Die Welt ist wieder hell und schön - Silva Werneburg - E-Book

Die Welt ist wieder hell und schön E-Book

Silva Werneburg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Mit aufmerksamen Blicken beobachtete der Graupapagei von der Gardinenstange aus, wie Beatrice Jenke in der Küche hantierte. Schließlich startete er mit kräftigen Flügelschlägen und landete zielsicher unmittelbar neben der Kartoffelschüssel, die auf der Anrichte stand. Beatrice pellte dort gerade die noch heißen Kartoffeln ab und legte sie anschließend in die Schüssel. Blitzschnell griff der Vogel mit seinem starken Schnabel zu und biß ein Stück aus einer der gelben Knollen. »Au!« beschwerte er sich gleich anschließend und schüttelte sich. »Au, au!« »Das kommt davon, wenn man stiehlt, Jacki«, meinte Beate. »Jetzt hast du dir den Schnabel verbrannt. Warte lieber noch ein Weilchen. Wenn die Kartoffeln abgekühlt sind, bekommst du ein Stück davon.« Jacki, durch den Schaden klug geworden, lief aufgeregt um die Schüssel herum, ohne noch einmal nach der begehrten Nascherei zu greifen. »Lecker, lecker«, schnarrte er dabei. »Gib Jacki Leckerchen.« »Du bekommst schon deinen Anteil, du kleine Nervensäge«, erwiderte Beatrice lächelnd. »Aber ein bißchen warten mußt du noch.« Geduld hatte noch nie zu Jackis Stärken gehört. Nervös umkreiste er weiterhin die Schüssel. Nach einer Weile prüfte Beatrice die Kartoffeln, brach die, die Jacki bereits angebissen hatte, in kleine Stücke und legte diese auf einen Dessertteller. »So, jetzt kannst du dich gefahrlos bedienen, mein kleiner Freund.« Beatrice schaute dem Vogel zu, wie er mit Genuß an dem Leckerbissen knabberte. Sie liebte diesen Papagei, der ihr den ganzen Tag lang Gesellschaft leistete und sie schon so oft aufgeheitert hatte. Jacki war ein guter Freund, mit dem sie sich unterhalten und dem sie all ihre Sorgen mitteilen konnte. Obwohl Jacki

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Mami – 1913–

Die Welt ist wieder hell und schön

Für Saids beginnt ein neues Leben

Silva Werneburg

Mit aufmerksamen Blicken beobachtete der Graupapagei von der Gardinenstange aus, wie Beatrice Jenke in der Küche hantierte. Schließlich startete er mit kräftigen Flügelschlägen und landete zielsicher unmittelbar neben der Kartoffelschüssel, die auf der Anrichte stand. Beatrice pellte dort gerade die noch heißen Kartoffeln ab und legte sie anschließend in die Schüssel. Blitzschnell griff der Vogel mit seinem starken Schnabel zu und biß ein Stück aus einer der gelben Knollen.

»Au!« beschwerte er sich gleich anschließend und schüttelte sich. »Au, au!«

»Das kommt davon, wenn man stiehlt, Jacki«, meinte Beate. »Jetzt hast du dir den Schnabel verbrannt. Warte lieber noch ein Weilchen. Wenn die Kartoffeln abgekühlt sind, bekommst du ein Stück davon.«

Jacki, durch den Schaden klug geworden, lief aufgeregt um die Schüssel herum, ohne noch einmal nach der begehrten Nascherei zu greifen. »Lecker, lecker«, schnarrte er dabei. »Gib Jacki Leckerchen.«

»Du bekommst schon deinen Anteil, du kleine Nervensäge«, erwiderte Beatrice lächelnd. »Aber ein bißchen warten mußt du noch.«

Geduld hatte noch nie zu Jackis Stärken gehört. Nervös umkreiste er weiterhin die Schüssel. Nach einer Weile prüfte Beatrice die Kartoffeln, brach die, die Jacki bereits angebissen hatte, in kleine Stücke und legte diese auf einen Dessertteller.

»So, jetzt kannst du dich gefahrlos bedienen, mein kleiner Freund.«

Beatrice schaute dem Vogel zu, wie er mit Genuß an dem Leckerbissen knabberte. Sie liebte diesen Papagei, der ihr den ganzen Tag lang Gesellschaft leistete und sie schon so oft aufgeheitert hatte. Jacki war ein guter Freund, mit dem sie sich unterhalten und dem sie all ihre Sorgen mitteilen konnte. Obwohl Jacki als Sprachgenie galt, mußte Beatrice nicht befürchten, daß er etwas von dem ausplaudern würde, was sie ihm anvertraute. Dazu war er trotz seines Talents nun doch nicht in der Lage.

Eigentlich hätte die Dreiunddreißigjährige mit ihrem Leben zufrieden sein können. Seit neun Jahren war sie mit Mario verheiratet und lebte in einem modernen, großzügigen Einfamilienhaus am Stadtrand. Finanzielle Sorgen gab es nicht. Mario besaß zwei große, ausgezeichnet florierende Juweliergeschäfte. Trotzdem wurde Beatrices Leben von dunklen Wolken überschattet. Ebenso wie ihr Mann hatte sie sich immer Kinder gewünscht und jahrelang gehofft, daß sich dieser Wunsch endlich erfüllen würde. Doch dann, vor ungefähr vier Jahren, hatte ein Untersuchungsergebnis jede Hoffnung zerstört. Beatrice konnte keine Kinder bekommen. Mario war zutiefst enttäuscht gewesen und hatte sich seit jenem Tag verändert. Zwar hielt er weiterhin zu seiner Frau und zeigte ihr sehr oft, daß er sie trotz allem liebte, aber zwischendurch gab es immer wieder Phasen, in denen er sich auffallend von ihr entfernte. Es war Beatrice nicht entgangen, daß er sich von Zeit zu Zeit anderen Frauen zuwandte. Die Beziehungen dauerten nie lange. Doch wenn eine zu Ende war, verging nicht viel Zeit, bis Mario ein neues Verhältnis hatte. Nun unterhielt er schon seit mehr als drei Monaten ein Verhältnis zu Corinna Lohrbach. Die achtundzwanzigjährige attraktive Frau war eine von Marios Angestellten. Während er sich um das eine Geschäft kümmerte, leitete sie das andere. Beatrice wußte längst, daß die beiden nicht nur die Mittagspausen miteinander verbrachten. Auch nach Ladenschluß trafen sie sich recht häufig. Anfangs hatte Mario noch behauptet, daß es bei diesen Treffen um rein geschäftliche Angelegenheiten ging, die besprochen werden mußten. Inzwischen machte er keinen Hehl mehr daraus, daß die Beziehung mehr als nur geschäftlich war. Er hatte Beatrice sogar um Verständnis gebeten und erklärt, daß ein Mann eben mitunter etwas Ablenkung brauche, wenn seine Ehe ungewollt kinderlos bleiben mußte. Es wäre deshalb jedoch nicht so, daß er sie, Beatrice, nicht mehr lieben würde. Sie wäre seine Frau, und das würde er niemals vergessen. Beatrice konnte Marios Gedanken nicht nachvollziehen. Sie sah zwischen der Kinderlosigkeit und einem Verhältnis zu einer anderen Frau keinen Zusammenhang. Trotzdem wollte sie Mario nicht aufgeben. Sie liebte ihn und hoffte, daß er eines Tages von allein ganz zu ihr zurückfinden würde. Vielleicht brauchte er nur noch mehr Zeit, um einzusehen, daß ein Mann auch dann eine glückliche Ehe führen konnte, wenn ihm Vaterfreuden versagt blieben. Beatrice fand immer neue Entschuldigungen für das Verhalten ihres Mannes und wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Sie litt selbst unter ihrer Kinderlosigkeit und hatte sich damit bis heute noch nicht abfinden können. Aber wenn sie schon niemals die Chance haben sollte, ein Baby in ihren Armen zu halten, wollte sie wenigstens ihren Mann nicht verlieren. Ohne Mario wäre sie ganz allein auf der Welt gewesen. Was blieb ihr also anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen und sich der Hoffnung hinzugeben, daß für sie eines Tages alles wieder gut und so glücklich werden könnte, wie es am Anfang ihrer Ehe gewesen war? Immerhin hatten sie und Mario auch heitere, unbeschwerte Jahre miteinander verbracht. Es gab keinen Grund, warum das nicht irgendwann wieder so werden sollte.

*

Corinna Lohrbach hielt dem letzten Kunden, der an diesem Tag das Juweliergeschäft verließ, die Tür auf und verriegelte sie anschließend hinter ihm.

»Schluß für heute. Es ist Feierabend«, teilte sie den drei Angestellten mit. »Sie können ruhig schon gehen. Was noch aufzuräumen ist, erledige ich persönlich.«

Das ließen die Angestellten sich nicht zweimal sagen. Nach einem arbeitsreichen Tag freuten sie sich darauf, so schnell wie möglich nach Hause zu ihren Familien zu kommen. Es dauerte nur ein paar Minuten bis alle das Haus verlassen hatten. Genau das war Corinnas Absicht gewesen. Sie wußte, daß Mario Jenke bald eintreffen würde. Mittags hatte sie ihn angerufen und sich mit ihm verabredet. Die Angestellten mußten nicht unbedingt erfahren, daß sie sich hier mit Mario traf. Es dauerte tatsächlich nicht lange bis die Hintertür des Geschäftes geöffnet wurde und Mario eintrat. Lächelnd ging er auf Corinna zu und begrüßte sie zärtlich.

»Wie ich sehe, sind alle schon ausgeflogen. Das ist gut so. Es ist immer besser, ungestört zu sein. Ich hasse es, vor Zeugen förmlich tun zu müssen und dich nicht einmal in die Arme nehmen zu dürfen, obwohl ich mich schon den ganzen Tag darauf gefreut habe. Das fällt mir immer wieder schwer.«

»Mir auch«, gestand Corinna. »Überhaupt finde ich es schade, daß wir unsere Liebe verheimlichen müssen. Wenn es nach mir ginge, könnte die ganze Welt davon erfahren.«

»Du weißt, daß das nicht möglich ist. Ich muß Rücksicht auf Beatrice nehmen. Sie soll nicht überall in dem Ruf einer betrogenen Frau stehen. Das kann ich ihr einfach nicht zumuten.«

»Wäre das wirklich so schlimm?« wollte Corinna wissen. »Du mutest ihr doch auch zu, dich mit mir teilen zu müssen. Offensichtlich macht ihr das nicht viel aus. Sonst hätte sie schon längst die Scheidung eingereicht. Da sie daran aber gar nicht denkt, nehme ich an, daß sie mit ihrer Situation ganz zufrieden ist. Es kann natürlich auch sein, daß sie dir keine Steine in den Weg legt, weil es ihr wichtig ist, finanziell gut versorgt zu sein. Vielleicht ist es nur noch dieser Gedanke, der sie mit dir verbindet. Eine Frau kämpft um ihren Mann, wenn sie ihn wirklich liebt. Das tut deine Beatrice nicht. Du solltest einmal darüber nachdenken, ob es nicht besser wäre, dein Leben zu ändern. Die Ehe zwischen Beatrice und dir besteht doch nur noch auf dem Papier. Ihr beide habt keine Gemeinsamkeiten mehr. Ist es unter diesen Umständen nicht viel besser, einen Schlußstrich zu ziehen? Wenn sie nicht an eine Scheidung denkt, könntest du es tun. Wir beide sind füreinander geschaffen, haben aber keine Chance, solange du noch verheiratet bist.«

Mario zog hilflos die Schultern hoch. »Ich scheue diesen Schritt. Weißt du, es ist nicht so, daß ich für Beatrice überhaupt keine Empfindungen mehr hätte. Sie ist meine Frau, mit der ich auch gute und glückliche Zeiten erlebt habe. Ich glaube, wenn sie mir ein Kind hätte schenken können, wäre ich ihr nie untreu geworden. Dann wären wir eine glückliche kleine Familie. Es ist nicht ihre Schuld, daß sie kein Baby bekommen kann. Deshalb habe ich nicht das Recht, sie im Stich zu lassen.«

»Das sollst du doch gar nicht. Finanziell kannst du auch nach der Scheidung für sie sorgen. Du läßt deine Frau nicht im Stich, wenn du dich von ihr trennst. Du lebst dann nur das Leben, von dem du immer geträumt und auf das du ein Anrecht hast. Du hast immer Kinder gewollt, und diesen Wunsch darf dir niemand verwehren. Beatrice ist nicht in der Lage, Mutter zu werden. Aber ich bin es. Wir beide könnten Kinder miteinander haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du ohne jeden Nachkommen alt werden willst. Denk einmal darüber nach und entscheide, ob du aus lauter Rücksicht auf deine Frau bis ans Ende deiner Tage unglücklich sein willst. Ich würde dir gern ein oder mehrere Kinder schenken. Du bist jetzt dreiunddreißig Jahre alt. Wenn du Vater werden willst, wird es langsam Zeit für dich.«

»Ich weiß, und ich wünsche mir wirklich kaum etwas sehnlicher als ein Kind. Dafür würde ich nahezu alles tun. Aber es ist nicht so leicht, sich von einer Frau zu trennen, mit der man neun Jahre lang verheiratet gewesen ist. Du mußt mir noch ein bißchen Zeit lassen. Ich kann mich nicht sofort entscheiden.«

Corinna nickte, aber insgeheim war sie nicht bereit, Mario viel Zeit zu geben. Sie spürte, daß seine Liebe zu seiner Frau noch nicht völlig erkaltet war. Auch nach langem Nachdenken würde er sich vermutlich nie von ihr scheiden lassen. Seiner Entscheidungsfreudigkeit mußte ein wenig nachgeholfen werden. Corinna nahm sich vor, sich etwas einfallen zu lassen. Schon lange wünschte sie sich, Marios Frau zu werden. Doch diesem Wunsch stand Beatrice im Weg, und sie würde immer im Weg stehen, wenn es niemanden gab, der ein bißchen nachhalf. Was sie unternehmen sollte, war Corinna noch nicht klar. Sie hatte keinen festen Plan. Doch sie vertraute ihrem Einfallsreichtum und ihrer phantasievollen Begabung. Es würde ihr schon gelingen, Mario auf ihre Seite zu ziehen und ihn zu veranlassen, sich scheiden zu lassen und sie zu heiraten.

*

Pünktlich wie immer traf der Postbote auch an diesem Tag ein. Beatrice hatte gerade einen Strauß frischer Blumen im Vorgarten geschnitten und nahm die Briefe entgegen. Zum größten Teil handelte es sich um Werbung, die sie gleich zur Seite legte. Doch dann stieß sie auf einen Umschlag, der in Alexandria abgestempelt war. Sofort dachte sie an ihren älteren Bruder Daniel, der seit vierzehn Jahren in Ägypten lebte. Während eines Urlaubs hatte er damals eine junge Einheimische kennengelernt. Zwischen Daniel und Mesina war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten wenige Monate nach ihrem ersten Zusammentreffen geheiratet. Mesinas alter Vater, der einzige Angehörige, den die junge Frau seinerzeit noch gehabt hatte, war zunächst gegen die Ehe gewesen, hatte Daniel dann aber doch als Schwiegersohn akzeptiert. Daniel hatte in Alexandria eine Arbeitsstelle als Ingenieur bekommen und war mit seiner Frau glücklich gewesen. Dieses Glück wurde vollkommen, als schließlich die kleine Saida zur Welt kam. Doch das Schicksal hatte die junge Familie nicht ungeschoren gelassen. Mesina erkrankte schon bald, und erlag dieser unheilbaren und heimtückischen Krankheit, als Saida gerade zwei Jahre alt gewesen war. Seitdem stand das Mädchen mit seinem Vater allein auf der Welt, denn auch der Großvater war inzwischen verstorben. Beatrice dachte oft voll liebevoller Zuneigung an ihre Nichte. Beinahe täglich hatte sie das Bild des zierlichen kleinen Mädchens vor Augen. Nach Mesinas Tod war sie mit Mario mehrmals in Alexandria gewesen und hatte ihren Bruder und dessen Tochter besucht. Seit etwas mehr als vier Jahren beschränkten sich die Kontakte jedoch auf Briefe. Zwar plante Beatrice immer wieder, ihre Verwandten zu besuchen, doch diese Pläne waren jedesmal aus unterschiedlichen Gründen wieder verschoben worden. Inzwischen war Saida elf Jahre alt. Bestimmt hatte sie sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Beatrice fragte sich, ob ihr Bruder diesmal vielleicht ein Foto seiner Tochter beigefügt hatte. Ohne auf den Absender zu achten, öffnete sie den Umschlag und kam gar nicht auf die Idee, daß dieses Schreiben nicht von ihrem Bruder stammen könnte. Schließlich stammte der Poststempel aus Alexandria, und andere Verwandte oder Freunde besaß sie dort nicht. Erstaunt blickte die junge Frau auf den Briefkopf und konnte sich nicht erklären, was ein Waisenhaus von ihr wollte. Ihre Hände zitterten, als sie den Text las.

Sehr geehrte Frau Jenke! Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief an Sie zu richten. Aber Sie werden in den nächsten Tagen ohnehin von den Behörden erfahren, was sich ereignet hat. Ihr Bruder, Daniel Meerburg, ist vor wenigen Tagen bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen diese schlimme Nachricht übermitteln zu müssen, und ich kann verstehen, daß es ein Schock für Sie sein muß. Sie haben mein tiefes Mitgefühl. Trotz allem habe ich jetzt eine Bitte an Sie. Wie Sie wissen, hat Ihr Bruder eine Tochter hinterlassen. Saida befand sich nicht an Bord des verunglückten Bootes. Da das Mädchen hier keinerlei Verwandte hat, wurde es unverzüglich in unser Waisenhaus eingewiesen. Das ist für dieses Kind jedoch keine Dauerlösung. Da Saida vor einigen Jahren erblindet ist, wird sie immer abseits stehen. In unserem leider überfüllten Haus gibt es keine Möglichkeit, ein blindes Kind auf sein späteres Leben vorzubereiten. Es wäre schade um das sonst kluge und aufgeweckte Mädchen. Sie sind die einzige Verwandte, über die Saida noch verfügt und die ihr helfen kann. Vielleicht besteht ja sogar die Chance, Saida wenigstens vorübergehend nach Deutschland zu holen und sie dort zu fördern. Bitte denken Sie darüber nach. Wenn Sie sich entschließen sollten, nach Alexandria zu kommen und Ihre Nichte zu besuchen, teilen Sie es mir bitte mit. Ich werde die entsprechenden Vorbereitungen treffen und dafür sorgen, daß Sie am Flughafen abgeholt werden. Bitte helfen Sie Ihrer kleinen Nichte, die Ihre Sprache übrigens hervorragend spricht und sich ausgezeichnet mit Ihnen verständigen kann. Mit hoffnungsvollen Grüßen

Afifi Shafik Messih.

Verwirrt ließ Beatrice den Briefbogen sinken. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht begreifen, daß ihr Bruder nicht mehr lebte. Wie hatte das nur passieren können? Selbst wenn sein Boot gekentert war, hätte er nicht umkommen müssen. Daniel war schon immer ein sehr guter Schwimmer gewesen. Und was hatte die Sache mit Saida zu bedeuten? Wieso teilte dieser Mitarbeiter des Waisenhauses ihr mit, daß das Mädchen blind sei? Mit keinem Wort hatte Daniel in einem seiner Briefe etwas davon berichtet. Trotzdem mußte es wahr sein. Was für einen Grund hätte es geben sollen, ihr diesbezüglich eine Lüge aufzutischen? Bei dem Gedanken an ihre Nichte wurde Beatrice von ihrem eigenen Kummer über den Tod ihres Bruders abgelenkt. Das kleine Mädchen tat ihr unendlich leid. In welch schrecklichem Gemütszustand mußte Saida sich jetzt befinden. Sie war von ständiger Dunkelheit umgeben und hatte nun auch noch ganz plötzlich und unerwartet ihren Vater und damit den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren. Wie mußte einem Kind zumute sein, das auf einmal völlig allein auf der Welt stand und keine Hoffnung mehr hatte? Beatrice dachte nicht lange nach. Ihr war klar, daß sie so rasch wie möglich nach Alexandria fliegen würde. Vielleicht war Mario ja bereit, sie zu begleiten. Falls nicht, würde sie eben allein reisen. Was aus Saida werden sollte, wußte

Beatrice noch nicht. Auf jeden Fall aber sollte die Kleine spüren, daß sie nicht ganz allein war, und daß es da noch ihre Tante gab, die ihr ein bißchen Trost spenden konnte. Sie würde ihre Nichte nicht im Stich lassen.

*

»Warum willst du schon nach Hause?« fragte Corinna. »Ich hatte gedacht, daß wir uns einen schönen Abend machen könnten. Ich würde gern mit dir essen gehen und dann…«