Traumeltern für Melissa - Silva Werneburg - E-Book

Traumeltern für Melissa E-Book

Silva Werneburg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Schon seit einer halben Stunde saß der zottelige braune Promenadenmischling auf dem Treppenabsatz vor der Haustür und beobachtete die schmale Straße, die am Vorgarten vorbeiführte. Hin und wieder passierte ein Auto das Grundstück. Doch für keins davon hatte der kleine Hund Interesse gezeigt. Als sich dann aber eine dunkelgrüne Limousine näherte, hob der Mischling die Ohren. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich, und als der Wagen schließlich in die Auffahrt bog und anhielt, gab es für den kleinen Kerl kein Halten mehr. Wie ein Gummiball schnellte er hoch und eilte dem Fahrer, der gerade ausstieg, entgegen. »Hallo, Kuddel«, begrüßte Gunnar Urbach den Vierbeiner, beugte sich zu ihm hinab und kraulte dessen Fell. »Hast du schon lange auf mich gewartet? Tut mir leid, heute ist es ein bißchen später geworden. Aber jetzt bin ich ja da. Wollen wir mal sehen, was dein Frauchen macht?« Als hätte Kuddel die Worte genau verstanden, lief er schon vor zur Haustür, die gerade von Daniela Urbach geöffnet wurde. Mit einem etwas gequält wirkenden Lächeln schaute die junge Frau ihrem Mann entgegen und umarmte ihn, als er den Treppenabsatz erreicht hatte. Auch bei ihr entschuldigte Gunnar sich. »Ich wollte schon Schluß machen, als noch ein Klient mit einem aktuellen und ziemlich schwierigen Problem kam. Den wollte ich nicht einfach wegschicken. Du bist hoffentlich nicht böse, weil ich mich verspätet habe. Wie ist es dir inzwischen ergangen? Hattest du einen schönen Tag?« »Jeder Tag ist wie der andere«, erwiderte Daniela. »Schöne Zeiten wird es für mich wohl nicht mehr geben. Aber

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Mami – 1919–

Traumeltern für Melissa

Für ein Waisenkind scheint wieder die Sonne

Silva Werneburg

Schon seit einer halben Stunde saß der zottelige braune Promenadenmischling auf dem Treppenabsatz vor der Haustür und beobachtete die schmale Straße, die am Vorgarten vorbeiführte. Hin und wieder passierte ein Auto das Grundstück. Doch für keins davon hatte der kleine Hund Interesse gezeigt. Als sich dann aber eine dunkelgrüne Limousine näherte, hob der Mischling die Ohren. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich, und als der Wagen schließlich in die Auffahrt bog und anhielt, gab es für den kleinen Kerl kein Halten mehr. Wie ein Gummiball schnellte er hoch und eilte dem Fahrer, der gerade ausstieg, entgegen.

»Hallo, Kuddel«, begrüßte Gunnar Urbach den Vierbeiner, beugte sich zu ihm hinab und kraulte dessen Fell. »Hast du schon lange auf mich gewartet? Tut mir leid, heute ist es ein bißchen später geworden. Aber jetzt bin ich ja da. Wollen wir mal sehen, was dein Frauchen macht?«

Als hätte Kuddel die Worte genau verstanden, lief er schon vor zur Haustür, die gerade von Daniela Urbach geöffnet wurde. Mit einem etwas gequält wirkenden Lächeln schaute die junge Frau ihrem Mann entgegen und umarmte ihn, als er den Treppenabsatz erreicht hatte. Auch bei ihr entschuldigte Gunnar sich.

»Ich wollte schon Schluß machen, als noch ein Klient mit einem aktuellen und ziemlich schwierigen Problem kam. Den wollte ich nicht einfach wegschicken. Du bist hoffentlich nicht böse, weil ich mich verspätet habe. Wie ist es dir inzwischen ergangen? Hattest du einen schönen Tag?«

»Jeder Tag ist wie der andere«, erwiderte Daniela. »Schöne Zeiten wird es für mich wohl nicht mehr geben. Aber ich will mich nicht beklagen. Es ist ja nicht deine Schuld.«

Gunnar schüttelte den Kopf. »Niemand hat irgendeine Schuld. Aber das Leben geht trotz allem weiter, und gemeinsam schaffen wir es schon. Ich habe eine kleine Überraschung für dich, die dir vielleicht Freude macht und dich auf andere Gedanken bringt. Wir sprechen gleich darüber. Ich muß nur vorher noch rasch ein paar Unterlagen sortieren, die ich morgen für eine Gerichtsverhandlung benötige.«

Daniela nickte verstehend und sah ihrem Mann nach, wie er in seinem Arbeitszimmer verschwand. Gunnar nahm an seinem Schreibtisch Platz und holte einen Vorgang aus einem Aktenordner. Dabei fiel sein Blick auf ein Foto, das in einem silbernen Rahmen vor ihm stand. Dieses Bild zeigte eine Frau mit einem lachenden kleinen Mädchen auf dem Arm und stammte aus einer Zeit, in der auch Daniela noch hatte lachen können. Jung, unbeschwert und fröhlich war Daniela gewesen. Diese natürliche Fröhlichkeit war es gewesen, von der Gunnar schon beim ersten Zusammentreffen fasziniert gewesen war. Er, der junge Rechtsanwalt, der gerade seine Ausbildung hinter sich hatte und sie, die Krankenschwester, hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße getroffen. Daniela war unvorsichtig aus einer Parklücke ausgeschert, und Gunnar, der gerade vorbeifuhr, hatte nicht mehr ausweichen können. Zum Glück war es bei geringen Blechschäden geblieben, was die beiden Autos anbetraf. Für die zwei jungen Leute hingegen hatte der kleine Unfall größere, wenn auch nicht negative Folgen gehabt. Sie hatten sich ineinander verliebt und exakt ein Jahr nach dem Zusammenstoß geheiratet. Ihr Glück war vollkommen gewesen, als schließlich die kleine Sandra das Licht der Welt erblickte. Daniela hatte ihre Arbeitsstelle aufgegeben und ging ganz in ihrer Rolle als glückliche Mutter auf. Doch dieses Glück war fünf Jahre später von einer Sekunde zur anderen zerbrochen. Immer wieder hatte Gunnar das Bild des Eiscafés vor Augen, das er an jenem schicksalhaften Tag mit Daniela und Sandra besucht hatte. Auf der Außenterrasse hatten sie an einem der typischen runden Tische gesessen und die erfrischenden Eisbecher genossen. Urplötzlich war Sandra aufgesprungen, weil sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihre Freundin entdeckt hatte. Bevor sie jemand zurückhalten konnte, war sie losgelaufen. Noch heute war Gunnar das Quietschen der Autoreifen gegenwärtig. Noch immer sah er deutlich den hellblauen Kleinlastwagen vor sich, der nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand gekommen war, und er erinnerte sich mit Schrecken an den herbeigerufenen Notarzt, der ihm und Daniela mit traurigem Kopfschütteln mitgeteilt hatte, daß keine Hilfe mehr möglich war.

Seit jenem Tag war Danielas Fröhlichkeit verschwunden. Regelrecht schwermütig war sie geworden. Da sie im Haus alles an Sandra erinnerte, hatte Gunnar beschlossen, umzuziehen. Seine Frau war damit einverstanden gewesen. Sechs Monate nach Sandras Tod waren sie nach Lüneburg übergesiedelt und in ein großzügiges Einfamilienhaus am Stadtrand gezogen. Seine Anwaltskanzlei hatte Gunnar ebenfalls in diese Stadt verlegt. Die letzten Umzugskisten waren noch nicht ausgepackt, als Daniela erfuhr, daß sie schwanger war. Die Hoffnung auf diesen Nachwuchs gab ihr neuen Mut. Sie vergaß Sandra nicht. Aber der Gedanke, bald wieder ein Baby in den Armen halten zu können, gab ihr die Kraft, sich dem Leben wieder zuzuwenden. Sie war wieder bereit, Zukunftspläne zu machen und wirkte ausgeglichen. Doch auch dieser Traum erfüllte sich nicht. Ohne jede Vorwarnung hatte Daniela eine Fehlgeburt erlitten, und im Krankenhaus hatten die Ärzte ihr mitgeteilt, daß sie kein weiteres Baby mehr bekommen konnte. Inzwischen war fast ein halbes Jahr vergangen. Doch Danielas Seele war noch immer tief verwundet. Mehrfach hatte sie schon geäußert, in ihrem Leben keinen Sinn mehr zu sehen. Das Schicksal hätte sich gegen sie verschworen und würde ihr kein Lebensglück gönnen. Den Haushalt vernachlässigte Daniela zwar nicht, aber es gab einfach nichts mehr, wofür sie sich interessierte. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, saß sie einfach da, starrte ins Leere und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Für sie gab es keine Höhen und Tiefen, keine Freude und keinen Ärger. Sie ließ das Leben an sich vorüberziehen, ohne daran teilhaben zu wollen.

Natürlich fühlte sich auch Gunnar zuweilen niedergeschlagen und mutlos. Der Tod seiner kleinen Tochter war nicht spurlos an ihm vorübergegangen, und die Erkenntnis, keine Kinder mehr haben zu können, hatte ihn zutiefst getroffen. Doch er hatte sich vorgenommen, dem Schicksal zu trotzen und sein Leben neu zu gestalten. Zunächst einmal mußte er aber dafür sorgen, daß Daniela die Kraft fand, sich aus ihrer Isolation zu befreien und einen neuen Anfang zu finden. Den Vorschlag, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, hatte sie strikt abgelehnt. Es lag nun an Gunnar, ihr zu helfen. Er hatte auch schon einen Plan, der hoffentlich gelingen würde.

Gunnar steckte den für die Gerichtsverhandlung benötigten Vorgang in seinen Aktenkoffer und verließ das Arbeitszimmer. Daniela saß in einem Sessel im Wohnzimmer und schaute abwesend hinaus in den parkartig angelegten Garten. Gunnar nahm neben ihr Platz und reichte ihr eine bunte Broschüre.

»Sieh mal, wie gefällt dir das? Das ist das Prospekt von einem schönen romantischen Hotel in der Nähe von Eckernförde, direkt an der Schleimündung. Wir haben lange keinen Urlaub mehr gehabt. Ich denke, es ist an der Zeit. Viel Schweres liegt hinter uns. Wir sollten wieder einmal richtig ausspannen. Deshalb habe ich in diesem Hotel angerufen und für drei Wochen ein Zimmer für uns reservieren lassen. Was heißt Zimmer. Es ist schon mehr eine Suite. Was meinst du dazu? Sollen wir am nächsten Wochenende fahren?«

Daniela warf einen Blick auf das stilvolle Gebäude und die Landschaftsaufnahmen. »Wenn du möchtest, dann fahren wir. Aber das bringt uns unsere Sandra auch nicht zurück, und es ändert nichts daran, daß wir niemals Kinder haben werden.«

»Nein, das nicht. Aber das ist unser Schicksal, das wir akzeptieren lernen müssen. Vielleicht hilft uns diese gemeinsam verbrachte Zeit dabei ein bißchen. Wir werden am Schleiufer entlangwandern, an der Ostsee am Strand liegen und die Seele baumeln lassen.«

»Und überall werden wir Kinder sehen«, gab Daniela zu bedenken. »Kinder, die Sandburgen bauen, Drachen steigen lassen oder im Wasser planschen. Kinder, die wir niemals haben werden und die all die Dinge tun, die unsere Sandra nie wieder tun kann. Es wird schwer werden, von fröhlichen Kindern und stolzen Eltern umgeben zu sein. Aber vielleicht hast du recht. Möglicherweise wäre ein Tapetenwechsel gar nicht so schlecht. Es kann ja sein, daß wir auch ein paar positivere Dinge erleben.«

»Das werden wir«, versprach Gunnar. »Das werden wir, wenn wir bereit sind, die positiven Dinge zu sehen. Das Leben ist nicht nur schwer. Laß uns gemeinsam herausfinden, was uns Freude macht. In diesen drei Wochen haben wir genug Gelegenheit, vieles neu zu entdecken.«

»Und was ist mit Kuddel?« wollte Daniela wissen. Wir können den armen Kerl unmöglich in irgendeiner Tierpension abgeben. Das möchte ich auf keinen Fall.«

»Um Kuddel brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der kommt natürlich mit. Das habe ich bereits geklärt. Die Inhaber des Hotels sind sehr tierfreundlich.«

Daniela lächelte, was sie selten tat, und blickte auf Kuddel, der es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht hatte. Behutsam nahm sie dessen trotz guter Fellpflege zotteligen Kopf in die Hände.

»Da hat die nette Dame am Telefon recht gehabt. So was tust du ganz bestimmt nicht. Du benimmst dich immer gut. Was meinst du? Möchtest du gerne in diesem Hotel wohnen und dort mit uns Urlaub machen?«

»Wuff«, ließ Kuddel sich vernehmen, legte den Kopf schief und schaute Daniela mit seinen blanken treuherzigen Augen an. Er begriff zwar nicht so genau, worum es ging, wußte aber, daß offensichtlich von ihm die Rede war.

Gunnar war froh darüber, daß Daniela den Urlaub nicht abgelehnt hatte. Er knüpfte große Hoffnungen an die heilsame Wirkung der kommenden drei Wochen, die sie gemeinsam an der landschaftlich schönen Küste verbringen würden. Mit etwas Glück würde Daniela dort auf andere Gedanken kommen und wenigstens wieder ein kleines Stück neuen Lebensmut finden, der später nach der Rückkehr weiter ausgebaut werden konnte. Was immer Gunnar dazu beitragen konnte, seiner Frau zu helfen, wollte er tun.

*

Es zeigte sich, daß Gunnar mit diesem Hotel die richtige Wahl getroffen hatte. Das Zimmer, das den Begriff Suite verdient hatte, war stilvoll und behaglich eingerichtet. Vom Balkon aus konnte man direkt auf die Schlei blicken und die Segelboote beobachten.

Da sich das Wetter von seiner besten Seite zeigte, unternahmen Gunnar und Daniela sofort einen Spaziergang, nachdem sie die Koffer ausgepackt hatten. Ihr Weg führte sie hinunter zum Schleiufer. Während Kuddel sich nach Herzenslust austobte, wanderten seine Besitzer den schmalen Uferweg entlang. Es dauerte nicht lange, bis sich rechts am Wegrand eine Weide auftat, auf der mehrere, erst wenige Monate alte Kälber grasten. Ein kleines Mädchen stand dort mit einem älteren Mann, offensichtlich dem Großvater, am Zaun und fütterte die Kälber mit Apfelstückchen. Obwohl noch wenig

lebenserfahren, hatten die Tiere rasch herausgefunden, wie schmackhaft die süßen Obststücke waren und nahmen sie vertrauensvoll aus der kleinen Kinderhand. Gunnar und Daniela blieben stehen und betrachteten die Szene. Nachdem das letzte Apfelstück verfüttert war, blickte das kleine Mädchen auf seine Hände.

»Jetzt kleben meine Finger vom Apfelsaft, und die Kälbchen haben mich auch mit Spucke besabbert. Hast du ein Taschentuch für mich, Opa?«

Der alte Mann durchsuchte seine Taschen, konnte aber nichts darin finden. Daniela sprang hilfreich ein und reichte dem Kind ein paar Papiertaschentücher. Sie half sogar dabei, die verschmutzten Hände zu reinigen.

»So, ich glaube, jetzt ist das Gröbste beseitigt. Du magst die kleinen Kälbchen wohl sehr gern, nicht wahr?«

»Ja, deshalb kommen wir auch oft her und füttern sie. Leider hat Opa heute sein Taschentuch vergessen. Aber das macht ja nichts. Sie hatten zum Glück welche. Sind Sie auch gekommen, weil Sie die Kälbchen füttern wollen?«

»Nein, wir wußten gar nicht, daß es hier welche gibt. Wir sind heute erst angekommen und machen Ferien hier. Aber in den nächsten Tagen bringe ich den Kälbchen bestimmt auch ein paar Leckerbissen.«

Das kleine Mädchen hatte Kuddel entdeckt, der auch gleich angesprungen kam und das Kind begrüßte. Es war seine Art, zu allen Menschen freundlich zu sein, und Kinder mochte er besonders gern. Die Kleine streichelte ihn.

»Der ist aber hübsch. Zu Hause haben wir auch einen Hund. Aber der ist größer und hat ganz glattes Fell. Außerdem ist er schon ganz alt und schläft meistens den ganzen Tag. Wie alt ist denn Ihr Hund, und wie heißt er?«

»Das ist unser Kuddel. Er ist ein Pudelmischling und drei Jahre alt.«

Das Mädchen zählte an seinenFingern ab und überlegte. »Dann bin ich doppelt so alt wie Kuddel. Ich bin nämlich schon sechs.«

»Was denn? Sechs Jahre bist du erst alt und kannst schon so gut rechnen?« fragte Gunnar verwundert.

Das kleine Mädchen richtete sich stolz auf. »Na klar. Mami und Papi haben schon oft mit mir gerechnet, und der Opa auch. Außerdem bin ich vor zwei Wochen in die Schule gekommen, und da lernt man so was von ganz allein.«

Gunnar und Daniela verabschiedeten sich vor dem Großvater und dessen Enkelin und setzten ihren Weg fort. Beide zeigten sich schweigsam und hatten denselben Gedanken. Auch Sandra wäre jetzt sechs Jahre alt und in diesem Jahr eingeschult worden, genau wie das kleine Mädchen, das soeben zufällig ihren Weg gekreuzt hatte. Dieser Gedanke schmerzte. Gunnar war in der Lage, dieses bedrückende Gefühl energisch abzuschütteln. Daniela konnte das nicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich von Gunnar ablenken ließ, der ihr immer neue Gespräche geradezu aufdrängte. Auf dem Rückweg zum Hotel hoffte er, nicht wieder auf ein kleines Mädchen zu stoßen, das ungefähr in Sandras Alter war. Für Daniela würde das neues Leid und schmerzvolle Erinnerung bedeuten. Aber sie war nicht hier, um noch tiefer in ihre Depressionen gestoßen zu werden, sondern um Abstand zu gewinnen. Kontakte mit kleinen Kindern konnten im Augenblick keine positive Wirkung auf sie haben.

*

Weder Gunnar noch Daniela ahnten, daß sich ganz in der Nähe ihres Hotels ein Kinderheim befand. Das Kinderheim Wasserburg beherbergte Schützlinge, die aus sozialen Brennpunkten stammten und nicht in ihren Familien bleiben konnten, aber auch Kinder, deren Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen freiwillig auf das Sorgerecht verzichtet hatten, oder solche, die durch eine schicksalhafte Fügung zu Vollwaisen geworden waren.

Zu den wenigen Vollwaisen gehörte auch die neun Jahre alte Melissa Ollendiek. Das zierliche, bescheidene und etwas schüchtern wirkende Mädchen hatte ein richtiges Familienleben nie kennengelernt. Melissas unverheiratete Mutter war wenige Tage nach der Entbindung an einer Embolie gestorben. Den Namen des Kindsvaters hatte sie niemandem preisgegeben und das Geheimnis mit ins Grab genommen. Nachdem das Baby, das zu früh auf die Welt gekommen war, die Klinik verlassen durfte, übernahm dessen Oma die Mutterstelle. Drei Jahre lang wurde Melissa von ihrer Großmutter versorgt. Dann starb die noch nicht einmal sechzig Jahre alte Frau an einer heimtückischen und rasch zum Tode führenden Krankheit. Die kleine Melissa wurde in ein Heim eingewiesen, bekam einen Amtsvormund und hätte adoptiert werden können. Aber sie war eben kein Baby mehr, und fast alle Ehepaare, die sich zu einer Adoption entschlossen hatten, wollten ein noch möglichst kleines Baby haben. Sie wollten ihr Kind von Anfang an aufwachsen sehen. Ein bereits drei Jahre altes Mädchen kam nicht in Frage. So verbrachte Melissa die Zeit bis zu ihrem sechsten Geburtstag in einem Heim, das speziell für Kleinkinder eingerichtet war. Nach ihrer Einschulung wurde sie in die Wasserburg überwiesen.

Im Grunde genommen verstand Melissa sich recht gut mit den drei anderen Mädchen, die das Zimmer mit ihr teilten. Doch das Heimleben gefiel ihr überhaupt nicht. Sie kapselte sich ab, entzog sich gemeinsamen Unternehmungen und war lieber allein. Oft saß sie einfach nur da und träumte davon, in einer richtigen Familie mit Vater und Mutter zu leben. Irgendwann hatte Melissa einem anderen Kind einmal ihren geheimen Traum anvertraut. Seitdem wurde sie häufig gehänselt. Im Gegensatz zu dem kleinen Mädchen hatten die anderen Kinder nämlich längst eingesehen, daß solche Träumereien absolut unrealistisch waren und niemals in Erfüllung gehen konnten.