerungserbe zu einer ganz persönlichen Aufgabe.

Ein Schwerpunkt dieses Buchs ist die Arbeit und Auseinandersetzung mit unseren Elternbildern. Dabei geht es nicht um die Festlegung auf – vage – Geschlechterrollen, sondern gerade um das Hinterfragen derselben. »Die Mutter« ist als Urbild in uns angelegt. Und wie mit allen Bildern sollten wir kritisch damit umgehen. Liebe, Fürsorge, Einfühlungsvermögen, Schutzinstinkt, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft mögen als mütterlich gelten, aber sie sind allgemeine Werte, die unabhängig von Geschlecht und Familienrolle gelebt werden.

Ähnliches gilt für »den Vater«. Auch hier haben wir es mit einem Urtypus zu tun. Dabei sind die Rollen oftmals gesellschaftlich genau festgelegt, ähnlich einem Drehbuch, das den Schauspielern ihren Part zuweist. Rollen werden quasi in einer Art Konsens durch Personen besetzt und bilden die Realität nur teilweise ab. Wir können nämlich auch den Vater als mütterlich erleben. Oder den größeren Bruder oder die Tante. Selbst Nicht-Verwandte können diese Funktionen für uns erfüllen, also die Mutterrolle einnehmen.

Wir werden in diesem Buch mehr dem »Prinzip Mutter« (aber auch dem »Prinzip Vater«) begegnen (und damit arbeiten) als der traditionellen Rolle von Frau und Mann. Dabei ist es äußerst tragisch, dass vor allem das Mutterbild – oder -klischee – in erheblichem Maße durch ebenjene Zeit geprägt wurde, in der dann die Traumatisierung sehr vieler Deutscher stattfand: während des Nationalsozialismus. Es ist deshalb sinnvoll, sich mit dem NS-Mutterideal zu beschäftigen, das erschreckenden Einfluss auf die heute quälende Frage hat: Wie sollte eine gute Mutter sein? Oder, bezogen auf unser Thema: Wie hätte sie sein sollen? Auch hier eröffnen sich Chancen, wenn wir uns von den falschen Idealen lösen.

Es darf uns wütend machen, wenn unsere Kindheit nicht so war, wie wir es uns gewünscht hätten. Wir dürfen trauern um dieses Kindheitsbild. Wir müssen auch nicht alles verzeihen, was uns angetan wurde. Und wir dürfen Angst davor haben, als Eltern selbst zu versagen. Diese Gefühle sind normal. Wir sollten sie zulassen. Es kann dann ungemein erleichtern, wenn uns klar ist, dass diese Gefühle aus einem Rollenverständnis heraus entstehen. Für die Eltern bedeutet dies, auf natürliche und ungezwungene Weise das Beste zu geben – und Fehler als menschlich und unvermeidlich anzunehmen. Und für die Kinder? Sie dürfen das Beste erwarten. Ihnen gebühren Zuneigung und Respekt. Wo die Eltern (teilweise) versagen, dürfen Kinder ihre Bedürfnisse nachholen. Ich gehe dabei von einem positiven Menschenbild aus, nämlich der Vorstellung, dass das Gute in jedem Menschen angelegt ist. Es ist uns also möglich, die unerfüllten Bedürfnisse aus uns selbst heraus zu befriedigen. Wir können uns selbst die guten Eltern sein, die wir unserem Empfinden nach nie gehabt haben. Diesen inneren Weg zu einer Auflösung der transgenerationalen Schuldverstrickungen aufzuzeigen ist ebenfalls ein Anliegen dieses Buches.

Es teilt sich dabei in mehrere Abschnitte, die das Erkennen eigener Reaktionsmuster erleichtern und Hintergründe vermitteln sollen. Es ist als »Lesebuch« angelegt, das Ihnen eine intuitive und schrittweise Annäherung an das Thema ermöglicht. So werden Sie schließlich in der Lage sein, die in den Porträts beschriebenen Lebensgeschichten und Gefühlswelten der Betroffenen besser zu verstehen und einzuordnen. Gerade durch diese Porträts können Sie Ihre Sensibilität für das Thema erweitern und Ihre eigene Sichtweise entwickeln. Dabei ist das Verständnis der Gefühlswelt eine wichtige Schlüsselkompetenz im Umgang mit Traumatisierten und sich selbst. Somit ist es auch ein Ziel dieses Buchs, sich dem Thema vor allem auf emotionaler Ebene zu nähern. Eine trocken-rationale Betrachtung mit wissenschaftlicher Überfrachtung wird den Betroffenen nicht gerecht.

Schließlich möchte ich auch Wege aufzeigen, die aus der Trauma-Verstrickung herausführen. Deshalb ist das letzte Kapitel eher als »Arbeitsbuch« gedacht, das Ihnen konkrete Konzepte an die Hand gibt. Bei dieser Arbeit ist es wichtig, zunächst festzulegen: Was will ich erreichen? Und: Was darf ich erwarten (und was nicht)? Nun können Sie aus einer Vielzahl von Methoden, die sich in der Trauma-Arbeit bewährt haben, auswählen. Ein Richtig oder Falsch gibt es dabei nicht – Sie brauchen IhreStrategie. Die Grundregeln werde ich Ihnen in diesem Buch vermitteln. Sie mögen Wegweiser sein, die Ihnen helfen, das komplexe Thema anzugehen, ohne dabei den Überblick zu verlieren.

Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Entdeckungsreise ins Ich.

1.WAS HABE ICH MIT DEM KRIEG ZU TUN?

Wir leben in einer Zeit des Überflusses. Zumindest in West- und Mitteleuropa hat es nie einen höheren Wohlstand gegeben. Auch in der Breite erreicht dieser Wohlstand die meisten Bevölkerungsgruppen – trotz unfraglich vorhandener Fehlverteilungen und einer abgehängten Armutsschicht. Und dennoch gab es nie so viele psychische Erkrankungen. Erschöpfung, Burnout, Depressionen, Schlafstörungen, psychisch (mit-)verursachte Schmerzerkrankungen betreffen mittlerweile jeden dritten Bundesbürger. Chronische Störungen mit Gefährdung der Arbeitsfähigkeit finden sich bei jedem Zehnten. Leben wir also eher in einer Zeit des Überdrusses als des Überflusses? Sind die einzigen Herausforderungen unseres Daseins die kommenden Gehaltsverhandlungen, der Rechtsstreit mit dem Nachbarn um den Zaun oder die Frage nach dem Urlaubsort für nächstes Jahr?

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Ich sehe bei einem Teil der deutschen Bevölkerung als Ursache die nicht verarbeiteten Folgen des Zweiten Weltkriegs. Aber was haben wir (heute noch) mit dem Krieg zu tun? Die meisten von uns haben diesen Krieg nicht erlebt. Selbst diejenigen, die damals Kinder waren, sind mittlerweile im Alter jenseits der siebzig. Aber genießen wir dadurch die »Gnade der späten Geburt«, wie es ein Politiker einmal nannte? Muss uns der Krieg nichts mehr angehen? Ist es in Ordnung, dass viele junge Leute bei der obigen Frage zurückfragen: Welchen Krieg meint er? Meine Großmutter pflegte zu sagen: Vergessen beseitigt die Probleme nicht. Der Psychologe würde hinzufügen: Verdrängen ebenfalls nicht.

Kriege traumatisieren. Wie viele Menschen nach einem Trauma-Erleben eine langfristige Störung davontragen, ist unklar. Die Schätzungen schwanken zwischen dreißig und achtzig (!) Prozent. In jüngster Zeit erlebten (und erleben) Menschen eine solche Traumatisierung in den Balkanstaaten, im Sudan, im Irak, in der Ukraine, in Afghanistan und Syrien. Und ist dann mit dem Kriegsende wieder alles normal? Sie stimmen sicher mit mir darin überein, dies zu verneinen. Menschen, die schlimme Dinge erlebt haben, tragen dies oft ein Leben lang mit sich.

Die für uns relevante Frage ist nun: Hat das auch Auswirkungen auf die nächsten Generationen? Können traumatisierte Eltern ihre Kinder »normal« erziehen? Oder geben sie etwas von ihrer Traumatisierung weiter? Mit ebendieser Frage beschäftigen sich Therapeuten und Wissenschaftler seit etwa zwanzig Jahren. Und die Antwort scheint eindeutig zu sein: Ja, die Trauma-Folgen können an Kinder und Enkel weitergegeben – und vererbt – werden. Vor allem dann, wenn das Trauma-Erleben durch die Betroffenen nicht verarbeitet und überwunden wurde. Das Forschungsgebiet der Epigenetik konnte sogar zeigen, dass Trauma-Ereignisse direkte Veränderungen in den Mechanismen der Vererbung hinterlassen. Es ist also denkbar, dass die direkt Betroffenen zwar symptomlos sind und bleiben – aber das Trauma in Gestalt veränderter Genstrukturen an ihre Nachkommen weitergeben. Somit würde eine Traumatisierung erst ein oder zwei Generationen später wieder auftauchen. Hier sind von den Forschern in Zukunft noch viele Fragen zu klären.

Brandaktuell scheint auch die Frage, wie Menschen, die ein unverarbeitetes Alt-Trauma in sich tragen, mit jenen umgehen, die gegenwärtig akut traumatisiert werden, auf der Flucht sind und Hilfe brauchen. Wie reagieren Menschen, die ein vererbtes Trauma in sich tragen, auf Bilder von Krieg und Vertreibung? Werden sie durch den Kontakt mit Flüchtlingen an ihr unbewusstes Trauma erinnert? Und welche Folgen hat das?

Die Angehörigen der Kriegsgeneration – und vor allem die Kinder jener Zeit – hatten nur sehr selten psychologische Hilfe bei der Bewältigung dieser Trauma-Folgen. Wer überlebt hatte, hatte »ja noch Glück gehabt«. Mit welchem Recht durfte man da klagen? Man ging sehr schnell zur Normalität über. Aber es war oftmals eine Scheinnormalität, wie sich jetzt herausstellt. Viele Kinder und Enkel der Kriegsgeneration leiden unter den für sie völlig unverständlichen Folgen eines unverarbeiteten Traumas. Und wir müssen aufpassen, dass es nicht auch noch die Urenkel betrifft. Denn: Vergessen (und Verdrängen) beseitigt die Probleme nicht.

HUNDERT MILLIONEN SCHICKSALE – EINE GESCHICHTE

Wir wollten in den Keller, als plötzlich ein hohes Pfeifen immer lauter wurde. Meine Mutter erstarrte. Sie hatte bis eben noch am Radio gesessen, dann hatte diese Sirene angefangen zu heulen. Jetzt standen wir unten im Erdgeschossflur. Ganz in der Nähe krachte es ganz fürchterlich. Der Boden erzitterte. Das machte ein komisches Gefühl im Bauch. Wie auf dem Karussell. Dann waren da ganz viele Pfeiftöne zu hören. Und immer wieder Donnern und Grollen. Es schien näher zu kommen. Ich drückte meine Martha ganz fest an mich. Martha war meine Puppe. Ich durfte nur sie mitnehmen, wenn wir in den Keller mussten. Jetzt aber zog mich meine Mutter durch die Hintertür des Treppenhauses in den Hof. Sie hatte mich so fest gepackt, dass es schmerzte. Ich schrie. Hinter dem Schuppen gab sie mir einen Stoß, sodass ich auf den Boden fiel. Dann warf sie sich auf mich. Im nächsten Moment gab es wieder ein fürchterliches Krachen. Ich glaube, ich habe es eher im ganzen Körper gespürt, nicht gehört. So etwas Lautes kann man nicht hören. Meine Mutter sprang auf und riss mich hoch. Ich konnte nichts sehen, überall war Staub. Das Atmen fiel schwer, und es war so warm. Wir kamen auf die Straße, aber es war nirgendwo anders.Dann sah ich über der Brücke ein grelles Licht, dort standen Leute. Und sie fielen plötzlich um. Es schien dort ein heftiger Wind zu sein, der sie einfach umwarf. Dann war das Licht da und sauste zwischen den Häusern hindurch. Es erhob sich, als wäre es lebendig, und stieg in den Nachthimmel hinauf. Auf einmal war es weg, und die Brücke brannte. Dabei war sie doch aus Stein. Dann spürten wir den Wind. Ein Mann kam auf uns zugerannt. Er schrie und fuchtelte mit den Armen. Er schob uns mit aller Gewalt zu unserem Hauseingang. Der Torbogen stand noch, dahinter eine Steinbalustrade zum Ufer des Kanals. Meine Oma hatte dort gern Blumentöpfe abgestellt. Auch in diesem Sommer. Aber die waren nun weg. Der Mann schrie erneut, dann sprang er über die Mauer. Meine Mutter sah mich an, sagte etwas, das ich nicht verstand. Sie stieg ebenfalls hinauf und nahm mich hoch. Und plötzlich fielen wir. Es war mittlerweile so heiß geworden, dass das Wasser eiskalt wirkte, als wir eintauchten. Da war ein Kahn, der kieloben im Kanal lag. Ich konnte nicht schwimmen und schrie. Meine Mutter hielt mir plötzlich Nase und Mund zu und tauchte. Es war stockdunkel, als ich wieder atmen konnte. Später erzählte sie mir, dass wir unter die Schute geschwommen waren. Wie andere Leute auch. Da war Luft. Und über uns war die Hölle. Das Wasser schien mehrmals aufzuleuchten, als käme von unten ein grelles Licht. Irgendwann war es dann still. Ich weiß nicht mehr, wie wir wieder nach oben kamen. Alles andere habe ich vergessen, oder ich war einfach zu erschöpft, um die Dinge mitzubekommen.

Es sind die Erlebnisse meiner Mutter, die ich hier schildere. Sie hat als Vierjährige 1943 mit meiner Großmutter den Hamburger Feuersturm erlebt. Und überlebt. Ich habe diese Geschichte erst erfahren, als sie die Siebzig schon überschritten hatte. Sie ging damit nicht hausieren, das war keine Heldengeschichte, die man herumerzählt. Das ist etwas, das man tief im Herzen verschließt. Sie hat auch nie über die Tage und Wochen danach berichtet. Sie muss die Brandopfer und Zerstörungen gesehen, die Schreie gehört, den Geruch des Todes wahrgenommen haben. Aber das ist zu viel, um sich daran zu erinnern. Kein Mensch sollte so etwas durchmachen müssen. Und schon gar kein Kind. Wie verstörend müssen solche Erlebnisse sein? Wie lebt man mit diesen Erinnerungen weiter? Ist Normalität – was auch immer das sein mag – danach überhaupt noch möglich? Oder innerer Frieden? Glück?

Meine Mutter leidet heute noch unter Schuldgefühlen. Ich habe das lange Zeit nicht verstanden. Angst vor Lärm oder Feuer? Unklare Panikattacken? Streben nach Sicherheit und Konfliktscheu? Ja, das hätte ich begreifen können. Aber Schuld? Was hatte sie als Vierjährige mit dem Krieg zu tun? Was rechtfertigt solche Schuldgefühle bei einem Kind? Die Antwort ist ebenso einfach wie erschreckend: Sie hatte nach diesen Ereignissen das Verschwinden ihrer Lieblingspuppe Martha lange betrauert. Sie dachte damals, Martha sei ertrunken oder verbrannt. Und sie hat lange gejammert und geweint. Angesichts der schrecklichen Bilder, der verkohlten Toten, der Schreie, der Verwüstung hatte sie sich später – als Jugendliche und Erwachsene – deshalb schuldig gefühlt. Es war eine Puppe! Es war doch nur eine Puppe. Sie konnte damals nicht verstehen, dass es eine Form der Trauer war. Der Versuch eines Kindes, mit diesen schrecklichen Erfahrungen umzugehen. Sie aber fühlte sich später schuldig, weil sie um eine Puppe geweint hatte. Den Menschen war es ja viel schlechter ergangen!

Ich schildere dies, weil es verdeutlicht, wie seltsam unklar und unbegreiflich die emotionalen Folgen solcher Traumata sind. Es gibt Opfer, die nach Verschüttungserlebnissen eine krankhafte Angst vor engen Räumen (Klaustrophobie) entwickelten. Oder Soldaten, die nach jahrelanger Kriegsgefangenschaft in der Fremde später, nach der Rückkehr, ihr Dorf und ihr Zuhause nie mehr verlassen wollten. Solche Reaktionen erscheinen uns noch recht gut verständlich. Aber es gibt auch seltsam anmutende Entwicklungen, wie die Schuldgefühle meiner Mutter. Oder Kriegsheimkehrer, die mit Brutalität und Gefühlskälte ihre Familien tyrannisierten, obwohl sie sich jahrelang nach Liebe und Geborgenheit gesehnt hatten. Oder die Opfer sexueller Gewalt, die danach oft jahrzehntelang scheinbar stark und furchtlos ihr Leben gemeistert haben. Die gepeinigte Seele sucht sich in solchen Fällen offenbar ein Ventil für ihren Schmerz. Auch ein dauerhaftes Bewusst-Sein, quasi ein ewiges Erinnern solcher Trauma-Erfahrungen, wäre schlichtweg unerträglich. Kopf und Herz möchten es am liebsten vergessen. Psychologen nennen diesen Vorgang »Abwehr«. Dabei laufen komplizierte und auf den ersten Blick unverständliche Mechanismen ab. Und manchmal fühlt man sich an ein Kleinkind erinnert, das sich die Augen zuhält, um selbst nicht gesehen zu werden …

Noch komplizierter wird es, wenn wir die Folgen für die Kinder und Enkel der Kriegsgeneration betrachten. Die oder der direkt Betroffene hat konkrete Erfahrungen, die zwar verdrängt sein können, die aber im Selbstbild dennoch eine Art direkten Bezug darstellen: »Wir sind so und so geworden, weil wir das und das erlebt haben.« Uns als Nachkommen dieser Menschen fehlt dieser Bezug. Statt konkreter und direkter Erfahrungen wuchsen (und wachsen) wir auf mit unklaren Stimmungen und diffusen Ahnungen.

Wie aber kann so etwas geschehen? Wieso sind Kinder und Enkel der Kriegsgeneration oftmals auch deren Gefühlserben? Wir hören ja recht häufig, dass wir diese oder jene Merkmale von unseren Eltern geerbt haben. »Die Augen hast du von deiner Mutter« oder »Du erinnerst mich an Onkel Paul«. Auch bestimmte Wesens- und Charakterzüge gelten als teilweise vererbt. Seelische Aspekte unseres Daseins hingegen galten bis vor einiger Zeit nur im Rahmen von psychischen Erkrankungen als (teilweise) erblich bedingt. Zum Beispiel tragen die Nachkommen depressiv Erkrankter ein gewisses Risiko in sich, ebenfalls zu erkranken. Aber können auch Gefühle vererbt sein, die die Folge eines Traumas sind? Können Bilder und Muster, ja ganze Erinnerungssequenzen, weitergegeben werden? Seit Ende des vorigen Jahrhunderts beschäftigen sich Forscher vermehrt mit dieser Frage. Zu zahlreich sind mittlerweile die Erfahrungsberichte von Therapeuten und Laien, die auf eine Weitergabe von Gefühlen und Stimmungen zwischen den Generationen hindeuten.

Die Trauma-Erfahrung meiner Mutter ist nur eine von vielen Leidensgeschichten, die der letzte Weltkrieg schrieb. Siebzig Millionen Tote, mindestens ebenso viele Vertriebene und Flüchtlinge, etwa hundert Millionen an Leib und Leben Verwundete und Versehrte. Und ohne Zahl diejenigen, die seelisch litten. Statistisch betrachtet könnte heute jede dritte Familie in Zentraleuropa eine Kriegstraumatisierung in ihrer Geschichte haben! Schier unfassbar. Und für unseren Verstand unbegreiflich, weil jenseits aller Vorstellungskraft. Umso wichtiger sind die Einzelgeschichten und das Bewusstsein dafür, dass sich die »große Geschichte« aus ebenjenen kleinen Schicksalen zusammensetzt.

CHAOS IN DER SEELE

Belastende Ereignisse führen immer zu einer Art Anpassung. Wir versuchen, das Erlebte einzuordnen. Was fühlen wir? Warum reagieren wir auf die eine oder andere Weise? Solche Stresserlebnisse können alltäglich sein: Ärger mit Kollegen. Streit mit dem Partner. Zeitdruck. Es kann aber auch sein, dass wir in eine Situation massiver Bedrohung und Hilflosigkeit geraten. Letztlich sind auch – potenziell – traumatisierende Erlebnisse zunächst eine Art Maximal-Stress. Sie führen zu einem Gedanken- und Gefühlschaos in den Betroffenen. Wir werden, auch in den Folgeabschnitten, immer wieder den Geschichten solcher Menschen begegnen. Diese Geschichten sind immer wieder anders. Ebenso individuell wie die Menschen selbst. Für uns Therapeuten geht es zunächst darum, den Wunsch der Klienten wahrzunehmen, sich »über etwas klar zu werden«. Sehr oft fallen in solchen Schilderungen die Worte »Chaos«, »unklar«, »Durcheinander« und »Ordnung«. So finden wir dies auch in den Äußerungen von Till und Jette:

Wenn ich mit Gefühlen konfrontiert werde, egal ob mit fremden oder eigenen Gefühlen, dann herrscht ein totales Durcheinander in meinem Kopf. Ich habe große Schwierigkeiten, mir über meine Empfindungen klar zu werden. Oft gerate ich in Situationen, in denen ich eine Art Unwohlsein verspüre. Ich weiß gar nicht, ob das körperlich oder nur eingebildet ist. Ich versuche dann, mich von meinem Verstand lenken zu lassen. Ich wäge Pro und Kontra ab. Und kann dann durchaus effektiv handeln. Aber irgendetwas bleibt im Hintergrund, so ein ungutes Empfinden, etwas übersehen zu haben. Ich kann das aber nicht einordnen. In letzter Zeit bin ich abends immer total unkonzentriert. Ich kann nichts lesen, beim Fernsehen schlafe ich ein. Ich fühle mich richtig erschöpft und abgeschlagen. Wenn meine Partnerin mich darauf anspricht, reagiere ich meistens unwirsch und abweisend. Sie sagt, dass das etwas mit meinem Gefühlsleben zu tun hat, dass ich immer mehr »dichtmache«. Aber ich komme da nicht heran, Gefühle sind für mich völlig unklar. Es fehlt mir die Berechenbarkeit, ich denke eher in Wenn-dann-Strukturen, das gibt mir Sicherheit.

Till war ein gestandener Endfünfziger, als ich ihn kennenlernte. Er bemerkte zwar erste Anzeichen, dass sein Körper älter wurde, hatte aber noch viel vor. In seiner Vorstellung galt es, Beschwerden hinsichtlich der Ursache abzuklären. Und dann waren sie zu behandeln. Psychische Symptome waren für ihn Einbildung oder aber ebenso einzuordnen wie Körpersymptome. Nach einer Herzattacke wurden bei ihm diverse Verkalkungen der Herzkranzgefäße festgestellt. Er wurde operiert und kam dann erstmals in meine Praxis aufgrund von Unwohlsein und einer zunehmenden Leistungseinschränkung. Er konnte in der Tat seine Gefühle zunächst nicht benennen. Erst langsam trat in unserer Arbeit der Aspekt der verdrängten Angst in den Vordergrund. Eine einjährige Psychotherapie bei einem Kollegen brachte ihn nicht wesentlich weiter. Seine Ängste – körperlich empfunden als Beklemmungsgefühl – nahmen zu.

Ich sprach mit ihm über seine Familiengeschichte. Seine Mutter hatte zeitlebens an Herzbeschwerden gelitten, aber »die Ärzte haben nie etwas gefunden«. Till wusste, dass seine Mutter als Fünfzehnjährige in einem Luftschutzkeller verschüttet worden war. Sie konnte – für ihn alltagspsychologisch verständlich – fortan enge Räume und schlechte Luft nicht mehr ertragen. Sie fiel oft in Ohnmacht und litt an Panikattacken. Die einzige Hilfe bestand in der Verordnung von Beruhigungsmitteln. Die Herzanfälle seiner Mutter konnte Till nicht verstehen, sein Vater vermittelte ihm ein eher »männlich« geprägtes Erziehungsbild, in dem dieser »Gefühls-Quatsch« ignoriert wurde. Fortan wurden Till auch seine eigenen Gefühle immer suspekter.

Jettes Geschichte ist anders. Aber auch bei ihr schwingt im Hintergrund das Thema »Seelenchaos« mit:

Ich bin eine Ordnungsfanatikerin. Das fing schon in der Schule an. Hausaufgaben oder Klassenarbeiten konnte ich erst beginnen, wenn alle Utensilien nach einem bestimmten Muster auf dem Tisch lagen. Später habe ich meine Mitbewohnerinnen in der WG genervt, wenn ich Bücher oder Schallplatten wegsortierte, die sie noch in Gebrauch hatten. In den Probestunden einer Psychotherapie stellte man fest, dass mir dabei ein Leidensdruck, wie er wohl für Zwangsstörungen typisch ist, weitgehend fehlt. Es ist nur so, dass mich Ordnung irgendwie beruhigt. Ich habe das auch ganz gut im Griff. Wenn mein Mann oder die Kinder etwas liegen lassen, dann räume ich nicht sofort hinter ihnen her. Aber es macht mich nervös. Ich weiß nicht, von wem ich das habe. Meine Mutter ist eher eine Chaotin. Zeitungen, Wäsche, Post. Da liegt manchmalalles herum. Bevor Besuch kommt, räumt sie dann auf. Ich könnte das nicht.

Die Patientin kam ursprünglich wegen Spannungskopfschmerzen in meine Praxis. Jette war zu diesem Zeitpunkt Ende dreißig. Ihr Leben hatte sie im Griff. Aber die Kopfschmerzen traten immer häufiger auf und wurden stärker. Sie hatte diverse Fachärzte aufgesucht, aber es war – man mag schmunzeln – alles »in Ordnung«. Ihrem Verständnis nach musste es für die Symptome eine körperliche Ursache geben, die es zu finden und zu beseitigen galt. Anfangs war sie nicht bereit, eine seelische (Mit-)Ursache in Betracht zu ziehen. So bot ich ihr an, im Rahmen von mehreren Gesprächssitzungen ein wenig Ordnung (!) in das komplizierte Muster zu bringen.

Es gibt eine Sache, die mich richtig wütend macht. Wenn meine Mutter sagt: »Du bist wie Oma Lucie.« Meine Großmutter lebte bis knapp vor ihrem Tod in unserem Haus. Sie hatte ein eigenes kleines Zimmer im Erdgeschoss, direkt neben der Küche. Sie war eine richtige alte Hexe. Immer »keifte sie herum«, wie meine Mutter das nannte. Sie beschwerte sich über Lärm in der Mittagszeit oder über ungebügelte Wäsche im Wohnzimmer. Ich war nur selten in ihrem Zimmer. Da hatte sie die Bücher im Regal nach Größe sortiert. Nach Größe, das muss man sich vorstellen! Manchmal hat sie mir eine Ohrfeige gegeben, wenn ich »unartig« war. Meine Mutter erzählte mir, dass sie als Kind von ihr nach dem Krieg oft geschlagen wurde. Damals sei das aber »normal« gewesen.

Wie Oma Lucie. Man kann nur erahnen, wie viele Gefühle in dieser Familienbeziehung verborgen liegen. Die Klientin hatte bisher eine emotionale Mitverursachung ihrer Kopfschmerzen nicht für möglich gehalten. Nach dieser Schilderung hatte sie jedoch zu Hause eine heftige Schmerzattacke erlebt, die sie zum Umdenken bewog. Erstmals beschäftigte sie sich mit der Möglichkeit, dass der körperliche Schmerz ein Signal ihrer Seele sein könnte. Sie selbst blieb dabei in ihrem Muster, indem sie nun das Interesse entwickelte, »seelisch etwas in Ordnung zu bringen«.

Ich begann, meine Mutter nach meinen Großeltern und deren Erlebnissen zu fragen. Mein Großvater war offenbar als Soldat bei Kriegsende nur in kurze Gefangenschaft gekommen. Er war ein stiller, zurückhaltender Mensch, der nur selten lachte. Meine Oma »führte zu Hause das Regiment«. So nannte sie das. Das junge Paar hatte wohl knapp vor Kriegsende die eigene Wohnung durch einen Bombenangriff verloren. Meine Großmutter entkam mit nur einem Koffer voll Habseligkeiten.

Ein paar dieser Sachen hat sie bis zu ihrem Tod gehütet. Ein Hochzeitsfoto, ein Spitzendeckchen der eigenen Mutter, eine Porzellanpuppe und so etwas. In ihrem Zimmer waren die Sachen wie auf einem Altar geordnet. Alles hatte seinen Platz und durfte nicht berührt werden. Alles musste penibel sauber und »ordentlich« sein. Dagegen hat sich meine Mutter als junges Mädchen aufgelehnt. Und wurde deshalb sehr oft von ihrer Mutter geschlagen. »Sie wusste es halt nicht besser«, sagt sie heute dazu.

In meiner Erinnerung gibt es da aber auch eine alte Frau, die sich liebevoll um den Wurf ihrer Katze kümmerte. Die mit ihrem Kanarienvogel sprach, zärtlich und leise, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Die Blumenbeete pflegte und dafür sorgte, dass immer etwas im Garten blühte.

Was Jette hier schildert – und erlebt –, sind Widersprüche. Da ist eine hoffnungsvolle, jungverheiratete Frau, die erlebt, wie der Krieg den Mann einfordert und die ersten Schritte ins eigene Leben zerstört. Da ist die Tochter, die gegen die Ordnungswut der Mutter rebelliert. Da ist die »alte Hexe«, die die Familie jahrzehntelang tyrannisiert. Und da ist in Jettes Erinnerung aber auch eine alte Frau, die sich zärtlich um Katzen kümmert, mit ihrem Kanarienvogel spricht, Blumen liebt und den Garten umsorgt. Widersprüche, die ein Chaos des Fühlens hinterlassen. Aber wir können lernen, mit diesem Chaos umzugehen. Die Widersprüche können sogar eine Chance sein, Neues in uns zu entdecken, und schließlich Ordnung in das Gefühlsleben zu bringen. Wie das geht, wird später noch deutlich werden.

VERBLIEBENE SEELENTRÜMMER

Ein Trauma ist wie ein riesiger Hammer, der auf unsere Seele einschlägt. Es gibt sehr robuste, innerlich stabile Menschen, die einen solchen Schlag relativ unbeschadet überstehen. Aber für viele ist die Wucht zu groß. Man schätzt, dass ein Trauma-Erleben bei etwa einem Drittel der Betroffenen einen dauerhaften seelischen Schaden hinterlässt. Es ist, als zerbreche ein Teil ihrer Seele, im schlimmsten Fall fällt die Psyche in Trümmer. So scheint es auch bei Stefans Mutter gewesen zu sein, wie sich im Lauf seiner Geschichte herausstellte:

Meine Mutter war für mich immer etwas unberechenbar. Ihre Stimmungen wechselten manchmal abrupt. Eben las sie noch leise und mitfühlend aus einem Buch vor, um plötzlich wegen einer Kleinigkeit loszuschreien. Oder wir Kinder fanden sie beim Bügeln weinend auf dem Boden sitzend. Für mich war das unbegreiflich. Mal dachte ich, ich hätte etwas falsch gemacht, dann wieder wollte ich sie unbedingt trösten. Mittlerweile ist sie leicht dement, und es ist noch schlimmer geworden. Sie sitzt im Stuhl und strickt. Dann wirft sie das Glas an die Wand, um schließlich leise zu wimmern. Es zerreißt mir das Herz, sie so zu sehen. Beruhigungsmittel hat sie schon bekommen. Sie schläft dann mehr, aber wenn sie wach ist, hat sich nichts geändert.

Stefan war Anfang fünfzig, als er in meine Praxis kam. Er litt seit zwei Jahren unter Schlafstörungen, wachte oft mit Angstattacken auf, gefolgt von Grübelzwang. Die Situation der Mutter belastete ihn und seine Schwester erheblich. In den folgenden Gesprächen kam heraus, dass er sich für seinen jetzigen Lebensabschnitt mehr »innere Entfaltung« und »Seelenfrieden« gewünscht hatte. Weder privat noch beruflich fanden sich ansonsten Belastungsfaktoren. Es drängte sich der Verdacht auf, dass er stellvertretend für seine Mutter (mit-)litt. Also empfahl ich ihm, sich näher mit der frühen Familiengeschichte zu befassen.

Ich habe nur wenig herausgefunden. Meine Eltern haben nie über ihre Kindheit oder Jugendzeit gesprochen. Meine Mutter ist 1942 in Köln geboren worden. 1944 wurden sie und meine Großmutter aufs Land »verschickt«, meine Oma war wohl damals schwer krank, irgendetwas mit der Lunge. Meine Tante, die ich nur flüchtig kenne, konnte mir noch berichten, dass ihre Schwester immer »nah am Wasser gebaut« war. Mehr habe ich nicht erfahren können.

Man kann ahnen, dass es für Stefans Mutter nicht einfach gewesen ist. Obwohl die genauen Zusammenhänge unklar bleiben, biete ich in solchen Fällen quasi Lösungswörter an. In diesem Fall weckt die Verschickung von Mutter und Kind Assoziationen zu »wegschicken«, »trennen«, »wegnehmen«, »fortreißen«. Ich biete dem Klienten diese Assoziationen an und fordere ihn dann zu eigener emotionaler Bewertung auf.

Ja, wenn ich meine Mutter sehe, zerreißt es mir das Herz. Ich glaube, das ist es. Ich fühle mich selbst zerrissen. Immer schon war ich auf der Suche nach einem friedlichen Ort für meine Seele. Irgendetwas, wo ich zur Ruhe kommen kann. Da flattern so viele Erfahrungen, unklare Gefühle und Erinnerungen herum. Ich kann das nicht einordnen. Ich glaube, dass meine Mutter sich ebenso fühlt. Dann weiß man nicht, ob man lachen oder weinen oder schreien soll. Bei mir drückt sich das dann im Schlaf aus. Soll ich denken oder ausruhen? Wach sein oder schlafen?

Ein Hammerschlag traf hier offenbar die Seele eines Menschen. Es entstanden quasi Fragmente. Die Erinnerung an das Geschehene ist in unverständliche Erlebnistrümmer zersprungen. Und es gelang Stefans Mutter später nicht, alle Trümmer wieder aufzusammeln und zu einem stimmigen Ganzen zusammenzusetzen. Freie Seelenanteile schwirren umher und treten bei vielen Gelegenheiten wieder ans Licht. Man könnte auch an ein Puzzle denken, dessen Teile nicht nur ungeordnet, sondern auch noch mit Teilen aus anderen Bildern vermischt sind. Dann aber sind diese Anteile und Erinnerungsfragmente für die Betroffenen und deren Umgebung unverständlich. Sie passen nicht. Das Bild des Hammers ist also gar nicht weit hergeholt.

Die Psychologie arbeitet recht häufig mit Modellen und Bildern, um komplexe Vorgänge verständlich zu machen. In unserem Bild ist die Seele das Selbstkonzept, das jeder Mensch von sich entwickelt. Wir sind alle bestrebt, dass dieses Konzept stimmig ist, denn sonst wüssten wir selbst (und andere) nicht, wer wir eigentlich sind. Wenn ein schwerwiegendes Ereignis dieses Selbstkonzept bedroht, dann kann es sein, dass dieses Konzept sich – ganz oder teilweise – auflöst, also quasi zerbricht. Deshalb sprechen Psychologen davon, dass Trauma-Arbeit auf Integration ausgerichtet ist. Betroffene müssen dann versuchen, die Trümmer, die abgespaltenen Teile ihrer Seele wieder einzubauen, zu integrieren. Dann besteht die Chance auf Heilung. Das Selbstkonzept ist wieder ganz. Freie Anteile hingegen rauben den inneren Frieden. Und wie wir sehen, kann das auch die Folgegeneration betreffen.

Auch Beate, geboren 1971, leidet unter diesen unbekannten, freien Anteilen:

In meiner Umgebung galt ich immer als Tausendsassa. Ich hatte immer Ideen, steckte voller Energie und kriegte Beruf und Familie unter einen Hut. Das hat sich geändert, als mein Mann sich von mir getrennt hat. Er behauptete, ich »tanze auf zu vielen Hochzeiten«, ohne zu merken, was ich alles vernachlässige. Er hat auch danach noch zu mir gehalten, obwohl ich stinksauer war. Seine Bemerkungen haben mich tief verletzt, aber ich habe seinen Vorschlag angenommen, eine Paartherapie mit Mediation zu machen. Da habe ich erst langsam gemerkt, wie stressig ich mit meiner »Hoppla-jetzt-komm-ich«-Art auf andere Menschen gewirkt habe. Ich habe auch Freundinnen darauf angesprochen, die mir das bestätigt haben. Tausend Ideen, hundert Baustellen, ein Dutzend genervte Leute, und ich war auch noch zufrieden mit mir. Als mir das klar wurde, bin ich erst mal zusammengebrochen. Die Luft war raus. Ich habe einen Weinkrampf bekommen und fühlte mich total erschöpft. Meine Therapeutin sagte zu mir: »Vierzig Jahre auf tausend Hochzeiten. Da sind wohl die Schuhe durch. Es ist Zeit, sich ein paar neue zu kaufen.«

Beate war bereits auf einem guten Weg, als sie sich bei mir vorstellte. Die vielen inneren Anteile verlangten unkontrolliert nach einem Ausleben ihrer Ansprüche. Das hatte sie erkannt und arbeitete nun mühsam an anderen Wegen. Sie berichtete mir, dass sie gerne mehr über die Ursachen ihres Verhaltens wüsste. So riet ich auch ihr, mehr über die Familie in Erfahrung zu bringen.

Mein Großvater hat die Kriegserlebnisse nicht verwunden. Er war der Vater meines Vaters und kehrte 1948 aus der Gefangenschaft zurück. Er wollte dann das Schuhgeschäft der Familie weiterführen, aber er geriet oft in Streit mit Kunden und Nachbarn. Er trank und war wohl auch gewalttätig. Ihm kamen wohl immer »großartige Ideen«, wie mein Vater sagte. Er wollte nach Amerika und es allen »beweisen«. Einmal hat mein Vater seine Uniform gefunden, die in einem Koffer lag. Er hat sie angezogen und einen Besenstiel als Gewehr benutzt. Da hat ihn sein Vater fürchterlich verprügelt. Später kam er immer unregelmäßiger nach Hause, war oft betrunken. Dann verschwand er ganz. Erst hieß es, er sei zur Fremdenlegion gegangen. Dann behauptete ein Nachbar, er habe ihn bei den »Landstreichern« am Bahnhof gesehen.

Wieder kann man nur erahnen, was in Beates Großvater zerbrochen sein mag. Er hat offenbar unter den Folgen des Kriegstraumas gelitten, Genaues wird man nicht mehr erfahren. Beate jedoch reichte diese Erkenntnis aus. Ihre »tausend Anteile«, die sie immer wieder zu unruhigem Tätigsein aufforderten, waren ihr jetzt besser verständlich. In der Trauma-Arbeit versucht sie nun, diese Anteile zu benennen und zu befrieden. Gleichzeitig führt sie eine Verhaltenstherapie weiter, um sich auf mögliche Änderungen ihres Handelns zu konzentrieren.

BIS INS DRITTE UND VIERTE GLIED – DER VERERBTE SCHMERZ

Ich bin ein sehr melancholischer Mensch. Ich bin gern für mich allein, Menschengruppen und lautes Feiern sind nicht mein Ding. Mein Vater ist da ganz anders. Ich komme wohl eher nach meiner Mutter. Sie trägt irgendwie auch so eine Art Weltschmerz in sich. Ich habe lange gegen diese Wesensart in mir angekämpft. Habe mich gezwungen, gesellig und lustig zu sein. Aber das war anstrengend. Gott sei Dank habe ich eine Frau kennengelernt, die mich versteht. Und so sein lässt. Durch meine Partnerschaft habe ich gelernt, ehrlicher mit mir umzugehen. Ich ziehe mich zurück, wenn mir danach ist. Stille ist wohltuend.

Zunächst war ich erstaunt, als mich Bernd, Jahrgang 1972, aufsuchte. Er erklärte offen, dass er sich nicht krank oder schlecht fühle. Er wollte einfach über ein paar Dinge reden. Er suchte nach einer Ordnung für einige biografische Daten und wollte deren Einfluss auf sein Selbstbild besser verstehen. Dabei stellte sich heraus, dass er bereits vieles von sich wusste.

Ende der 1980er-Jahre begann ich, mich für die Geschichte meiner Großeltern während der Nazi-Zeit zu interessieren. Ich war aufgewühlt durch den in der Schule thematisierten Holocaust-Schrecken. Väterlicherseits zeigten sich die alten Leute zwar verschlossen, gaben aber dann doch Auskunft. Wie soll ich sagen? Irgendwie beruhigte es mich sogar, davon zu hören, dass mein Großvater als Soldat in Italien verwundet wurde. Und dass meine Oma bei ihren Schilderungen einen Anflug von »Hoffentlich-nie-wieder-Krieg«-Haltung zeigte.

Mütterlicherseits jedoch biss ich auf Granit. Der Vater meiner Mutter war in den letzten Kriegstagen umgekommen. Im Wohnzimmer meiner Oma hing sein Bild. In Soldatenuniform und mit hartem Blick starrte er uns von der Wand an. Der Trauerflor war ja noch okay, aber es hingen dort auch diverse Orden und Auszeichnungen. »Er hat den Führer verteidigt.« Das hörten wir nur allzu oft. Oder: »Er ist nicht einfach abgehauen wie die anderen.« Mir liefen bei den Worten immer Schauer über den Rücken. Später machte es mich dann wütend. Das Weltbild meiner Oma war geprägt von Feindbildern. »Die Russen« hatten ihren Mann erschossen. »Die Amis« hatten sie mehrmals verhört. Man hatte den Hof durchsucht, alles durcheinandergebracht. Ungezogene Kerle. Einmal sagte sie sogar »Judenpack«.

Ich glaube, meine Mutter hat unter dieser kalten und herrischen Art sehr gelitten. Sie ist eine stille Frau, die es gernhat, wenn sie unauffällig bleibt. Mein Vater ist hingegen sehr lebensfroh. Wenn er dann ein bisschen über die Stränge schlägt, ist das meiner Mutter immer unangenehm und peinlich. Sie war erst drei Jahre alt, als ihr Vater starb. Als sie zehn war, heiratete meine Oma scheinbar erneut. Später erfuhr meine Mutter dann, dass es keine offizielle Heirat war, weil meine Oma dann ihre Rente verloren hätte. Ich kann meine Mutter zu diesem Thema nicht ansprechen, sie weint dann. Es ist aber deutlich zu spüren, dass ihr etwas fehlt. Fast ist es so, als suche sie immer nach einer Bestätigung, nach einem lieben Wort, das ihr sagt: »Es ist gut, dass du da bist.« Dafür ist sie dann bereit, viel von sich und ihren Wünschen aufzugeben.

Als meine Großmutter starb, habe ich geholfen, ihre Sachen zu entrümpeln. Wir haben auch das Bild von der Wand genommen. Als ich die Orden wegnahm, sah ich zum ersten Mal die beiden Runen am Kragenspiegel der Uniform. Mein Großvater war bei der SS gewesen. Und ich fand Unterlagen, die bewiesen, dass er nicht in Berlin umgekommen war. Er starb im April 1945 in der Nähe von Theresienstadt. Jenes Ghetto und KZ im heutigen Tschechien. War der große Held ein SS-Mörder? Bin ich Nachkomme eines Kriegsverbrechers? Alle weiteren Recherchen liefen bisher ins Leere. In den offiziellen Dokumenten ist mein Großvater ein gefallener Soldat, meine Oma war Kriegerwitwe und bezog eine Rente. Ihren zweiten Mann hatte sie ja aus diesem Grund nicht offiziell geheiratet, weil sie sonst den Rentenanspruch verloren hätte. Überall Lügen und Geheimnisse. Meine Großmutter hatte mit einem Trugbild gelebt, ihre engsten Verwandten getäuscht. Ihre Kinder, auch meine Mutter, mit ihrer falschen Geschichte beherrscht. Und wo stehe ich in diesem makabren Spiel?

Es werden viele Fragen offen bleiben in dieser Familiengeschichte. Wusste Bernds Großmutter von irgendwelchen Verbrechen? Ahnte sie etwas? Gab es überhaupt welche? Oder war ihr Mann zwar bei der SS, aber nur militärisch im »normalen« Krieg eingesetzt? War es der eigene Zweifel, der sie zu einer Lebenslüge greifen ließ, um die Ängste zu bändigen? Empfand sie selbst Schmerz und Trauer? Oder waren da nur Wut und Verbitterung? Bernd wird diese Fragen wohl nicht abschließend klären können. Dennoch besteht die Chance für ihn, dieses Kapitel im Familienbuch abzuschließen. Wir werden noch sehen, dass dafür nicht immer Fakten nötig sind. Vielmehr ist es wichtig, die dahinter liegenden Gefühle zu erkennen und zuzulassen. Und hierfür bieten Bernds Schilderungen jede Menge Ansatzpunkte:

Zunächst ist da sein Weltschmerz, eine Art melancholischer Grundhaltung. Er empfindet sie – mittlerweile – nicht mehr als sonderlich belastend. Sicherlich kann man davon ausgehen, dass sie nicht krankhaft ist, da für ihn kein Leidensdruck besteht. Ganze Literaturepochen, etwa das Biedermeier und die Restaurationszeit, waren durch diese Stimmungslage geprägt, ohne dass wir allen Dichtern Psychopharmaka verordnen müssten. Dennoch liegt Bernd viel daran, seinen Schmerz zu ergründen. Er erlebt seine Mutter als still. Sie möchte unauffällig bleiben. Stille kann wohltuend sein, sie kann aber auch irritieren. In der Erziehung vermittelt sie dem Kind eine grundlegende Unsicherheit. Es weiß nicht, wie das eigene Verhalten zu bewerten ist. Dafür ist es auf Reaktionen aus der Umgebung, anfangs vor allem der Mutter, angewiesen. Sonst gehen die kindlichen Gefühle, Gedanken und sein Verhalten quasi ins Off. Die Folge ist häufig, dass für das Kind alles maßlos wird. Entweder wird man ganz klein und still oder (vermeintlich) groß und laut. Bernds Mutter wird von der mütterlichen Übermacht zurückgedrängt, ihre Gefühle werden überwältigt, gelten als klein und unbedeutend. Ihre Mutter beherrscht sie, und sie bildet eine Grundunsicherheit aus, die darauf ausgerichtet ist, es allen recht zu machen. Diese Reaktion ist vor allem ein Ruf nach Zuneigung: Bitte, Mama, hab mich lieb! Ich mache auch alles, was du sagst.

Bernd beschreibt sehr eindrucksvoll, was seine Mutter sich wünscht. Jemand soll sagen: »Es ist gut, dass du da bist.« Seine Mutter hat um diese Zuneigung ihr Leben lang gerungen. Und leider – durch die eigene Unsicherheit – ebenjenes Muster an den Sohn weitergegeben. Bernd selbst braucht diese Bestätigung. Und sein Rückzug, seine melancholische Haltung sind Hilferuf und Schutz zugleich. Er musste erleben, dass es ihn enorm anstrengte, wenn er versuchte, gesellig und lustig zu sein. Erst eine glückliche Partnerwahl gab ihm die Sicherheit, so sein zu dürfen, wie er ist.

Ich habe diesem Klienten geraten, die Erkenntnisse aus seiner Familiengeschichte als Chancen zu begreifen. Er kann in kleinen Schritten versuchen, Teile des Schmerzes aufzulösen. Seine Mutter wird es als ungemein tröstlich empfinden, von ihrem Sohn zu hören, dass es gut ist, »dass du da bist«. Die unklare Täterfrage lässt sich für ihn emotional aufklären: Er selbst ist nicht schuld! Und er kann handeln, indem er seine Geschichte erzählt. Oder sich persönlich engagiert. Schließlich kann er sogar die Rolle seiner Großeltern hinterfragen. Auch hinter Tätern (und dass sie welche waren, ist ja nicht ganz klar) verbergen sich Menschen. Verständnis für deren Mensch-Sein eröffnet Möglichkeiten, zukünftig anders zu handeln. Schließlich kann er sich noch fragen: Welche Ängste mögen seine Großmutter zu der großen Lebenslüge bewogen haben? All dies fördert das Verständnis, es entlastet das eigene Selbst, weil aus unklaren Ahnungen konkretes Wissen wird.

Bernd hat daran mehrere Jahre gearbeitet. Als ich ihn nach längerer Zeit wiedertraf, sagte er:

Ich empfinde Stille immer noch als wohltuend. Aber jetzt ist darin kein Flüchten mehr. Sie ist für mich vielmehr zum Friedensort geworden.

Es erstaunt – und erschüttert – mich immer wieder, mit derartigen Folgen unserer deutschen Vergangenheit konfrontiert zu werden. Denn ich, der Herr, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen bis in das dritte und vierte Glied. Haben wir es hier mit einer altertümlichen Mahnung zu tun? Einer apokalyptisch anmutenden Vorwegnahme der Erkenntnisse der Trauma-Vererbung? Kann ein Gefühl mehrere Generationen lang weitergegeben werden? Diese Worte stehen in der Bibel. Dort, wo Moses die Zehn Gebote von Gott empfängt. Das Volk ist zerstritten, maulig und undankbar. Gott will es »auf Linie bringen«. Es sind alte Worte, und sie muten heute auch altbacken an.

Hat so etwas noch Berechtigung? Glauben wir an einen strengen, strafenden Gott? Lassen wir uns als aufgeklärte Menschen derart drohen? Man mag hierzu stehen, wie man will. Aber angesichts der seelischen Trauma-Folgen bei Kriegskindern und -enkeln kommt man doch ins Nachdenken. Ich habe hierzu meine eigene These gefunden. In der Bibel heißt es ausdrücklich: »Bei denen, die mir Feind sind …« Hierin liegt auch eine klare Aufforderung. Nur, wer die Schuld (der Eltern?) nicht erkennt und sie quasi bequem weiterträgt, bleibt ein Feind. Ich denke, wir haben die Chance, Altlasten in uns aufzuarbeiten. So »entfeinden« und »entschulden« wir uns. Und durchbrechen die Weitergabe.

Wie aber kommt es zu dieser emotionalen Beteiligung von Menschen, die gar keine konkreten Erinnerungen haben, die sogar erst nach der Kriegszeit – bis weit in die 1970er-Jahre – geboren wurden? Was wird da vererbt? Und wie? Wir wissen schon lange, dass starke Umwelteinflüsse Auswirkungen auf das Erbgut haben. Am bekanntesten sind die Veränderungen an Genstrukturen, sogenannte Mutationen, durch Strahlung oder starke Gifte. Sofern der Mensch nicht direkt daran stirbt, kann er geschädigt werden und auch kranke Kinder haben. Aber Gefühle? Bilder? Erinnerungen? Können starke und belastende Gefühle einen Einfluss auf unsere Gene haben? Hierzu gibt es bisher nur Hinweise.

Das Forschungsfeld der Epigenetik befasst sich mit jenen Veränderungen im Erbablauf, die nicht direkt die DNA-Sequenz betreffen. Vielmehr kommt es an den Chromosomen zu chemischen Vorgängen, durch die bestimmte Gene »an- und abgeschaltet« werden. Traumata wirken hier anscheinend als Schalter. Ein populäres Beispiel für epigenetisches Wissen ist der Film Jurassic Park. Das Auffinden eines Dinosaurier-Eis mit kompletter Erbinformation erlaubt noch lange nicht, einen Saurier so zu züchten, wie ihn die Natur einmal vorgesehen hatte. Neben dem Erbgut wären dazu viele andere Einflüsse aus der Umwelt – und das immer zum exakten Zeitpunkt – notwendig. Sie können es auch mit einem Rezept vergleichen. Zutaten und Beschreibung des Ablaufs garantieren kein gelungenes Essen. Erst Erfahrung, Intuition und das gewisse Händchen führen zum Erfolg.

In der epigenetischen Forschung haben Wissenschaftler Nagetiere einer Art Liebesentzug ausgesetzt. Diese Tiere waren später als Muttertiere nicht in der Lage, ihre Nachkommen liebevoll aufzuziehen. Dabei hatte sich ihr Erbgut nicht verändert. Und das für uns Interessante: Dieser Effekt war sogar in zwei weiteren Generationen nachweisbar! Also auch die Nachkommen dieser Tiere hatten Probleme, ihren Nachwuchs liebevoll anzunehmen. Das Trauma »Liebesentzug« wirkte in Kindern und Enkeln fort. Hier kann man durchaus einen Hinweis dafür sehen, dass Liebesentzug als Trauma über gestörte Zellinformationen an Folgegenerationen weitervererbt wird. Es sei betont, dass diese Ergebnisse selbstverständlich nicht problemlos auf Menschen übertragbar sind! Wir sind keine Mäuse oder Ratten. Aber die Erkenntnisse sollten uns zumindest zum Denken anregen.

Man braucht die These einer Vererbung oder Weitergabe von Traumata nicht unbedingt vor dem Hintergrund der Genforschung zu betrachten. Viele Religionen kennen eine Art kollektives Gedächtnis der Welt. Rudolf Steiner, der Gründer der anthroposophischen Denkrichtung, spricht von Bewusstseinsverbindungen, die bis zu unseren Ahnen reichen sollen. Wem dies zu abgehoben erscheint, der kann auch Lerneffekte als Erklärungen erwägen. In unserem Alltagsverständnis scheint es durchaus vorstellbar, dass Wesenszüge und Eigenheiten an Folgegenerationen weitergegeben werden. Eltern, die traumatisiert wurden, verändern ihr Verhalten gegenüber den eigenen Kindern. Diese kopieren quasi diese Muster, weil sie sie für normal halten. Sie erlernen auf diese Weise »Unnormalität«. Man nennt diese Lerneffekte im Rahmen der gesellschaftlichen Erziehung auch Sozialisation. So kann – wenn das Trauma nicht aufgearbeitet wird – sicherlich eine Generationenspirale in Gang gesetzt und in Gang gehalten werden. Auch ohne die Annahme von Erbeinflüssen.

Letztlich können wir wohl davon ausgehen, dass die Vererbung eines Traumas auf zwei grundsätzlichen Mechanismen beruhen kann. Es sind Umwelt- bzw. Erziehungseinflüsse und Veränderungen bei der Weitergabe von Erbinformationen. Korrekt wäre es dann, von einem »vererbt-sozialisierten Trauma« zu sprechen – zugegeben ein etwas sperriger Begriff.